Abseitsverdächtig

Sogar dem Fußball wird Einfluß auf das Wahlergebnis zugeschrieben. Die Frage ist nur, wem Erfolge Mexikos bei der Weltmeisterschaft politisch zugute kom­men. Einer Umfrage der Zeitung Reforma zufolge sind 42 Prozent der capitalinos, der Hauptstadtbewohner, überzeugt, daß ein gutes Abschneiden der Nationalkicker die Staatspartei begünstigt. Motto: “Erfolg für die TRI gleich Sieg für die PRI”. Inso­fern kann der überraschende Einzug ins Achtelfinale bereits eine Wahl-Vorent­scheidung gewesen sein.
Im Fußball spiegelt sich dieser Tage die mexikanische Gesellschaft. Das Konflikt­potential nimmt zu, die Brutalität wächst. Die Ausschreitungen nach dem Italien-Spiel lassen Schlimmes befürchten. Drei Tote, hunderte Verletzte und etwa 170 Festnahmen waren die Krawallbilanz. In­mitten der Zehntausenden, die unter dem goldenen Unabhängigkeitsengel feierten, wurde ein makabrer Macho-“Sport” prak­tiziert: Frauen einkreisen, befummeln, ih­nen die Klamotten vom Leib reißen. Diese Gewaltausbrüche waren mögli­cherweise ein Vorgeschmack auf das, was diesem Lande in Kürze auch auf politi­scher Ebene drohen könnte.
Die Karikatu­ren der mexikanischen Zeitungen dieser Tage sind entsprechend bitter: In einer werden die ‘granaderos’, die Polizei-Spe­zialtruppe für innere Unruhen, aufgefor­dert, sich jetzt noch nicht zu verausgaben und für die Zeit nach den Wahlen zu schonen. Eine zweite Karikatur zeigt die Keilerei der ‘hooligans’ sowie einen Beob­achter, der kommentiert: “Wenn wir das nächste Spiel gewinnen, wird Mexiko den 21. August nicht erreichen.”
Saubere Wahlen mit der PRI?
Inmitten dieses Fußballtaumels -und des­wegen vom Großteil der Mexikaner un­bemerkt- überraschte Präsident Carlos Sa­linas de Gortari mit einer in der Ge­schichte Mexikos beispiellosen Erklärung: “Ich werde am 1. Dezember die Regie­rungsmacht an den übergeben, der die Wahlen gewinnt -unabhängig davon, wel­cher Partei er angehört.” Politische Beob­achter rieben sich ungläubig die Augen. Am nächsten Tag kam es noch besser. PRI-Präsidentschaftskandidat Ernesto Ze­dillo bewertete Salinas Worte als “sehr gut” und versicherte, seine Partei akzep­tiere politische Machtwechsel als Teil der Realität in einem demokratischen Land. “Ich hoffe allerdings”, sagte Zedillo, “daß dies nicht bei der jetzigen Präsident­schaftswahl passiert.”
Die Präsidenten-Erklärung ist Teil einer riesigen Kampagne, mit der versucht wird, die Glaubwürdigkeit der bevorstehenden Stimmauszählung zu erhöhen. Wahlbetrug zugunsten der PRI war bislang in Mexiko an der Tagesordnung und ist auch von of­fizieller Seite mehrfach zugegeben wor­den. Umfragen zufolge erwarten 40 Pro­zent der Mexikaner auch diesmal, daß es bei den Wahlen nicht mit rechten Dingen zugehen wird.
Die Regierung bemüht sich, ihr Volk vom Gegenteil zu überzeugen. Ein komplett neues Wahlregister wurde aufgebaut. In einer gigantischen landesweiten Aktion wurden inzwischen 45 Millionen Men­schen (88 Prozent der über 18jährigen) mit dem neuen Wahlausweis ausgestattet, der neben dem obligatorischen Fingerab­druck erstmals auch das Foto des Stimm­berechtigten enthält. Das alles soll 730 Millionen US-Dollar gekostet haben. Da­für wird Mexiko nun laut Regierung die saubersten Wahlen seiner Geschichte er­leben.
Dennoch fehlt es nicht an Stimmen, die einen großangelegten Wahlbetrug be­fürchten. Lautester Rufer in der Wüste ist Cuauhtémoc Cárdenas, Präsidentschafts­kandidat der Partei der demokratischen Revolution (PRD). Cárdenas hat in den letzten Wochen mehrfach versucht, Unre­gelmäßigkeiten im Wahlregister nachzu­weisen. Die Vorwürfe wurden sogar ein­ziges Thema einer landesweit übertrage­nen Fernsehdebatte.
Die eher sozialdemokratisch ausgerichtete PRD behauptet, das Wahlregister enthalte vier Millionen Phantome, also Namen, hinter denen keine lebenden Personen ste­hen. Darüber hinaus demonstrierte ein Parteimitglied, wie man es schafft, mit Hilfe leicht variierter persönlicher Anga­ben an mehrere Wahlausweise gleichzeitig zu kommen.
Wahlbeobachter gegen “Pannen”
Cuauhtémoc Cardenas, Sohn des legen­dären mexikanischen Präsidenten Lázaro Cárdenas (1934-40), ist ein gebranntes Kind in Sachen Wahlbetrug. Er fühlte sich bereits bei den Wahlen 1988 um den Sieg gebracht. Damals erzielte er das beste Er­gebnis eines Oppositionskandidaten in den letzten sechs Jahrzehnten, doch dem PRI-Kandidat Salinas de Gortari wurde mit 50,74 Prozent knapp die absolute Mehrheit zugesprochen. Die Wahlcom­puter stürzten seinerzeit ab und sprangen erst nach zwei Tagen wieder an. Daß in der Zwischenzeit massiv manipuliert wurde, ist wahrscheinlich.
Erst dieser Tage hat Arturo Núñez, Präsi­dent des nationalen Wahlinstituts, ent­sprechende Mutmaßungen weiter genährt, als er versuchte, die “Panne” zu erklären. 1988 seien zuerst die für die PRI ungün­stigen Ergebnisse aus dem Großraum Mexiko-Stadt im Wahlcomputer einge­troffen. “Die waren jedoch nicht für das ganze Land repräsentativ, und deswegen hat man ganz offensichtlich entschieden, das System zusammenbrechen zu lassen”, sagte Núnez.
Die Vereinten Nationen wollen diesmal ein Team mit 50 WahlbeobachterInnen nach Mexiko schicken. Vor allem PRI-Vertreter haben allerdings inzwischen klargemacht, daß ihnen nicht mehr als der Status von “electoral tourists” (Wahl­tou­risten) zugestanden wird. Alles andere wird offenbar als Einschränkung der nationalen Souveränität aufgefaßt. “Wir mögen keine ausländischen Beob­achter hier und werden sie auch nicht um ihre Meinung bitten”, sagte PRI-Präsident Ignacio Pichardo.
Der endgültige Todesstoß für glaubwür­dige Wahlen konnte in den letzten Junita­gen nur knapp verhindert werden. Innen­minister Jorge Carpizo reichte seinen Rücktritt ein, konnte von Salinas jedoch überzeugt werden, im Amt zu bleiben. Der 50jährige ist politisch für die Organisation der Wahl verantwortlich. Carpizo, seit dem 10. Januar erster parteiloser Minister in der Regierung Salinas, gilt vielen in Mexiko wegen seiner Unbestechlichkeit als idealer Garant für saubere Wahlen. Er hatte nach Ausbruch des Zapatisten-Auf­standes Patrocinio Gonzalez abgelöst, den umstrittenen früheren Gouverneur von Chiapas.
Warum Mexikos oberster Wahl-Schieds­richter beinahe das Handtuch warf, hat er bis heute nicht erklärt. Der frühere Men­schenrechtsbeauftragte und Generalstaats­anwalt hatte in seinem Rücktrittsschreiben eine der politischen Parteien scharf ange­griffen, ohne sie jedoch beim Namen zu nennen. Diese habe ihn so stark unter Druck gesetzt, daß er dabeisei, seine Un­parteilichkeit zu verlieren. Die Leitartikel der Tageszeitungen rätselten noch Tage später, ob Carpizo die PRI oder die PRD gemeint hat.
Der Abgang des Innenministers zwei Mo­nate vor der Wahl wäre fast ein weiteres Kapitel in der mexikanischen “Chronik einer angekündigten Superkrise” gewor­den. Das politische System ist so ver­wundbar wie noch nie, das zeigen alleine die Ereignisse der letzten Wochen.
Kein Durchbruch in Chiapas
Am 11. Juni lehnte die zapatistische Be­freiungsarmee (EZLN) sämtliche Regie­rungsvorschläge für einen Friedensvertrag ab. Gleichzeitig wurden die Gespräche von San Cristóbal für beendet erklärt. Die Zapatisten hatten in den Monaten zuvor eine Volksabstimmung veranstaltet – in jenen Gemeinden von Chiapas, die den Aufstand unterstützten. Das Ergebnis fiel für Präsident Salinas vernichtend aus: rund 97% der indianischen Bauern vo­tierten grundsätzlich dafür, den bewaff­neten Wideratnd fortzusetzen.
Die Regierungsvorschläge wurden in allen Punkten als zu vage und unzureichend ab­gelehnt. Die Zapatisten kritisierten insbe­sondere die fehlende Bereitschaft, auf jene Forderungen einzugehen, die über Chia­pas hinausstrahlen. Die EZLN verlangt unter anderem saubere Wahlen und eine Überprüfung des Freihandelsabkommens mit den USA. Präsident Salinas werfen sie vor, einen großangelegten Wahlbetrug vorzubereiten.
Subcomandante Marcos drohte offen mit Bürgerkrieg: “Die mit historischer Blind­heit geschlagene Staatsregierung ist nicht in der Lage, zu erkennen, daß ihre Weige­rung, dem demokratischen Druck nach­zugeben, das Land in eine schmerzvolle Auseinandersetzung führen wird, mit nicht vorhersehbaren Konsequenzen”. Mexikos Aktienindex fiel am nächsten Börsentag um 3,9 Prozent.
Vorerst verpflichtet sich die Guerilla je­doch, die Waffenruhe bis zu den Wahlen Ende August einzuhalten. Außerdem er­klärten sie sich bereit, in dem von ihnen kontrollierten Gebiet des Lacandón-Ur­walds die Einrichtung von Wahllokalen zu erlauben. Hoffnungen, die Verhandlungen zwischen Regierung und EZLN könnten noch vor den Wahlen zu einem dauerhaf­ten Frieden in Chiapas führen. haben sich nach dem Nein der Zapatisten zerschla­gen.
Nur fünf Tage später trat Manuel Cama­cho Solis zurück, der Chiapas-Unter­händler von Präsident Salinas. Er hatte sich mit dem Präsidentschaftskandidat Zedillo überworfen, nachdem der Cama­cho mehrfach für das Scheitern der Frie­densgespräche verantwortlich machte. Die beiden PRI-Politiker gelten als verfeindet. Camacho hat nie einen Hehl daraus ge­macht, daß er sich selbst für den geeigne­teren Präsidenten Mexikos hält. Durch sein Ausscheiden als Unterhändler ist ein regelrechtes Vakuum entstanden, da keine zweite Persönlichkeit in Sicht ist, der Re­gierung und Zapatisten gleichermaßen vertrauen.
Am 23. Juni schließlich ernannte Präsi­dent Salinas einen neuen Chiapas-Beauf­tragten: Jorge Madrazo. Die Zapatisten dürften den bisherigen Präsidenten der nationalen Menschenrechtskomission je­doch kaum akzeptieren. Madrazo war im Januar mehrmals in Chiapas, um Armee­übergriffe zu untersuchen – bis heute ohne greifbares Ergebnis. Unterdessen wird Camacho bereits als ein möglicher ワber­gangskandidat gehandelt, für den Fall, daß es bei den Wahlen keinen klaren Gewin­ner geben sollte.
Lieber PRI als Unsicherheit?
Die bislang fast diktatorisch regierende PRI könnte erstmals weniger als 50 Pro­zent erhalten. Sogar das bislang Undenk­bare scheint möglich: ein Sieg der Oppo­sition. Zwei der jüngsten Umfragen geben der PRI 41 bzw. 28 Prozent, der rechts­konservativen Partei der nationalen Ak­tion (PAN) 29 bzw. 33 Prozent und der PRD 8,5 bzw. 13 Prozent. PAN-Kandidat Diego Fernández de Cevallos liegt somit teilweise bereits vor Ernesto Zedillo von der PRI. Cuauthémoc Cárdenas (PRD) landet weit abgeschlagen auf dem dritten Platz. Die Kandidaten der übrigen sechs Parteien spielen so gut wie keine Rolle.
Ein Ende des presidencialismo scheint in Sicht. Bislang verfügten Mexikos Präsi­denten über eine unerhörte Machtfülle, die sich nur teilweise aus der Verfassung herleiten läßt. Wichtig sind vor allem die extrem hierarchischen Strukturen der Staatspartei, die ihrem Spitzenmann bis­lang immer treu ergeben war. Die PRI hat seit 1946 alle Wahlen mit Traumergebnis­sen zwischen 74 und 92 Prozent gewon­nen. Nur 1988 war es knapp geworden.
Und diesmal? Ein Wechsel scheint mög­lich. Doch die Partei, ohne die bislang in Mexiko fast nichts läuft, hat viel zu verlie­ren. Viele Wähler könnten das für sich ganz ähnlich sehen. “Ein Oppositionssieg mag gut sein für die Demokratie, ist aber möglicherweise weniger gut für die Stabi­lität und Regierbarkeit”, sagt z.B. Arturo Sánchez vom mexikanischen Institut für politische Studien.
Die Unsicherheit hat viele Gesichter: Mehrere der reichsten Männer des Landes wurden in den letzten Monaten ge­kidnappt; eine von der Drogenmafia de­ponierte Autobombe tötete Mitte Juni in Guadalajara zwei Menschen; der Mord an Präsidentschaftskandidat Luis Donaldo Colosio ist noch immer nicht aufgeklärt.
Fußballspiele, gewonnene und verlorene, waren den Mexikanern bislang stets Anlaß für Freudenfeste – jetzt plötzlich werden blutige Straßenschlachten daraus. Da wird so mancher sein Kreuzchen doch wieder bei der Partei machen, die seit 65 Jahren Stabilität verkörpert.

Kasten:

Spendenaufruf für die EZLN
Die Kommunikation und die Kommunika­tionsmittel spielen im Kon­flikt in Chiapas eine Schlüssel­rolle. Wer Nachrichten und Bilddoku­mente produ­zieren und verbreiten kann, nimmt ent­scheidenden Einfluß auf den Gang der Dinge. Das gilt um­somehr, seitdem die Waffen erfreuli­cherweise schweigen.
Eine der Forderungen der EZLN gegen­über der Regierung ist die Ein­richtung ei­ner unabhängigen Radiosta­tion der Indí­genas, die von ihnen selbst betrieben wer­den soll, um das Recht auf wahrheitsge­treue Information über lokale, regionale, nationale und inter­nationale Ereignisse verwirklichen zu können. Die Regierung hat eine Li­zenzvergabe in Aussicht ge­stellt. Da­mit diese mögliche Radiostation je­doch eines Ta­ges wirklich unabhängig funktionieren kann, bedarf es vieler Dinge: Tonbandgeräte, Schnitteinhei­ten, Musikkassetten und natürlich Ausbildung der künftigen Volksrepor­terinnen und -re­porter”. Und natürlich braucht es Radioge­räte in den Dörfern, damit die Sendungen gehört werden können.
Außerdem hat die EZLN den legitimen Wunsch, ihre eigene Geschichte selbst in Bil­dern festzuhalten. Eine eigene Vi­deoausrüstung wird gebraucht, um sowohl die Ereig­nisse jenseits presse­konjunktu­rellen Interesses fest­halten zu können, als auch um die Möglich­keit zur Verifizie­rung mögli­cher stritti­ger Vorfälle durch Bilddo­kumente zu haben.
Nicht zu vergessen ist, daß auch die mei­sten kulturellen Aktivitäten eines Kom­munikationsmittels bedürfen, seien es Tonbandgeräte oder Platten­spieler, die wie­derum Generatoren brauchen, da es in weiten Teilen der von der EZLN kontrol­lierten Gebiete keinen Strom gibt.
Die LN rufen zusammen mit der ila dazu auf, kräftig für einen “Medienfonds” der EZLN zu spenden, mit dem solche notwendigen Anschaf­fungen getätigt werden kön­nen.
Spenden unter dem Stichwort “Medien­fonds EZLN” bitte auf das ila-Konto Nr. 583 99 – 501 beim Postgiro­amt Köln (BLZ 370 100 50) überwei­sen. (Stichwort nicht vergessen!)

Verhandlungspoker zwischen Zapatisten und Regierung

Gila: Was haltet Ihr von der Zurück­weisung des Regierungsangebotes?
Carlos Rodriguez: Die Zapatisten (EZLN) handelten sehr vernünftig, den Dialog mit der Regierung zu suchen und als ersten Verhandlungspunkt die ökono­mische Situation auf die Tagesordnung zu setzen. Denn hier zeigte die Regierung die größte Handlungsbereitschaft. Wären die Gespräche gleich zu Beginn gescheitert, dann wären weitere Verhandlungen völlig unsinnig gewesen. Diese Ausgangssitua­tion ermöglichte dann einen breiteren Dialog mit der Regierung.
Warum hat die Mehrheit der Dorfge­meinschaften den gesamten Vorschlag abgelehnt?
Es geht der Zivilbevölkerung in Chiapas nicht darum, generell Angebote, die die Regierung macht, von vornherein abzu­lehnen. Aber dieses Angebot war nicht ausreichend. Zu Anfang richteten sich die Hoffnungen der Zapatisten auf eine lokale Demokratisierung. Aber darüber wollte die Regierung nicht verhandeln. Die EZLN akzeptierte bei den Verhandlungen dennoch, daß es dabei lediglich um Dienstleistungen, wirtschaftliche Fragen, Zufahrtswege und Lebensmittelhilfe ging, aber nur aus taktischen Gründen, um die Verhandlungen nicht abbrechen zu lassen. Alle Themen von nationaler Reichweite wurden von der Regierung vom Tisch gefegt. Von den 34 Forderungen der EZLN wurden zwar 32 erfüllt, aber die beiden wichtigsten wurden ausgelassen: Bei den zentralen Forderungen nach lo­kaler Demokratisierung und kultureller Unabhängigkeit machte die Regierung keine Zugeständnisse.
War es für Euch überraschend, daß das Angebot abgelehnt wurde?
Nein. Das hat uns nicht überrascht. Wir be­finden uns gerade in der Phase vor den Wahlen. Das heißt, daß Verhandlungen, die noch vor der Wahl zu Ende geführt würden, zu frustrierenden Ergebnissen ge­führt hätten. Ich möchte hier noch einmal betonen, daß die Verhandlungen noch nicht zu Ende sind. Aber die EZLN beob­achtet die Wahlen und prüft, ob die Regie­rung ihr Wahlversprechen, saubere Wah­len durchzuführen, einhält. Ist dies nicht der Fall, greifen die Zapatisten mögli­cherweise erneut zu den Waffen.
Die Zapatisten haben die Mehrheit der indianischen Gemeinschaften befragt, ob sie trotz der schwierigen Situation ihre Forderungen aufrechterhalten wollen, ` denn es wäre ja möglich, daß sie sich mit den Ereignissen zufrieden gegeben hätten.
Niemand ist mit der jetzigen Situation zu­frieden. Wenn die Leute dem staatlichen Angebot zugestimmt hätten, hätte das einen Rückschritt in den Verhandlungen bedeutet. Aus der Zeitperspektive der In­digenas ging alles aber sehr schnell.
Die Zapatistische Bewegung gibt es seit vielen Jahren, und sie hat immer für die Emanzipation gekämpft. Aber sie kam nicht bis nach Chiapas. Dort wurden die Campesinos in der Revolution 1910-1919 als Kanonenfutter für die Landbesitzer benutzt. Die Revolution hat in Chiapas dazu geführt, daß die Landbesitzer noch mehr Land bekamen und die Indigenas mit ihrem Leben bezahlen mußten. Das ist der Grund für die Rückständigkeit der Region.
Die Regierung drückte ihre westliche Zeitvorstellung gegen die der chiapaneki­schen Bauern durch. Die Re­gierung legte fest, wann und wie verhandelt wird. Doch die Verhandlungen müssen nach dem Zeitplan durchgeführt werden, den die In­digenas bestimmen. Der Dialog zwischen der Regierung und der EZLN ist also im Moment nicht unter­brochen, sondern die Indigenas setzen ihre Zeitvorstellungen um. Bisher war es im­mer so, daß die Re­gierung Angebote machte. Aber es waren immer Vorschläge, die nie gleich­berechtigt von beiden Seiten kamen. Die Mehrheit der Indigenas ist für den Dialog, den sie selbst zeitlich be­stimmen will. Es gibt auch eine Minder­heit, die für den bewaffneten Kampf ist, und etwa zwei Prozent sind für den Plan der Regierung. Bei den Verhandlungen muß darauf ge­achtet werden, daß alle Meinungen be­rücksichtigt werden.
Was muß die Regierung anbieten?
Es gibt zwei elementare Forderungen: er­stens saubere Wahlen und zweitens eine geordnete Landaufteilung. Alle Groß­grundbesitzer müssen ihre Besitzverhält­nisse klar offenlegen, und zwar nicht nur in Chiapas, sondern in jedem Bundesstaat. Es muß einen Zensus für landbesitzende Familien geben, damit die getarnten Latifundien entdeckt werden. Sonst ist es möglich, daß jemand in einem Bundes­staat seinen Besitz verkauft, aber noch Land in einem anderen hat. Es muß für die kommenden Wahlen Wahlbeobachtungen durch die eigene Be­völkerung geben, die dafür in besonderen Kursen ausgebildet werden muß, in Zusammenhang mit den Vereinten Nationen. In Mexiko muß es außerdem einen Volksentscheid über eine neue Verfassung geben, über einen neuen Sozialpakt. Diese Verantwortung kommt auf die neue Regierung zu.
Wie stark sind die Verhandlungsposi­tionen und welche Druckmittel hat die ELZN?
Die Verhandlungen haben einen nationa­len Charakter, das heißt, alle Forderungen beziehen sich auf das ganze Land. Druck kann nur durch die aktive Teilnahme der Bevölkerung ausgeübt werden. Nach dem Mord an dem PRI-Präsidentschaftskandi­daten Colosio war die Bewegung wie ge­lähmt. Alles geriet aus den Fugen. Noch einmal wäre eine solche Situation ver­hängnisvoll. Der andere Weg, Druck aus­zuüben, muß in einer Annäherung der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Kräften des Landes bestehen. Das Ergeb­nis hängt hier in Chiapas sehr von dem Engagement der Bevölkerung ab. Dabei brauchen wir auch Hilfe von außen – in­ternationale Hilfe.
Wie kann das Problem des Hungers gelöst werden, und was machen die be­waffneten KämpferInnen zur Zeit?
Das was sie am Anfang auch gemacht ha­ben: Sie leben immer noch bewaffnet. Was die Lebensmittel angeht: Es gibt drei Millionen Einwohner in Chiapas, davon sind 90 Prozent Indigenas. Hier herrscht das niedrigste Pro-Kopf-Einkommen des gesamten Landes. Was wir brauchen, ist humanitäre Hilfe und veränderte Han­delsbedingungen. Den Bauern in Chiapas müßte es ermöglicht werden, von direkten Einnahmen zu leben. Alles spricht von Dritter Welt, aber für uns ist es die vierte Hölle. Wenn wir von dem Konzept aus­gehen, daß hier (in Deutschland) die Erste Welt ist und von hier aus Pflanzen nach Lateinamerika ka­men, muß diese Erste Welt auch zu Lösungen beitragen.
Gibt es eine Gefahr durch das mexika­nische Militär?
Es gibt ständig Truppenbewegungen, aber keine Informationen darüber, warum das geschieht. Die Anzahl der Soldaten ist nicht genau bekannt, aber man spricht von 15.000. Die Unsicherheit innerhalb der Bevölkerung ist groß.
Wer hat als Kandidat im kommenden Wahlkampf die besten Aussichten?
Die wichtigste Kraft ist die Zivilbevölke­rung. Zwei Kandidaten haben jedoch die stärkste Unterstützung durch die Presse: der PRI- und der PAN-Kandi­dat. In den Reihen der Oppositionsparteien gibt es auch charismatische Köpfe, die den politischen Forderungen der breiten Be­völkerung nä­her stehen. Aber sie tauchen so gut wie nie in den Massenmedien auf.
Also weitere sechs Jahre PRI­Regierung?
Sicher. Die Frage bleibt, welche Bünd­nisse die verschiedenen politischen Kräfte im Parlament schließen, um zu einer Mehrparteienlösung zu kommen. Mögli­cherweise ändert sich hier einiges, aber es ist für die Bevölkerung undurchsichtig. Wir Indi­genas haben nicht teil am parlamentarischen System. Die PRI dominiert alles. Es ist sehr schwierig, in dieses Parlament zu gelangen.

Editorial Ausgabe 239 – Mai 1994

Noch immer herrscht Krieg in Chiapas. Es gibt eine Waffenruhe, mehr nicht, auch wenn die Kämpfe vom Januar schon fast wieder in Vergessenheit geraten sind. Die Schüsse von Tijuana im Norden haben die Schüsse von Chiapas im Süden überdeckt. In Tijuana starb der Präsidentschaftskan­didat der Regierungspartei PRI, Luis Donaldo Colosio. Die Schüsse im Süden bewirkten Aufbruch – die Schüsse im Nor­den bewirkten Lähmung. So schien es.
Colosio, der Technokrat aus der neolibe­ralen Schule und salinistischen Kader­schmiede, hatte für Kontinuität gestanden, und seinen Wahlkampf nur unter größten Mühen den neuen Realitäten nach Chiapas anpassen können. Wahlkampf­manager von Salinas war er gewesen. Der Ruf des Wahlbetrügers haftete ihm an – wie allen vorher. Für das “Solidaritäts”-Programm PRONASOL stand sein Name, für jenes Programm, dessen Versagen der Chiapas-Aufstand so deutlich gemacht hatte.
Bis heute ist unklar, wer die Auftraggeber für den Mord waren. Klar ist: Wenn das Attentat aus kaltem politischen Kalkül ge­plant wurde, dann von Gegnern jeder Veränderung. Denn der Mord hat die Stimmung verändert. Plötzlich wurde be­wußt, daß Aufbruch auch Unsicherheit bedeutet, Parteiendiktatur hingegen Sicherheit. Plötzlich wurde bewußt, daß etwas, das aus den Fugen gerät, auch schwierig neu zusammenzusetzen sein könnte.
Die regierende PRI hat mit der Ernen­nung Ernesto Zedillos zum neuen Kandi­daten dokumentiert, was viele im ersten Moment für das einzig wünschenswerte hielten: Keine Experimente, nichts aufs Spiel setzen. Zedillo – die größtmög­liche Kontinuität des salinistischen Pro­jektes.
Natürlich sehen Umfragen auch Zedillo bei über 50 Prozent der WählerInnen-stimmen. Und bislang scheint es unter den politischen Parteien keine zu geben, die den offenkundigen Niedergang der PRI und ihre internen Streitigkeiten für sich zu nutzen wüßte.
Auch die Bauern- und Bäuerinnenbewe­gungen, die indianischen Organisationen, die sich nach dem Aufstand von Chiapas offensiver denn je in der Öffentlichkeit zeigen und am 75. Todestag Emiliano Zapatas einige zehntausend Menschen auf dem “Zocalo” zusammenbrachten, schei­nen – und das macht sie sympathisch – ihre politischen Forderungen erst einmal un­mittelbar ausfechten zu wollen. Ihre Option ist nicht eine Partei oder die an­dere, sondern Demokratie und vor allem Land.
Und darum wird in diesen Tagen in Chiapas gekämpft. Tausende von Hektar Land sind in der Hand von Bauern und Bäuerinnen. Schon geben sich einige der Besitzenden geschlagen, reden von staat­lichem Ankauf und Entschädigungszah­lungen. Schon aber gibt es dort auch Tote, wo sich Viehzüchterverbände bewaffnen. Der kurze Moment der Einigung, den der Mord an Colosio hervorbrachte, war oh­nehin ein hauptstädtischer, ist aber längst wieder aufgebraucht. Auf dem Land geht die Polarisierung weiter.
In Chiapas herrscht noch immer Krieg. Weniger denn je können heute die Bilder von Anfang März, die Bilder aus der Frie­denskathedrale von San Cristóbal de las Casas darüber hinwegtäuschen. Selbst der Versuch, die Verhandlungen zwischen Re­gierung und Zapatistas wiederaufzuneh­men, gerät zum schwierigen Unterfangen. Die Drohung mit Gewalt ist damit in Mexiko heute ein effektives Mittel der po­litischen Auseinandersetzung. Darin liegt die Gefahr, aber darin liegt vor allem auch das Armutszeugnis für das so gründ­lich “modernisierte” Mexiko.

Der neue Kandidat

Eigentlich hatte man mit der Bekanntgabe des Colosio-Nachfolgers warten wollen, bis sich die erhitzten Gemüter über die Osterfeiertage wieder beruhigen würden. Aber die vielfach beschworene Gefahr ei­ner “Instabilität” machte eine schnelle Entscheidung nötig. Nicht nur die Oppo­sitionsparteien, sondern auch Teile der ei­genen Parteibasis zeigten sich allerdings wenig begeistert von dem traditionellen “dedazo”, dem undemokratischen Finger­zeig des Präsidenten, der am Dienstag – nach “Beratung” des Parteivorstands – er­neut seinen potentiellen Nachfolger be­stimmte.
Überraschend aber kam die Personalent­scheidung nicht. Schon vier Tage nach dem Attentat hatte die Wochenzeitschrift “Proceso” vorausschauend festgestellt: “Als Vertreter der orthodoxesten und ra­dikalsten Linie des Neoliberalismus … ist Zedillo die einzige legale Option, die die Kontinuität des salinistischen Projektes si­chern kann.” Eigentlich galt bei politi­schen Beobachtern zwar Finanzminister Pedro Aspe als neoliberaler Favorit. We­gen verfassungstechnischen Hindernissen – ein Präsident darf bis zu sechs Monaten vor seinem Amtsantritt kein Ministeramt bekleidet haben – mußte dieser aus der neuen Kandidatenkür ausscheiden. So wurde notgedrungen Ernesto Zedillo zum Wunschkandidaten vor allem der Wirt­schaft, da er – wie diverse Unternehmer schon am Vortag der Nominierung gegen­über der Presse äußerten – “die Sicherheit der Finanzmärkte garantieren” würde.
Wie schon sein toter Vorgänger stammt der 42jährige Salinas- und Colosio-Nach­folger, der laut “Proceso” der “Technokratenelite” des Landes angehört, aus dem engen Kreis der sogenannten Salinas-Gruppe. Als Amtsinhaber des aufgelösten Planungs- und Haushaltsmini­steriums war er verantwortlich für die Ge­burt des umstrittenen Solidaritäts-Pro­grammes PRONASOL, eine Art internes Entwicklungshilfeprogramm, das von Kritikern als ineffizient und manipuliert bezeichnet wird. Mit dem unter seiner Leitung entworfenen Entwicklungsplan für 1988 bis 1994 wurde der Grundstein für die “makroökonomische Modernisie­rung” des Landes gelegt.
Unbeliebt gemacht hatte sich der anson­sten eher unscheinbare Politiker bei vielen seiner Landsleute vor allem mit der soge­nannten “Schulbuch-Affäre”. Während seiner kurzen Amtszeit als Bildungsmini­ster (von Januar 1992 bis November 1993) waren die (einheitlichen) Geschichtsbü­cher für die Grundschule “modernisiert” worden: Anstelle des revolutionären Pa­thos und der Betonung der politischen Brüche der mexikanischen Geschichte sollten die Lehrbücher den kleinen Mexi­kanerInnen nun die wirtschaftliche Konti­nuität von Diktator Porfirio Díaz bis Prä­sident Salinas nahebringen. Auch als Kampagnenleiter habe sich der jetzige “Not-Kandidat” – so “Proceso” – nicht gerade durch Brillanz ausgezeichnet. Ob allerdings die zunächst eher freudlosen Wahlveranstaltungen von PRI-Kandidat Colosio wirklich auf die Kappe seines damaligen Wahlkampfleiters und nicht eher auf die der chiapanekischen Zapati­sten gehen, ist wohl zu bezweifeln.
Schon vier Monate zuvor, bei der regulä­ren Kandidatenkür im November, war Er­nesto Zedillo einer der sechs Prä-Kandi­daten seiner Partei gewesen. Chancen hatte dem ehemaligen Bildungsminister damals allerdings kaum jemand einge­räumt: eindeutige Favoriten im Vorwahl­kampf waren Finanzminister Aspe, der li­berale Manuel Camacho Solis und der damalige Sozialminister Luis Donaldo Colosio gewesen.
Wieweit der Polit-Joker mit dem uncha­rismatischen Technokratenimage in den verbleibenden fünf Monaten ein eigenes Profil gewinnen kann, bleibt abzuwarten. Es sei denn, die PRI setzt für die August­wahlen hauptsächlich auf den Traueref­fekt. Die Reihenfolge der Widmungen in Zedillos Antrittsparole ist für sich ge­nommen jedenfalls bezeichnend: “Für Colosio, für die PRI, für Mexiko”.

Selbstbewußte Indígenas

Ehrliches Erstaunen, ängstliches Entset­zen, Fassungslosigkeit, Wut – Das urbane, westliche Mexiko der “Modernisierer” um die technokratische Clique von Salinas & Co. war offensichtlich nicht darauf gefaßt, daß marginalisierte Campesinos und Indí­genas aus der “hinterletzten Ecke” des Landes ihnen die Feier des Beitritts zur Ersten Welt verderben könnten. Und es kam noch schlimmer: Die im offiziellen Diskurs verdrängte agrarische Zivilisation Mesoamerikas, von der Bonfil sprach, meldete sich nicht nur zu Wort; sie ent­larvte ihrerseits das Modernisierungs­projekt des neoliberalen Establishment als eine Fiktion, die zwar – vor allem vom PRI-hörigen Fernsehimperium TELE­VISA – me­dienwirksam verkauft wird, de­ren Umset­zung vor Ort jedoch für die Mehrheit der Bevölkerung zum Alptraum gerät.
So kam es, daß sich dieses “fiktive Me­xiko” um Salinas nicht nur internationa­lem Druck, sondern besonders auch der landesweiten Solidarisierung mit dem Za­patistischen Nationalen Befreiungsheer EZLN beugen mußte. Die sogenannten Verhandlungen in der Kathedrale von San Cristóbal haben die Kluft zwischen beiden Mexikos verdeutlicht: Entsprechend ihrer über 60 Jahre bewährten Taktik des Kau­fens und Spaltens von Dissidenz entsenden Regierung und Staatspartei einen populistischen “Emissär” ohne kla­ren Auftrag und explizite Kompetenzen, der den Zapatisten mehr Geld, mehr Infra­struktur und mehr Entwicklung verspre­chen darf. Ihm gegenüber sitzen maskierte Campesinos, die als erstes bekräftigen, daß sie von der Basis der Dorfgemeinden gar nicht ermächtigt sind, mit der Regie­rung zu verhandeln, sondern nur einen “Dialog” führen. Dies entspricht dem – für die Regierung so schwer handhabbaren – Selbstverständnis des EZLN, bloß eine Organisationsform unter vielen anderen darzustellen und sich daher als bewaffne­ter Arm der chiapanekischen Indígenas und Campesinos dem politischen Willen der Dorfgemeinden unterzuordnen:
“Unsere Art zu kämpfen ist nicht die ein­zig mögliche, vielleicht ist sie für viele nicht einmal die angemessene. Andere Arten des Kampfes existieren, und sie exi­stieren zu Recht. Auch unsere Organisa­tion ist nicht die einzige, für viele ist sie vielleicht nicht einmal wünschenswert. Zu Recht existieren andere, aufrichtige, fort­schrittliche und unabhängige Organisa­tionen. Das Zapatistische Nationale Be­freiungsheer hat niemals den Anspruch erhoben, seine Art zu kämpfen sei die ein­zig legitime. Doch tatsächlich ist es für uns die einzige, die uns übrig gelassen wurde… Wir erheben nicht den Anspruch, die historische, einzige, authentische Avantgarde zu sein. Wir erheben nicht den Anspruch, unter unserer zapatistischen Fahne alle aufrichtigen Mexikaner zu ver­einen. Wir bieten unsere Fahne an, doch es gibt eine größere, umfassendere, mächtigere Fahne, die uns alle zusam­menführen kann. Die Fahne einer revolu­tionären, nationalen Bewegung, welche die diversesten Tendenzen, die unter­schiedlichsten Denkrichtungen, die ver­schiedenen Arten zu kämpfen zusammen­führen würde, unter der es jedoch nur ein Anliegen und ein Ziel gäbe: Freiheit, De­mokratie, Gerechtigkeit” (Kommuniqué der Comandancia General des EZLN vom 20. Januar).
Konsequenterweise weigern sich die Za­patistas daher auch, einen ausformulierten Programmkatalog vorzulegen, was nur Aufgabe aller Organisationen und Comu­nidades sei. Ihre Forderungen nach “Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit” bilden kein inhaltliches Programm. Sie richten sich auf Formalia und juristische Aspekte wie die Anerkennung als krieg­führende Partei und die Einhaltung der Verfassung – Formalia allerdings, deren Durchsetzung das bestehende politische System Mexikos zum sofortigen Einsturz bringen würde: “saubere” Wahlen auf al­len Ebenen, Auflösung oligarchischer Machtstrukturen, Abwahl von Kaziken, Chancengleichheit für alle MexikanerIn­nen im Wirtschafts-, Bildungs- und Ge­sundheitssektor sind unvereinbar mit den Herrschaftsprinzipien der “institutionali­sierten Revolution”.

Wiedereintritt in die Geschichte

Schon Anfang Januar haben die Zapati­sten die chiapanekische und mexikanische Zivilgesellschaft aufgefordert, den mit bewaffneten Mitteln gewonnenen Frei­raum zu nutzen und ihre Forderungen an den Staat zu artikulieren. Auch wenn es ihnen (noch) nicht gelungen ist, die ver­schiedenen nicht-militärischen Organisa­tionen am “Dialog” in San Cristóbal direkt zu beteiligen, hat der Appell des EZLN an die Indígena- und Campesino-Organisa­tionen Mexikos einen von Sonora bis Yu­catán reichenden Sturm der Basismobili­sierung ausgelöst.
Als erstes sind die chiapanekischen Dorf­gemeinden dieser Aufforderung nachge­kommen. In einem auch für die fünfhun­dertjährige Tradition lokaler und regiona­ler Widerstandsformen einmaligen Um­fang haben sich ca. 280 verschiedenste Organisationen aus Comunidades des gan­zen Bundesstaates schon am 24. Ja­nuar zu einem losen Dachverband, dem Consejo Estatal de Organizaciones Indí­genas y Campesinas de Chiapas (CEOIC, “Landesrat der Indígena- und Campesino-Organisationen von Chiapas”) zusammen­geschlossen. Obwohl die Gründung des Rates auf eine Initiative regierungsnaher Kreise zurückgeht – ein letzter verzwei­felter Versuch, die Zapatisten von ihrer Basis zu isolieren -, setzten sich die unab­hängigen Gruppen durch, bis sich schließ­lich auch die Vertreter der PRI-nahen Campesino-Organisation CNC dem For­derungskatalog der Mehrheit anschlossen: Anerkennung des CEOIC als Verhand­lungspartner, Absetzung der korrupten Lokal- und Regionalpolitiker, vollständige Revision der Landreform unter maßgebli­cher Beteiligung der Campesino-Organi­sationen sowie Umsetzung der ILO-Kon­vention 169, die eine Territorialautonomie und die verfassungsmäßige Anerkennung der Selbstbestimmungsrechte der indige­nen Völker beinhaltet.
Eine derart umfassende Plattform von Basisorganisationen, die ihren politischen Willen jenseits der üblichen staatlich-kor­porativen Kanalisation artikuliert, läutet eine vollkommen neue Beziehung ein zwischen dem “fiktiven” und dem “tiefen Mexiko”, zwischen Staat und Gesell­schaft, wie Mario Landeros von der Organisation Xi’ Nich’ aus Palenque er­klärt:
“Wir haben gemerkt, daß wir selbst die Regierung als solche darstellen müssen, daß wir unsere Regierungsform suchen müssen… Wir beginnen langsam zu reifen, um eine politische Führung für unsere so­zialen Organisationen aufzubauen. Es geht nicht mehr um PRI, PAN, PRD oder was auch immer für eine Partei. Wir sind dabei, Vereinbarungen zu treffen, die dann nicht von einer bestimmten Organi­sation, sondern von der gesamten Gesell­schaft umgesetzt werden. Das ist die Strategie zu reifen, und so den politischen Wechsel zu erreichen”.
Daß EZLN und CEOIC das regionale Mächtesystem grundlegend verändert ha­ben, zeigen nicht nur die zahlreichen Ab­setzungen korrupter, PRI-höriger Kaziken und Kommunalpolitiker im Hochland von Chiapas sowie die Besetzungen von bis­lang 1.500 Hektar Land auf Latifundien, deren Auflösung und Verteilung jahr­zehntelang von Campesino-Organisatio­nen auf dem Behördenweg eingefordert worden war. Auch die herrschenden Oligarchien reagieren, indem sie ihre Privatarmeen aufrüsten. Besitzer illegaler Latifundien ließen im Februar die Campesino-Anfüh­rer Mariano Pérez aus Simojovel und Pe­dro Méndez aus Yajalón ermorden. Gleichzeitig werden mit tatkräftiger Un­terstützung der politischen Polizei die sog. Defensas Rurales wiederbelebt, ein noch aus den nach­revolutionären Wirren stam­mendes para­militärisch organisiertes Spionage­netz. Und eine von der lokalen Händler-Elite getragene “Bürgerfront von San Cristóbal gegen die Destabilisierer” (Frente Cívico Coleto Contra los Dese­stabilizadores) agitiert unterdessen nicht nur für eine Be­endigung jeglicher Ver­handlungen mit den Zapatisten, sondern ganz besonders auch für eine Vertreibung des Bischofs Samuel Ruiz aus der Stadt.

Ein brodelnder Vulkan, der jederzeit ausbrechen kann

Chiapas ist Mexiko; der zapatistische Kampf ist keineswegs lokal begrenzt, wie Salinas gegenüber dem irritierten Aus­landskapital glauben machen wollte. Auch im Bundesstaat Morelos, der Heimat von Emiliano Zapata, hat sich ähnlich wie in Chiapas eine gemeinsame Plattform, die Unión de Comunidades Indígenas de Mo­relos (Vereinigung der Indígena-Gemein­den von Morelos), gebildet. Sie begrüßte schon am 5. Januar die Rückkehr des mythischen Revolutionärs in Gestalt der chiapanekischen Aufständischen, wie Prä­sidiumsmitglied Arturo Dimas aus Hua­zulco betont:
“Wir in Morelos sagen: Das Volk ist die Regierung. Daher hat das Zapatistische Befreiungsheer den Namen Zapatas ganz und gar nicht beschmutzt, wie von offi­zieller Seite behauptet wurde. Nein, es weist ihm den Platz in der Geschichte zu, der ihm gebührt”.
Die Solidarisierungskundgebungen rei­chen von den Maya der Halbinsel Yucatán über die Nahua aus Veracruz, die Otomí aus Querétaro und die Chontales aus Ta­basco bis zu den Yaqui und Mayo in dem an die USA angrenzenden Bundesstaat Sonora. Dort gelingt es dem Regional­Kommittee der Confederación Nacional Indígena (CNI), einer PRI-Unterorganisa­tion, zum ersten Mal, die Bevormundung durch die örtliche PRI-Spitze abzuwehren: Nach einer wochenlangen Besetzung von Regierungsgebäuden und einem “Zapati­stischen Marsch” muß die Landes­regie­rung den unabhängigen Wunschkan­dida­ten als neuen CNI-Vorsitzenden ak­zep­tieren.
Während in Sonora das korporative Machtsystem der Staatspartei und ihres Paternalismus gegenüber den Indígenas erst zu bröckeln beginnt, existieren in konfliktreicheren Bundesstaaten wie Guerrero, Oaxaca und Michoacán, die auf eine lange Tradition indianischen Wider­stands zurückblicken, bereits unabhän­gige, eigenständige Organisationen. In Guerrero sind dies der Consejo de Pueblos Nahuas del Alto Balsas und der Consejo Guerrerense 500 Años de Resistencia In­dígena: Der Balsas-Rat ist ein Zusammen­schluß von extrem marginalisierten Dorf­gemeinden, deren physische Existenz durch den Bau eines hydroelektrischen Großprojektes bedroht ist: “Wir haben über Jahre hinweg mit der Regierung ver­handelt, und nichts hat es gebracht. Was wird geschehen, wenn es wie in Chiapas keine Lösungen gibt? Unsere Geduld geht zu Ende…” (Alfredo Ramírez & Eustaquio Celestino, Verhandlungsbeauftragte des Rates).
Der Consejo Guerrerense ist 1991 im Zu­sammenhang mit Protest-Veranstaltungen gegen die offiziellen Kolumbus-Jubelfei­ern entstanden; er verhandelt im Auftrag von mehr als 400 Dorfgemeinden aus Guerrero mit offiziellen Stellen über die Freilassung von gefangenen Campesinos, die Anerkennung kommunaler Land­rechte, die Finanzierung von lokal initi­ierten Entwicklungsprojekten, die Abtre­tung von Selbstverwaltungskompetenzen an die Dorfversammlungen und über die Anpassung der Infrastrukturmaßnahmen an die regionalen Bedürfnisse. Ende Fe­bruar hat der Rat einen Marsch auf Mexiko-Stadt durchgeführt, um den Kampf des EZLN zu unterstützen und die verschiedensten Forderungen zusammen­zutragen:
“Zapatistische Brüder: Ihr seid nicht al­lein! Wir sind Abertausende, in deren ehrlichen Herzen Ihr die Wut der Würde entzündet habt, in unseren Herzen, in un­seren Völkern. Deshalb haben wir be­schlossen, diesen Marsch für den Frieden und die Würde der Indígena-Völker unter dem Motto “Ihr seid nicht allein” durch­zuführen. Wir marschieren nach Mexiko-Stadt, um ein für alle Mal unsere Forde­rungen durchzusetzen, die wir am 13. Oktober 1992 dem Herrn Präsidenten Carlos Salinas de Gortari höchstpersön­lich in seinem Regierungspalast Los Pinos vorgelegt haben. Damals sind wir von Chilpancingo bis zur Hauptstadt hunderte von Kilometern gewandert, um uns Gehör zu verschaffen. Und was bekamen wir dafür? Nichts als Blasen an unseren nackten Füßen und Überdruß in unseren Herzen und Hoffnungen, die von so weit her kommen… Deswegen sagen wir, wie unsere zapatistischen Brüder in Chiapas: Das Schweigen der Indígenas ist zu Ende – Basta Ya!”
Auch in dem an Chiapas angrenzenden Bundesstaat Oaxaca hat eine neugegrün­dete Koalition von zapotecos und chinantecos ihr Recht auf lokale und re­gionale Selbstbestimmung und ihre Unter­stützung des Kampfes des EZLN bekräf­tigt. Während einer eigentlich als Wahl­kampfveranstaltung der PRI gedachten Versammlung und in Anwesenheit des in­zwischen ermordeten Präsidentschafts­kandidaten Luis Donaldo Colosio erklärte der Dorfvorsteher von Guelatao, Víctor García:
“Unsere Forderungen nach territorialer, politischer, wirtschaftlicher, rechtlicher und kultureller Selbstbestimmung müssen verstanden werden als Antwort auf eine politische Praxis, die gekennzeichnet ist von Zentralisierung, Marginalisierung, Korruption, Wahlbetrug und Aufzwingung illegitimer Repräsentanten und Pro­gramme, die nichts zu tun haben mit unse­rer Kultur. All dies hat unsere Dörfer dazu veranlaßt, praktische und manchmal gewaltsame Lösungen zu wählen, um un­ser Überleben zu ermöglichen. Von die­sem Ort aus erneuern wir unsere Aner­kennung für verzweifelte Aktionsformen, wie diejenigen in unserem Bruderstaat Chiapas. Wir betonen, daß für uns Frie­den ausschließlich die Respektierung des Rechtes des Anderen bedeutet. Wir wün­schen Ihnen, Herr Kandidat, daß Ihr Auf­enthalt in Guelatao Ihnen Anlaß gibt zu tiefer Nachdenklichkeit und ehrlicher So­lidarität mit der mexikanischen Nation und besonders seinen Indígena-Völkern”.
Und schließlich haben die Purhépecha des Bundesstaates Michoacán Ende Februar ihre über 50 Dorfgemeinden zu einem re­gionalen Treffen ins Hochland nach Pichátaro eingeladen. Die mehr als 200 von ihren Dorfversammlungen entsandten Vertreter haben jenseits von korporativen Banden, parteipolitischen Grenzen und alten Landkonflikten zwischen einzelnen Dörfern ein politisches Programm formu­liert, das die Beziehungen zwischen Indí­genas und Staat auf eine neue Grundlage stellen und den Zusammenhalt innerhalb der Region stärken soll. Gastgeber Abelardo Torres faßt zusammen:
“Statt Regierungshilfen anzuwerben, be­stand die Zielsetzung unserer Versamm­lung darin, die Einheit der Purhépecha um eine gemeinsame Plattform von Be­dürfnissen und Ansprüchen herum zu er­streben, die wir selbst formulieren und dann auch zusammen in lokalen Projekten verwirklichen. So isoliert wie bisher kön­nen wir nichts ausrichten. Es geht darum, die gleichen Wege auch gemeinsam zu ge­hen”.
Um die Erfahrungen, Forderungen, Stra­tegien und Aktionsformen dieser ver­schiedensten regionalen Treffen, Plattfor­men und Koordinationen zusammenzutra­gen, haben ca. 30 regionale und lokale Organisationen aus ganz Mexiko an­schließend zu einer Convención Nacional Electoral de los Pueblos Indígenas An­fang März in Mexiko-Stadt geladen. Ver­treterInnen von 40 Indígena-Völkern und 110 sozialen Organisationen und Initiati­ven erarbeiteten während dieser zweitägi­gen Wahlkonvention eine Charta für die am 21. August stattfindenden Präsident­schaftswahlen. Damit sollen zum einen die politischen Parteien dazu veranlaßt werden, das “tiefe Mexiko” in ihren Wahlprogrammen zu berücksichtigen; zum anderen geht es aber vor allem darum, der Indígena- und Campesino-Be­völkerung eine nationale Artikulations­ebene zu verschaffen, von der aus das Projekt Mexiko revidiert werden soll.

Kein größeres Stück Torte – sondern ein neues Rezept

Ebenso wie die Haltung des EZLN bei den “Verhandlungen” in San Cristóbal sprengen auch die Hauptforderungen der Purhépecha, Nahua, Zapotecos, Chinante­cos etc. das assistentialistische Modell, mit dem bisher das “fiktive Mexiko” die marginalisierten Verlierer der Modernisie­rung durch punktuelle und an korporative Gefolgschaften gebundene staatliche Fürsorge- und Entwicklungsprogramme wie PRONASOL ruhigzustellen und so Protest zu kanalisieren versucht. In allen programmatischen Erklärungen sowohl der regionalen als auch der nationalen Treffen stehen nicht eine Erhöhung des PRONASOL-Etats oder eine “Verbesse­rung” der Entwicklungspro­gramme im Mittelpunkt, sondern die Ab­tretung von Souveränität. Gefragt wird nicht mehr, wer wieviel bekommt, son­dern wer nach welchen Kriterien verteilen darf. Diese Neukonzeption des Verhält­nisses des Na­tionalstaates zu den Indí­gena-Völkern be­trifft die gesamte Zivilge­sellschaft, wie das “Kommunalstatut” der Triqui von Chi­cahuaxtla aus Oaxaca ver­deutlicht:
“Die Gemeinde von San Andrés Chicahu­axtla definiert ihre Souveränität als das Recht, frei zu leben auf dem Land, das sie seit Menschengedenken bewohnt und de­ren Grenzen vom mexikanischen Staat und von unseren Nachbargemeinden aner­kannt worden sind. Statt im Widerspruch zur Souveränität des mexikanischen Staa­tes zu stehen, trägt die Souveränität des Triqui-Volkes von San Andrés Chicahu­axtla, wie auch die der anderen Völker und Kulturen, die die mexikanische Ge­sellschaft bilden, dazu bei, sie zu bereichern und zu stärken und ihr histori­schen und sozialen Gehalt zu verleihen. Statt die mexikanische Verfassung und ihre Ausführungsgesetze gegen den Willen derjenigen Völker zu formulieren und durchzusetzen, die dieses Land ge­schaffen haben und es heute bilden, müs­sen Ver­fas­sung und Gesetze ausgehend von der voll­ständigen Anerkennung dieser Völker, ih­rer ureigenen Rechte, ihrer Tra­ditionen, Bräuche und Hoffnungen erlas­sen und an­gewandt werden”.
Ausgangspunkt der Autonomiebestrebun­gen ist immer die Dorfgemeinde als die historisch zentrale Instanz der Identitäts­stiftung: Nur die Comunidad konnte im Zuge eines fünfhundertjährigen Wider­standskampfes als Freiraum bewahrt wer­den. Auf dieser lokalen Ebene ist Selbst­bestimmung daher nicht eine Forderung nach Veränderung, sondern bloß nach ju­ristischer Anerkennung des Status Quo: Auch ohne offiziellen Verfassungsrang bildet die Comunidad als Versammlung aller Gemeindemitglieder die wichtigste Säule der direktdemokratischen Traditio­nen. Ihr Überleben als eigenständige poli­tische Instanz ist jedoch in den letzten Jahrzehnten durch das Vordringen des Staates und den damit einhergenden Prak­tiken des Polarisierens und Spaltens gefährdet.

Kampf um kommunales Land

Die Verteidigung und Stärkung der Indí­gena-Gemeinde richtet sich vor allem auf die Rückgewinnung des Kommunallandes und der darauf befindlichen Naturressour­cen. Wie schon einmal Mitte des 19. Jahr­hunderts stellt die 1992 von Salinas im Zuge der NAFTA-Verhandlungen durch­gesetzte neoliberale Privatisierung des Ejido- und Kommunallands (Art. 27 der Verfassung) die materielle Basis der Co­munidad zur Disposition. In der Verteidi­gung des Landbesitzes zeigt sich die neue Qualität der Beziehungen zum Staat: Keine einzige Indígena-Organisation fordert eine Rückkehr zur alten Fassung des Artikel 27, in der das Ejido als korpo­rativ und hierarchisch kontrollierter Staatsbesitz den Vorrang hatte vor dem lokal und dezentral verwalteten Kommu­nalland. Mit ihrer Forderung nach territo­rialer Autonomie wollen die Indígenas daher nicht irgendeine Konzession oder weitere Reformen des Art.27 erhalten, sondern sich – wie es der legendäre Plan de Ayala von Emiliano Zapata 1911 vor­sah – einen Freiraum für eigene, lokale und regionale Entscheidungen sichern. Dieser Prozeß der Rückeroberung der Kontrolle über die eigenen Ressourcen hat schon während der Diskussionen um die Abschaffung der kollektiven Besitzrechte begonnen. So setzt zum Beispiel das De­creto de la Nación Purhépecha von 1991 alle Verfassungsänderungen für ihr Terri­torium außer Kraft, die das Kommunal­land betreffen:
“Auf der Grundlage unseres historischen Rechtes, des Rechtes auf Souveränität und freie Selbstbestimmung über unsere Ge­genwart und unsere Zukunft, und ange­sichts der Tatsache, daß wir die legitimen Erben und Inhaber dieses Landes sind, haben wir, Mitglieder und Gemeinden der Purhépecha-Nation das folgende Dekret erlassen: 1) Wir setzen alle Reformen des Verfassungsartikels 27 und alle eventuel­len späteren Novellierungen derjenigen Artikel der mexikanischen Verfassung au­ßer Kraft, die die Indígena-Gemeinden, die Campesinos, die Arbeiter und das Volk im allgemeinen betreffen, wie die Artikel 3, 123 und 130. 2) Wir beanspru­chen die Unverjährbarkeit, die Unveräu­ßerlichkeit und die Nicht-Beschlagnahm­barkeit des Kommunal- und Ejido-Landes sowie ihre Definition als gesellschaftli­ches Eigentum. 3) Alle Kommunal- und Ejido-Bauern, die Parzellen oder Land ei­genmächtig verkaufen, werden aus den Gemeinden ausgestoßen. 4) Alle Anführer und Dorfautoritäten, die der Reform des Artikels 27 zugestimmt haben, ohne ihre Basis zu befragen, sind abgesetzt. Erlassen im Territorium der Purhépecha-Nation, am 5. Dezember 1991. Juchari Uinapikua! / Unsere Kraft! – Die Purhé­pecha-Gemeinden Michoacáns”.

Regionalautonomie und direkte Demokratie

Diese territorialen Souveränitätsansprüche münden gleichzeitig in eine politische Re­organisation des gesamten Staates. Gefor­dert wird nicht nur eine Dezentralisierung der Kompetenzen der Zentralregierung, sondern als erster Schritt eine Reform und Neuabgrenzung der Gebietskörperschaf­ten: In vielen Bundesstaaten führt die be­wußt künstliche Grenzziehung der Muni­cipio-Distrikte und der Wahlkreise dazu, daß eine Vielzahl von Indígena-Gemein­den einem mestizischen Distriktsvorort untergeordnet sind. Dadurch soll den In­dígenas der Zugang zu regionalen oder nationalen Ämtern und Mandaten syste­matisch erschwert werden, wie Margarito Ruiz, Tojolabal-Indígena aus Chiapas und ehemaliger Parlamentsabgeordneter der oppositionellen PRD, zeigt:
“Es ist historisch erwiesen, daß die Ein­teilung in Municipios und die verschie­denen anderen Gebietskörperschaften des Landes aufgrund von Interessenkonflik­ten zwischen Caudillos und anderen lo­kalen Kräften vollzogen worden ist. Die terri­toriale Gliederung Mexikos entspricht nicht Kriterien einer wirtschaftlichen, so­zialen oder kulturellen Regionalisierung. So kommt es, daß die Tojolabal, obwohl sie über ein geschlossenes Siedlungsgebiet verfügen, auf die Municipios Comitán, Las Margaritas, Altamirano und La Inde­pendencia aufgeteilt sind. Und die Tzotzil, die auch geschlossen siedeln, wurden in fünf verschiedene Municipios eingeteilt. Dies ist das vorherrschende Modell in fast allen Indígena-Regionen des Landes”.
Daher fordert die Wahlcharta der Natio­nalkonvention die Einführung pluriethni­scher Territorien mit jeweils eigener Re­präsentanz auf bundes- und zentralstaat­licher Ebene. An diese Regio­nen, die auch die innerhalb eines Indígena-Siedlungs­gebietes lebenden Mesti­zen umfassen und unabhängig von beste­henden Municipio-Grenzen eingerichtet werden sollen, müs­sen Municipios und Bundesstaaten Kom­petenzen im Sinne der territorialen Selbst­bestimmung abtreten.
Was die Wahlen auf den verschiedenen politischen Ebenen betrifft, lehnt die ge­meinsame Charta der Nationalkonvention das herkömmliche Modell der repräsenta­tiven Parteiendemokratie als unzulänglich für die Vertretung der Indígena-Interessen ab. Da in den Comunidades Entscheidun­gen nicht nach Parteienmehrheit getroffen werden, soll für jede pluriethnische Re­gion ein spezieller Wahldistrikt geschaf­fen werden:
“Unter Berücksichtigung unserer Formen des Regierens und unserer Sozialorgani­sation sowie zur Gewährleistung der vollen Repräsentation der Indígena-Völ­ker innerhalb der staatlichen Strukturen werden die autonomen Regionen ihre in­ternen Mechanismen der Bestimmung ih­rer Vertreter jeweils eigenständig festle­gen”.

Völkerrechtliche Verträge statt mehr Almosen

Die staatliche Anerkennung der kommu­nalen und regionalen Souveränität in den Bereichen territoriale Autonomie und Ressourcenkontrolle, politische Reprä­sentationsformen, Anerkennung der Indí­gena-Sprachen und das Recht auf selbst­bestimmte Erziehungs- und Kulturinstitu­tionen soll durch eine Reform des Artikels 4 der Verfassung erfolgen. Dieser Artikel erkennt in seiner aktuellen Fassung höchst schwammig die “plurikulturelle Zusam­mensetzung der mexikanischen Nation” und die staatliche Verpflichtung zum “Schutz der Sprachen, Kulturen, Bräuche, Ressourcen und Organisationsformen der Indígena-Völker” an.
Wie weit der Weg noch ist, bis Staat und Regierungspartei tatsächlich bereit sein sollten, Kompetenzen an die Regionen und Völker Mexikos abzutreten, zeigt das letzte offizielle Zugeständnis von Salinas an die Autonomieforderungen der Indí­genas: Kaschiert als Teil des “Verhandlungsergebnisses” mit dem EZLN wurde im März eine Comisión Nacional de Desarrollo Integral y Justicia Social para los Pueblos Indígenas er­nannt, in der jedoch bezeichnenderweise kein einziger Indígena vertreten ist. Das altbewährte Konzept “Assistentialismus für Indígenas, aber ohne Indígenas” wird erneut angewandt. Und auch der Aufga­benbereich der Nationalen Kommission ist identisch mit dem bestehenden, bereits 1948 gegründeten und mittlerweile vom Notprogramm PRONASOL vollständig aufgesogenen Instituto Nacional Indigeni­sta, dessen endgültige Abschaffung aller­orts gefordert wird.
Das korporative politische System Mexi­kos scheint sich – trotz “Modernisierung”, “Rückzug des Staates”, “Deregulierung” und ähnlicher technokratischer Ideolo­geme – aus Gründen des Machterhaltes der Elite des “fiktiven Mexiko” von über­kommenen Mustern der Kanalisierung von Protest, der Integration mittels Kor­ruption sowie der Disziplinierung durch Parteikanäle nicht lösen zu können. Was tun? Der abtrünnige Entwicklungsplaner und heutige Graswurzelaktivist Gustavo Esteva empfiehlt Sterbehilfe:
“Der Kampf um die einzelnen Forderun­gen und um das Land als solches bewir­ken eine schnelle und intensive Politisie­rung des öffentlichen Lebens, wodurch das Absterben des herrschenden politi­schen Systems beschleunigt wird, eines Systems, das meiner Ansicht nach bereits im Sterben liegt. Die gegenwärtige Her­ausforderung besteht darin, Bedingungen zu schaffen, um dem System einen würdi­gen Tod und ein ehrenhaftes Begräbnis zu bieten. Wenn wir diese Agonie oder sogar den Todesfall abstreiten oder zu verber­gen versuchen, wird der unbestattete Ka­daver schon sehr bald die übelsten Ge­rüche absondern”.
Das Tragische und Gefährliche liegt in der Ungleichzeitigkeit der Ereignisse und Akteure: Während sich der Apparat mitten in seiner Agonie gegenüber der Gesell­schaft weiterhin verhält wie vor vierzig Jahren, hat die Zivilgesellschaft selbst längst begonnen, der Aufforderung des Subcomandante Marcos von Mitte Januar zu folgen: Vorsichtig streift sie die ihr aufgezwungene Maske ab und erkennt langsam im noch ganz unbekannten, eige­nen Spiegelbild die Konturen des “tiefen Mexiko”.

Durchzug im Mief der Korruption

Die Indígenas, die im sonst von Touri­stInnen bevölkerten San Cristóbal de las Casas kleine Stoffpuppen verkaufen, ha­ben rasch umgestellt. Ihre Figuren, die sie auf den kleinen Tischen am Straßenrand vor der Kathedrale anbieten, tragen heute schwarze Ski-Masken – Hommage an “Subcomandante Marcos” und die anderen Zapatistas, die maskiert in der Kathedrale mit dem Friedensemissär der Regie­rung verhandelten. Was einige hier ganz marktwirtschaftlich zu Geld machen, scheint im ganzen Land Geltung zu haben: Die Unterstützung der indianischen Be­völkerung für die chiapanekischen Zapati­stas.
Aus dem Bundesstaat Guerrero waren hunderte von Indígenas zu Fuß nach Me­xiko-Stadt gelaufen, hatten den “zócalo” besetzt, den Hauptplatz, und in klarer So­lidarität mit den Zapatistas ihre eigenen Forderungen vorgetragen. Nach wenigen Tagen wurden sie vom Präsidenten emp­fangen, und wenig später konnten sie mit einem Bündel voller Zusagen den Heim­weg antreten. In San Cristóbal trafen sich Mitte März VertreterInnen von Indígena-Organisationen aus ganz Mexiko, zusam­mengeschlossen im “Rat der Indianer- und Bauernorganisationen” (CEOIC). CEOIC war nach Beginn des Chiapas-Aufstandes als Dachorganisation von mehr als 280 Gruppen gegründet worden. Das Treffen endete mit einem Forderungskatalog zur Veränderung der Verfassung: Indianische Formen der Selbstverwaltung sollen aner­kannt, die verschiedenen Indianer­sprachen generell als zweite Amtssprache zugelas­sen werden. Die staatliche India­nerbehörde soll von den Indígenas selbst geleitet werden. Letztendlich sollen an den Gerichten des Landes spezielle “Ämter für indigene Rechtsprechung” und wissen­schaftliche Beiräte zur Ausarbei­tung indi­gener Schulerziehungspro­gramme einge­richtet werden. Die indiani­schen Organi­sationen sind lauter gewor­den, seit der Aufstand der EZLN in Chia­pas die Regie­rung zum Einlenken ge­zwungen hat.
Und eingelenkt hat die Regierung tatsäch­lich. Das Angebot, das sie nach zehn Verhand­lungstagen der EZLN zur Been­digung des Konfliktes in Chiapas unter­breitet hat, ist noch kein Abkommen. Wenn Präsident Carlos Salinas immer vom “Friedensschluß” spricht, so könnte ihm das Ärger einbringen. Denn zu Recht be­steht Subcomandante Marcos darauf, daß es bislang nichts anderes gibt als eine Waffenruhe, eine Pause im Krieg also, und einen Vorschlag der Regierung, der zur Unterzeichnung eines Friedensab­kommens führen könnte.

Die Landfrage bleibt der Knackpunkt – seit 500 Jahren

Dennoch ist das Angebot der Regierung weit mehr als eine Lappalie. Die Antwor­ten auf die 34 Forderungen der Guerilla sind zwar recht allgemein formuliert, so daß da noch einiges an politischer Über­setzungsarbeit notwendig ist – zumal in die verschiedenen Indianersprachen. Weitreichend aber ist das Angebot den­noch: In vielen Punkten wäre eine tatsächliche Umsetzung regelrecht revo­lutionär (vgl. Dokumentation in diesem Heft).
Hauptstreitpunkt bleibt erwartungs­gemäß die Landfrage. Die Guerilla hatte gefor­dert, ein völlig neues Agrarreformge­setz auszuarbeiten, das wieder im Sinne der mexikanischen Revolution von 1917 die Umverteilung sichern sollte. Minde­stens aber sollte der 1991 reformierte Pa­ragraph 27 der mexikanischen Verfassung wieder in seiner ursprünglichen Fassung gelten. 1991 war der Schutz des indiani­schen Ejido-Besitzes praktisch aufgeho­ben worden. Seither blühten in Chiapas der Verkauf von Ländereien und die Boden­spekulation.
Die Regierung hat sich auf eine generelle Reform weder in der einen noch in der anderen Richtung eingelassen. Lediglich für den Bundesstaat Chiapas selbst hat sie unmittelbare Vorschläge unterbreitet, wie die Landbesitzfrage dort zu regeln sei. Das geht nicht ohne politische Kosten, und prompt rebellieren die “coletos”, die Mestizen von San Cristóbal, gegen die Verhandlungen, gegen Bischof Ruiz, ge­gen Manuel Camacho, aber vor allem ge­gen “diese Indios”.
Auch eine Reform des Wahlrechts ist in Aussicht – aber zunächst nur in Chiapas. Alles weitere bleibt dem Parlament vor­behalten. Das aber wird sich in diesen Ta­gen zu mehreren Sondersitzungen treffen, um über die im Grunde genommen hin­länglich bekannte Forderung nach Mecha­nismen, die saubere Wahlen garantieren, zu beraten.

Wahlrechtsreform, und neue Gedanken zur Kandidatenkür…

Und im Hinblick auf die Präsident­schaftswahlen im Sommer empfiehlt sich immer nachdrücklicher eben jener Frie­densunterhändler Manuel Camacho Solis. War er bei der ersten Kandidatenfindung der PRI noch gegenüber Luis Colosio un­terlegen, so entziehen immer größere Teile der Partei dem Wunschkandidaten des derzeitigen Präsidenten die Unterstüt­zung. Eine innerparteiliche Oppositions­gruppe “Demokratie 2000” erklärte, sie hätten schon 5.000 Unterschriften für Ca­macho als Kandidaten gesammelt, und eine andere Gruppe innerhalb der PRI gab gar bekannt, sie werde fortan überhaupt den Kandidaten der oppositionellen PRD Cuathemoc Cárdenas unterstützen.
Zwar ist über Camachos eigene Absichten noch nichts bekannt. Daß er aber trotz des großen Drucks, sich ob seiner Rolle als Unterhändler aus der aktiven Politik zu­rückzuziehen, in einer Rede ankündigte, er sei nicht bereit, seine politischen Rechte aufzugeben, läßt die Spekulationen fröhlich weiterblühen. Und immerhin: Carlos Fuentes schrieb über die Wahlen, sie müßten so sauber sein, daß man selbst einen Wahlsieg von Colosio glauben würde. Mit diesem Kandidaten sehen die Chancen der PRI nicht besonders gut aus. Camacho hingegen hat nicht nur einiges Verhandlungsgeschick bewiesen, er ging auch belobigt von Medien-Superstar “Subcomandante Marcos” aus den Ge­sprächen heraus, und das Bild, wie beide die mexikanische Fahne halten, ging um die Welt.

…aber wird sich für das indianische Mexiko viel ändern?

All das haben die Zapatistas losgetreten, aber derzeit lenkt es genau von ihnen und den vielen anderen Problemen ab, die ne­ben der Frage der Demokratisierung und der Präsidentschaft auch entscheidende Gründe für ihren Aufstand waren. Wäh­rend sich ein Großteil der mexikani­schen Gesellschaft in einer gewissen Scham über den Gegensatz zwi­schen Bundes­hauptstadt und ländlicher Region, zwi­schen arm und reich im eige­nen Land re­lativ einig ist, sind die politi­schen Konse­quenzen aus dieser Scham doch zu bezwei­feln. Was jahrhundertelang an den Rand gedrängt worden ist, kann nicht so plötz­lich zum bestimmenden Element der Poli­tik werden. So scheint es, als ob ge­rade diejenigen Forderungen der EZLN, über die die Regierung nicht verhandeln wollte – die aber auch den gering­sten Be­zug zur indianischen Realität ha­ben – die mittel­ständische Gesellschaft am meisten inte­ressieren: Wahlrechtsreform und die Zukunft der PRI-Regierung. Wenn selbst PRI-Kandidat Colosio mitt­lerweile eine internationale Überwachung der anste­henden Präsidentschaftswahlen ins Auge faßt, wenn das Parlament dem­nächst in Sondersitzungen über eine Wahlrechtsre­form debattieren wird, dann ist das zwar eine Dynamik in der politi­schen Kultur Mexikos, die in dieser Art von nieman­dem zu erwarten war. Ande­rerseits ist fraglich, ob sich über Reformen der de­mokratischen Spielregeln hinaus auch das Verhältnis zwischen dem indiani­schen und dem mestizischen Mexiko tatsäch­lich verändern wird. Und da sind Zweifel an­gebracht. Denn die Instru­mente, die im Regierungsangebot zur Verbesserung der Situation der Indígenas genannt werden, sind durchaus nicht re­volutionär. Wie sagte Camacho Solis bei der Vorstellung der Ergebnisse: “Die Ver­handlungen hat­ten ihre Grenzen: Es ist nichts akzeptiert worden, was die verfas­sungsmäßige Ord­nung schwächen könnte.” Außerdem lobt er: “Ohne das Vertrauen und die Rücken­deckung des Präsidenten wären diese Er­gebnisse nicht möglich ge­wesen. Die Hilfe der staatlichen Institio­nen in Chia­pas war entscheidend. Die Spielräume, die die Zivilgesellschaft dem Frieden ver­schafft hat, die Parteien, die Kirchen, die sozialen Organisationen und die Medien, haben dieses politische Er­gebnis ermög­licht. Die mexikanische Ar­mee hat ver­antwortungsbewußt zu der po­litischen Lö­sung beigetragen.” So ist nie­mand ausge­schlossen, niemand wird in Frage gestellt.
Dennoch zeigt sich gerade an den nervö­sen Reaktionen derjenigen, die in Chiapas etwas zu verlieren haben, daß die Karten doch neu gemischt werden. Schon ist die Rede von einer chiapaneki­schen Contra, schon wird von Überfällen und Mordan­schlägen auf indianische Füh­rer berichtet. Wo IndianerInnen die Ge­bäude der Stadt­verwaltungen besetzt hielten und die Ab­setzung der PRI-Bür­germeister forder­ten, gab es zum Teil handfeste Auseinan­dersetzungen mit AnhängerInnen der Re­gierungspartei. Auf lokaler Ebene vertei­digt die alte Herrschaft ihre Macht ohne Rücksicht auf diplomatische Etikette.

Unterstützung für die Indígenas oder nur für “Marcos”?

Auch die Indígenas entwickeln eine Dy­namik und erhalten Auftrieb. Nur: Sie werden bei den sozialen Kämpfen, die sie jetzt führen und die da noch kommen, weit weniger von der Öffentlichkeit unter­stützt werden, als das in der Frage der Wahlrechtsreform der Fall ist. Denn keine der bestehenden Parteien, auch nicht die moderat-linke PRD, kann ihrerseits auf die uneingeschränkte Unterstützung der Indígenas rechnen, noch könnte sie ihrer bisherigen Klientel die Forderungen der Indígenas nach territorialer Autono­mie vermitteln. Octavio Paz, erklärter re­gierungsnaher Gegner des Zapatista-Auf­stands, hat hier in einem Kommentar zu den Verhandlungsergebnissen sicher auf den Punkt gebracht, was mestizischer Konsens sein dürfte: “Was die Forderung nach einer Reform des Verfassungsarti­kels 4 betrifft, wäre es schwerwiegend, den indianischen Gemeinden autonome Verwaltungen zuzugestehen. Das nämlich würde bedeuten, daß gleichzeitig zwei Gesetze in Kraft wären: das nationale und das traditionelle. In politischer und kul­tureller Hinsicht ist der Pluralismus eine heilsame Angelegenheit, das aber ist auch die Integrität und Einheit der Nation.” Nein, so weit wie die nicaraguanischen SandinistInnen – nach langen blutigen Kämpfen – mit der Autonomie für die in­dianisch bewohnte Atlantikküste gegan­gen sind, möchte sich in Mexiko niemand vorwagen – zumal jede Regelung für Chiapas nahezu zwangsläufig zum Präze­denzfall für die anderen Bundesstaaten mit einem hohen Anteil indigener Bevöl­kerung werden könnte. Und letztendlich könnten viele in Mexiko-Stadt denken: Vielen Dank, liebe Zapatistas, daß ihr in dem Mief von Wahlbetrug und Korruption ein wenig Durchzug veranstaltet habt – aber nun langt’s auch allmählich mit eu­rem Auf­stand da unten.

Kasten:

Revolutionäres Gesetz der Frauen

Im gerechten Kampf für die Befreiung unseres Volkes hat die EZLN die Frauen in den revolutionären Kampf miteingeschlossen, unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrem Glauben oder ihrer politischen Herkunft. Die einzigen Bedingungen bestehen darin, sich die Forderungen des ausgebeuteten Volkes zu eigen zu machen und in der Verpflichtung, die Gesetze und Vorschriften der Revolution zu erfüllen. Um die Situation der Arbeiterinnen in Mexiko zu berücksichtigen, wurden ihre gerechten Forderungen nach Gleichheit und Gerechtigkeit im folgenden Gesetz aufgenommen:

 1. Die Frauen haben das Recht, unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrem Glauben und
     ihrer politischen Herkunft in dem Maße am revolutionären Kampf teilzunehmen
     wie es ihr Wille und ihre Fähigkeiten zulassen.
 2. Die Frauen haben das Recht auf Arbeit und einen gerechten Lohn.
 3. Die Frauen haben das Recht, selbst zu bestimmen, wieviele Kinder sie bekommen.
 4. Die Frauen haben das Recht, sich an den Gemeindeversammlungen zu beteiligen
     und Ämter zu übernehmen, wenn sie frei und demokratisch gewählt worden sind.
 5. Die Frauen und ihre Kinder haben das Recht auf besondere Aufmerksamkeit in
     Hinblick auf ihre Gesundheit und Ernährung.
 6. Die Frauen haben ein Recht auf Bildung.
 7. Die Frauen haben das Recht, ihren Partner frei zu wählen und dürfen nicht zur
     Eheschließung gezwungen werden.
 8. Keine Frau darf geschlagen oder körperlich mißhandelt werden, weder von
     Angehörigen noch von Fremden. Versuchte Vergewaltigung oder Vergewaltigung
     werden streng bestraft.
 9. Frauen können Führungspositionen in der Organisation und militärische Ränge im
     bewaffneten revolutionären Heer bekleiden.
10. Die Frauen unterliegen allen Rechten und Verpflichtungen, die in den Gesetzen
     und Regeln der Revolution festgelegt sind.
Aus: La Jornada 8. Februar 1994
Übersetzt von: Susan Drews

Abschied vom Comandante

“Wenn es mal so wäre”, kommentiert der sandinistische Befreiungstheologe Ernesto Cardenal die Frage, ob die Sandinistische Befreiungsfront (FSLN) die Zapatistas unterstützen würde. Denn sie tun es nicht. Die FSLN hat genauso wie die guatemaltekische URNG jahrelange Unterstützung von der mexikanischen Regierung erfahren, sei es materiell oder diplomatisch. Die PRI-Regierung erkannte die Guerilla-Bewegungen als “kriegführende Parteien” an, und in Mexiko-Stadt fanden viele Asyl, die als politische FührerInnen von Befreiungsbewegungen fliehen mußten.
Das ist verständlicher Grund für vornehme Zurückhaltung. Zuneigung korrumpiert die Analyse. Unverständlich aber ist, was ein “legendärer” Revolutions-Comandante sich an politischem Unsinn so leistet: Der ehemalige sandinistische Innenminister Tomás Borge, einziger noch lebender Mitbegründer der FSLN. Der ist richtig sauer über den Chiapas-Aufstand. Die Zapatistas stehlen seinem gerade veröffentlichten Buch die Show: Die Biografie von Mexikos Präsidenten Carlos Salinas de Gortari, ein Buch über “den großen Staatsmann und Modernisierer Mexikos.” Nun zeigt Chiapas, wie Borge drucksend zugibt “ein Schwarzes Loch” in der ansonsten “substantiellen wirtschaftlichen Entwicklung” Mexikos. Es könnte ja egal sein, würde Borge nicht die ganze FSLN mit ins politische Schlamassel ziehen. Im Interview mit dem El Nuevo Diaro meint der Alt-Revolutionär, er wolle “nicht den geringsten Zweifel lassen: Die FSLN ist die Freundin der Regierung Mexikos und der PRI.” Und setzt nach: “An der Atlantikküste meines Landes ereignete sich eine ethnische Rebellion unter Führung der Miskitos. Was die Regierung Mexikos in den ersten Tagen nach Beginn der Ereignisse in Chiapas tat, hat gewisse Ähnlichkeit mit dem, was wir nach einigen Jahren Krieg taten. Deshalb begrüßen wir den Versuch der Regierung Mexikos, eine Verhandlungslösung zu finden.” Als ob nicht lediglich der Druck der Öffentlichkeit und der Gewehre die Regierung Salinas davon abgehalten hätte, die aufständischen Zapatistas kurzerhand zusammenzuschießen.
Daß Salinas seinen Innenminister auswechselte, nachdem dieser für tagelange Menschenrechtsverletzungen in den vom Militär abgesperrten Gebieten in Chiapas Anfang Januar verantwortlich war und der öffentliche Druck riesig wurde, ist für Borge “praktische Selbstkritik” der Regierung Salinas, aber nicht “am Gehalt ihrer Amtsführung oder der globalen Strategie der Regierung, sondern eine kühne und notwendige Selbstkritik an bestimmten, jetzt ganz offensichtlichen Fehlern.”
Borge erklärt kurzerhand, die Aufständischen in Chiapas müßten wohl über sehr gute Kontakte zu Menschenrechtsorganisationen weltweit verfügen. Und überhaupt sei, wie man höre, eigentlich Bischof Samuel Ruiz für all das verantwortlich. Der habe seit zwanzig Jahren an der Vorbereitung des Aufstandes gearbeitet. Aber Borge sieht Hoffnung. Der neue PRI-Kandidat Luis Donaldo Colosio sei “ein Freund der Antworten vor Ort, weniger der bürokratischen Formalitäten.” So werde schon eine Lösung gefunden werden, die für ganz Lateinamerika Vorbild sein werde.
Eigentlich schade. Irgendwie war Tomás Borge, der alte, der radikale, doch sympathisch. Zeit, Abschied zu nehmen.

Was lange gärt…

Mit der zeitgleich zum Inkrafttreten der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA erprobten Strategie “Bomben gegen BäuerInnen” verabschiedet sich die regierende Elite Mexikos ganz offiziell von einem politischen System, das der peruanische Schriftsteller und neoliberale Gesinnungsgenosse Mario Vargas Llosa noch vor kurzem als die “perfekteste Diktatur Lateinamerikas” bezeichnet hatte. Während andere autoritäre Regimes des Kontinents auf Repression durch Militär setzten und dennoch niemals die Kontinuität und Stabilität Mexikos erreichten, beruht das mexikanische Modell des “korporativen Staates” auf der Integration aller gesellschaftlichen Gruppen und politischen Richtungen unter dem Dach einer einzigen, Staat und Nation umfassenden Partei: der Partei der institutionalisierten Revolution (PRI). Diesem nach den Revolutionswirren in den dreißiger Jahren vom heute mythischen Präsidenten Lázaro Cárdenas konzipierten Modell gelingt es, mittels hierarchisch der Parteispitze untergeordneter Zwangszusammenschlüsse von IndustriearbeiterInnen-, Angestellten- und Campesino/a-“Gewerkschaften” über Jahrzehnte hinweg die politische und wirtschaftliche Kontrolle ganz Mexikos zu gewährleisten. Notwendige Kurskorrekturen werden durch sorgfältig inszenierte “Brüche” im Übergang von einer als Präsidialdiktatur auf Zeit angelegten Sechsjahresregierung zur nächsten vollzogen, so daß Kontinuität und Wandel sich die Waage halten. Gegenüber Dissidenten wendet das Regime eine Doppelstrategie an: Einerseits die Vereinnahmung und Absorption abweichender Meinung und andererseits die gezielte Repression gegenüber einzelnen.
Schon seit dem Massaker in Tlatelolco an der StudentInnenbewegung von 1968 ist das “korporative Staatsmodell” Mexikos gescheitert, da die Politik der Vereinnahmung und Integration gegenüber einer ganzen Generation mißlungen ist. Die vermeintliche Identität von Staatspartei und Nation zerbrach. Im Rahmen der neuen sozialen Bewegungen gründen BäuerInnen, IndustriearbeiterInnen, LehrerInnen und andere Berufsgruppen seit Beginn der siebziger Jahre unabhängige Organisationen, die oft neben ihren eigenen “ständischen” Interessen gesamtgesellschaftliche Veränderungen erzwingen wollen. Vor allem als mit Ende der siebziger und Beginn der achtziger Jahre breit angelegte Allianzen und Koordinationen der verschiedenen unabhängigen Gruppen entstehen, verschärft das Regime seine Strategie: Neben staatliche Vereinnahmung und/oder Repression tritt die gezielte Unterwanderung und Spaltung unabhängiger Organisationen; dies geschieht zum einen durch paramilitärisch agierende Gruppen wie Antorcha Campesina (“Bauernfackel”), eine im Auftrag und in enger Abstimmung mit der Führungsclique der PRI-Campesino/a-Organisation wirkende Kadertruppe, die oppositionelle Campesino-Organisationen entweder unterwandert und anschließend entpolitisiert oder aber, falls dies nicht möglich ist, die AnführerInnen dieser Organisationen ermordet.
Die zweite Variante der Spaltungsstrategie erfolgt durch die selektive und an (partei)politische Kompromisse gebundene Vergabe staatlicher Mittel der Landwirtschafts- oder Regionalförderung. Und schließlich werden die Methoden der Wahlfälschung “modernisiert”: Zu klassischen Formen des Betruges bei der Stimmabgabe und -auszählung kommt das computergestützte “Rasieren” von EinwohnerInnen- und WählerInnenlisten sowie das Fälschen von Wahlausweisen (in einigen Orten Mexikos wählen mehr Tote als Lebende!).

Das Ende der PRI-Macht

1988 markiert das offizielle Ende des PRI-Monopols: Als sich Mexiko Anfang der achtziger Jahre nach fallenden Rohölpreisen außenwirtschaftlich verschuldet und somit seine wirtschaftspolitische Souveränität zum großen Teil an Weltbank und IWF abtreten muß, etabliert sich eine Gruppe neoliberaler, USA-höriger Technokraten und Banker an der Macht, die die Umsetzung der von den Gläubigern erzwungenen Strukturanpassungsprogramme garantiert. Die VerliererInnen dieser auf Rückzug des Staates aus der Wirtschaft, Liberalisierung und Privatisierung um jeden Preis begründeten Politik bilden bei den 1988 stattfindenen Präsidentschaftswahlen ein breites Oppositionsbündnis, das sich um den Sohn des “Gründervaters” Lázaro Cárdenas, Cuauhtémoc Cárdenas, formiert. Diese Partei, die sich heute “Partei der Demokratischen Revolution” (PRD) nennt, gewinnt die Wahlen – das gibt (fast) jeder Regierungspolitiker hinter vorgehaltener Hand zu. Dennoch erzwingt die PRI auch diesmal eine offenkundige Wahlfälschung, und zwar mit Hilfe eines plötzlichen Stromausfalls bei der Stimmenauszählung per Computer, durch die US-amerikanische Anerkennung des PRI-Kandidaten und Harvard-Zöglings Salinas de Gortari und durch massive, demonstrative Präsenz des Militärs in den Hochburgen der Opposition.
In der Regierungszeit des für viele MexikanerInnen weiterhin illegitimen Präsidenten Salinas offenbart sich der Grundwiderspruch, an dem das System scheitert: Eine neoliberale Politik der Privatisierung des kommunalen Landbesitzes, der Öffnung der Märkte für nordamerikanische Billigimporte und des Abbaus von Preisgarantien und anderen Fördermaßnahmen richtet sich gegen die existentiellen Interessen der Campesinos/as; um sich dennoch an der Macht zu halten, muß die herrschende Elite – entgegen ihren ideologischen Prinzipien – die alten, korporativen Zwangsstrukturen der Vereinnahmung, Repression und/oder Wahlfälschung zumindest auf dem Lande erhalten und stärken. Dies ist allerdings unmöglich, wenn sich der in Mexiko traditionell starke Staats- und Parteiapparat, wie im neoliberalen Dogma vorgesehen, zurückziehen soll.

Umerziehung der Armee

Als Garant für die Kontrolle der Bevölkerung bleibt einzig und allein das Militär. Diese Institution ist jedoch, anders als im restlichen Lateinamerika, nicht für Aufstandsbekämpfungsmaßnahmen gegen die eigene Bevölkerung ausgebildet. Schon 1988, als das Militär zur “Rückeroberung” von Rathäusern verwendet wurde, die die oppositionelle PRD nach der offenkundigen Wahlfälschung besetzt hatte, gab es in den Reihen der mit ihrem “Ahnherrn” Lázaro Cárdenas sympathisierenden Generäle Protest gegen den “innenpolitischen” Einsatz der mexikanischen Armee. Um langfristig die Loyalität des Militärs gegenüber der PRI-Spitze zu sichern, wurde der Widerstand dieser kritischen Generäle von Salinas gebrochen, indem die Armee schrittweise gezwungen wurde, an Maßnahmen zur Bekämpfung von Marihuanapflanzern und “Drogenkartellen”, zur Verfolgung guatemaltekischer Flüchtlinge und “illegaler Einwanderer” und schließlich zur Repression unabhängiger Campesino/a-Organisationen teilzunehmen. Diese Strategie wird seit Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre erprobt, und zwar primär im südlichsten und konfliktreichsten Bundesstaat Mexikos.

“Todo Chiapas es México” – warum Chiapas?

Chiapas ist kein Ausnahmefall, wie die mexikanische Regierung glauben machen möchte, sondern spiegelt die sozioökonomischen, ethnischen und politischen Probleme der restlichen zentral- und südmexikanischen Bundesstaaten bloß in verschärfter Form wider und nimmt deren zukünftige Konflikte vorweg. Der Unterschied besteht nur darin, daß in Chiapas früher als im übrigen Land die korporative Politik der Vereinnahmung und Kontrolle der Landbevölkerung durch die lokalen PRI-Institutionen gescheitert ist. Dies liegt hauptsächlich daran, daß hier eine Landreform nach der Revolution nie stattgefunden hat. Zum einen beschränkte sich die Revolution von 1910-17 in Chiapas auf einen lokalen Bürgerkrieg zwischen den Eliten der beiden größten Städte, Tuxtla Gutiérrez und San Cristóbal de Las Casas, in deren Verlauf vor allem die Tzotzil der umliegenden Dorfgemeinden gegeneinander ausgespielt wurden (in Chiapas leben 13 verschiedene indianische Völker und im letzten Zensus von 1990 bezeichneten sich ca. 28% der Bevölkerung Chiapas’ als “indianisch-sprachig”. Und zum anderen gelang es nach 1917 einem Zusammenschluß der regionalen Oligarchie aus Viehzüchtern, Kaffeeplantagenbesitzern (meist deutscher Abstammung) und städtischer Oberschicht, die Betreiber der Landreform zurückzuschlagen.
Nur im damals wirtschaftlich noch uninteressanten zentralen Hochland der Altos de Chiapas wurde Ejido-Land – den Bauern zur Nutzung übertragenes Staatsland – verteilt. In den wirtschaftlich attraktiveren Kaffee- und Zuckerrohrplantagen des Südens und Südostens sowie in den vieh- und holzwirtschaftlich interessanten Waldgebieten des nördlichen und nordöstlichen Tieflands dagegen bleiben die Besitzverhältnisse unangetastet oder juristisch jahrzehntelang umstritten – mehr als 25% aller zur Zeit anhängigen Landkonflikte Mexikos betreffen Chiapas. Der Bundesstaat ist bis heute geprägt von landlosen Bauernfamilien, die in die Städte oder in den Tropenwald der Selva Lacandona abwandern, sowie durch Tagelöhner, die durch Schuldknechtschaft an die Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen gebunden sind.

Alte Konflikte

Diese Situation extremer Marginalisierung der größtenteils indianischen Landbevölkerung, die einhergeht mit einem auch für mexikanische Verhältnisse extremen Rassismus der städtischen Mittel- und Oberschicht von Tuxtla und San Cristóbal, hat ihren Ursprung in der Agrarstruktur des 19. Jahrhunderts, als die indianischen Dorfgemeinden im Zuge wirtschaftsliberaler Gesetze ihren kommunalen Landbesitz verloren. Das politische Programm des Zapatismo, die Rückerstattung von Kommunalland und die Selbstverwaltung der Dorfgemeinde, ist also weiterhin – und nicht nur in Chiapas – unerfüllt geblieben. Ausschlaggebend für das Entstehen einer “neozapatistischen” Bewegung in Chiapas ist jedoch zusätzlich, daß gerade hier die vorrevolutionären Verhältnisse mit der neoliberalen Politik der gegenwärtigen mexikanischen Regierung zusammentreffen: Mit der Privatisierung des Bodenbesitzes im Zuge der Reform des Verfassungsartikels 27, also des Rückgrats der Landreform, mit der Öffnung der Agrarmärkte sowie dem Abbau staatlicher Kredit- und Vermarktungshilfen führt Salinas im wesentlichen die Agrarpolitik des USA-hörigen und 1910 in der Revolution gestürzten Diktators Porfirio Díaz fort. Somit kann der bewaffnete Kampf der EZLN in Chiapas gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Campesinos/as und Indígenas der Beginn einer auch andere Regionen Mexikos umfassenden Bewegung sein.
Die Wahl der direkten militärischen Konfrontation mag in der in Chiapas besonders ausgeprägten politischen Polarisierung begründet sein: Im übrigen Mexiko ermöglichte nach der Landreform von Lázaro Cárdenas das Ejido und besonders deren Leitung als unterste Stufe innerhalb der PRI-eigenen Bauernorganisation eine sowohl politische als auch ökonomische Integration der Bevölkerung in den gesamtmexikanischen Staats- und Parteiapparat. Dagegen mußte die PRI in Chiapas auf die vorrevolutionären Koalitionen zwischen der im Bundesstaat herrschenden Oligarchie und lokalen Kaziken, den Dorfeliten, Zwischenhändlern und Monopolisten, zurückgreifen.
Da es in vielen Gemeinden keine PRI-beherrschten integrativen Organisationsstrukturen gibt, sind interne Konflikte nur lösbar, indem der Kazike seine wirtschaftliche und politische Macht gegen die oppositionelle Gruppe einsetzt. Dies ist in Gemeinden wie San Juan Chamula oder Zinacantan geschehen, wo die lokale PRI-Elite nach offenkundigen Wahlfälschungen bei Kommunalwahlen unter religiösen Vorwänden – dem Eindringen radikalprotestantischer Sekten – seit Mitte der siebziger Jahre alle Dissidenten aus ihrem Ort zu vertreiben sucht. In den Fällen, wo diese Strategie nicht gelingt, werden paramilitärische Einheiten, die guardias blancas (“weiße Wächter”), von den Großgrundbesitzern angefordert. Die im Laufe der siebziger Jahre entstandenen unabhängigen Campesino-Organisationen und ihre AnführerInnen stellen die vorrangigen Zielscheiben dieser Privatarmeen dar, die oft mit der bundesstaatlichen policía judicial, der “politischen Polizei”, eng zusammenarbeiten.
Chiapas ist Hauptempfänger von Geldleistungen im Rahmen des “Nationalen Solidaritätsprogrammes” PRONASOL, das direkt nach den Wahlen von Salinas eingeführt wurde, um die Verlierer der neoliberalen Wirtschaftspolitik – also die Oppositionswähler von 1988 – mit Hilfe punktueller Maßnahmen zur “Notlinderung” zurückzugewinnen. Indem PRONASOL-Mittel nur an eigens dafür einzurichtende und größtenteils PRI-dominierte “Solidaritätskomitees” vor Ort vergeben werden, versucht das Regime, unabhängige Organisationen und lokale Initiativen erneut an sich zu binden. Doch da PRONASOL nur oberflächlich momentane Hilfen vergibt, ohne die existierenden Besitz- und Wirtschaftsstrukturen anzutasten, mißlingt im Falle Chiapas dieses Anliegen trotz der beträchtlichen Mittel, die aufgewendet wurden. Die PRI kann nicht gegen die eigenen Regionaloligarchien vorgehen, ohne ihre letzten Stützpunkte auf dem Lande aufzugeben.

Die neue Grenze

Diese oligarchischen Strukturen werden allerdings zunehmend problematisch, da Chiapas im Zuge der wirtschaftlichen Integration Mexikos in den nordamerikanischen Markt geostrategische Bedeutung erlangt hat: Zum einen sind die USA daran interessiert, die bisher relativ “durchlässige” Südgrenze der NAFTA-Zone zu schließen, kurzfristig, um die “illegale Einwanderung” von Zentralamerika Richtung USA zu bremsen, und langfristig, um somit die Mauer der “Ersten Welt” vom Río Grande nach Süden zu verschieben. Und zum anderen birgt Chiapas ein noch nahezu unerschlossenes wirtschaftliches Potential, nicht nur, was Tropenholz, Artenpatentierung und Staudämme in der Selva Lacandona betrifft, sondern vor allem hinsichtlich umfangreicher in diesem Gebiet gefundener Erdölreserven; deren Förderung ist zur Zeit noch blockiert, da die transnationalen Ölkonzerne darauf warten, daß Salinas die letzte Errungenschaft der mexikanischen Revolution preisgibt und das staatliche Erdölmonopol PEMEX zum Verkauf anbietet. Die regionale Viehzüchtervereinigung beabsichtigt außerdem, zur Belieferung des NAFTA-Marktes inmitten der Selva Lacandona eine großflächige Rinderfarm inklusive Fleischverarbeitungsbetrieb zu errichten, nur daß dafür noch 300.000 ha. Land benötigt werden, die sich (noch) im Besitz indianischer Campesinos/as befinden.
Vor diesem globalpolitischen und -ökonomischen Hintergrund muß die Militarisierung der Landkonflikte in Chiapas gesehen werden. Mit dem innenpolitischen Einsatz der Armee versucht die PRI, den direkten Zugang zu den strategisch wichtigen Ressourcen und Regionen des Landes wiederherzustellen, der gerade an der guatemaltekischen Grenze verloren zu gehen drohte. Gleichzeitig gelingt es Salinas, durch den Kampf gegen “Guerrilla, Drogenhandel und illegale ImmigrantInnen” das Militär (partei-)politisch zu kompromittieren und so auf einen eventuell im Sommer 1994 nach den Präsidentschaftswahlen und -wahlfälschungen nötigen großflächigen Einsatz gegen die parlamentarische Opposition vorzubereiten.
Daß der Einsatz des Militärs wohl kalkuliert und lange vorbereitet wurde, zeigt die Vorgeschichte des Januar-Aufstands des EZLN. Seit 1991 und verstärkt seit März 1993 fordern die Viehzüchter- und Großgrundbesitzervereinigungen von der Zentralregierung Armeeverbände zum Kampf gegen “Subversive” an, die eine Guerrilla im Regenwald aufbauen würden, gegen die ihre eigenen Repressionsapparate machtlos sind. Als im Mai 1993 eine Armee-Einheit auf ein Kommando des EZLN stößt, werden zum ersten Mal willkürlich nahe gelegene Dörfer bombardiert und einzelne BewohnerInnen verhaftet und gefoltert. Die Regierung versucht, die gesamte Operation geheimzuhalten und schnell abzubrechen, da gleichzeitig in den USA heftig über NAFTA debattiert wird; das knappe Abstimmungsergebnis im US-Kongreß zeigt, daß eine großangelegte Militäraktion schon im Sommer NAFTA wegen der voraussehbaren Reaktion der nordamerikanischen Öffentlichkeit hätte scheitern lassen. Erst mit dem Inkrafttreten von NAFTA 1994, das von vielen als “Kriegserklärung” an das indianische und bäuerliche Mexiko gewertet wird, bricht tatsächlich Krieg aus: ein Krieg zwischen dem Mexiko der USA-orientierten Modernisierer aus Mexiko-Stadt und dem agrarischen, dem “tiefen Mexiko” (Bonfil Batalla), dessen Zivilisation seit 500 Jahren negiert wird.

Campesino/a- und Indígena-Bewegungen in Chiapas

Ungefähr 10.000 Tzotzil, Tzeltal, Tojolabal und Chol – viele von ihnen symbolisch bewaffnet mit Pfeil und Bogen – zogen am 12. Oktober 1992 nach San Cristóbal und stürzten die Statue von Diego de Mazariegos zu Boden, mit dessen Invasion des Hochlands 1527 die Kolonisation Chiapas’ begonnen hatte. Diese und ähnliche Protestmärsche auch in anderen ethnischen Regionen Mexikos weisen auf eine fast 500jährige Kontinuität nicht nur der Invasion, des Landraubs und der Erniedrigung, sondern auch des indianischen Widerstandes – eines Widerstandes, der im Alltagsleben, in der Familie verwurzelt ist, der immer von der Dorfgemeinde ausgeht und deren sichtbarster Ausdruck die sogenannten Aufstände sind. Die Geschichte Chiapas’ ist die Geschichte von Revolten, deren Niederschlagung sowie deren Reorganisation: 1693 setzen die Zoque von Tuxtla ihren spanierhörigen Kazike ab, woraufhin spanische Truppen ein Massaker anrichten; im Jahre 1712 rebellieren, angespornt von einer indianischen Jungfrau Maria, 32 Tzotzil- und Tzeltal-Dörfer – zum großen Teil dieselben wie jetzt 1994! – gegen immer höhere Tributforderungen der Kirche und der Nachkommen der Conquistadores, bis im Gegenzug ganze Dörfer vernichtet werden; zwischen 1869 und 1870 belagern die Tzotzil unter Führung von Pedro Díaz Cuscat San Cristóbal, um ihr Kommunalland gegen die Privatisierungsreformen zu verteidigen – niedergeschlagen wird diese Rebellion vom damaligen Gouverneur, einem Uronkel des vom EZLN entführten Ex-Gouverneurs Absalón Castellanos Domínguez!
Die Kontinuität des indianischen Widerstandes nicht nur in Chiapas, sondern ganz Mexikos nährt sich aus der Verteidigung der politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Autonomie der Dorfgemeinde als der einzigen eigenen Organisationsform, die nicht durch die europäische Invasion und Kolonisation zerstört wurde. Ausgehend von dieser gemeinsamen Aktionsbasis verändern sich die Motive der indianischen Bewegungen entsprechend den Phasen der “Modernisierungspolitik” der Kolonisatoren:
1. Da die Spanier ihr Regime zunächst nicht auf Landbesitz gründen, sondern – neben der Missionierung – auf Kontrolle der indianischen Arbeitskraft und ihrer Früchte, richtet sich der lokale Widerstand gegen Tributzahlungen. Wie heute kämpfen die Dorfgemeinden innerhalb des kolonialen Rechtssystems (Petitionen an den König, gerichtliche Klagen etc.); doch wenn der Druck zu stark wird, entziehen sie sich dem System, in Chiapas meist durch Flucht in die noch nicht kolonisierte Selva – genauso wie 1994!
2. Als Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts die criollos, die Nachkommen der spanischen Eroberer, von der Abschöpfung von Tributen übergehen zur direkten Aneignung nicht nur entvölkerter Gebiete, sondern auch des Kommunallandes der Dorfgemeinden und so die haciendas, fincas und andere Formen des Großgrundbesitzes entstehen, konzentriert sich der indianische Widerstand auf die Rückgewinnung der Souveränität über Land. Die Enteignungswelle spitzt sich bis zum Ausbruch der Revolution 1910 zu, an der die indianischen Dorfgemeinden Südmexikos unter Zapatas Banner Tierra y Libertad teilnehmen. In den Regionen, wo eine Landreform tatsächlich erfolgt und den Gemeinden ihre Besitztümer rückerstattet werden, ruhen dementsprechend die indianischen Bewegungen zwischen den vierziger und siebziger Jahren dieses Jahrhunderts; doch in Chiapas geht der juristische und politische Kampf um die Anerkennung und Wiedererlangung ihres Landes – als Kommunalland oder als Ejido – bis heute weiter.
3. Auch in den Gebieten, wo eine Landreform tatsächlich durchgeführt wurde, verlieren die indianischen Gemeinden im Zuge der “Grünen Revolution”, der Mechanisierung, Kapitalisierung und Marktintegration der vormals regional subsistenten Landwirtschaft ihre wirtschaftliche Autonomie; sie werden abhängig von externen, staatlichen oder privaten Technologieanbietern, Zwischenhändlern und Kreditgebern. Daher bildet sich seit Ende der siebziger Jahre eine neue Campesino/a- und Indígena-Bewegung, die sich zusätzlich zur weiterhin akuten Rückeroberung von Land der Wiederherstellung der eigenen Kontrolle über den Produktionsprozeß im Rahmen kapitalistischer Marktstrukturen widmet; es entstehen neue, auch regionale und ansatzweise sogar nationale Organisationsformen wie Zusammenschlüsse verschiedener Ejidos zur gemeinsamen Produktvermarktung, Kreditvereine und Produktionskooperativen.
4. Und schließlich zeichnet sich seit Mitte bis Ende der achtziger Jahre eine neue Widerstandsfront ab, die bestrebt ist, die agroindustrielle Ausbeutung der Naturressourcen indianischer Regionen und der dadurch bewirkten Zerstörung der Lebensgrundlagen sowie die Patentierung des “genetischen Reservoirs” durch Pharma- und Chemiekonzerne zu bekämpfen. Es entstehen neue Organisationen zur Wiederaneignung und Verbreitung traditioneller, ökologisch angepaßterer Anbauformen. Um das weitere Vordringen agroindustrieller Konzerne zu verhindern und um sich nach Salinas’ Verfassungsreform gegen die Umsetzung der Privatisierung des Landbesitzes zu wehren, reicht die lokale Ebene des Widerstands nicht mehr aus. Daher bilden sich in vielen ethnischen Regionen Organisationen, die die Wiedergewinnung der politischen und wirtschaftlichen Kontrolle nicht nur über Kommunalland, sondern über ein ganzes Territorium samt seiner energetischen Ressourcen zum Ziel haben.
Auch wenn die Subjekte dieser Bewegungen historisch immer Indígena-Organisationen (einzelne Dörfer, ganze indianische Völker oder multiethnische Zusammenschlüsse) waren, entstehen seit den siebziger Jahren ähnliche Bewegungen unter mestizischen Campesinos. Da die Problematik meist identisch ist und so gut wie alle auf dem Land lebenden Indígenas kleinbäuerlich wirtschaften, sind die Hauptforderungen auch identisch; der Unterschied besteht nur darin, daß ethnisch geprägte Organisationen ihre Autonomieansprüche z.B. auf Land integral verstehen und somit in ihre Gesamtkultur eingebunden wissen wollen, während die meisten mestizisch geprägten Campesino-Gruppen die juristischen und ökonomischen Aspekte des kollektiven Landbesitzes betonen.
Die skizzierten Phasen der Campesino/a- und Indígena-Bewegungen sind in Chiapas wegen des Zusammentreffens vor-revolutionärer und neoliberaler Modernisierungsbestrebungen zeitgleich vorhanden: Auf den Kaffee- und Zuckerrohrplantagen kämpfen ganze Dorfgemeinden weiterhin um die Kontrolle der eigenen Arbeitskraft, da hier Schuldknechtschaft, Bezahlung in Naturalien im Finca-eigenen Monopol-Laden sowie teilweise sogar das jus primae noctis (das Vorrecht des Plantagenbesitzers auf den ersten Sexualverkehr der Töchter seiner Arbeiter) fortbestehen. Einer Protestbewegung in Simojovel, Chiapa de Corzo und El Naranjal gelang es 1977, die Besitzer einer Kaffee-Finca zu verteiben und diese als Ejido-Kooperative eigenständig weiterzuführen; bis heute kämpfen sie um die juristische Anerkennung ihres kollektiven Landbesitzes.

Der Indígena-Kongreß 1974

Ebenso wie in diesem Falle die Rückgewinnung der Kontrolle der eigenen Arbeitskraft in eine Bewegung zur Landverteilung mündet, entstehen in Chiapas Anfang der siebziger Jahre Organisationen, die die Versprechungen der Landreform einklagen und gleichzeitig eigenständige Vermarktungskanäle und Kreditvereine zu bilden beginnen. Von zentraler Bedeutung für den Übergang von lokal isolierten Initiativen hin zu regionalen und multiethnischen Organisationsformen war der Erste Indígena-Kongreß, der 1974 in San Cristóbal stattfand. Der Gouverneur des Bundesstaates dachte ihn als propagandistische Schauvorstellung zum 500jährigen Gedenken an die Geburt des ersten Bischofs von Chiapas, Bartolomé de Las Casas. Mangels offizieller Kontakte zur Basis wurde die Vorbereitung des Kongresses der Diözese von San Cristóbal anvertraut.
Der schon seit 1960 in der Region wirkende Bischof Samuel Ruíz bot zusammen mit seinen in den Dörfern aktiven KatechetInnen von 1972 bis 1974 sowohl den PRI-nahen als auch unabhängigen Gruppen Kurse über Landrecht, Produktionstechniken, Kreditquellen und mexikanische Geschichte an. Dank dieser intensiven Vorbereitung und der im Verlauf des Kongresses gewonnenen Erkenntnis, daß die Probleme der teilnehmenden Tzeltal, Tzotzil, Tojolabal und Chol im wesentlichen identisch sind, entstanden schon 1975 die ersten Uniones de Ejidos, unabhängig von der PRI-Bauernorganisation agierende regionale Zusammenschlüsse verschiedener lokaler Ejidos. Ihr primäres Ziel bestand in der juristischen Anerkennung bestehender sowie in der Schaffung neuer Ejidos; dies führte schon bald zu Konflikten mit Viehzüchtern, Plantagenbesitzern und Holzhändlern sowie mit lokalen Kaziken, die mit ihnen kollaborieren.

Netzwerke

Es kommt zum Einsatz offizieller oder paramilitärischer Repressionsmittel – wie schon in den Jahrhunderten zuvor werden ganze Dörfer, 1979 Vololchan und 1983 Simojovel und Bochil, massakriert.
Zur politischen Vertretung der eigenen Interessen werden mit Hilfe von KatechetInnen, die in verschiedenen Dörfern kirchliche Basisgemeinden aufbauen, erste Dachverbände für ganz Chiapas gegründet. Während sich die 1982 von Tzotzil aus Venustiano Carranza gebildete OCEZ (Organización Campesina Emiliano Zapata) vorrangig der juristischen Beratung und politischen Mobilisierung bei Landkonflikten widmet, forciert die 1980 geschaffene und 180 Dorfgemeinden umfassende Unión de Uniones de Ejidos y Grupos Campesinos Solidarios de Chiapas besonders den Kampf um die Kontrolle des Produktions- und Vermarktungsprozesses:
– Zum einen existiert seit 1982 mit der Unión de Crédito Pajal Ya’ Kactic eine parteiunabhängige Organisation, die aus verschiedenen Quellen (heute u.a. auch PRONASOL-Mitteln) zinsgünstige Kredite beschafft und sie an ihre Mitgliedsgruppen weiterleitet.
– Und andererseits versucht die Unión de Uniones, alternative Vermarktungskanäle für ihre KaffeeproduzentInnen zu öffnen.
Im Verlauf der achtziger Jahre integrieren sich die größten regionalen Zusammenschlüsse in lockere Koordinationen, die ganz Mexiko umfassen, wie die auf politische Interessenvertretung der Campesinos spezialisierte CIOAC (Central Independiente de Obreros Agrícolas y Campesinos) und das Netzwerk zur Kaffeevermarktung CNOC (Coordinadora Nacional de Organizaciones Cafetaleras).
Wie schon in der spanischen Kolonialzeit konzentrieren sich die Widerstandsformen auf die Ausschöpfung aller möglichen legalen Mittel: Petitionen, Gerichtsverfahren durch alle Instanzen, Demonstrationen und Protestmärsche – wie der im März 1992 in Palenque begonnene und von Chol, Tzotzil, Tzeltal, Tojolabal und Zoque aus ganz Chiapas mitgetragene Marsch der Xi’ Nich’ Wen Mich’, der “sehr erbosten Ameisen”, auf Mexiko-Stadt, um jahrelang anhängige Landtitel-Vergaben, die Freilassung indianischer Strafgefangener und die Absetzung korrupter Regionalpolitiker zu erreichen.

Bewaffneter Widerstand

Doch in den Gemeinden vor allem in der Selva, wo nach Erschöpfung aller Regierungsinstanzen die Konflikte ungelöst bleiben und nur durch Repression zu unterdrücken versucht werden, bildet sich – wie schon in den fünf Jahrhunderten zuvor – bewaffneter Widerstand. Seit 1974 kommt es vor allem in Ocosingo immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Guerrilla-Einheiten der “Bewaffneten Armee zur Nationalen Befreiung” FALN (Fuerzas Armadas de Liberación Nacional) und paramilitärischen Gruppen der Vieh- und Holzhändler sowie den nachrückenden militärischen Verbänden.
Das EZLN geht vermutlich Anfang der achtziger Jahre aus der FALN hervor; damals zieht sich deren ideologische Führungsgruppe, vor allem Überlebende der 68er Studentenbewegung und der 1974 im Bundesstaat Guerrero zerschlagenen Guerrilla, aus der Selva zurück und bekleidet heute Leitungsfunktionen in der PRI-Campesino/a-Organisation sowie in diversen Ministerien. Das neue EZLN verschafft sich durch Überfälle und die Entführung reicher Viehzüchter, Plantagenbesitzer und Zwischenhändler (seit 1988 allein 2.000!) eine breite finanzielle Basis zur Bewaffnung großer Bevölkerungsteile. Dies entspricht der neuen Strategie der jetzt einheimischen Anführer: Statt einen langatmigen und eher defensiven Guerrillakrieg verstreuter Kommandos zu führen, wie es das Konzept der Guerra Popular Prolongada der abgezogenen Kader vorsah, werden militärische Einheiten gebildet, die dank ihrer Unterstützung durch die umliegenden Dorfgemeinden eine frontale Auseinandersetzung mit den Regierungstruppen wagen können, wie das Vorgehen des EZLN seit dem 1. Januar 1994 zeigt. Eine derartige Taktik wäre – dies geben die heute etablierten Ex-Guerrilleros/as verblüfft zu – in der ländlichen Guerrilla der siebziger Jahre undenkbar gewesen.

Was lange gärt…

Mit der zeitgleich zum Inkrafttreten der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA erprobten Strategie “Bomben gegen BäuerInnen” verabschiedet sich die regierende Elite Mexikos ganz offiziell von einem politischen System, das der peruanische Schriftsteller und neoliberale Gesinnungsgenosse Mario Vargas Llosa noch vor kurzem als die “perfekteste Diktatur Lateinamerikas” bezeichnet hatte. Während andere autoritäre Regimes des Kontinents auf Repression durch Militär setzten und dennoch niemals die Kontinuität und Stabilität Mexikos erreichten, beruht das mexikanische Modell des “korporativen Staates” auf der Integration aller gesellschaftlichen Gruppen und politischen Richtungen unter dem Dach einer einzigen, Staat und Nation umfassenden Partei: der Partei der institutionalisierten Revolution (PRI). Diesem nach den Revolutionswirren in den dreißiger Jahren vom heute mythischen Präsidenten Lázaro Cárdenas konzipierten Modell gelingt es, mittels hierarchisch der Parteispitze untergeordneter Zwangszusammenschlüsse von IndustriearbeiterInnen-, Angestellten- und Campesino/a-“Gewerkschaften” über Jahrzehnte hinweg die politische und wirtschaftliche Kontrolle ganz Mexikos zu gewährleisten. Notwendige Kurskorrekturen werden durch sorgfältig inszenierte “Brüche” im Übergang von einer als Präsidialdiktatur auf Zeit angelegten Sechsjahresregierung zur nächsten vollzogen, so daß Kontinuität und Wandel sich die Waage halten. Gegenüber Dissidenten wendet das Regime eine Doppelstrategie an: Einerseits die Vereinnahmung und Absorption abweichender Meinung und andererseits die gezielte Repression gegenüber einzelnen.
Schon seit dem Massaker in Tlatelolco an der StudentInnenbewegung von 1968 ist das “korporative Staatsmodell” Mexikos gescheitert, da die Politik der Vereinnahmung und Integration gegenüber einer ganzen Generation mißlungen ist. Die vermeintliche Identität von Staatspartei und Nation zerbrach. Im Rahmen der neuen sozialen Bewegungen gründen BäuerInnen, IndustriearbeiterInnen, LehrerInnen und andere Berufsgruppen seit Beginn der siebziger Jahre unabhängige Organisationen, die oft neben ihren eigenen “ständischen” Interessen gesamtgesellschaftliche Veränderungen erzwingen wollen. Vor allem als mit Ende der siebziger und Beginn der achtziger Jahre breit angelegte Allianzen und Koordinationen der verschiedenen unabhängigen Gruppen entstehen, verschärft das Regime seine Strategie: Neben staatliche Vereinnahmung und/oder Repression tritt die gezielte Unterwanderung und Spaltung unabhängiger Organisationen; dies geschieht zum einen durch paramilitärisch agierende Gruppen wie Antorcha Campesina (“Bauernfackel”), eine im Auftrag und in enger Abstimmung mit der Führungsclique der PRI-Campesino/a-Organisation wirkende Kadertruppe, die oppositionelle Campesino-Organisationen entweder unterwandert und anschließend entpolitisiert oder aber, falls dies nicht möglich ist, die AnführerInnen dieser Organisationen ermordet.
Die zweite Variante der Spaltungsstrategie erfolgt durch die selektive und an (partei)politische Kompromisse gebundene Vergabe staatlicher Mittel der Landwirtschafts- oder Regionalförderung. Und schließlich werden die Methoden der Wahlfälschung “modernisiert”: Zu klassischen Formen des Betruges bei der Stimmabgabe und -auszählung kommt das computergestützte “Rasieren” von EinwohnerInnen- und WählerInnenlisten sowie das Fälschen von Wahlausweisen (in einigen Orten Mexikos wählen mehr Tote als Lebende!).

Das Ende der PRI-Macht

1988 markiert das offizielle Ende des PRI-Monopols: Als sich Mexiko Anfang der achtziger Jahre nach fallenden Rohölpreisen außenwirtschaftlich verschuldet und somit seine wirtschaftspolitische Souveränität zum großen Teil an Weltbank und IWF abtreten muß, etabliert sich eine Gruppe neoliberaler, USA-höriger Technokraten und Banker an der Macht, die die Umsetzung der von den Gläubigern erzwungenen Strukturanpassungsprogramme garantiert. Die VerliererInnen dieser auf Rückzug des Staates aus der Wirtschaft, Liberalisierung und Privatisierung um jeden Preis begründeten Politik bilden bei den 1988 stattfindenen Präsidentschaftswahlen ein breites Oppositionsbündnis, das sich um den Sohn des “Gründervaters” Lázaro Cárdenas, Cuauhtémoc Cárdenas, formiert. Diese Partei, die sich heute “Partei der Demokratischen Revolution” (PRD) nennt, gewinnt die Wahlen – das gibt (fast) jeder Regierungspolitiker hinter vorgehaltener Hand zu. Dennoch erzwingt die PRI auch diesmal eine offenkundige Wahlfälschung, und zwar mit Hilfe eines plötzlichen Stromausfalls bei der Stimmenauszählung per Computer, durch die US-amerikanische Anerkennung des PRI-Kandidaten und Harvard-Zöglings Salinas de Gortari und durch massive, demonstrative Präsenz des Militärs in den Hochburgen der Opposition.
In der Regierungszeit des für viele MexikanerInnen weiterhin illegitimen Präsidenten Salinas offenbart sich der Grundwiderspruch, an dem das System scheitert: Eine neoliberale Politik der Privatisierung des kommunalen Landbesitzes, der Öffnung der Märkte für nordamerikanische Billigimporte und des Abbaus von Preisgarantien und anderen Fördermaßnahmen richtet sich gegen die existentiellen Interessen der Campesinos/as; um sich dennoch an der Macht zu halten, muß die herrschende Elite – entgegen ihren ideologischen Prinzipien – die alten, korporativen Zwangsstrukturen der Vereinnahmung, Repression und/oder Wahlfälschung zumindest auf dem Lande erhalten und stärken. Dies ist allerdings unmöglich, wenn sich der in Mexiko traditionell starke Staats- und Parteiapparat, wie im neoliberalen Dogma vorgesehen, zurückziehen soll.

Umerziehung der Armee

Als Garant für die Kontrolle der Bevölkerung bleibt einzig und allein das Militär. Diese Institution ist jedoch, anders als im restlichen Lateinamerika, nicht für Aufstandsbekämpfungsmaßnahmen gegen die eigene Bevölkerung ausgebildet. Schon 1988, als das Militär zur “Rückeroberung” von Rathäusern verwendet wurde, die die oppositionelle PRD nach der offenkundigen Wahlfälschung besetzt hatte, gab es in den Reihen der mit ihrem “Ahnherrn” Lázaro Cárdenas sympathisierenden Generäle Protest gegen den “innenpolitischen” Einsatz der mexikanischen Armee. Um langfristig die Loyalität des Militärs gegenüber der PRI-Spitze zu sichern, wurde der Widerstand dieser kritischen Generäle von Salinas gebrochen, indem die Armee schrittweise gezwungen wurde, an Maßnahmen zur Bekämpfung von Marihuanapflanzern und “Drogenkartellen”, zur Verfolgung guatemaltekischer Flüchtlinge und “illegaler Einwanderer” und schließlich zur Repression unabhängiger Campesino/a-Organisationen teilzunehmen. Diese Strategie wird seit Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre erprobt, und zwar primär im südlichsten und konfliktreichsten Bundesstaat Mexikos.

“Todo Chiapas es México” – warum Chiapas?

Chiapas ist kein Ausnahmefall, wie die mexikanische Regierung glauben machen möchte, sondern spiegelt die sozioökonomischen, ethnischen und politischen Probleme der restlichen zentral- und südmexikanischen Bundesstaaten bloß in verschärfter Form wider und nimmt deren zukünftige Konflikte vorweg. Der Unterschied besteht nur darin, daß in Chiapas früher als im übrigen Land die korporative Politik der Vereinnahmung und Kontrolle der Landbevölkerung durch die lokalen PRI-Institutionen gescheitert ist. Dies liegt hauptsächlich daran, daß hier eine Landreform nach der Revolution nie stattgefunden hat. Zum einen beschränkte sich die Revolution von 1910-17 in Chiapas auf einen lokalen Bürgerkrieg zwischen den Eliten der beiden größten Städte, Tuxtla Gutiérrez und San Cristóbal de Las Casas, in deren Verlauf vor allem die Tzotzil der umliegenden Dorfgemeinden gegeneinander ausgespielt wurden (in Chiapas leben 13 verschiedene indianische Völker und im letzten Zensus von 1990 bezeichneten sich ca. 28% der Bevölkerung Chiapas’ als “indianisch-sprachig”. Und zum anderen gelang es nach 1917 einem Zusammenschluß der regionalen Oligarchie aus Viehzüchtern, Kaffeeplantagenbesitzern (meist deutscher Abstammung) und städtischer Oberschicht, die Betreiber der Landreform zurückzuschlagen.
Nur im damals wirtschaftlich noch uninteressanten zentralen Hochland der Altos de Chiapas wurde Ejido-Land – den Bauern zur Nutzung übertragenes Staatsland – verteilt. In den wirtschaftlich attraktiveren Kaffee- und Zuckerrohrplantagen des Südens und Südostens sowie in den vieh- und holzwirtschaftlich interessanten Waldgebieten des nördlichen und nordöstlichen Tieflands dagegen bleiben die Besitzverhältnisse unangetastet oder juristisch jahrzehntelang umstritten – mehr als 25% aller zur Zeit anhängigen Landkonflikte Mexikos betreffen Chiapas. Der Bundesstaat ist bis heute geprägt von landlosen Bauernfamilien, die in die Städte oder in den Tropenwald der Selva Lacandona abwandern, sowie durch Tagelöhner, die durch Schuldknechtschaft an die Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen gebunden sind.

Alte Konflikte

Diese Situation extremer Marginalisierung der größtenteils indianischen Landbevölkerung, die einhergeht mit einem auch für mexikanische Verhältnisse extremen Rassismus der städtischen Mittel- und Oberschicht von Tuxtla und San Cristóbal, hat ihren Ursprung in der Agrarstruktur des 19. Jahrhunderts, als die indianischen Dorfgemeinden im Zuge wirtschaftsliberaler Gesetze ihren kommunalen Landbesitz verloren. Das politische Programm des Zapatismo, die Rückerstattung von Kommunalland und die Selbstverwaltung der Dorfgemeinde, ist also weiterhin – und nicht nur in Chiapas – unerfüllt geblieben. Ausschlaggebend für das Entstehen einer “neozapatistischen” Bewegung in Chiapas ist jedoch zusätzlich, daß gerade hier die vorrevolutionären Verhältnisse mit der neoliberalen Politik der gegenwärtigen mexikanischen Regierung zusammentreffen: Mit der Privatisierung des Bodenbesitzes im Zuge der Reform des Verfassungsartikels 27, also des Rückgrats der Landreform, mit der Öffnung der Agrarmärkte sowie dem Abbau staatlicher Kredit- und Vermarktungshilfen führt Salinas im wesentlichen die Agrarpolitik des USA-hörigen und 1910 in der Revolution gestürzten Diktators Porfirio Díaz fort. Somit kann der bewaffnete Kampf der EZLN in Chiapas gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Campesinos/as und Indígenas der Beginn einer auch andere Regionen Mexikos umfassenden Bewegung sein.
Die Wahl der direkten militärischen Konfrontation mag in der in Chiapas besonders ausgeprägten politischen Polarisierung begründet sein: Im übrigen Mexiko ermöglichte nach der Landreform von Lázaro Cárdenas das Ejido und besonders deren Leitung als unterste Stufe innerhalb der PRI-eigenen Bauernorganisation eine sowohl politische als auch ökonomische Integration der Bevölkerung in den gesamtmexikanischen Staats- und Parteiapparat. Dagegen mußte die PRI in Chiapas auf die vorrevolutionären Koalitionen zwischen der im Bundesstaat herrschenden Oligarchie und lokalen Kaziken, den Dorfeliten, Zwischenhändlern und Monopolisten, zurückgreifen.
Da es in vielen Gemeinden keine PRI-beherrschten integrativen Organisationsstrukturen gibt, sind interne Konflikte nur lösbar, indem der Kazike seine wirtschaftliche und politische Macht gegen die oppositionelle Gruppe einsetzt. Dies ist in Gemeinden wie San Juan Chamula oder Zinacantan geschehen, wo die lokale PRI-Elite nach offenkundigen Wahlfälschungen bei Kommunalwahlen unter religiösen Vorwänden – dem Eindringen radikalprotestantischer Sekten – seit Mitte der siebziger Jahre alle Dissidenten aus ihrem Ort zu vertreiben sucht. In den Fällen, wo diese Strategie nicht gelingt, werden paramilitärische Einheiten, die guardias blancas (“weiße Wächter”), von den Großgrundbesitzern angefordert. Die im Laufe der siebziger Jahre entstandenen unabhängigen Campesino-Organisationen und ihre AnführerInnen stellen die vorrangigen Zielscheiben dieser Privatarmeen dar, die oft mit der bundesstaatlichen policía judicial, der “politischen Polizei”, eng zusammenarbeiten.
Chiapas ist Hauptempfänger von Geldleistungen im Rahmen des “Nationalen Solidaritätsprogrammes” PRONASOL, das direkt nach den Wahlen von Salinas eingeführt wurde, um die Verlierer der neoliberalen Wirtschaftspolitik – also die Oppositionswähler von 1988 – mit Hilfe punktueller Maßnahmen zur “Notlinderung” zurückzugewinnen. Indem PRONASOL-Mittel nur an eigens dafür einzurichtende und größtenteils PRI-dominierte “Solidaritätskomitees” vor Ort vergeben werden, versucht das Regime, unabhängige Organisationen und lokale Initiativen erneut an sich zu binden. Doch da PRONASOL nur oberflächlich momentane Hilfen vergibt, ohne die existierenden Besitz- und Wirtschaftsstrukturen anzutasten, mißlingt im Falle Chiapas dieses Anliegen trotz der beträchtlichen Mittel, die aufgewendet wurden. Die PRI kann nicht gegen die eigenen Regionaloligarchien vorgehen, ohne ihre letzten Stützpunkte auf dem Lande aufzugeben.

Die neue Grenze

Diese oligarchischen Strukturen werden allerdings zunehmend problematisch, da Chiapas im Zuge der wirtschaftlichen Integration Mexikos in den nordamerikanischen Markt geostrategische Bedeutung erlangt hat: Zum einen sind die USA daran interessiert, die bisher relativ “durchlässige” Südgrenze der NAFTA-Zone zu schließen, kurzfristig, um die “illegale Einwanderung” von Zentralamerika Richtung USA zu bremsen, und langfristig, um somit die Mauer der “Ersten Welt” vom Río Grande nach Süden zu verschieben. Und zum anderen birgt Chiapas ein noch nahezu unerschlossenes wirtschaftliches Potential, nicht nur, was Tropenholz, Artenpatentierung und Staudämme in der Selva Lacandona betrifft, sondern vor allem hinsichtlich umfangreicher in diesem Gebiet gefundener Erdölreserven; deren Förderung ist zur Zeit noch blockiert, da die transnationalen Ölkonzerne darauf warten, daß Salinas die letzte Errungenschaft der mexikanischen Revolution preisgibt und das staatliche Erdölmonopol PEMEX zum Verkauf anbietet. Die regionale Viehzüchtervereinigung beabsichtigt außerdem, zur Belieferung des NAFTA-Marktes inmitten der Selva Lacandona eine großflächige Rinderfarm inklusive Fleischverarbeitungsbetrieb zu errichten, nur daß dafür noch 300.000 ha. Land benötigt werden, die sich (noch) im Besitz indianischer Campesinos/as befinden.
Vor diesem globalpolitischen und -ökonomischen Hintergrund muß die Militarisierung der Landkonflikte in Chiapas gesehen werden. Mit dem innenpolitischen Einsatz der Armee versucht die PRI, den direkten Zugang zu den strategisch wichtigen Ressourcen und Regionen des Landes wiederherzustellen, der gerade an der guatemaltekischen Grenze verloren zu gehen drohte. Gleichzeitig gelingt es Salinas, durch den Kampf gegen “Guerrilla, Drogenhandel und illegale ImmigrantInnen” das Militär (partei-)politisch zu kompromittieren und so auf einen eventuell im Sommer 1994 nach den Präsidentschaftswahlen und -wahlfälschungen nötigen großflächigen Einsatz gegen die parlamentarische Opposition vorzubereiten.
Daß der Einsatz des Militärs wohl kalkuliert und lange vorbereitet wurde, zeigt die Vorgeschichte des Januar-Aufstands des EZLN. Seit 1991 und verstärkt seit März 1993 fordern die Viehzüchter- und Großgrundbesitzervereinigungen von der Zentralregierung Armeeverbände zum Kampf gegen “Subversive” an, die eine Guerrilla im Regenwald aufbauen würden, gegen die ihre eigenen Repressionsapparate machtlos sind. Als im Mai 1993 eine Armee-Einheit auf ein Kommando des EZLN stößt, werden zum ersten Mal willkürlich nahe gelegene Dörfer bombardiert und einzelne BewohnerInnen verhaftet und gefoltert. Die Regierung versucht, die gesamte Operation geheimzuhalten und schnell abzubrechen, da gleichzeitig in den USA heftig über NAFTA debattiert wird; das knappe Abstimmungsergebnis im US-Kongreß zeigt, daß eine großangelegte Militäraktion schon im Sommer NAFTA wegen der voraussehbaren Reaktion der nordamerikanischen Öffentlichkeit hätte scheitern lassen. Erst mit dem Inkrafttreten von NAFTA 1994, das von vielen als “Kriegserklärung” an das indianische und bäuerliche Mexiko gewertet wird, bricht tatsächlich Krieg aus: ein Krieg zwischen dem Mexiko der USA-orientierten Modernisierer aus Mexiko-Stadt und dem agrarischen, dem “tiefen Mexiko” (Bonfil Batalla), dessen Zivilisation seit 500 Jahren negiert wird.

Campesino/a- und Indígena-Bewegungen in Chiapas

Ungefähr 10.000 Tzotzil, Tzeltal, Tojolabal und Chol – viele von ihnen symbolisch bewaffnet mit Pfeil und Bogen – zogen am 12. Oktober 1992 nach San Cristóbal und stürzten die Statue von Diego de Mazariegos zu Boden, mit dessen Invasion des Hochlands 1527 die Kolonisation Chiapas’ begonnen hatte. Diese und ähnliche Protestmärsche auch in anderen ethnischen Regionen Mexikos weisen auf eine fast 500jährige Kontinuität nicht nur der Invasion, des Landraubs und der Erniedrigung, sondern auch des indianischen Widerstandes – eines Widerstandes, der im Alltagsleben, in der Familie verwurzelt ist, der immer von der Dorfgemeinde ausgeht und deren sichtbarster Ausdruck die sogenannten Aufstände sind. Die Geschichte Chiapas’ ist die Geschichte von Revolten, deren Niederschlagung sowie deren Reorganisation: 1693 setzen die Zoque von Tuxtla ihren spanierhörigen Kazike ab, woraufhin spanische Truppen ein Massaker anrichten; im Jahre 1712 rebellieren, angespornt von einer indianischen Jungfrau Maria, 32 Tzotzil- und Tzeltal-Dörfer – zum großen Teil dieselben wie jetzt 1994! – gegen immer höhere Tributforderungen der Kirche und der Nachkommen der Conquistadores, bis im Gegenzug ganze Dörfer vernichtet werden; zwischen 1869 und 1870 belagern die Tzotzil unter Führung von Pedro Díaz Cuscat San Cristóbal, um ihr Kommunalland gegen die Privatisierungsreformen zu verteidigen – niedergeschlagen wird diese Rebellion vom damaligen Gouverneur, einem Uronkel des vom EZLN entführten Ex-Gouverneurs Absalón Castellanos Domínguez!
Die Kontinuität des indianischen Widerstandes nicht nur in Chiapas, sondern ganz Mexikos nährt sich aus der Verteidigung der politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Autonomie der Dorfgemeinde als der einzigen eigenen Organisationsform, die nicht durch die europäische Invasion und Kolonisation zerstört wurde. Ausgehend von dieser gemeinsamen Aktionsbasis verändern sich die Motive der indianischen Bewegungen entsprechend den Phasen der “Modernisierungspolitik” der Kolonisatoren:
1. Da die Spanier ihr Regime zunächst nicht auf Landbesitz gründen, sondern – neben der Missionierung – auf Kontrolle der indianischen Arbeitskraft und ihrer Früchte, richtet sich der lokale Widerstand gegen Tributzahlungen. Wie heute kämpfen die Dorfgemeinden innerhalb des kolonialen Rechtssystems (Petitionen an den König, gerichtliche Klagen etc.); doch wenn der Druck zu stark wird, entziehen sie sich dem System, in Chiapas meist durch Flucht in die noch nicht kolonisierte Selva – genauso wie 1994!
2. Als Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts die criollos, die Nachkommen der spanischen Eroberer, von der Abschöpfung von Tributen übergehen zur direkten Aneignung nicht nur entvölkerter Gebiete, sondern auch des Kommunallandes der Dorfgemeinden und so die haciendas, fincas und andere Formen des Großgrundbesitzes entstehen, konzentriert sich der indianische Widerstand auf die Rückgewinnung der Souveränität über Land. Die Enteignungswelle spitzt sich bis zum Ausbruch der Revolution 1910 zu, an der die indianischen Dorfgemeinden Südmexikos unter Zapatas Banner Tierra y Libertad teilnehmen. In den Regionen, wo eine Landreform tatsächlich erfolgt und den Gemeinden ihre Besitztümer rückerstattet werden, ruhen dementsprechend die indianischen Bewegungen zwischen den vierziger und siebziger Jahren dieses Jahrhunderts; doch in Chiapas geht der juristische und politische Kampf um die Anerkennung und Wiedererlangung ihres Landes – als Kommunalland oder als Ejido – bis heute weiter.
3. Auch in den Gebieten, wo eine Landreform tatsächlich durchgeführt wurde, verlieren die indianischen Gemeinden im Zuge der “Grünen Revolution”, der Mechanisierung, Kapitalisierung und Marktintegration der vormals regional subsistenten Landwirtschaft ihre wirtschaftliche Autonomie; sie werden abhängig von externen, staatlichen oder privaten Technologieanbietern, Zwischenhändlern und Kreditgebern. Daher bildet sich seit Ende der siebziger Jahre eine neue Campesino/a- und Indígena-Bewegung, die sich zusätzlich zur weiterhin akuten Rückeroberung von Land der Wiederherstellung der eigenen Kontrolle über den Produktionsprozeß im Rahmen kapitalistischer Marktstrukturen widmet; es entstehen neue, auch regionale und ansatzweise sogar nationale Organisationsformen wie Zusammenschlüsse verschiedener Ejidos zur gemeinsamen Produktvermarktung, Kreditvereine und Produktionskooperativen.
4. Und schließlich zeichnet sich seit Mitte bis Ende der achtziger Jahre eine neue Widerstandsfront ab, die bestrebt ist, die agroindustrielle Ausbeutung der Naturressourcen indianischer Regionen und der dadurch bewirkten Zerstörung der Lebensgrundlagen sowie die Patentierung des “genetischen Reservoirs” durch Pharma- und Chemiekonzerne zu bekämpfen. Es entstehen neue Organisationen zur Wiederaneignung und Verbreitung traditioneller, ökologisch angepaßterer Anbauformen. Um das weitere Vordringen agroindustrieller Konzerne zu verhindern und um sich nach Salinas’ Verfassungsreform gegen die Umsetzung der Privatisierung des Landbesitzes zu wehren, reicht die lokale Ebene des Widerstands nicht mehr aus. Daher bilden sich in vielen ethnischen Regionen Organisationen, die die Wiedergewinnung der politischen und wirtschaftlichen Kontrolle nicht nur über Kommunalland, sondern über ein ganzes Territorium samt seiner energetischen Ressourcen zum Ziel haben.
Auch wenn die Subjekte dieser Bewegungen historisch immer Indígena-Organisationen (einzelne Dörfer, ganze indianische Völker oder multiethnische Zusammenschlüsse) waren, entstehen seit den siebziger Jahren ähnliche Bewegungen unter mestizischen Campesinos. Da die Problematik meist identisch ist und so gut wie alle auf dem Land lebenden Indígenas kleinbäuerlich wirtschaften, sind die Hauptforderungen auch identisch; der Unterschied besteht nur darin, daß ethnisch geprägte Organisationen ihre Autonomieansprüche z.B. auf Land integral verstehen und somit in ihre Gesamtkultur eingebunden wissen wollen, während die meisten mestizisch geprägten Campesino-Gruppen die juristischen und ökonomischen Aspekte des kollektiven Landbesitzes betonen.
Die skizzierten Phasen der Campesino/a- und Indígena-Bewegungen sind in Chiapas wegen des Zusammentreffens vor-revolutionärer und neoliberaler Modernisierungsbestrebungen zeitgleich vorhanden: Auf den Kaffee- und Zuckerrohrplantagen kämpfen ganze Dorfgemeinden weiterhin um die Kontrolle der eigenen Arbeitskraft, da hier Schuldknechtschaft, Bezahlung in Naturalien im Finca-eigenen Monopol-Laden sowie teilweise sogar das jus primae noctis (das Vorrecht des Plantagenbesitzers auf den ersten Sexualverkehr der Töchter seiner Arbeiter) fortbestehen. Einer Protestbewegung in Simojovel, Chiapa de Corzo und El Naranjal gelang es 1977, die Besitzer einer Kaffee-Finca zu verteiben und diese als Ejido-Kooperative eigenständig weiterzuführen; bis heute kämpfen sie um die juristische Anerkennung ihres kollektiven Landbesitzes.

Der Indígena-Kongreß 1974

Ebenso wie in diesem Falle die Rückgewinnung der Kontrolle der eigenen Arbeitskraft in eine Bewegung zur Landverteilung mündet, entstehen in Chiapas Anfang der siebziger Jahre Organisationen, die die Versprechungen der Landreform einklagen und gleichzeitig eigenständige Vermarktungskanäle und Kreditvereine zu bilden beginnen. Von zentraler Bedeutung für den Übergang von lokal isolierten Initiativen hin zu regionalen und multiethnischen Organisationsformen war der Erste Indígena-Kongreß, der 1974 in San Cristóbal stattfand. Der Gouverneur des Bundesstaates dachte ihn als propagandistische Schauvorstellung zum 500jährigen Gedenken an die Geburt des ersten Bischofs von Chiapas, Bartolomé de Las Casas. Mangels offizieller Kontakte zur Basis wurde die Vorbereitung des Kongresses der Diözese von San Cristóbal anvertraut.
Der schon seit 1960 in der Region wirkende Bischof Samuel Ruíz bot zusammen mit seinen in den Dörfern aktiven KatechetInnen von 1972 bis 1974 sowohl den PRI-nahen als auch unabhängigen Gruppen Kurse über Landrecht, Produktionstechniken, Kreditquellen und mexikanische Geschichte an. Dank dieser intensiven Vorbereitung und der im Verlauf des Kongresses gewonnenen Erkenntnis, daß die Probleme der teilnehmenden Tzeltal, Tzotzil, Tojolabal und Chol im wesentlichen identisch sind, entstanden schon 1975 die ersten Uniones de Ejidos, unabhängig von der PRI-Bauernorganisation agierende regionale Zusammenschlüsse verschiedener lokaler Ejidos. Ihr primäres Ziel bestand in der juristischen Anerkennung bestehender sowie in der Schaffung neuer Ejidos; dies führte schon bald zu Konflikten mit Viehzüchtern, Plantagenbesitzern und Holzhändlern sowie mit lokalen Kaziken, die mit ihnen kollaborieren.

Netzwerke

Es kommt zum Einsatz offizieller oder paramilitärischer Repressionsmittel – wie schon in den Jahrhunderten zuvor werden ganze Dörfer, 1979 Vololchan und 1983 Simojovel und Bochil, massakriert.
Zur politischen Vertretung der eigenen Interessen werden mit Hilfe von KatechetInnen, die in verschiedenen Dörfern kirchliche Basisgemeinden aufbauen, erste Dachverbände für ganz Chiapas gegründet. Während sich die 1982 von Tzotzil aus Venustiano Carranza gebildete OCEZ (Organización Campesina Emiliano Zapata) vorrangig der juristischen Beratung und politischen Mobilisierung bei Landkonflikten widmet, forciert die 1980 geschaffene und 180 Dorfgemeinden umfassende Unión de Uniones de Ejidos y Grupos Campesinos Solidarios de Chiapas besonders den Kampf um die Kontrolle des Produktions- und Vermarktungsprozesses:
– Zum einen existiert seit 1982 mit der Unión de Crédito Pajal Ya’ Kactic eine parteiunabhängige Organisation, die aus verschiedenen Quellen (heute u.a. auch PRONASOL-Mitteln) zinsgünstige Kredite beschafft und sie an ihre Mitgliedsgruppen weiterleitet.
– Und andererseits versucht die Unión de Uniones, alternative Vermarktungskanäle für ihre KaffeeproduzentInnen zu öffnen.
Im Verlauf der achtziger Jahre integrieren sich die größten regionalen Zusammenschlüsse in lockere Koordinationen, die ganz Mexiko umfassen, wie die auf politische Interessenvertretung der Campesinos spezialisierte CIOAC (Central Independiente de Obreros Agrícolas y Campesinos) und das Netzwerk zur Kaffeevermarktung CNOC (Coordinadora Nacional de Organizaciones Cafetaleras).
Wie schon in der spanischen Kolonialzeit konzentrieren sich die Widerstandsformen auf die Ausschöpfung aller möglichen legalen Mittel: Petitionen, Gerichtsverfahren durch alle Instanzen, Demonstrationen und Protestmärsche – wie der im März 1992 in Palenque begonnene und von Chol, Tzotzil, Tzeltal, Tojolabal und Zoque aus ganz Chiapas mitgetragene Marsch der Xi’ Nich’ Wen Mich’, der “sehr erbosten Ameisen”, auf Mexiko-Stadt, um jahrelang anhängige Landtitel-Vergaben, die Freilassung indianischer Strafgefangener und die Absetzung korrupter Regionalpolitiker zu erreichen.

Bewaffneter Widerstand

Doch in den Gemeinden vor allem in der Selva, wo nach Erschöpfung aller Regierungsinstanzen die Konflikte ungelöst bleiben und nur durch Repression zu unterdrücken versucht werden, bildet sich – wie schon in den fünf Jahrhunderten zuvor – bewaffneter Widerstand. Seit 1974 kommt es vor allem in Ocosingo immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Guerrilla-Einheiten der “Bewaffneten Armee zur Nationalen Befreiung” FALN (Fuerzas Armadas de Liberación Nacional) und paramilitärischen Gruppen der Vieh- und Holzhändler sowie den nachrückenden militärischen Verbänden.
Das EZLN geht vermutlich Anfang der achtziger Jahre aus der FALN hervor; damals zieht sich deren ideologische Führungsgruppe, vor allem Überlebende der 68er Studentenbewegung und der 1974 im Bundesstaat Guerrero zerschlagenen Guerrilla, aus der Selva zurück und bekleidet heute Leitungsfunktionen in der PRI-Campesino/a-Organisation sowie in diversen Ministerien. Das neue EZLN verschafft sich durch Überfälle und die Entführung reicher Viehzüchter, Plantagenbesitzer und Zwischenhändler (seit 1988 allein 2.000!) eine breite finanzielle Basis zur Bewaffnung großer Bevölkerungsteile. Dies entspricht der neuen Strategie der jetzt einheimischen Anführer: Statt einen langatmigen und eher defensiven Guerrillakrieg verstreuter Kommandos zu führen, wie es das Konzept der Guerra Popular Prolongada der abgezogenen Kader vorsah, werden militärische Einheiten gebildet, die dank ihrer Unterstützung durch die umliegenden Dorfgemeinden eine frontale Auseinandersetzung mit den Regierungstruppen wagen können, wie das Vorgehen des EZLN seit dem 1. Januar 1994 zeigt. Eine derartige Taktik wäre – dies geben die heute etablierten Ex-Guerrilleros/as verblüfft zu – in der ländlichen Guerrilla der siebziger Jahre undenkbar gewesen.

For Richer, For Poorer

Als Hintergrund der weltweiten Integrationsbestrebungen (NAFTA und EG-Binnenmarkt als herausragende Beispiele) wird die wachsende Globalisierung wirtschaftlicher Prozesse ausgemacht. Ausdifferenziertere Formen der Arbeitsteilung auf der Basis fortgeschrittener Technologie im Bereich der Telekommunikation und des Transportwesens ermöglichen inzwischen eine simultane Koordination der Produktionsprozesse in mehreren Ländern. Produktionsprozesse können somit aufgespalten werden, indem für den jeweiligen Produktionsabschnitt der weltweit günstigste Standort gewählt wird. Wenn auch diese Gobalisierungstendenz vornehmlich auf die Suche der transnationalen Konzerne (TNC) nach billiger Arbeitskraft zurückzuführen ist, gab die von den USA nach 1945 verfolgte Wirtschaftspolitik den Rahmen für diese Entwicklung vor. Als dominante Wirtschaftsmacht verschrieben sich die USA der Förderung des Freihandels, in Kenntnis ihrer überlegenen Wettbewerbsfähigkeit und des Bedarfes an zusätzlichen Absatzmärkten. Schwerpunkt dieser Strategie war der Versuch, im Rahmen der GATT-Verhandlungen auf eine globale Senkung der Handelsbarrieren hinzuwirken. Ergänzt wurde die Strategie durch kontinentale Integrationsprojekte, insbesondere das Freihandelsabkommen mit Kanada 1988 und eben das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) zwischen USA, Kanada und Mexiko.
Mexikos Hinwendung zu neoliberaler Wirtschaftspolitik ab Mitte der achtziger Jahre wird als Konsequenz der gescheiterten Politik der importsubstituierenden Industrialisierung (ISI) beschrieben. Mit dem Versuch, Importe durch den Aufbau einer eigenen Industrie zu ersetzen, sollte die Abhängigkeit vom internationalen Handel und von ausländischen Direktinvestitionen verringert werden. Erbrachte dieses Konzept beachtliche Wachstumsraten (1940-75: 6% jährlich), so wurden ab Mitte der siebziger Jahre die Mängel zusehends deutlicher. Wenn auch der Anteil der ausländischen Direktinvestitionen bis dato unter 3% gefallen war, so hielten in den schnell wachsenden Industriezweigen (Auto, Pharmazie) die transnationalen Konzerne ihre beherrschende Stellung aufrecht.
Die für Investitionen erforderlichen Kapitalgüter mußten weiterhin überwiegend importiert werden und eine Devisen erwirtschaftende Exportindustrie war nur rudimentär vorhanden. Die hieraus resultierende Abhängigkeit von den Öl-Einnahmen einerseits und den ausländischen Krediten andererseits kulminierte 1982 in Zahlungsunfähigkeit. Auslöser waren der Ölpreisverfall und die binnen eines Jahrzehnts sich annähernd verdoppelnden Kreditzinsen.
Um die Gläubiger zu einer Umschuldung zu bewegen, unterwarf sich Mexiko in der Folgezeit den neoliberalen Empfehlungen des Internationalen Währungsfonds (IWF). Die Senkung der Staatsausgaben, Peso-Abwertung und Privatisierung von Staatsunternehmen stellten bis 1989 die internationale Kreditwürdigkeit wieder her. Ein Reallohnverfall von 40% (1981 bis 1992), steigende Arbeitslosigkeit und eine wachsende Einkommensungleichheit bildeten die Begleitmusik.
Daß die Verflechtung der US-amerikanischen mit der mexikanischen Wirtschaft durch NAFTA nur ihre Fortsetzung, nicht aber ihren Ausgang erfährt, wird anhand der Geschichte der maquiladoras (Fertigungsstätten) illustriert. In diesen Betrieben werden importierte Vorprodukte veredelt, um danach wieder exportiert zu werden. Bereits 1965 gab die mexikanische Regierung die Nordgrenzgebiete für exportorientierte Fabriken ausländischer Provenienz frei. Vorwiegend US-amerikanische Konzerne siedelten sich in der bis 1972 auf einen 12,5 Meilen Umkreis beschränkten Region an. Ab 1972 waren maquiladoras bis auf Mexiko-Stadt, Guadalajara und Monterrey überall erlaubt. Von der Regierung ursprünglich als Beschäftigungsprogramm intendiert, bildete dieses Grenzindustrialisierungsprogramm den ersten Schritt einer Eingliederung Mexikos in die Industriestruktur der USA. Der Boom der maquiladoras ist ungebrochen und wird durch NAFTA weiteren Auftrieb erhalten. Schon jetzt entfällt ein Drittel des US-mexikanischen Handelsvolumens auf die maquiladoras und die Beschäftigtenzahl stieg von 20 000 im Jahre 1970 auf über eine halbe Million Ende 1992. Das Abkommen bietet nun generell freien Zugang zum US-Markt, weshalb die Attraktivität für ausländische Direktinvestitionen aus aller Welt gesteigert wird.
Von den AutorInnen werden drastische Folgen besonders für die Landbevölkerung erwartet. Ohnehin seit Jahrzehnten vernachlässigt, werden die mexikanischen Bauern und Bäuerinnen nun schutzlos der übermächtigen Konkurrenz der High-Tech-Farmer aus Kanada und den USA ausgeliefert. Die Subventionen für die Grundnahrungsmittel Mais und Bohnen fallen dem Abkommen zum Opfer. 72% der mexikanischen Maisbauern und -bäuerinnen, dies entspricht 2 Millionen Familien, werden von der Regierung Salinas als nicht konkurrenzfähig erachtet und sollen sich deshalb andere Erwerbsquellen erschließen. Insgesamt erwartet das mexikanische Agrarministerium bis 2010 eine Landflucht von 13 Millionen Bauern und Bäuerinnen.

ArbeiterInnensolidarität auf dem Prüfstand

Ein ganzes Kapitel widmen die AutorInnen dem Bemühen der ArbeiterInnen, sich grenzübergreifend den Herausforderungen der Globalisierung zu stellen. Einen Anfang machte bereits 1979 eine LandarbeiterInnengewerkschaft in Arizona, in der überwiegend mexikanische ImmigrantInnen zusammengeschlossen sind. 10, inzwischen 20 Cents sind von jedem Stundenlohn für einen Entwicklungsfonds abzuzweigen, der Landwirtschafts- und Gemeindeprojekte in den Heimatdörfern der LandarbeiterInnen fördert. Die Zusammenarbeit US-amerikanischer und mexikanischer Gewerkschaften zeigt zwar steigende Tendenz, beschränkt sich bisher aber nur auf vertrauensbildende Maßnahmen. Die Tatsache, daß die mexikanischen Gewerkschaften der Regierungspartei PRI hörig sind, macht die Zusammenarbeit nicht eben einfach. Die Verlagerung von Produktion ins Niedriglohnland Mexiko in der Vergangenheit hat zudem viel Unmut bei den betroffenen US-ArbeiterInnen ausgelöst. Gegenüber dem Integrationsniveau der Konzerne besteht auf Gewerkschaftsseite beträchtlicher Nachholbedarf, lautet das abschließende Fazit.

Realität und Theorie des Freihandels

Im abschließenden Kapitel werden Freihandel in Theorie und Realität und eine anzustrebende alternative Ausgestaltung diskutiert. Dabei werden sehr viele Aspekte angesprochen, die Tiefe leidet bisweilen darunter. Dies gilt vor allem für den theoretischen Teil, in dem unterschiedliche Ansätze, Freihandel zu begründen, einfach zusammengemixt werden, ohne aufzuzeigen, daß Klassik und Neoklassik zwar beide Freihandel propagieren, aber sehr wohl mit gänzlich unterschiedlichen Ausgangsannahmen.
Wenn schon den Integrationsbestrebungen realistischerweise nicht Einhalt geboten werden kann, so fordern die AutorInnen, daß Handelsabkommen zukünftig und im nachhinein wenigstens um 4 Aspekte ergänzt werden sollen. In die Entscheidungsprozesse soll eine breite Öffentlichkeit einbezogen werden, um zu verhindern, daß wenige FreihandelsbefürworterInnen ihre Interessen durchsetzen. Weiter soll Mexiko im Rahmen des NAFTA Ausgleichszahlungen erhalten, um die zu erwartenden enormen sozialen Kosten abmildern zu können. Die Errichtung einer Entwicklungsbank zur Wahrnehmung sozialer Aufgaben wird dabei als praktischer Vorschlag angeführt. Internationale Rahmenvorschriften hinsichtlich Arbeitsbedingungen, Migrationsbestimmungen und Menschenrechten einschließlich Durchsetzungsmechanismen (internationaler Gerichtshof, Handelssanktionen) sollen juristische Möglichkeiten schaffen, auf internationaler Ebene gegen Verstöße vorzugehen. Schließlich sollen Innovationen auf institutioneller Ebene für klare Verantwortlichkeiten sorgen. Als Beispiel wird eine binationale Kommission für die US-mexikanische Grenze genannt, die sich um Umwelt-, Arbeits- und Gesundheitsprobleme kümmern könnte.
Insgesamt überzeugt das Buch beim Beschreiben der Geschichte US-mexikanischer Integration im Industriesektor. Zu kurz kommt der Agrarsektor. Über die dort vorhandenen Strukturen werden nur sehr allgemeine, um wenige Beispiele angereicherte Ausführungen gemacht. Die Schwächen bei den theoretischen Teilen des Buches wurden schon angemerkt und können auch durch reichhaltige empirische Daten nicht wettgemacht werden. Die vorgeschlagenen Alternativen bei der Gestaltung von Integration zeugen nicht gerade von Originialität, spiegeln aber wohl den derzeitigen Stand der “alternativen” Diskussion wider. Wenn schon die Integration unumgänglich ist, dann wenigstens die Einflußmöglichkeiten und die soziale Abfederung verbessern.

Harry Browne: For Richer, For Poorer. Latin American Bureau 1994, 130 Seiten, DM 27,80 Über den LN-Vertrieb zu beziehen.

Mexiko: 1992 – 1993 – 1994

Das Jahr 1992 wurde zum vorläufigen Höhepunkt der Bemühungen des mexikanischen Staates, in den erlauchten Kreis des Nordens aufgenommen zu werden. Carlos Salinas de Gortari repräsentierte einen Staat, der über umfangreiche Privatisierungen ein neoliberales Wirtschaftsmodell praktizierte, den man für ordnungsgemäße Schuldenrückzahlung mit einem Teilerlaß belohnte und dem der Wahlbetrug zu seiner Amtsübernahme vergeben wurde.
Die Internationalismusbewegung beschäftigte sich mit dem Quinto Centenario, da bot es sich für die internationale Buchmesse in Frankfurt an, mit der Wahl Mexikos als Schwerpunktland einerseits auf den fahrenden Zug des öffentlichen Interesses aufzuspringen, andererseits mit dieser Wahl den Versuch zu unternehmen, ein Land vorzustellen, das – scheinbar – gerade nicht mehr in Abhängigkeit gehalten und ausgebeutet wurde. Mexiko selbst wiederum benutzte die Schau, um sich selbst als an der “Schwelle” zum Norden stehend darzustellen und begegnete den letzten verbliebenen KritikerInnen mexikanischer “Demokratie” mit einem Gesetz zur Errichtung einer nationalen Menschenrechtskommission.

1993: NAFTA über alles

1993 setzte sich dieser Trend einerseits fort und fand mit dem vorherrschenden Thema NAFTA einen neuen Focus. Die Strategie der mexikanischen Regierung konzentrierte sich ganz auf die Ratifizierung dieses Abkommens, die US-Administration ebenfalls, wohl wissend, daß unter Inkaufnahme von Arbeitsplatzverlusten unter dem Strich durch diese Freihandelszone die Vorherrschaft des US-Kapitals langfristig gesichert würde.
Um so größer war der Schock Anfang 1994. Der Aufstand der Indígenas in Chiapas sorgte für Aufregung. Und zwar um so mehr, je stärker der Einzelne an die “erfolgreiche” (Wirtschafts-)Politik von Salinas geglaubt hatte. Nur wenige waren nicht überrascht, daß der Aufstand ausbrach, sondern daß er nicht schon früher ausbrochen war (Carlos Fuentes). Rücken dementsprechend in diesem Jahr die ungerechten und undemokratischen Verhältnisse, die Armut und Abhängigkeit ein wenig mehr ins Blickfeld des Interesses?
Zwei umfangreiche Länderkunden aus den Jahren 1992 bzw. 1993 sollen vor dem oben beschriebenen Hintergrund beleuchtet werden. Passend zur Buchmesse haben Biesemeister und Zimmermann einen umfangreichen Sammelband mit dem Titel “Mexiko heute” herausgegeben. In über 40 Einzelbeiträgen werden Politik, Wirtschaft und Kultur des Landes analysiert. Daneben widmet sich ein gesondertes Kapitel dem deutsch-mexikanischen Verhältnis, und in einer Bibliographie ist die mexikanische Literatur in deutscher Übersetzung zusammengestellt. Es kann insgesamt aufgrund der Themenfülle und der Zusammenführung vieler Mexiko-SpezialistInnen als anspruchsvolles Informationsbuch und Nachschlagewerk gelten.
Aus einem Mexiko-Seminar des Instituts für wissenschaftliche Zusammenarbeit in Tübingen gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung erwuchs ein weiterer Sammelband “Mexiko – die institutionalisierte Revolution?”, 1993 herausgegeben von Sevilla und Azuela. Hier werden in 15 Einzelbeiträgen ebenfalls die Bereiche Politik, Kultur und Wirtschaft abgehandelt. Auffällig ist, daß beide Aufsatzsammlungen, im Unterschied zu klassischen geographischen oder sozialwissenschaftlichen Länderkunden letzten Jahrzehnte, ihr Schwergewicht auf die Kultur legen. Letztere besticht zudem durch eine Konzentration auf politisch aktuelle Problembereiche und Fragestellungen.
In “Mexiko heute” beschreibt Lauth die Situation von Parteien, Wahlen und Demokratie. Er konzentriert sich bei der Kritik an der mexikanischen Demokratie hauptsächlich auf den Wahlbetrug, kommt allerdings zu dem Schluß, daß die 1988er Wahlen auch bei korrekter Stimmenauszählung wohl nicht von der Opposition gewonnen worden wären. Gleichsam sieht er eine nach wie vor große “tatsächliche Akzeptanz der PRI” im Kontext “einer sich immer stärker pluralistisch konstituierenden Gesellschaft”, die ihren Ausdruck findet “in der wachsenden Anerkennung der Opposition bis hin zum Eingeständnis von Niederlagen”. Mit keinem Wort erwähnt er dagegen die subtile und effiziente Absicherung der Vormachtstellung der PRI im mexikanischen Staat. Ganz anders bei Nohlen im anderen Sammelband, der sich speziell mit der mexikanischen Wahlreform auseinandersetzt. Er kritisiert den “sanften Autoritarismus” der “Sechs-Jahre-Monarchie”, die fehlende Gewaltenteilung und kommt zu dem Schluß: “Der ‘Mehr-Partizipations’-Rhetorik steht eine entschiedene Machterhaltung in der Wahlgesetzgebung gegenüber. Madlener erörtert in letzterem Band zusätzlich die “Stellung und Aufgaben der Nationalen Menschenrechtskommission Mexikos”. Diese seit 1992 gesetzlich verankerte Einrichtung sollte primär bereits begangene Menschenrechtsverletzungen untersuchen. Von Anfang an gab es Zweifel, ob sie die Unabhängigkeit besitzen würde, um einen effektiven Menschenrechtsschutz auch präventiv gewährleisten zu können. So konnte sie – wie erwartet – die umfangreichen Menschenrechtsverletzungen Anfang dieses Jahres nicht verhindern, allerdings zusammen mit den Medien und einer durch NAFTA und die diesjährig anstehenden Wahlen sensibilisierten Öffentlichkeit immerhin zur Aufklärung bzw. Anprangerung des Regimes beitragen.

PRONASOL als soziales Feigenblatt?

Bei der Analyse der ökonomischen Situation fällt im Sammelband “Mexiko heute” auf, daß zwar eine detaillierte Behandlung von Landwirtschaft, Erdölwirtschaft, Verschuldung, Umweltproblematik und Tourismus erfolgt, durch diese Aufteilung in Einzelaufsätze jedoch kein Gesamteindruck bzw. keine konsequente Bewertung der Wirtschaftspolitik Salinas entsteht. So wird das “Solidaritätsprogramm” (PRONASOL) als Kontrapunkt neoliberaler Wirtschaftspolitik hingestellt und von Kürzinger das Fazit gezogen: “Ungeachtet der Unwägbarkeiten und Probleme kann der Zukunft mit gedämpftem Optimismus entgegengesehen werden”. Gleichwohl kommt ein anderer Autor (Sangmeister) zu dem Schluß: Es steht zu befürchten, “daß die sozialen (Folge-)Kosten der Auslandsverschuldung, die noch über längere Zeit zu tragen sind, wie schon bisher überwiegend den ärmeren Bevölkerungsschichten aufgebürdet werden, sofern keine verteilungspolitische Kurskorrektur der mexikanischen Wirtschaftspolitik erfolgt”. An dieser Stelle böte sich die kritische Analyse des “Solidaritätsprogramms” an – sie erfolgt jedoch nicht. Dabei wäre in diesem Zusammenhang gerade gut die Einbindung dieses Programms in die Strategie neoliberaler Flexibilisierung und den staatlichen Rückzug aus der Verantwortung für die gesellschaftspolitische Umverteilung herauszustellen gewesen.
In dem Buch “Mexiko – die institutionalisierte Revolution?” konzentriert sich Kielmann auf die Analyse des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens. Er beschreibt darin das Konzept, die Chronologie der Verhandlungen und gibt im Anhang eine kurze Beschreibung der Hauptbestandteile. Kein Wort hingegen taucht auf über die Akteure, weder scheint es handelnde Subjekte mit einem bestimmten Interesse für dieses Abkommen zu geben, noch irgendwelche Personen, die sich gegen die Ratifizierung wandten.
Zur Situation der “Indianer in Mexiko” schreibt Masferrer Kan in “Mexiko heute” einiges über die Fragen, wer denn eigentlich als “Indianer” zu bezeichnen ist, wo sie leben und über ihre Religionen. Er endet in dem Kapitel “Der mexikanische Staat und die Indios” mit der Erwähnung der Verfassungsänderung, wodurch der Staat jetzt als multiethnisch ausgerichtet definiert wird. Jetzt wo es eigentlich spannend wäre weiterzufragen, ob sich dadurch eventuell etwas positiv für die indianische Bevölkerung ändern wird, endet der Artikel. Ausführlicher beschäftigt sich Köhler mit dem komplizierten Verhältnis von Assimilation und Marginalisierung der Indianer Mexikos in dem anderen Sammelband. Er kommt zu dem Fazit, daß es nach wie vor kaum Aufstiegschancen für Indígenas gibt und ihnen nach wie vor nur die Erledigung der Drecksarbeit bleibt. In einem weiteren Beitrag beschreibt Guidi die “Auswirkungen des mexikanischen ‘Nationalprojektes’ auf eine mixtekische Gemeinschaft in Oaxaca”. Dabei bilanziert sie anhand einer ausgezeichneten Fallstudie treffend, daß “das Streben nach Fortschritt in Wirklichkeit nur Rückschritt bedeutet hat”.
Die Auseinandersetzung mit den aufgeführten Aufsätzen führt zu dem Ergebnis, daß, bei aller Heterogenität der AutorInnen der Sammelbände, letztlich beide zu einem gewissen Teil typisch für das eingangs beschriebene Zeitgefühl der Jahre 1992 bzw. 1993 sind. Dabei ist das erstere (Mexiko heute) ein wenig mehr der Ideologie des “Schwellenlandes” aufgesessen und das zweite in einigen Beiträgen sowohl aktueller als auch treffender.

Biesemeister/Zimmermann (Hrsg.) Mexiko heute: Politik, Wirtschaft, Kultur. Frankfurt/M. Vervuert, 1992. ISBN 3-89354-543-3. 88,-DM
Sevilla/Azuela (Hrsg.) Mexiko – die institutionalisierte Revolution? Unkel/Rhein Horlemann, 1993 ISBN 3-927905-82-8 38,-DM

Explosive Komponenten

Die bewaffnete Erhebung in Mexiko ist die wichtigste in diesem Land seit der Revolution von 1910. Die Explosion übersteigt bei weitem alle anderen bekannten Erfahrungen mit Guerillagruppen auf aztekischem Boden, einschließlich der ländlichen und städtischen Bewegungen der 70er Jahre.
Noch nie zuvor wurde ein Kontingent von 3.000 Aufständischen gesehen, die, von Frauen und Kindern begleitet, mit einem Schlag vier Ortschaften besetzten, unter ihnen solch große wie San Cristóbal de las Casas und Ocosingo.
Bei Lichte betrachtet, handelt es sich weniger um eine klassische Guerilla-Operation als um einen bewaffneten Massenaufstand. Mit explosiven Bestandteilen, wie etwa der klaren sozialen und ethnischen Identifikation der Kämpfenden: arme Campesinos aus dem ärmsten Staat Mexikos, und Indígenas vom Volk der Maya, in einer Provinz, in der sich die Großgrundbesitzer der Jagd von Indios widmen.

Gerüchteküche – je nach Gusto wird analysiert und interpretiert

Wer an einen klassischen “Guerilla-Foco” (Aufstandsherd, Anm. d. Red.) denkt, irrt sich. Ebenso derjenige, der ein Schema nach Art von Sendero Luminoso im Kopf hat. Das Zapatistische Befreiungsheer EZLN, das mit diesem Aufstand sein formales Debut gab, ist ein Heer, das sich bereits vorher angekündigt hat. Seit mehr als sechs Monaten reden Presse und politische Gerüchtebörse von Aufständischen, die sich still und heimlich in den bewaldeten und nebligen Hügeln von Chiapas vorbereiten. Schon vor sechs Monaten kündigten Campesinos, die heute Mitglieder der Milizen sind, in den Versammlungen ihrer Organisationen an, daß sie nicht wie sonst aussäen würden.
Ebenfalls vor sechs Monaten hörte ich während eines Abendessens im Hause von Jorge Castañeda, wie der Senator Porfirio Muñoz Ledo, Präsident der “Partido Revolucionario Democratico” (PRD) sagte, es gäbe keine derartige Guerilla. Vielmehr handele es sich um eine gigantische Provokation von Seiten des mexikanischen Innenministers Patrocinio González Garrido, der im Einvernehmen mit der Regierung von Chiapas handele. Ziel sei laut Meinung des Oppositionsführers, den Konflikt zu militarisieren, damit die Leute sich nicht der PRD anschlössen. Obwohl normalerweise recht scharfsinnig und gut informiert, scheint Muñoz Ledo sich in diesem Fall geirrt zu haben.
Auch wenn noch nicht alles vorüber ist, übersteigen die schwerwiegenden Geschehnisse schon jetzt den Rahmen einer möglichen Verschwörung, die einige dem militärischen Geheimdienst unterstellen. Laut letztgenannter Hypothese hätte ein Teil des mexikanischen Militärs, entrüstet über die wenig glanzvolle Rolle, die die Armee in den letzten sechs Jahren spielte -unter anderem wurde sie mit dem Drogenhandel in Verbindung gebracht – das “zapatistische” Phänomen wachsen lassen, um politischen Einfluß zurückzugewinnen. Dies klingt mir entschieden zu machiavellistisch.
Plausibler erscheinen dagegen andere Erklärungsansätze. Seit vielen Jahren – zehn Jahre sagen die einen, zwanzig die anderen – sollen sich einige überlebende Kader der Stadtguerilla “23. September” und der Landguerillas “Genaro Vázquez” und “Lucio Cabanas” in Chiapas festgesetzt haben, um ihre heimlichen Aktivitäten mit langfristiger Perspektive fortzusetzen. Die furchtbaren Rahmenbedingungen sozialer Ungerechtigkeit und politischer, ethnischer und sogar religiöser Verfolgung, die seit Jahrhunderten in dieser Grenzregion zu Guatemala herrschten, erleichterten der Guerilla die Arbeit. So soll es ihnen gelungen sein, sowohl der Regierungspartei PRI als auch der oppositionellen PRD einige Bauernorganisationen zu entreißen. Einige dieser Keimzellen hätten die Reihen der EZLN genährt. Die Regierung von Chiapas hat nach anderen Erklärungen gesucht. Sie beschuldigte die lokale Kirche und den Bischof Samuel Ruiz, mit dem sich die regionalen Autoritäten seit Jahren in einer erbitterten Konfrontation befinden.

Politikreflex: Wem nützt das alles?

Für die PRD, angeführt von dem Ingenieur Cuauhtémoc, erscheint die Situation ebenfalls nicht eindeutig. Einige Beobachter rechnen damit, daß bestimmte Kreise aus dem Umfeld der Regierung versuchen werden, die “Cardenistas” mit der EZLN zu identifizieren. Andere glauben dagegen, daß der PRD das Entstehen einer Guerilla links von ihr gelegen kommt, um das extremistische Profil abzuschütteln, das ihr angehängt werden soll, und sich dem magischen Zentrum anzunähern, wo sie die Wahlstimmen vermuten (oder vermuteten).
Die Regierung sieht auch , daß sich ein repressives Vorgehen im Zuge des kommenden Wahlkampfes kontraproduktiv auswirken könnte. Daher überrascht es nicht, daß Salinas zum Dialog aufgerufen hat. Paradox ist, daß Mexiko während der ganzen letzten Jahre im zentralamerikanischen Konflikt der vermittelnde und schlichtende Staat war. Jetzt, wo sich in der gesamten Region Friedensabkommen durchsetzen, explodiert der Krieg auf seinem eigenen Territorium.
Und nicht nur in Chiapas: In den letzten Monaten drangen mehr und mehr Meldungen an die Öffentlichkeit, daß es Guerillagruppen gibt, die sich seit Jahren im Hochland von Guerrero vorbereiten – in den gleichen Bergen, die die Guerilla von Lucio Cabanas beherrbergten, den gleichen, wo seit den achtziger Jahren der Drogenhandel seine blutige Spur hinterlassen hat. Haben die Zapatistas eine Verbindung zu den Guerilleros, die sich zur Zeit noch in den Bergen von Guerrero verbergen? Wird es nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren auch in Guerrero zu einer Explosion kommen?
Es ist schwierig, Voraussagen für Mexiko zu machen. Vor sechs Monaten besuchte der glänzende Präsidentschaftskandidat der PRI, Luis Donado Colosio, Las Margaritas, eine der vier Ortschaften, die zur Zeit von dem Zapatistischen Heer besetzt sind. Dort verteilte er wichtige Spenden. – Kurioserweise war Chipas der Staat, der im Rahmen des “Programa Nacional de Solidaridad” die meiste Unterstützung bekam.
So was soll vorkommen.

Der Argentinier Miguel Bonasso ist ehemaliges Mitglied der “Montonero”- Guerilla und arbeitet mittlerweile als Journalist.

gekürzt übernommen aus: Pagina/12 (Argentinien)

Menschenrechte und Repression in Chiapas

LN: Die Repression in Chiapas hat ja schon eine längere Geschichte. Worauf beruht sie?
Barragán: Das Regierungssystem hat immer die privilegierten Familien oder Kasten begünstigt, das politische Kazikentum in allen öffentlichen Ämtern gestärkt, die ohnehin von derselben politischen Klasse kontrolliert werden.
Im allgemeinen wurde den Indiogemeinschaften die Möglichkeit, Landkonflikte gerichtlich klären zu lassen, verwehrt. Die bundesstaatliche Justiz wird nach wie vor von der herrschenden Klasse verwaltet.
Jeder Widerstand und jeder Protest wurde mit Waffengewalt durch die Polizei, und in den letzten Monaten das Militär, unterdrückt.

Hat das Eingeifen der Militärs in der Region nicht gegen bestehende Gesetze verstoßen?
In der Tat ist der militärische Eingriff in der Region illegal, da er eigentlich der Genehmigung des Kongresses bedarf, so wie es in der Verfassung steht.
Nach Zeugenaussagen, die wir erhalten haben, wird bestätigt, daß Zivilisten ermordet wurden, daß Verletzte sterbend liegen gelassen wurden oder ihnen eine medizinische Behandlung nur bei dem medizinischen Personal des Militärs erlaubt war.

Hat es in Mexiko schon früher ähnlich bedeutende Guerilla-Bewegungen gegeben?
Die letzte wichtige Guerillabewegung war vor 20 Jahren im Bundesstaat Guerrero, die damals zuerst von Génaro Vázquez und dann von Lucio Cabañas angeführt wurde. Der General, der Lucio Cabañas besiegte, hieß Absalón Castellanos, und er wurde zur Belohnung Gouverneur von Chiapas. Daher kann seine Entführung zu Beginn des Aufstandes der EZLN in Verbindung mit den Ereignissen von damals gebracht werden.

Worin unterscheidet sich denn die EZLN von der damaligen Guerilla?
Vielleicht liegt der wichtigste Unterschied darin, daß die EZLN besser vorbereitet ist und über einen größeren Anhang verfügt.

Kam der Aufstand der Zapatisten überraschend?
Schon vor 6 Monaten war bekannt, daß es Guerilla-Aktivitäten gab. Es gab sogar Konfrontationen mit dem Militär. Dies teilte die stellvertretende Innenministerin Socorro Díaz mit, und der neue Innenminister Carpizo bestätigte es.

Inwieweit haben die Militärs sich an Menschenrechtsverletzungen beteiligt?
Immer gab es eine starke Militärpräsenz wegen der Gefahr, daß die guatemaltekische Guerilla in Chiapas eindringen könnte. Doch die Repression gegen die Indios und Bauern ging hauptsächlich von den “guardias blancas” (paramilitärische Einheiten, Anm. d. Red.) aus, die im Dienste der Großgrundbesitzer arbeiten. Diese “guardias blancas” genießen die Unterstützung der staatlichen Behörden. Genaue Angaben über ihre Stärke gibt es nicht, da sie immer wieder neu rekrutiert werden.

Was hat die staatliche Menschenrechtskommission (CNDH) gegen die Menschenrechtsverletzungen in Chiapas getan?
Die Kommission hat sich vor den gegenwärtigen Auseinandersetzungen mit vielen Problemen in Zusammenhang mit den Landkonflikten, der Repression und dem Zugang zu den Justizbehörden befaßt. Sie veröffentlichte zahlreiche Studien dazu. Sie hat sogar 29 schriftliche Empfehlungen zu über 200 Beschwerden gemacht, aber ohne Erfolg, da niemand sie beachtet. Nun hat sich die Kommission aufgrund der bewaffneten Konflikte um humanitäre Hilfen bemüht: wie durch die Einrichtung von Flüchtlingsunterkünften, durch die Registrierung von Übergriffen, z.B. der Erschießung von Guerilleros und Zivilisten. Sie hat aber nichts getan, um die Massaker gegen die Zivilbevölkerung und die Repression gegen JournalistInnen und die Presse zu verhindern.
Unabhängige Menschenrechtsgruppen haben über Menschenrechtsverletzungen berichtet und sind nach Chiapas gereist, doch sie werden ebenso wie die Presse zurückgehalten. Für viele MexikanerInnen ist die CNDH nur eine Fassade, um die gravierenden Menschenrechtsverletzungen der Regierung dahinter zu verbergen.

Was kann sich in Bezug auf die Menschenrechtssituation durch das Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada verändern?
Einen politischen Richtungswechsel wird es praktisch nicht geben, da die USA auf ihre wirtschaftlichen Interessen achten werden. Und das Fehlen einer wirklichen Demokratie in Mexiko interessiert die USA zumindest zur Zeit nicht, nicht einmal die gravierenden Menschenrechtsverletzungen.
Das Freihandelsabkommen wird für das Land andere Veränderungen bringen, vor allem wirtschaftliche und juristische. In wirtschaftlicher Hinsicht wird sich die Handelsbilanz nachteilig verändern und die Arbeitslosigkeit verstärken, wodurch der informelle Sektor weiter anwachsen wird. In Sachen Justiz werden die Veränderungen sehr wichtig sein, da das mexikanische Recht dem kanadischen und US-amerikanischen untergeordnet wird. Auf diese Weise kann ein Mexikaner (im wirtschaftspolitischen Bereich, Anm.d.Red.) in Zukunft seine Konflikte vor den Gerichten dieser beiden Länder schlichten lassen und so die sehr schlechte mexikanische Justiz übergehen.

In welcher Weise kontrolliert die Regierung die Opposition? In welcher Weise wird sie vereinnahmt?
Die Regierung charakterisiert sich durch ihr Bemühen, sozialen Protest über die Kontrolle der institutionellen Organe zu vereinnahmen. Daher wurde zu Beginn der jetzigen Legislaturperiode das Nationale Solidaritätsprogramm (PRONASOL) geschaffen, das wie CARITAS oder eine Einrichtung für das öffentliche Wohl wirkt, aber letztendlich Wahlziele (für die PRI, Anm. d. Red.) verfolgt. Doch selbst die Studien von PRONASOL verdeutlichen, wie schwierig es für die Regierung ist, den Unmut in der Bevölkerung abzubauen.
Die Kontrolle über die politischen Parteien ist zudem komplett, nicht zuletzt wegen der jüngsten Wahlreform, die Parteikoalitionen verbietet. Diese Wahlreform begünstigt die PRI, die auch, wenn Unvorgesehenes eintreten sollte, die Wahlgerichte kontrolliert, da diese dem Innenministerium unterstellt sind. Mensch kann sagen, daß, wenn Wahlbetrug notwendig werden sollte, dieser wie bisher auch ohne Schwierigkeiten und ohne Verstösse gegen geltendes Recht stattfinden kann.

Innerhalb der mexikanischen Regierung scheinen Veränderungen stattgefunden zu haben, die im Zusammenhang mit den Ereignissen in Chiapas stehen. So wurde beispielsweise als neuer Innenminister Jorge Carpizo ernannt, der vormals Vorsitzender der CNDH war. Gleichzeitig wurde Camacho Solís, der dem linken Flügel der PRI angehört, als Emissär nach Chiapas entsandt. Welche Bedeutung haben diese Veränderungen? Könnten sie zu einer Demokratisierung führen?
Im allgemeinen wurden die Veränderungen, die zur Ernennung von Jorge Carpizo geführt haben, sehr begrüßt. Insgesamt scheint jedoch die Regierung mit Ausnahme von Camacho über keine guten Politiker zu verfügen. Jorge Carpizo ist ein sehr schlechter politischer Unterhändler, wie er bewiesen hat, als er Rektor der UNAM (Nationalen Autonomen Universität von Mexiko in Mexiko-Stadt, Anm. d. Red.) war. Er ist hervorragend, um die Korruption aufzudecken und um auf die Schlechtigkeiten des Systems hinzuweisen, aber dann trägt er zu nichts Nützlichem bei, da er sich zurückzieht und sich dem System anpaßt, das ihn begünstigt. So war es, als er Präsident der CNDH und der Bundesstaatsanwaltschaft war: in letzterer Funktion brachte er in Mexiko das Corcuera Gesetz ein, das ja sehr kritisiert wurde.

Was beinhaltet dieses Gesetz?
Dieses Gesetz ermächtigt das Innenministerium (ministerio público), das über der Justizpolizei steht, in schweren Fällen oder in solchen, wenn es kein Gericht in der Nähe gibt, Haftbefehle und Hausdurchsuchungsbefehle zu erlassen. Darüber hinaus ermöglicht es, MexikanerInnen und AusländerInnen bis zu 96 Stunden ohne gerichtliche Genehmigung in Haft nehmen zu können.

Was ist die Regierungsstrategie, um die Probleme in der Region zu lösen und den Konflikt zu beenden?
Zunächst setzte die Regierung nur auf Repression und entsandte deswegen Truppen dorthin.
Danach bildete sie einen runden Tisch, um eine Lösung für die sozialen Probleme der Region zu suchen. An diesen runden Tisch wurden Vertreter des Verteidigungs-, Sozial-, und Innenministeriums und der Bundesstaatsanwaltschaft berufen.
Wie man sieht, handelt es sich hier – mit Ausnahme des Sozialministeriums – um eine Repressionsrunde. Es gibt bis jetzt keinen tiefgreifenden Vorschlag. Zum Beispiel müßte eine echte Agrarreform in Chiapas durchgeführt werden, die die Indiogemeinschaften und generell die Bauern begünstigt. Es muß eine politische Initiative unternommen werden, mit dem Ziel, die Ethnien anzuerkennen, mehr Selbstbestimmung und politische Partizipation einzuräumen. Ihnen muß ein Minderheitenvotum bei allen lokalen und bundesstaatlichen Regierungsentscheidungen ermöglicht werden. Und es muß eine tiefgreifende Sozialreform begonnen werden, die ihnen die minimalen sozialen Dienstleistungen (Trinkwasser, Strom, medizinische Versorgung, Schulen usw.) garantiert. Nichts von dem wird jedoch gemacht, da die Haushaltsmittel in die Präsidentschaftswahlkampagne fließen werden, und weil solche Reformen dem neoliberalen Kurs der Regierung widersprechen. Hier sagt man, daß zuerst Reichtum geschaffen werden muß, damit die Reichen den Armen gegenüber wohltätig sein können. Dies ist absurd.

Basta!

Freiheit statt Coca-Cola

Natürlich geht es in materieller Hinsicht, wie auch dem ‘Tagesspiegel’ klar sein dürfte, nicht um koffeinhaltige Erfrischungsgetränke, sondern um einen verzweifelten Aufschrei gegen Hunger und Verelendung. Natürlich geht es um den Kampf gegen Landraub und Massenarmut. Schon im Landesdurchschnitt lebt die Hälfte der MexikanerInnen unterhalb der Armutsgrenze. In Chiapas, einem bedeutenden Rohstofflager des Landes, ist es aufgrund von Rassismus, Flüchtlingselend und einem perfekt geschmierten Kazikensystem ein bedeutend höherer Anteil der Bevölkerung, der um das tägliche Überleben bangen muß. Und natürlich war das neoliberale Schockprogramm der 80er Jahre, inklusive der Reprivatisierung von Gemeinschafts- und ejido-Land, nicht nur die Eintrittskarte zu NAFTA, sondern außerdem Ursache von verstärkter Ausbeutung und Unterdrückung des indigenen Teils der Bevölkerung.
Eine rein ökonomische Betrachtungsweise jedoch versperrt den Blick auf das Freiheitsbedürfnis der Aufständischen. Der Schlachtruf “Tierra y Libertad” ist weder nur aus revolutionärer Tradition heraus gewählt worden, noch als alleiniger Protest gegen die Raffgier von Großgrundbesitzern, Viehzüchtern und Holzunternehmen. Der Schrei nach Freiheit richtet sich gegen die Menschenrechtsverletzungen in Mexiko und gerade in Chiapas, gegen die Repression organisierten Protests, gegen Bevormundung, illegale Verhaftungen, Folter und Morde. Da diese Verbrechen erst mit der Duldung oder Förderung durch lokale und regionale PRI-PolitikerInnen möglich sind, ist der Aufstand zugleich eine Herausforderung des politischen Systems, eines Herrschaftsapparates, dessen Funktion die organisierte Unterdrückung freier Meinungsäußerung ist. Jede Bombe auf ZivilistInnen und jede Exekution von gefangenen Zapatistas legitimiert diesen Aufstand aufs Neue.

Der Verrat des revolutionären Erbes

Als im November 1991 der Artikel 27 der mexikanischen Verfassung über Landverteilung und Eigentumsrechte modifiziert wurde, um eine Privatisierung von Gemeinschaftsland und damit eine Ausdehnung von Großgrundbesitz zu ermöglichen, fiel eine zentrale rechtliche Säule des sozialen Teils der Verfassung von 1917. Vergebens appellierte der Vorsitzende der Linksopposition PRD, Cuauhtémoc Cárdenas, an das revolutionäre Erbe und folgerte: “Es ist wieder an der Zeit, sich mit den Fahnen von Emiliano Zapata zu erheben, für wirtschaftliche Unabhängigkeit und nationale Souveränität”. Der Erfolg von Cárdenas bei den Präsidentschaftswahlen von 1988 war ein deutliches Zeichen an die PRI, daß weite Teile der Bevölkerung das einfordern, was die Verfassung aus der Revolutionszeit vorschreibt: Soziale Gerechtigkeit, nationale Unabhängigkeit und ein Vorgehen des Staates gegen die Privilegien der Eliten. Daß die PRI, wie ihr Name vorgibt, die Revolution ‘institutionalisiert’ habe, wollte eine stetig steigende Zahl von MexikanerInnen nicht mehr glauben. Die Dominanz von ausländischem, besonders US-amerikanischem Kapital, die Verquikkung von Wirtschaftselite und politischer Führung und der undemokratische Charakter des Systems sprechen eine andere Sprache.
Die Erhebung mit den Fahnen Zapatas, die Cárdenas gefordert hatte, findet nun statt, allerdings anders, als sich das die linkspopulistischen Neocardenistas vorgestellt hatten. Tiefgreifende Veränderungen, so das Signal aus Chiapas, lassen sich nicht über Wahlen erreichen, sondern nur über eine Erhebung des Volkes, in dessen Namen, aber gegen dessen Interessen, regiert wird. Zu tief sitzt das Mißtrauen gegenüber dem politischen System. Dieser militante Widerstand, so betonen die Zapatistas, ist nicht nur notwendig, sondern entspricht dem eigentlichen Geist der Verfassung. So wird im ersten Aufruf der EZLN die Verfassung zitiert: “Das Volk hat zu jeder Zeit das unveräußerliche Recht, die Form seiner Regierung zu wechseln oder zu ändern”. Der PRI wird somit das Recht abgesprochen, als Treuhänderin der Revolution zu regieren, als deren legitime VertreterInnen sich die Zapatistas betrachten. Die Revolte von Chiapas ist somit ein Fanal, das die PRI innenpolitisch weiter schwächt und außenpolitisch diskreditiert. Von der EZLN wird Salinas in einem Atemzug mit General Porfirio Díaz genannt, dem Diktator, gegen den sich Zapata vor 80 Jahren erhob. Die Parallelen zu dessen Aufstand sind so offenkundig, daß das Emblem ‘Verräter der Revolution’ nun dauerhaft an der PRI kleben bleiben wird.

“An das Volk von Mexiko”

Das Berufen auf revolutionäre Traditionen gilt seit fünf Jahren im internationalen politischen Diskurs als äußerst unfein. Von daher hat Mario Vargas Llosa in seinem Kommentar zum Aufstand in ‘El Pais’ aus seiner Sichtweise heraus natürlich völlig recht, wenn er von der EZLN als einer “anachronistischen Bewegung” spricht. Es ist in der Tat kaum anzunehmen, daß ein ‘Marsch auf Mexiko-Stadt’ die Regierung Salinas stürzt und im Gegenteil zu befürchten, daß das brutale Vorgehen der Militärs noch zahlreiche Opfer fordern wird, bis Chiapas ‘befriedet’ ist und der Repressionsapparat mit gesteigerter Gründlichkeit wieder arbeiten kann. Mit dem “ideologischen Salto rückwärts” (der ultimativen Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und radikaler Demokratisierung), den Llosa anprangert, müssen sich die Verfechter der ‘Strukturanpassungsprogramme’, zu denen der peruanische Schriftsteller gehört, schon auseinandersetzen. Offensichtlich ist der Ruf nach Freiheit und Gerechtigkeit zu populär, um ihn noch glaubwürdig in die Mottenkiste der Geschichte verbannen zu können.
Wie also kann eine Wirtschaftspolitik gerechtfertigt werden, die nur einer dünnen Oberschicht zugute kommt? Llosas Argumentation schwankt zwischen der Alternativlosigkeit nationaler Wirtschaftspolitik angesichts der Rahmenbedingungen des Weltmarkts (was auf staatlicher Ebene schwer zu bestreiten ist) und den auf lange Sicht wohltätigen Auswirkungen neoliberaler Wirtschaftspolitik für alle. Der Anspruch der PRI, die ganze Nation zu vertreten, kann nur dann aufrechterhalten werden, wenn der proklamierte Sprung des Landes in die ‘Erste Welt’ allen Bevölkerungsschichten Vorteile bringt. Die sozioökonomischen Realitäten Mexikos widersprechen dieser Lesart neoliberaler Schockprogramme grundlegend, und diesen Widerspruch betonen die Aufständischen. Der PRI wird nicht nur abgesprochen, legitime Vertreterin des revolutionären Erbes zu sein, sondern ebenso, ‘nationale’ Politik zu betreiben.
Die EZLN prangert in ihrem Aufruf nicht nur die “Abhängigkeit von ausländischen Mächten” und die Politik der Regierungskreise an, die “bereit sind, unsere Heimat zu verkaufen”. Dieser Vorwurf wurde zwar medienwirksam durch das zeitgleiche Inkrafttreten von NAFTA und dem Beginn des Aufstandes unterstrichen, doch die Zielrichtung ist eine andere, innenpolitische. Warum sonst, wenn die Mobilisierung der EZLN bereits seit Jahren läuft, fand die Revolte nicht vor der Abstimmung des US-amerikanischen Senats über NAFTA statt? Der Aufruf der Zapatistas wendet sich bewußt “an das Volk von Mexiko”, und, so betonen die Kämpfer, “wir haben ein Vaterland, und die Trikolore wird geliebt und respektiert”. In einem Interview führt Commandante Marcos explizit aus: “Wir sind MexikanerInnen, das eint uns, außerdem die Forderung nach Freiheit und Demokratie. Wir wollen unsere wirklichen RepräsentantInnen wählen”. Die EZLN besetzt auf diese Weise den Begriff ‘Nation’, und prangert zugleich die politische Elite als ‘Verräter’ und ‘unpatriotische’ Vertreter von Partikularinteressen an. Mehr als alles andere greift dieser Vorwurf die ideologische Hegemonie der PRI an.
NAFTA gewinnt durch diese Lesart eine andere Bedeutung: Über Jahrzehnte ist der ‘Antiimperialismus’ gegen die ‘Gringos’ aus dem Norden ein zentraler Bestandteil der nationalen Ideologie Mexikos gewesen. Durch die Öffnung der Grenzen ist diese Haltung von seiten der Regierung nicht mehr aufrechtzuerhalten. Durch das Brandmarken des ‘Ausverkaufs’ des Landes erhält so die Opposition ein wirkungsvolles propagandistisches Instrument in die Hand, um generell die Defizite der PRI-Politik aufzuzeigen.

Internationaler Imageverlust

Fortwährend hatte die liberale Presse in den USA für die Annahme von NAFTA getrommelt. Zwar wurde in Kommentaren von Zeit zu Zeit auch die Wahrung der Menschenrechte in Mexiko gefordert, aber grundsätzlich war dies eine zu vernachlässigende Größe. Nunmehr finden endlich die progressiven Kräfte in den Medien Widerhall, die von jeher ein Überdenken des Freihandelsabkommens mit einem repressiven Regime gefordert haben, und die relativ wenig mit dem Nationalpopulismus eines Ross Perot gemeinsam haben. Das Konzept von Salinas, sein Regime als aufstrebende Demokratie auf dem Sprung in die ‘Erste Welt’ auszugeben, wird durch den Aufstand empfindlich geschwächt. Mehr als alle Wirtschaftsdaten zeigt der militante Protest der Ausgebeuteten, daß die Ungleichheit in Mexiko strukturell ist, und nicht etwa ein unbedeutender Schönheitsfleck einer im wesentlichen erfolgreichen ‘Modernisierung’. Die Massaker durch Militärs, die Bombardierung der Zivilbevölkerung, die Verletzungen von Pressefreiheit und Genfer Konvention zeigen auch dem blauäugigsten Freihandelsenthusiasten auf, mit was für einem Regime hier Handel getrieben wird. Dies wird aller Voraussicht nach NAFTA nicht kippen. Aber die mexikanische Regierung kann den internationalen Druck nicht ignorieren, und sei es auch nur, um InvestorInnen nicht zu verschrecken.
Die Legitimität der PRI-Dominanz ist durch den Aufstand in Chiapas ein weiteres Mal und in unübersehbarer Form in Frage gestellt worden. Noch ist nicht absehbar, ob die Vorherrschaft der PRI so stark geschwächt wurde, daß die Tage der ‘Demokratur’ bereits gezählt sind. Aber die Parteibonzen sind durch den Aufruf der EZLN gewarnt: “Heute haben wir gesagt: Basta!”

Bahn frei für NAFTA

Eigentlich sollte Wirtschaftminister Serra Puche die Vertragsverhandlungen mit den USA und Kanada im Senat erläutern. Die PRI-Mehrheit hielt das allerdings für unnötig. Der Auftritt Serra Puches wurde ebenso abgesagt wie die landesweite Direktübertragung der Debatte und der Abstimmung des TLC durch das Fernsehen und das Radio. Typisch für die Stimmung unter dem Senatoren des PRI war die Reaktion des PRI-Politikers Miguel Alemán auf die Forderung von Porfirio Muñoz Ledo von der oppositionellen PRD, der Wirtschaftsminister möge bitte doch erscheinen: “Der Minister wird nicht kommen, nur weil Sie das möchten, Herr Senator!”, so Alemán.
Es ging um die wichtigste Entscheidung im Bereich der Außenwirtschaftspolitik seit der Verstaatlichung des Erdöls, aber die Mehrheit der Senatoren hatte kaum noch Interesse an den Diskussionen und Verhandlungen. In der letzten Woche vor der Verabschiedung war gerade noch eine Kommission von nur sechs Senatoren ernannt worden, weil Klauseln des Vertrages noch mit der Verfassung unter einen Hut gebracht werden mußten.
Am Tag nach der Verabschiedung des Vertrags in Washington sollte das Gutachten des mexikanischen Senats vorgestellt werden. Letzlich fand aber nur ein kleines freiwilliges Treffen weniger Senatoren statt, denen das Gutachten von Senatsbeirat Carlos Cabezas erläutert wurde. Für die Handelskomission, die das Gutachtengenehmigen musst, gab es nichts zu tun. Tatsächlich war das Dokument schon seit Ende Dezember 1992 fertig, als der Senat den Textentwurf für das Abkommen erhalten hatte. Wäre es nach der mexikanischen regierung gegangen, wäre der TCL schon damals verabschiedet worden, nur bremsten der Regierungswechsel in den USA und die Verhandlungen der Parallelabkommen die Eile der Regierung.
Glaubt man dem Gutachten, dann gab es eine
Trotzdem behauptet der Ausspruch, es hätte eine “gewissenhafte Analyse und Studie”, aus der hervorgeht, daß das Abkommen mit der Verfassung übereinstimmt hinsichtlich “der Außenpolitik, der Souveränität bezüglich der natürlichen Ressourcen der Nation, in Staatsangelegenheiten und in den Mexikanern vorbehaltene Aktivitäten, der Legalitätsprinzipien und Garantien und Rechte der Bürger.”
Den Abkommen zu verabschieden, ist, so die Senatoren, zu einer strategischen Option für die mexikanische Wirtschaft geworden. Durch diesen Pakt “versuchen wir, unsere Kapazitäten und produktiven Ressourcen optimal auszunutzen und außerdem durch die Förderung nationaler und fremder Investitionen, die Bildung von strategischen Allianzen und den Transfer fortschrittlichster Technologie, das Entstehen internen Kapitals zu erhöhen” und das ganze auch noch “ohne denen, die wenig haben, noch mehr Opfer abzuverlangen”.

Die Unternehmer im Nebenraum

Profirio Muñoz Ledo dagegen gab eine pikante Schilderung der Rolle des Senats im Prozeß der Debatte und Billigung des TLC. Der Senat sei “der Exekutive völlig untergeordnet”, so Muñoz Ledo, “es gab ein Senat innerhalb des Senats, eine vom Wirtschaftsministerium bezahlte Fraktion. Man gab ihr Unsummen, um zum Schein Anhörungen zu organisieren. Kein Komma haben sie im Abkommen verändert. Kein Senator der PRI hat an den Verhandlungen teilgenommen. Die Unternehmer kamen und sagten uns, sie seien “im Nebenraum”, während der Senat zu einer Bühne für leere Worte verkam. Anschließend wurde im Tempo der Regierung gearbeitet.”
Und nicht nur in Mexiko wurde bei der Verabschiedung des TLC nachgeholfen. Auch in den USA wurde die PRI aktiv. So versprach Generalstaatsanwalt Carpizo einem US-Abgeordneten die schnelle Auslieferung eines Gefangenen im Tausch für seine Stimme.

Dem Wohle Mexikos verpflichtet

Der Filz zwischen Regierung und Senat funktioniert. “Carlos Cabezas”, so Muñoz Ledo, “ist ein Berater von serra, bezahlt von Serra, er hat mit vier oder fünf Senatoren zusammengearbeitet, aber der Text wurde im Ministerium geschrieben”
Cabezas reagierte pikiert auf die Kritik: Das Gutachten sei die detaillierteste Analyse über den TLC, die es in Mexiko gibt und gehe weit über die Positionen einzelner Parteien hinaus. ER sei kein Angestellter im Ministerium, so Cabezas, sondern verdiene sein Geld beim Senat,
hier sei das Gutachten entstanden. Die Aussagen Muñoz Ledos seien “bedauerlich und beleidigend… Mich bewegt weder der Opportunismus, noch das Geld, sondern mein Engagement für das Land. Ich könnte in besser bezahlten Stellungen sein… Ich kann meine Hände aufs Feuer legen, es gibt unzählige Versionen des Gutachtens, mehr als elf. Die Senatoren haben dieses Gutachten erstellt. Natürlich, es gibt Leute, die sie unterstützten, und bueno, das waren halt wir.”
Und so wurde der Vertrag halt kurz und bündig verabschiedet.

Quelle: Proceso Nr. 890, 22.11.92

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