Sogar dem Fußball wird Einfluß auf das Wahlergebnis zugeschrieben. Die Frage ist nur, wem Erfolge Mexikos bei der Weltmeisterschaft politisch zugute kommen. Einer Umfrage der Zeitung Reforma zufolge sind 42 Prozent der capitalinos, der Hauptstadtbewohner, überzeugt, daß ein gutes Abschneiden der Nationalkicker die Staatspartei begünstigt. Motto: “Erfolg für die TRI gleich Sieg für die PRI”. Insofern kann der überraschende Einzug ins Achtelfinale bereits eine Wahl-Vorentscheidung gewesen sein.
Im Fußball spiegelt sich dieser Tage die mexikanische Gesellschaft. Das Konfliktpotential nimmt zu, die Brutalität wächst. Die Ausschreitungen nach dem Italien-Spiel lassen Schlimmes befürchten. Drei Tote, hunderte Verletzte und etwa 170 Festnahmen waren die Krawallbilanz. Inmitten der Zehntausenden, die unter dem goldenen Unabhängigkeitsengel feierten, wurde ein makabrer Macho-“Sport” praktiziert: Frauen einkreisen, befummeln, ihnen die Klamotten vom Leib reißen. Diese Gewaltausbrüche waren möglicherweise ein Vorgeschmack auf das, was diesem Lande in Kürze auch auf politischer Ebene drohen könnte.
Die Karikaturen der mexikanischen Zeitungen dieser Tage sind entsprechend bitter: In einer werden die ‘granaderos’, die Polizei-Spezialtruppe für innere Unruhen, aufgefordert, sich jetzt noch nicht zu verausgaben und für die Zeit nach den Wahlen zu schonen. Eine zweite Karikatur zeigt die Keilerei der ‘hooligans’ sowie einen Beobachter, der kommentiert: “Wenn wir das nächste Spiel gewinnen, wird Mexiko den 21. August nicht erreichen.”
Saubere Wahlen mit der PRI?
Inmitten dieses Fußballtaumels -und deswegen vom Großteil der Mexikaner unbemerkt- überraschte Präsident Carlos Salinas de Gortari mit einer in der Geschichte Mexikos beispiellosen Erklärung: “Ich werde am 1. Dezember die Regierungsmacht an den übergeben, der die Wahlen gewinnt -unabhängig davon, welcher Partei er angehört.” Politische Beobachter rieben sich ungläubig die Augen. Am nächsten Tag kam es noch besser. PRI-Präsidentschaftskandidat Ernesto Zedillo bewertete Salinas Worte als “sehr gut” und versicherte, seine Partei akzeptiere politische Machtwechsel als Teil der Realität in einem demokratischen Land. “Ich hoffe allerdings”, sagte Zedillo, “daß dies nicht bei der jetzigen Präsidentschaftswahl passiert.”
Die Präsidenten-Erklärung ist Teil einer riesigen Kampagne, mit der versucht wird, die Glaubwürdigkeit der bevorstehenden Stimmauszählung zu erhöhen. Wahlbetrug zugunsten der PRI war bislang in Mexiko an der Tagesordnung und ist auch von offizieller Seite mehrfach zugegeben worden. Umfragen zufolge erwarten 40 Prozent der Mexikaner auch diesmal, daß es bei den Wahlen nicht mit rechten Dingen zugehen wird.
Die Regierung bemüht sich, ihr Volk vom Gegenteil zu überzeugen. Ein komplett neues Wahlregister wurde aufgebaut. In einer gigantischen landesweiten Aktion wurden inzwischen 45 Millionen Menschen (88 Prozent der über 18jährigen) mit dem neuen Wahlausweis ausgestattet, der neben dem obligatorischen Fingerabdruck erstmals auch das Foto des Stimmberechtigten enthält. Das alles soll 730 Millionen US-Dollar gekostet haben. Dafür wird Mexiko nun laut Regierung die saubersten Wahlen seiner Geschichte erleben.
Dennoch fehlt es nicht an Stimmen, die einen großangelegten Wahlbetrug befürchten. Lautester Rufer in der Wüste ist Cuauhtémoc Cárdenas, Präsidentschaftskandidat der Partei der demokratischen Revolution (PRD). Cárdenas hat in den letzten Wochen mehrfach versucht, Unregelmäßigkeiten im Wahlregister nachzuweisen. Die Vorwürfe wurden sogar einziges Thema einer landesweit übertragenen Fernsehdebatte.
Die eher sozialdemokratisch ausgerichtete PRD behauptet, das Wahlregister enthalte vier Millionen Phantome, also Namen, hinter denen keine lebenden Personen stehen. Darüber hinaus demonstrierte ein Parteimitglied, wie man es schafft, mit Hilfe leicht variierter persönlicher Angaben an mehrere Wahlausweise gleichzeitig zu kommen.
Wahlbeobachter gegen “Pannen”
Cuauhtémoc Cardenas, Sohn des legendären mexikanischen Präsidenten Lázaro Cárdenas (1934-40), ist ein gebranntes Kind in Sachen Wahlbetrug. Er fühlte sich bereits bei den Wahlen 1988 um den Sieg gebracht. Damals erzielte er das beste Ergebnis eines Oppositionskandidaten in den letzten sechs Jahrzehnten, doch dem PRI-Kandidat Salinas de Gortari wurde mit 50,74 Prozent knapp die absolute Mehrheit zugesprochen. Die Wahlcomputer stürzten seinerzeit ab und sprangen erst nach zwei Tagen wieder an. Daß in der Zwischenzeit massiv manipuliert wurde, ist wahrscheinlich.
Erst dieser Tage hat Arturo Núñez, Präsident des nationalen Wahlinstituts, entsprechende Mutmaßungen weiter genährt, als er versuchte, die “Panne” zu erklären. 1988 seien zuerst die für die PRI ungünstigen Ergebnisse aus dem Großraum Mexiko-Stadt im Wahlcomputer eingetroffen. “Die waren jedoch nicht für das ganze Land repräsentativ, und deswegen hat man ganz offensichtlich entschieden, das System zusammenbrechen zu lassen”, sagte Núnez.
Die Vereinten Nationen wollen diesmal ein Team mit 50 WahlbeobachterInnen nach Mexiko schicken. Vor allem PRI-Vertreter haben allerdings inzwischen klargemacht, daß ihnen nicht mehr als der Status von “electoral tourists” (Wahltouristen) zugestanden wird. Alles andere wird offenbar als Einschränkung der nationalen Souveränität aufgefaßt. “Wir mögen keine ausländischen Beobachter hier und werden sie auch nicht um ihre Meinung bitten”, sagte PRI-Präsident Ignacio Pichardo.
Der endgültige Todesstoß für glaubwürdige Wahlen konnte in den letzten Junitagen nur knapp verhindert werden. Innenminister Jorge Carpizo reichte seinen Rücktritt ein, konnte von Salinas jedoch überzeugt werden, im Amt zu bleiben. Der 50jährige ist politisch für die Organisation der Wahl verantwortlich. Carpizo, seit dem 10. Januar erster parteiloser Minister in der Regierung Salinas, gilt vielen in Mexiko wegen seiner Unbestechlichkeit als idealer Garant für saubere Wahlen. Er hatte nach Ausbruch des Zapatisten-Aufstandes Patrocinio Gonzalez abgelöst, den umstrittenen früheren Gouverneur von Chiapas.
Warum Mexikos oberster Wahl-Schiedsrichter beinahe das Handtuch warf, hat er bis heute nicht erklärt. Der frühere Menschenrechtsbeauftragte und Generalstaatsanwalt hatte in seinem Rücktrittsschreiben eine der politischen Parteien scharf angegriffen, ohne sie jedoch beim Namen zu nennen. Diese habe ihn so stark unter Druck gesetzt, daß er dabeisei, seine Unparteilichkeit zu verlieren. Die Leitartikel der Tageszeitungen rätselten noch Tage später, ob Carpizo die PRI oder die PRD gemeint hat.
Der Abgang des Innenministers zwei Monate vor der Wahl wäre fast ein weiteres Kapitel in der mexikanischen “Chronik einer angekündigten Superkrise” geworden. Das politische System ist so verwundbar wie noch nie, das zeigen alleine die Ereignisse der letzten Wochen.
Kein Durchbruch in Chiapas
Am 11. Juni lehnte die zapatistische Befreiungsarmee (EZLN) sämtliche Regierungsvorschläge für einen Friedensvertrag ab. Gleichzeitig wurden die Gespräche von San Cristóbal für beendet erklärt. Die Zapatisten hatten in den Monaten zuvor eine Volksabstimmung veranstaltet – in jenen Gemeinden von Chiapas, die den Aufstand unterstützten. Das Ergebnis fiel für Präsident Salinas vernichtend aus: rund 97% der indianischen Bauern votierten grundsätzlich dafür, den bewaffneten Wideratnd fortzusetzen.
Die Regierungsvorschläge wurden in allen Punkten als zu vage und unzureichend abgelehnt. Die Zapatisten kritisierten insbesondere die fehlende Bereitschaft, auf jene Forderungen einzugehen, die über Chiapas hinausstrahlen. Die EZLN verlangt unter anderem saubere Wahlen und eine Überprüfung des Freihandelsabkommens mit den USA. Präsident Salinas werfen sie vor, einen großangelegten Wahlbetrug vorzubereiten.
Subcomandante Marcos drohte offen mit Bürgerkrieg: “Die mit historischer Blindheit geschlagene Staatsregierung ist nicht in der Lage, zu erkennen, daß ihre Weigerung, dem demokratischen Druck nachzugeben, das Land in eine schmerzvolle Auseinandersetzung führen wird, mit nicht vorhersehbaren Konsequenzen”. Mexikos Aktienindex fiel am nächsten Börsentag um 3,9 Prozent.
Vorerst verpflichtet sich die Guerilla jedoch, die Waffenruhe bis zu den Wahlen Ende August einzuhalten. Außerdem erklärten sie sich bereit, in dem von ihnen kontrollierten Gebiet des Lacandón-Urwalds die Einrichtung von Wahllokalen zu erlauben. Hoffnungen, die Verhandlungen zwischen Regierung und EZLN könnten noch vor den Wahlen zu einem dauerhaften Frieden in Chiapas führen. haben sich nach dem Nein der Zapatisten zerschlagen.
Nur fünf Tage später trat Manuel Camacho Solis zurück, der Chiapas-Unterhändler von Präsident Salinas. Er hatte sich mit dem Präsidentschaftskandidat Zedillo überworfen, nachdem der Camacho mehrfach für das Scheitern der Friedensgespräche verantwortlich machte. Die beiden PRI-Politiker gelten als verfeindet. Camacho hat nie einen Hehl daraus gemacht, daß er sich selbst für den geeigneteren Präsidenten Mexikos hält. Durch sein Ausscheiden als Unterhändler ist ein regelrechtes Vakuum entstanden, da keine zweite Persönlichkeit in Sicht ist, der Regierung und Zapatisten gleichermaßen vertrauen.
Am 23. Juni schließlich ernannte Präsident Salinas einen neuen Chiapas-Beauftragten: Jorge Madrazo. Die Zapatisten dürften den bisherigen Präsidenten der nationalen Menschenrechtskomission jedoch kaum akzeptieren. Madrazo war im Januar mehrmals in Chiapas, um Armeeübergriffe zu untersuchen – bis heute ohne greifbares Ergebnis. Unterdessen wird Camacho bereits als ein möglicher ワbergangskandidat gehandelt, für den Fall, daß es bei den Wahlen keinen klaren Gewinner geben sollte.
Lieber PRI als Unsicherheit?
Die bislang fast diktatorisch regierende PRI könnte erstmals weniger als 50 Prozent erhalten. Sogar das bislang Undenkbare scheint möglich: ein Sieg der Opposition. Zwei der jüngsten Umfragen geben der PRI 41 bzw. 28 Prozent, der rechtskonservativen Partei der nationalen Aktion (PAN) 29 bzw. 33 Prozent und der PRD 8,5 bzw. 13 Prozent. PAN-Kandidat Diego Fernández de Cevallos liegt somit teilweise bereits vor Ernesto Zedillo von der PRI. Cuauthémoc Cárdenas (PRD) landet weit abgeschlagen auf dem dritten Platz. Die Kandidaten der übrigen sechs Parteien spielen so gut wie keine Rolle.
Ein Ende des presidencialismo scheint in Sicht. Bislang verfügten Mexikos Präsidenten über eine unerhörte Machtfülle, die sich nur teilweise aus der Verfassung herleiten läßt. Wichtig sind vor allem die extrem hierarchischen Strukturen der Staatspartei, die ihrem Spitzenmann bislang immer treu ergeben war. Die PRI hat seit 1946 alle Wahlen mit Traumergebnissen zwischen 74 und 92 Prozent gewonnen. Nur 1988 war es knapp geworden.
Und diesmal? Ein Wechsel scheint möglich. Doch die Partei, ohne die bislang in Mexiko fast nichts läuft, hat viel zu verlieren. Viele Wähler könnten das für sich ganz ähnlich sehen. “Ein Oppositionssieg mag gut sein für die Demokratie, ist aber möglicherweise weniger gut für die Stabilität und Regierbarkeit”, sagt z.B. Arturo Sánchez vom mexikanischen Institut für politische Studien.
Die Unsicherheit hat viele Gesichter: Mehrere der reichsten Männer des Landes wurden in den letzten Monaten gekidnappt; eine von der Drogenmafia deponierte Autobombe tötete Mitte Juni in Guadalajara zwei Menschen; der Mord an Präsidentschaftskandidat Luis Donaldo Colosio ist noch immer nicht aufgeklärt.
Fußballspiele, gewonnene und verlorene, waren den Mexikanern bislang stets Anlaß für Freudenfeste – jetzt plötzlich werden blutige Straßenschlachten daraus. Da wird so mancher sein Kreuzchen doch wieder bei der Partei machen, die seit 65 Jahren Stabilität verkörpert.
Kasten:
Spendenaufruf für die EZLN
Die Kommunikation und die Kommunikationsmittel spielen im Konflikt in Chiapas eine Schlüsselrolle. Wer Nachrichten und Bilddokumente produzieren und verbreiten kann, nimmt entscheidenden Einfluß auf den Gang der Dinge. Das gilt umsomehr, seitdem die Waffen erfreulicherweise schweigen.
Eine der Forderungen der EZLN gegenüber der Regierung ist die Einrichtung einer unabhängigen Radiostation der Indígenas, die von ihnen selbst betrieben werden soll, um das Recht auf wahrheitsgetreue Information über lokale, regionale, nationale und internationale Ereignisse verwirklichen zu können. Die Regierung hat eine Lizenzvergabe in Aussicht gestellt. Damit diese mögliche Radiostation jedoch eines Tages wirklich unabhängig funktionieren kann, bedarf es vieler Dinge: Tonbandgeräte, Schnitteinheiten, Musikkassetten und natürlich Ausbildung der künftigen Volksreporterinnen und -reporter”. Und natürlich braucht es Radiogeräte in den Dörfern, damit die Sendungen gehört werden können.
Außerdem hat die EZLN den legitimen Wunsch, ihre eigene Geschichte selbst in Bildern festzuhalten. Eine eigene Videoausrüstung wird gebraucht, um sowohl die Ereignisse jenseits pressekonjunkturellen Interesses festhalten zu können, als auch um die Möglichkeit zur Verifizierung möglicher strittiger Vorfälle durch Bilddokumente zu haben.
Nicht zu vergessen ist, daß auch die meisten kulturellen Aktivitäten eines Kommunikationsmittels bedürfen, seien es Tonbandgeräte oder Plattenspieler, die wiederum Generatoren brauchen, da es in weiten Teilen der von der EZLN kontrollierten Gebiete keinen Strom gibt.
Die LN rufen zusammen mit der ila dazu auf, kräftig für einen “Medienfonds” der EZLN zu spenden, mit dem solche notwendigen Anschaffungen getätigt werden können.
Spenden unter dem Stichwort “Medienfonds EZLN” bitte auf das ila-Konto Nr. 583 99 – 501 beim Postgiroamt Köln (BLZ 370 100 50) überweisen. (Stichwort nicht vergessen!)