Das Nicht-Erzählbare erzählen

Als Lateinamerika und die Welt sich am Montag, den 21. April im Palacio de Bellas Artes in Mexiko-Stadt von Gabriel García Márquez verabschiedeten, waren mehrere tausend Menschen anwesend – die Mehrheit von ihnen keine Staatsoberhäupter oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, sondern passionierte Leser_innen. Der weltweit meist gelesene lateinamerikanische Schriftsteller war am Donnerstag, den 17. April im Alter von 87 Jahren in seinem Haus in Mexiko-Stadt verstorben.
Der Hauptvertreter des lateinamerikanischen Booms der Literatur der sechziger und siebziger Jahre hat mit Cien años de soledad (Hundert Jahre Einsamkeit) nicht nur ein neues literarisches Genre begründet, den Magischen Realismus, sondern auch wie kein anderer das Interesse an der Literatur Lateinamerikas geweckt. Sein Werk zeichnet sich vor allem durch Wahrhaftigkeit aus, durch die verschwimmenden Grenzen zwischen Fiktion und nicht-Fiktion und durch die Fähigkeit, den Wunsch verschwinden zu lassen, diese Grenzen abzustecken und zu erkennen.
García Márquez war ein wichtiger Autor für Lateinamerika, sowohl im Sinne der Politisierung und Bewusstseinsbildung der Gesellschaft, als auch im Konservieren von lokaler Tradition und Identität. Wichtig war er auch außerhalb Lateinamerikas. Sein mexikanischer Schriftstellerkollege José Emilio Pacheco beschrieb im Jahr 2007 zum vierzigjährigen Jubiläum von Cien años de soledad die Ausmaße, die der Einfluss jenes Romans im Laufe der Jahrzehnte annahm: So markierte beispielsweise seine Veröffentlichung in Beirut einen nie zuvor erlebten Bruch, bis heute ist der Magische Realismus ein beliebtes Genre in der arabischsprachigen Literatur. In Tibet, so Pacheco, ist Cien años de soledad der am meisten studierte Roman aller Zeiten. Laut einer Einschätzung des García-Márquez-Biographen, dem Engländer Gerald Martin, wurde bereits in den achtziger Jahren, als er seine Recherchen für die ebenfalls 2007 erschienene Biographie begann, etwa alle 15 Minuten ein wissenschaftlicher Beitrag zu Márquez’ Werk veröffentlicht.
Wer allerdings nur sein mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnetes literarisches Werk würdigt, lässt außer Acht, dass García Márquez, wie er selbst oftmals hervorhob, in erster Linie Journalist war, der sich der Sprachrohr-Funktion des Journalismus verpflichtet fühlte: „Meine erste und einzige Berufung ist der Journalismus. Ich wurde weder aus Zufall noch aus Notwendigkeit Journalist, sondern weil ich Journalist sein wollte.“ Er übernahm 1998 gemeinsam mit seiner Frau Mercedes Barcha die Zeitschrift Cambio und war bereits im Jahr 1974 Mitgründer von Alternativa, einer Publikation die von verschiedenen Intellektuellen veröffentlicht wurde. Diese setzten sich für politischen Widerstand und eine kritische Union der zersplitterten kolumbianischen Linken ein.
Für Alternativa schrieb García Márquez aus Chile, Angola, Vietnam und mehreren Ländern der ehemaligen Sowjetunion. 1994 gründete er in Cartagena de Indias, Kolumbien, die Stiftung für einen neuen iberoamerikanischen Journalismus (FNPI). Als Verfechter der Pressefreiheit und des Schutzes von Journalist_innen auf der ganzen Welt, war ihm deren ethische und praktische Ausbildung wichtig und er kämpfte gegen die Ethik-Krise im Journalismus an. Dieser war seiner Meinung nach das „beste Gewerbe der Welt“, habe jedoch durch seine Akademisierung und Modernisierung, die statt Formation nur noch auf Information Wert lege, an Kreativität und Bezug zur Lebenswirklichkeit verloren. Der ethischen Unerschrockenheit vieler Journalist_innen versuchte er in den Workshops der FNPI die Ästhetik innerhalb der Ethik entgegenzubringen. Laut García Márquez sollte jede Form von Journalismus investigativ sein, das war ein Hauptaspekt seiner journalistischen Ethik. Er verteidigte das Notizheft gegenüber dem Diktiergerät, davon überzeugt, dass die Essenz der im Text erzählten Realität nur mit ersterem einzufangen sei und die Leser_innen nur so bewegt würden. Zudem glaubte er an die sich täglich bietende Möglichkeit aller Journalist_innen, gesellschaftliche Zustände nicht nur aufzuzeigen, sondern in deren Entwicklung aktiv einzugreifen. Er war der Überzeugung, dass jede Nachricht das Potenzial habe, das Leben eines oder mehrerer Menschen zu verändern. Journalismus, so García Márquez, habe die Verantwortung das nicht-Erzählbare zu erzählen. Der Verfall genau dieser Ethik ist, was er an der lateinamerikanischen Presse am meisten kritisierte. Für ihn stellte das Fehlen von Engagement und Ernsthaftigkeit im Journalismus eine größere Gefahr für Lateinamerika dar als Imperialismus und Drogenhandel.
Seinen politischen Überzeugungen verlieh er vor allem durch den Journalismus Ausdruck, weniger durch seine Literatur. Beide dienten ihm jedoch als Ausdrucksformen eines Ringens mit der Realität, die einen komplementären Widerspruch darstellten: In seinen Romanen ließ er die Figuren stets scheitern, während sein journalistischer Nachlass ein hoffnungsvoller Aufruf zu sozialem Widerstand ist. Als linker Intellektueller war er der Realität Lateinamerikas verpflichtet. Er war Mitgründer des ersten kolumbianischen Solidaritätskomitees mit politischen Gefangenen und führte ab 1973, nach dem Militärputsch in Chile, einen „literarischen Streik“ gegen den Faschismus, der mehrere Monate anhalten sollte. In Lateinamerika müsse jeder einzelne Mensch politisch sein, sonst würde sich nie etwas verändern. „Gabo“ war ein treuer Freund Fidel Castros, und das, obwohl sich viele Intellektuelle von Castro abwandten, nachdem dieser den kubanischen Dichter Heberto Padilla für seine Regimekritik inhaftiert hatte. García Márquez selbst kritisierte sehr wohl die autoritäre Richtung, welche die Kubanische Revolution eingeschlagen hatte, wandte sich jedoch als Freund nie von Castro ab. In Mexiko, seiner zweiten Heimat, in der er mehr als vierzig Jahre lebte, wurde er häufig dafür kritisiert, dass er, entgegen seiner eigentlichen politischen Haltung, nie Kritik an der Regierungspartei PRI ausübte. Er bewunderte die Organisation Mexikos, die „Funktionstüchtigkeit“ des Landes im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern, trotz Korruption und Gewalt. Mit dem kolumbianischen System war er hingegen nie einverstanden und hat aus diesem Grund nie einen öffentlichen Posten akzeptiert.
In den letzten Jahren seines Lebens erlitt er dasselbe Schicksal wie seine Romanfiguren aus Cien años de soledad: den schleichenden Verlust des Gedächtnisses. Für einen Schriftsteller, der vor allem von der Erinnerung lebte – seiner eigenen, der seiner Großeltern, der Lateinamerikas – und der es sich zu einer Lebensaufgabe gemacht hatte, die mündlichen Überlieferungen Kolumbiens in Schrift zu verewigen, war dies der Anfang vom Ende. Im Jahr 2007 entschloss er sich dazu, nicht mehr zu schreiben. Leben sei nicht das, was man gelebt hat, sondern woran man sich erinnere. Ohne Erinnerung gebe es kein Leben mehr. Ebenso war er jedoch davon überzeugt, dass das Interessante an literarischen Figuren nicht ihr Leben, sondern ihr Tod ist. So beginnen viele Werke mit dem (sich ankündigenden) Tod einer Person. Während der Journalismus für García Márquez Auseinandersetzung mit den Lebenden war, galt ihm die Literatur als Erholung von diesen Auseinandersetzungen. Sein Tod hat ihn selbst zu einer dieser literarischen Figuren erhoben, die im Gedächtnis von Menschen aus aller Welt noch lange Zeit nachwirken wird.
// Elena von Ohlen

Festnahme mit Fragezeichen

Es war ein Tag im Winter 2007. Wie aus dem Nichts tauchten in der 11.000-Seelen-Gemeinde Canelas rund 200 Motorroller auf, besetzt mit schwarz gekleideten Personen. Bewaffnet mit Maschinenpistolen verteilten sich die Männer auf die Ortseingänge des nordmexikanischen Dorfes. Kleinflugzeuge brachten Musiker_innen, zwei Hubschrauber kontrollierten das Geschehen aus der Luft. Und dann kam er: „El Chapo“, „der Kleine“, wie ihn die Leute im „Goldenen Dreieck“ der nordmexikanischen Bundesstaaten Chihuahua, Durango und Sinaloa wegen seiner geringen Körpergröße nennen. Die Kalaschnikow geschultert, stieg er aus dem Flieger, um dem örtlichen Schönheitswettbewerb beizuwohnen. Die Party ging die ganze Nacht, seine Liebste wurde zur Dorfschönsten erklärt, und wenig später heiratete Joaquín Guzmán Loera, wie El Chapo mit bürgerlichem Namen heißt, die damals 18-jährige Emma Coronel.
Erst zwei Tage später erschienen in Canelas 150 Soldat_innen. El Chapo war längst über alle Berge. Wieder war der weltweit meistgesuchte Mafia-Boss schneller als die Armee. Über sechs Jahre nach der Fiesta von Canelas ging der 56-jährige Chef des Sinaloa-Kartells den Fahnder_innen nun ins Netz: Am 22. Februar wurde er gemeinsam mit Emma Coronel und ihren Zwillingen in der Hafenstadt Mazatlán verhaftet. Die Aktion dauerte nur ein paar Minuten, kein Schuss fiel. Sofort lobte Staatspräsident Enrique Peña Nieto von der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden, US-Justizminister Eric Holder sprach von einem „wegweisenden Erfolg“. Von monatelanger Überwachung war die Rede, von Drohnen-Einsätzen, einem entscheidenden abgehörten Anruf und Aussagen zuvor verhafteter Kartellmitglieder.
Politiker_innen, Ermittler_innen und Medien zeichneten das Bild eines seit 13 Jahren gejagten Mannes, der nun endlich durch immensen Fahndungsaufwand gefasst werden konnte. Doch so unerreichbar, wie es erscheint, ist der Mafiaboss für die Behörden nicht gewesen. Guzmáns Stippvisite in Canelas mag spektakulär erscheinen, außergewöhnlich war sie nicht. Legendär sind seine Besuche im Gefängnis, um den Geburtstag eines einsitzenden Angehörigen zu feiern. Auch wenn „der Kleine“ in der unweit seines Geburtsorts Badiraguato gelegenen Landeshauptstadt Culiacán über ein umfangreiches Tunnelsystem verfügte, konnte weder mexikanischen noch US-Geheimdiensten entgangen sein, dass sich El Chapo häufig in seiner alten Heimat aufgehalten hat. Geschützt wurde er von Kleinbauern und
-bäuerinnen, über Taxifahrer_innen, bis zu Gouverneur_innen. Damit gab es aber auch genügend Mitwisser_innen. Hätten die US-Antidrogenbehörde DEA oder mexikanische Strafverfolger_innen Guzmán ergreifen wollen, wäre das möglich gewesen.
Es ist nicht auszuschließen, dass eine ausgeklügelte Fahndungsstrategie zur konkreten Festnahme des Mafiabosses geführt hat. Doch einem solchen Einsatz liegt eine strategische Entscheidung auf politischer oder geheimdienstlicher Ebene zugrunde. Es besteht kaum ein Zweifel, dass Chapos Organisation über gute Kontakte zu US-Beamt_innen und zur mexikanischen Regierung verfügt. „Das Sinaloa-Kartell ist vollkommen in den mexikanischen Staat integriert“, ist etwa die Mafia-Expertin und Buchautorin Anabel Hernández überzeugt. Auch DEA-Funktionäre bestätigen eine enge Kooperation. So erklärte der ehemalige Regionalleiter Mexiko der US-Behörde, David Gaddis, im Prozess gegen Vicente Zambada Niebla, den Sohn des zweiten Sinaloa-Chefs Ismael „El Mayo“ Zambada, er habe sich mit dem Angeklagten sowie weiteren hochrangigen Vertretern des Kartells getroffen. Dokumente des Verfahrens, das in Chicago stattfindet, bestätigen mindestens 50 solcher Treffen zwischen 2000 und 2012. Die US-Regierung habe davon gewusst. Das Ziel sei gewesen, Informationen über rivalisierende Kartelle zu erhalten.
Dieses Vorgehen ist nicht ungewöhnlich. Schon Ende der achtziger Jahre verbündeten sich US- und kolumbianische Agenten mit dem Cali-Kartell, um den Drogenbaron Pablo Escobar vom gegnerischen Medellín-Kartell zu bekämpfen. Ein ähnliches Kalkül vermuten Insider_innen auch hinter dem Krieg, den Mexikos damaliger Präsident Felipe Calderón 2006 den Kartellen erklärt hat. Dafür spreche, so meint der Sicherheitsexperte Edgardo Buscaglia, dass das Sinaloa-Kartell sehr glimpflich davongekommen sei, obwohl es der wichtigste Player im Drogengeschäft sei. „Es wickelt 46 Prozent der Exporte in die USA und nach Europa ab. Doch nur 1,8 Prozent der Verhafteten stammen aus dieser Organisation, von den Verurteilten sind es sogar nur 0,9 Prozent“, erklärte er 2011.
Auch Calderóns Vorgänger Vicente Fox stand unter dem Verdacht, Guzmán zu unterstützen. Er soll nachgeholfen haben, als der „der Kleine“ 2001 aus dem Gefängnis ausbrechen konnte, sagt der ehemalige Staatsanwalt für organisiertes Verbrechen Samuel González Ruiz. El Chapo habe damals angeboten, die Konkurrent_innen vom Tijuana-Kartell ans Messer zu liefern. Beim langjährigen DEA-Chef von El Paso, Phil Jordan, stieß die jetzige Verhaftung auf großes Unverständnis. El Chapo habe Millionen in den Wahlkampf des Staatschefs Peña Nieto investiert. Das bewiesen Akten des US-Geheimdienstes. Jordan: „Irgendwas ging da schief.“
Ob etwas und wenn was genau schief gegangen ist, wird so schnell niemand beantworten. Leichtfertige Verschwörungstheorien taugen angesichts der komplexen Bande zwischen Geheimdiensten, Mafia, Wirtschaft und Politik wenig. Setzen die Dienste auf ein anderes Kartell? Ist Guzmán einem internen Machtkampf zum Opfer gefallen? Wollte Peña Nieto nach seinen wirtschaftlichen Liberalisierungen ein Zeichen setzen, dass Investitionen in Mexiko sicher sind? Dass nach der Teilprivatisierung des staatlichen Erdölunternehmens Pemex auch sicherheitspolitisch der Weg geebnet ist?
Vermeintliche Erfolge im Kampf gegen die organisierte Kriminalität kommen dem Politiker der ehemaligen Staatspartei ebenfalls sehr gelegen. So kann sich der Staatschef vom Drogenkriegs-Desaster seines Vorgängers Calderón von der konservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN) abheben, der Zigtausende von Toten und Verschwundenen hinterlassen und die Kämpfe nur noch angeheizt hat. Wenige Wochen nach der Verhaftung Guzmáns vermeldete die Regierung Peña Nietos auch noch den Tod eines Kopfes des Kartells der „Tempelritter“ Nazario Moreno González – drei Jahre, nachdem er schon einmal für tot erklärt worden war. Auch diesen Schlag konnte der Staatschef als Ergebnis seiner Politik verkaufen: Der Mafia-Chef wurde mit Hilfe autonomer Selbstverteidigungskräfte hingerichtet, mit denen der PRI-Politiker kooperiert.
Allerdings darf man nicht erwarten, dass die Kartelle erheblich geschwächt aus den Schlägen hervorgehen und die illegalen Geschäfte große Einbußen verzeichnen werden. Da in Mexiko keine rechtsstaatlichen Verhältnisse herrschten, so der Sicherheitsexperte Buscaglia, führe die Verhaftung eines Kartellbosses kaum dazu, dass ein kriminelles Netzwerk aufgerollt werde. „Vergessen wir nicht, dass Sinaloa horizontal strukturiert ist und über tausende von Selbstständigen verfügt, die mit der Führung zusammenarbeiten“ Die Leitung könne einfach ersetzt werden. Ähnlich hatte es bereits El Mayo Zambada ausgedrückt. „Für gefangene, getötete oder ausgelieferte Capos (Bosse, Anm. d. Red.) stehen schon Ersatzleute bereit“, sagte der Mafia-Chef der Wochenzeitung Proceso im Jahr 2010. El Mayo gilt derzeit als Nachfolger von Guzmán.
Solange nicht die finanziellen Strukturen der Kartelle und die Korruption angegangen würden, werde sich nichts ändern, meint Buscaglia. Der Dichter Javier Sicilia, die Führungsfigur der mexikanischen Friedensbewegung, forderte, dass die Hintermänner in der politischen Klasse angegangen werden müssten. Nichts werde passieren, wenn nicht jene Kriminellen zur Rechenschaft gezogen würden, die all die Verbrechen zugelassen haben. „Calderón ist einer von ihnen“, betonte Sicilia, und Peña Nieto mache bislang dasselbe wie sein Vorgänger, nur effektiver.
Doch offensichtlich unterhält der neue Präsident in Sachen Kriminalität eine andere Beziehung zum nördlichen Nachbar als sein Vorgänger. Calderón lieferte allein im Jahr 2012 115 mutmaßliche Kriminelle aus, im ersten Amtsjahr Peña Nietos sank die Zahl auf 54. Möglicherweise sei auch El Chapo garantiert worden, dass er nicht ausgeliefert werde, mutmaßt Ex-DEA-Agent Héctor Berréllez und geht davon aus, dass die Verhaftung mit Guzmán abgesprochen war. Den größten Drogenhändler der Welt ergreife man schließlich nicht wie eine Ratte, meint er. Es müsse eine Vereinbarung gegeben haben. „Wenn nicht, wäre es zu heftigen Schießereien gekommen.“ Der ehemalige Geheimdienstler verweist darauf, dass El Chapo gewöhnlich immer von 200 Leibwächter_innen geschützt worden sei. Beréllez‘ Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen. Die US-Regierung hat bislang noch keinen Auslieferungsantrag gestellt, obwohl bei sieben Gerichten Klagen gegen Guzmán wegen Mord, Drogenhandel und weiteren Delikten vorliegen.
Auch Peña Nieto kann nicht daran gelegen sein, dass die Situation an dieser Frage eskaliert. Das wäre bei einer Auslieferung nicht auszuschließen. In Kolumbien hat der Versuch, Pablo Escobar auszuliefern, zu brutalen Angriffen seines Kartells geführt. Für Guzmán ist die Frage, ob er in die USA ausgeliefert wird, ebenso von entscheidender Bedeutung. Denn während ihm dort eine lange Haftzeit unter harten Bedingungen droht, muss er das mexikanische Gefängnis nur begrenzt fürchten. Vor seinem Ausbruch 2001 konnte er vom Hochsicherheitsgefängnis Puente Grande aus acht Jahre lang seine Geschäfte ungestört führen. Zudem feierte er wilde Partys, finanzierte die besten Köche und den teuersten Whiskey, lud Musikgruppen sowie Prostituierte ein und empfing seine beiden vorhergehenden Ehefrauen. Fast wie später in Canelas, als an jenen Wintertagen seine Emma zur Schönheitskönigen gekürt wurde.

„Ich bin sehr optimistisch!”

Bei Demonstrationen in der Hauptstadt gab es nun auch vermehrt Gewalt gegen Journalist_innen…
Das ist neu. Bis jetzt gab es nur in problematischen Zonen Konflikte mit den Medien, und das hing mit dem Drogenhandel zusammen. Aber plötzlich gibt es eine starke Veränderung im Verhalten der Regierung von Mexiko-Stadt. Einer Regierung, die mehrheitlich mit linken Stimmen gewählt wurde und seit Dezember 2012 einen starken Wechsel nach rechts begonnen hat – mit dem Ziel, die massive Präsenz von sozialen Bewegungen in den Straßen zu verhindern. Es geht nicht unbedingt darum, kleine Gruppierungen zu verprügeln, sondern ein Ambiente der Angst zu schaffen, welches die massive Beteiligung von Bürgern einschränkt. Schon bei mindestens vier Demonstrationen gab es Repressionen, bei der die Polizei Medienvertreter direkt angegriffen hat. Denn seit den medialen Kampagnen von Präsident Peña Nieto sind die angeblich „alternativen“ Medien extrem wichtig geworden.

Welche Verantwortung hat der Bürgermeister Mexiko-Stadts, Miguel Mancera von der sozialdemokratischen PRD, für diese Politik?
Die Regierung von Mancera ist ein Desaster. Es ist eine Regierung, die durch ein sehr breites Bündnis an die Macht kam. Tausende haben mitgewirkt. Auch ich habe in seiner Kampagne mitgearbeitet – mit einer sehr kritischen Sicht. Ich dachte, es wäre das kleinste Übel, das uns passieren könne. Auf jeden Fall sollte der PRI (Revolutionäre Institutionelle Partei, Anm. d. Red.) der Einzug in Mexiko-Stadt verwehrt werden und ein Kontrapunkt zu deren Bundesregierung geschaffen werden. Denn diese Regierung sah extrem gefährlich aus und ist es auch. Aber Mancera hat eine Regierung gebildet, ohne die politischen Kräfte in Mexiko-Stadt dabei zu repräsentieren. Und er hat systematisch die Zustimmung der Bundesregierung gesucht. Der ehemalige Chef der Polizei von Mexiko-Stadt, Manuel Mondragón y Kalb, ist im Dezember in die Bundesregierung gewechselt. Aber er behält seine Beziehungen zur Polizeivertretung und -leitung in Mexiko-Stadt, also der Politik der öffentlichen Sicherheit. Durch diesen Zug hat Mancera von vornherein die öffentliche Sicherheit der Stadt in die Hände der Bundesregierung gelegt.

Wie hat sich das Verhältnis von Journalist_innen und Politiker_innen seitdem verändert?
In letzter Zeit tritt verstärkt eine Taktik auf, die in Mexiko-Stadt eigentlich verschwunden war: Journalisten zu „kultivieren“. Es ist wie eine Pflanze zu pflegen – man gibt ihr Wasser, stellt sie ins Licht, lächelt ihr am Morgen zu. Vor einem Monat erhielt ich die Information, dass ein hoher Funktionär Mexiko-Stadts ein Sylvester-Dinner mit 20 Journalisten veranstaltet hat. Bei diesem Dinner wurden zwei Reisen nach New York verlost, jeder erhielt ein Silbertablett und es gab französischen Wein in rauen Mengen. So etwas war typisch für die Beziehungen zwischen Presse und PRI in den alten Zeiten, aber ist so lange nicht mehr vorgekommen. So wird die Presse korrumpiert und man erschafft eine Beziehung gegenseitiger Gefälligkeiten. Du willst nicht unbedingt, dass der Journalist deine direkte Stimme wird. Aber im gegebenen Moment übernimmt er deine Sichtweise und recherchiert nicht weiter.

Hat die Bundesregierung denn solche Angst vor alternativer Berichterstattung?
Nicht so sehr vor den Informationen, vielmehr vor den Massenmobilisierungen. Die Bundesregierung setzt ein großes Reformprojekt durch und will die Reaktion in der Bevölkerung bestmöglich minimieren. Ein Teil davon ist es, alternativen Medien Angst einzujagen. Aber sie hat es nicht geschafft. Die alternative Information wächst sogar. Wenn ein Monument für die compañeros von den alternativen Medien gebaut werden könnte, würde ich die Steine spendieren! Sie haben eine wunderbare Arbeit geleistet, um die Dinge aus den Schatten zu holen – oft unter Gefahr. Aber sie sind immer in der ersten Reihe und dokumentieren jeden Moment, folgen den Geschichten und verbreiten die Informationen.

Können ländliche Regionen ohne großflächige Internetanbindung überhaupt erreicht werden?
Es ist sehr seltsam. Man denkt, die Informationen würden nicht ankommen und wird dann überrascht. Auf einmal bist du in einem Dorf wie Pochutla im Bundesstaat Oaxaca und triffst einen Jungen, der die letzten sechs Videos kennt, die du für Fernsehprogramme gemacht hast. Wie hat er sie gesehen? Naja, die waren auf irgendeiner Plattform und er hat sie in irgendeinem Café runtergeladen – in Pochutla. Das ist wie ein Virus. Die Kombination von alternativen Medien, neuen Technologien und klassischen Medien potenziert die Chancen von alternativer Information um ein Vielfaches. Klar erschafft das auch künstliche Paradiese der immer gut Informierten. Es fehlt durchaus die Multiplikation, die klassische Medien erreichen. Aber man kann auch nicht erwarten, dass hier gezaubert wird – das ist ein langwieriges Problem. Und ich bin in dieser Hinsicht optimistisch. Sehr optimistisch!

Warum?
Wir haben in diesen letzten zwei Jahren Spektakuläres erlebt – Verbreitung und Mobilisierung durch nicht traditionelle Medien. Die Gegeninformation ist kein in sich geschlossenes Phänomen. Soll heißen, die Gegeninformation interagiert mit den Räumen, die es in klassischen Medien gibt. Ein Journalist der Jornada schreibt eine Meldung in seiner wöchentlichen Kolumne, diese Meldung ist am nächsten Tag von 150.000 Menschen getwittert worden. Aber irgendjemand findet einen anderen Aspekt dieser Meldung und gibt sie an Leute weiter, die irgendwo am Samstagnachmittag eine Radiosendung moderieren. Das ist ein großes Wachstum. Für die Politik ist es sehr schwierig geworden, unbemerkt zu lügen.

Welche Erfolge gab es durch die Gegeninformation?
Es gibt eine ganz konkrete Form, den Erfolg zu messen: Die Bundesregierung entwarf die Ener-giereform (siehe LN 476) und gleichzeitig eine millionenschwere Medienkampagne, um sie zu verteidigen. Das war eine spektakuläre Bombardierung im Fernsehen und im Radio. Zum Beispiel mit „Die ganze Welt modernisiert sich: Kuba modernisiert sich. Norwegen modernisiert sich. Warum sollte Mexiko seine Ölindustrie nicht auch modernisieren?“ oder „Cárdenas hätte gesagt, dass es interessant wäre, diesen Weg zu gehen, blablabla“. Es war brutal. In diesen Zeiten konntest du dir keine Cola im Laden um die Ecke holen, ohne die Werbung zu hören.
Aber am Ende, als die Reform verabschiedet wurde, waren 55 Prozent der Bevölkerung dagegen und nur 17 Prozent dafür. Trotz der ganzen Kampagne war die Regierung auf dem tiefsten Akzeptanzniveau seit Jahren. Und wer hat die Gegenkampagne produziert? Die alternativen Medien und die Aktionen auf der Straße haben den Menschen beigebracht, dass diese Reform pures Gift ist. Ich meine 55 zu 17… nie hatte die Regierung so ekelhafte Werte bekommen!

Allerdings hat die Medienkampagne Enrique Peña Nietos im Wahlkampf funktioniert: Er ist Präsident geworden…
Nein, sie hat nicht funktioniert. Kurz vor den Wahlen, im Mai 2012, gab es eine Versammlung der Gouverneure der PRI in Querétaro, in der sie genau das gesagt haben. Trotz der Medienkampagne standen sie in den Umfragen nicht gut da. Zu diesem Zeitpunkt waren sie sogar hinter Manuel López Obrador. Es war diese Versammlung, auf der entschieden wurde, Milliarden von Pesos in den Stimmenkauf zu investieren. Das wiederum hat funktioniert – fünf Millionen gekaufte Stimmen in den letzten zwei Monaten vor der Wahl (siehe LN 457/458, 459/460).

Du betonst immer wieder die Wichtigkeit der Gegeninformation. Jetzt bist du Funktionär für Kunst und Kultur in der neuen Linkspartei von Manuel López Obrador, Morena. Welche Möglichkeiten siehst du hier für die Schaffung einer kritischen Öffentlichkeit?
Wir haben auf diesem Gebiet eine lange und sehr wertvolle Erfahrung, vor allem mit der Brigade Para leer en Libertad (Um in Freiheit zu lesen). Diesen Februar werden wir vier Jahre alt. Wir sind ein Dutzend Menschen mit einer Vision: Wenn wir mehr Leute zum Lesen bringen, werden wir das demokratische Denken in Mexiko weiter verbreiten. Der Mexikaner, der liest, ist kritischer, schlauer und weniger anfällig für die Manipulationen der Macht. Deswegen haben wir angefangen, im Großraum von Mexiko-Stadt ein Literaturnetzwerk mit verschiedenen Aufgaben zu gründen. Zuerst organisierten wir Buchmessen in problematischen Zonen, wie der Peripherie der Stadt, wo es keine Buchhandlungen gibt. Jeden Tag gab es Konferenzen, Debatten und Präsentationen und immer wieder auch Musik oder Theater. Das Programm haben wir stark politisiert. Es ging vor allem um Bücher zur organisierten Kriminalität, der Kampagne von Peña Nieto, den Zapatistas und zur Lehrerbewegung. Außerdem haben wir Gäste eingeladen und alle bekannten Schriftsteller Mexikos haben mitgemacht: Montemayor vor seinem Tod, Monsiváis, Elena Poniatowska…
Parallel organisierten wir einen Kurs zur Geschichte Mexikos für Bürger im Widerstand. Die Erfahrung, die ich in den letzten Jahren auf über 300 Konferenzen in den Slums sammeln konnte, hat mir eines klar gezeigt: Die Kulturpolitik ist eines der effektivsten Mittel linker Organisationen, um kritisches Denken zu fördern und um eine in der Linken lange vernachlässigte Arbeit wieder aufzunehmen: die politische Bildung.

Du bist Funktionär bei Morena. Die Partei hat sich dir noch nicht in den Weg gestellt?
Sie hilft mir nicht, aber sie behindert mich auch nicht. Niemand hat mich jemals aufgehalten und in der mexikanischen Linken gibt es niemanden, der mir gesagt hätte: „Du darfst nicht kommen, weil du bei Morena bist.“ Weil es bekannt ist, dass ich hingehe, selbst wenn Morena nicht hingeht.
Das Problem bei Morena ist ein anderes. Es gibt einen internen Konflikt zwischen zwei Parteimodellen. Eine Seite möchte die Partei zu einem Instrument für die nächsten Präsidentschaftswahlen machen und für die andere Seite ist die Partei eine soziale Bewegung, also weniger an Wahlen als an sozialen Kämpfen interessiert. Der Konflikt ist nicht gelöst und derzeit ist die Partei eine Ko-existenz der beiden Strömungen.

Das heißt, für dich ist Morena kein Mittel, um sich bei Wahlen aufzustellen?
Nein, überhaupt nicht. Die Wahlen sind großer Mist und wir werden die PRI nicht über Wahlen besiegen. Für mich ist Morena die Möglichkeit, eine wirkliche Volkspartei zu gründen. Ich spreche hier von drei bis vier Millionen Mitgliedern und 300.000 Aktivisten – mit der Stärke, im gegebenen Moment den zivilen Ungehorsam auszurufen, ein Moratorium beim Zahlen der Steuern einzuleiten oder einen Generalstreik zu organisieren. Und dann, in diesem Prozess, mit Erfolg bei den Wahlen zu intervenieren. Derzeit müssen Wahlen genutzt werden, um auf der kommunalen Ebene, vielleicht auf Landesebene, neue Formen der Verwaltung zu schaffen. Andere denken nicht so. Sie sehen in Morena das Mittel, um eine große Partei für die Wahlen zur Abgeordnetenkammer 2015 aufzubauen. Das sehe ich nicht. Es ist die Gesellschaft, die sich bewegt. Die Partei hilft, Dinge zu artikulieren – mehr nicht.

Infokasten

Paco Ignacio Taibo II ist mexikanischer Schriftsteller und Aktivist. Neben seinen Kriminalromanen hat er sich als Historiker und Che-Guevara-Biograph einen Namen gemacht. Er gründete das Leseprojekt Para Leer en Libertad („Um in Freiheit zu lesen”) zur Verbreitung von Literatur und mexikanischer Geschichte. Seit 2012 gehört er als Kulturbeauftragter dem Vorstand der neuen Linkspartei Morena an. Auf Deutsch erschien zuletzt Die Rückkehr der Tiger von Malaysia (Assoziation A).

Alles raus, was kann

Auch wenn Staatsoberhaupt Enrique Peña Nieto von der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) vergangenen August die Gesetzesinitiative in die Runde brachte, ist die nun verabschiedete Fassung der Energiereform vor allem ein großer Erfolg für die Partei der Nationalen Aktion (PAN). Vor 74 Jahren gründete sie sich als Protest gegenüber dem Erstarken der staatlichen Regulierung und verfolgt seitdem einen radikal wirtschaftsliberalen Kurs. Die erhofften ausländischen Direktinvestitionen sollen das Bruttoinlandsprodukt nach oben schrauben: Bis zum Jahr 2018 wird jährlich ein Prozent Wachstum vorausgesagt, bis 2025 jährliche 1,6 Prozent, so die knapp 300 Seiten dicke Gesetzesvorlage. Gleichzeitig wird der ökonomische Wert der mexikanischen Erdölreserven zurzeit auf satte drei Billionen US-Dollar geschätzt. Der Wunsch nach mehr Wirtschaftswachstum fordert jedoch Opfer. In Mexiko ist dies gewöhnlicherweise zuallererst die Verfassung von 1917.
Es sind die Artikel 25, 27 und 28 der Verfassung, die nun einer Änderung unterzogen wurden. Insbesondere Artikel 27, in dem Territorium und natürliche Ressourcen als Eigentum der Nation definiert werden, gilt als ein starker symbolischer Bezugspunkt des sogenannten revolutionären Nationalismus, den sich die PRI eigentlich immer noch auf ihre Fahne schreibt. Garantierte der Artikel PEMEX bisher das alleinige Recht auf die Erdölausbeutung, ist das Exklusivrecht in der neuen Fassung nicht mehr vorhanden.
Fortan dürfen ausländische Unternehmen ebenfalls aktiv in der Energieproduktion sowie Erdöl- und Gasförderung mitwirken – ein Bereich, der 75 Jahre lang ausschließlich dem mexikanischen Staat vorbehalten war.
Darüber hinaus werden die beiden (ehemals) parastaatlichen Unternehmen Petróleos Mexicanos (PEMEX) sowie die Föderale Elektrizitätskommission (CFE), Kinder des Nationalisierungsdekrets von 1938, in sogenannte produktive öffentliche Akteure umgewandelt.
Doch die Krux liegt bekanntlich im Detail. So verpflichtet der siebte Übergangsartikel dazu, die nationalen Bedingungen und Gesetze im Energiesektor den internationalen Verträgen anzupassen, die Mexiko unterschrieben hatte. Konkret wird sich hierbei auf das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) zwischen den USA, Kanada und Mexiko bezogen, welches zum 1. Januar 1994 in Kraft trat. Der mexikanische Staat verliert damit endgültig das Recht, Enteignungen im und Eingriffe in den Erdölsektor vornehmen zu können. Es ist ein gravierender Wandel im Bereich der Eigentumsrechte, den die Energiereform hiermit anstößt. Und schließlich auch ein entscheidender Schritt hin zu einer umfassenden Privatisierung des Sektors.
Im allerletzten Moment wurde darüber hinaus in den Gesetzesentwurf mit aufgenommen, dass die derzeitig vergebenen Minenkonzessionen ebenso für die Gasausbeutung gültig sind. Und dies in einem Landschaftsszenario, welches einen hohen Grad an territorialer Zersplitterung aufweist. Je nach Studie sind derzeit zwischen 16 und 28 Prozent des nationalen Territoriums bereits durch Konzessionen an Privatunternehmen vergeben. Im mexikanischen Bergbausektor stellen ausländische Investorengruppen knapp 70 Prozent der Konzessionsträger dar, von denen die große Mehrheit ihren Sitz in Kanada hat.
Das Präsidentschaftsamt geht jedoch alles andere als geschwächt aus der Umstrukturierung hervor. Dem Präsidenten obliegt es zukünftig, die neu geschaffenen Institutionen mit Führungspersonal zu besetzen. Die Einflussnahme wird auch dadurch vereinfacht, dass dem Kongress die Kontrollmöglichkeiten über PEMEX und CFE entzogen werden. Auf der einen Seite geht die Reform also mit einer Verschlankung des Staates einher, wie es sich die PAN von jeher wünschte. Auf der anderen Seite bedeutet sie ein Erstarken des Präsidentenamtes im Sinne der PRI. Mexiko als neoliberaler autoritärer Staat in neuem Glanze.
Doch die staatliche Politik provoziert hohen Wellengang. So kann das Auftreten einer neuen Guerilla im Bundesstaat Guerrero als symptomatische Reaktion auf die gegenwärtigen Reformen verstanden werden. Die Bewaffneten Revolutionären Kräfte – Befreiung des Volkes (FAR-LP) bezeichnen in ihrem Kommuniqué vom Dezember all diejenigen ausländischen Energieunternehmen als legitime „militärische Objekte“, die sich zukünftig produktiv in Mexiko niederlassen wollen. Die Echtheit der Guerilla ist in der unübersichtlichen politischen Landschaft jedoch ungewiss. Dennoch ist das öffentliche Erscheinen ausdrucksstarkes Zeichen für die soziale Anspannung, die sich im Land immer weiter ausbreitet.
Der Brisanz der Lage sind sich wohl auch die Abgeordneten und Senator_innen in der Hauptstadt bewusst. In Mexiko-Stadt, Anziehungs- und Konzentrationspunkt für unzählige öffentliche Protest- und Mobilisierungsmärsche, wurde fast zeitgleich mit der Energiereform ein neues Demonstrationsrecht verabschiedet – zynischerweise am 10. Dezember, dem internationalen Tag der Menschenrechte.
Die neue Fassung besagt, dass Demonstrationen 48 Stunden vorher angemeldet werden müssen, lediglich zwischen 11 bis 18 Uhr stattfinden dürfen, die Demonstrationsroute von den Behörden festgelegt werden kann, zentrale Verkehrsachsen nicht mehr blockiert werden dürfen und bei Verstößen gegen die öffentliche Ordnung – die Interpretation obliegt der Staatsgewalt – aufgelöst werden können. Unzählige nationale wie internationale Organisationen laufen dagegen Sturm. Amnesty International ließ gegenüber der Menschenrechtskommission der Abgeordnetenkammer verlauten, dass das neue Gesetz die freie Meinungsäußerung in Gefahr bringe und zu einem „verstärkten Einsatz übermäßiger Gewalt durch die Polizei“ führen könne. Einen gleichen Tenor schlägt das 74 Gruppen und Organisationen umfassende landesweite Menschenrechtsnetzwerk Alle Rechte für Alle (Todos los Derechos para Todas y Todos) an. Das Gesetz verstoße „gegen die Verfassung und internationale Menschenrechtsverträge.“
Mit dem neuen Demonstrationsrecht geht zugleich eine neue Welle polizeilicher Repression in Mexiko-Stadt einher. Und dies sowohl gegenüber den Demonstrierenden als auch gegenüber Medienvertreter_innen. Die unabhängige Medienorganisation Artículo 19 hat unlängst in einem Bericht festgehalten, dass die Einsatzkräfte in der Hauptstadt losgelöst von jeglichen Vorschriften gewalttätig gegen die Berichterstatter_innen vorgehen. Diese Praktiken scheinen sich seit dem Amtsantritt Peña Nietos und dem Regierungschef der Hauptstadt, Miguel Mancera von der Partei der Demokratischen Revolution (PRD), im Dezember 2012 immer mehr zu etablieren.
Die Entrüstung ist auch aufgrund der abschottenden Haltung der Politiker_innen groß. In den kalten Dezembernächten der Abstimmung zur Energiereform trennten meterhohe Metallzäune um Senat und Abgeordnetenkammer die Demonstrierenden von ihren gewählten Repräsentant_innen. Ihre Apathie gegenüber jenen, die sie scheinbar vertreten sollen, treibt die Politiker_innen dazu, sich selbst einzuschließen. In der Nacht vom 10. auf den 11. Dezember trommeln die Menschen mit Schüsseln, Steinen und Skateboards gegen den Wall vor dem Senat. Am darauf folgenden Tag schaffen es Gewerkschafter_innen einen Teil der Trennwand vor der Abgeordnetenkammer nieder zu reißen. Sogleich füllen anrückende Polizist_innen das Loch und körperliche Auseinandersetzungen beginnen.
Zwei Tage später wird am Nachmittag eine Demonstration auf Reforma, einer der Hauptverkehrsstraßen Mexiko-Stadts, abgehalten. Anlass sind die Energiereform und die 66-prozentige Erhöhung der U-Bahntickets. Unbekannte zünden plötzlich einen riesigen Coca-Cola Plastik-Weihnachtsbaum an. Dunkle große Rauchwolken steigen gen Himmel und sind noch aus einigen Kilometern Entfernung zu sehen. Sie sind Ausdruck einer tiefen Kluft zwischen Regierungspolitik und Bevölkerung.

„Fürchterliche Kaltherzigkeit nicht nur der Behörden“

Wie kam es dazu, dass der Franziskaner-Orden eine Herberge für Migrant_innen betreibt?
Die Herberge gibt es seit April 2011, aber das Projekt der Franziskaner besteht bereits seit 1995. Es begann damit, dass die Nationale Migrationsbehörde eine Razzia in Tenosique durchführte. Die damals noch bewaffneten Beamten führten Kontrollen im ganzen Land durch, um Migranten festzunehmen. Einige Migranten flüchteten in die Kirche der Franziskaner. Dabei hielt sich ein Migrant am Altar fest. Als ihn die Beamten entdeckten, zogen sie ihn mitsamt Altar bis zur Mitte der Kirche. Ein Franziskaner schritt ein und lieferte sich ein heftiges Wortgefecht mit den Beamten, die die Migranten letztendlich in der Kirche ließen. Durch diesen Vorfall beschlossen die Franziskaner, eine Versorgung für die Migranten einzurichten.

Welche Bedeutung hat der Name der Herberge „La 72“?
Wir hatten uns entschlossen, eine neue Herberge in der Nähe der Schienen des Güterzuges zu errichten. Ungefähr anderthalb Monate, nachdem wir ein Grundstück gefunden hatten, ereignete sich das Massaker an 72 Migranten in San Fernando, im nördlichen Bundesstaat Tamaulipas (24. August 2010, Anm. d. Red.). Das Massaker hat uns sehr betroffen gemacht. Der Name der Herberge soll an die Tragödie erinnern. Damals fingen wir gerade an, Kontakte mit den Patern Alejandro Solalinde und Pedro Pantoja zu knüpfen, die in Oaxaca und Coahuila Herbergen leiten. Schon zuvor hatten sie die Menschenrechtsverletzungen an Migranten bei der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte angezeigt. Die Regierung hatte ihren Berichten widersprochen. Doch mit dem Massaker war es unmöglich geworden, die Situation weiter zu verdecken.

Tomás González Castillo
Der Franziskaner-Pater Tomás González Castillo lebt seit 2011 in Tenosique im südöstlichen Bundesstaat Tabasco. In der Kleinstadt nahe der guatemaltekischen Grenze baute er in nur eineinhalb Jahren die Herberge für Migrant_innen „La 72“ auf, die an einer der Hauptmigrationsrouten in die USA liegt. Dort bekommen die Migrant_innen einen Schlafplatz, Essen, medizinische Versorgung und werden auf die Gefahren der Weiterreise vorbereitet. Durchschnittlich kommen 70 Migrant_innen pro Tag in die Herberge, um von dort aus den 3.000 Kilometer langen Weg in die USA anzutreten. Sie versuchen, in Tenosique auf einen der Güterzüge zu gelangen, die an die mexikanische Nordgrenze fahren. Die Mehrzahl der Migrant_innen stammt aus Zentralamerika. Jedoch empfängt die Einrichtung auch Menschen aus Südamerika sowie vermehrt aus der Dominikanischen Republik, Ghana und dem Kongo. Im September wurde Tómas González der Menschenrechtspreis Gilberto Bosques der deutschen und der französischen Botschaft verliehen. Er widmete den Preis Alberto Patishtán, der nach 13 Jahren Haft als politischer Gefangener im Oktober von der mexikanischen Regierung begnadigt wurde (siehe LN 474).

Wie ist die Situation der Migrant_innen, die in die Herberge kommen?
Die Mehrzahl ist aus Zentralamerika und sucht nach besseren Lebensbedingungen in den USA. Die meisten machen diese Erfahrung zum ersten Mal, andere hingegen nehmen den Weg bereits zum zweiten, dritten oder vierten Mal auf sich. Viele wissen nicht, dass die USA nicht mehr das Paradies sind, auf das vorherige Generationen noch gestoßen waren. Wir nehmen zudem viele Menschen auf, die aus den USA abgeschoben wurden. Sie kehren dennoch zurück, weil es für sie in Zentralamerika keine Perspektive mehr gibt. Sie kennen dort niemanden mehr oder haben ihre Familie in den USA.

Was ist mit denen, die als Flüchtlinge um Asyl bitten?
Viele Migranten kommen ja gerade wegen der untragbaren kriminellen Gewalt in ihren Herkunftsländern, daher beantragen sie auch Asyl. Als wir zu Beginn unserer Arbeit Migranten zur Migrationsbehörde begleitet haben, wurde auch noch vielen Asyl gewährt. Aber die Gesetzgebung sowohl für Migration als auch für Flüchtlinge ist sehr willkürlich. Es kann wirklich keiner herausfinden, warum die einen Asyl bekommen, andere hingegen nicht. Gerade bei den abgelehnten Fällen ist es aber aus unserer Sicht besonders dringend, dass Asyl gewährt wird.

Wie sieht die Arbeit in der Herberge konkret aus?
Wir haben unsere Arbeit unter sehr schwierigen Bedingungen begonnen: Es gab weder Schlafräume noch Toiletten, aber es kamen immer mehr Menschen zu uns.
So haben wir aus der Not heraus immer weiter Blechhütten und Latrinen gebaut und improvisiert. Unterstützung erhalten wir von verschiedenen Institutionen. Der größte Teil kommt von der katholischen Kirche – nicht in Form von Geld, sondern durch Güter, die wir für die Versorgung der Migranten benötigen: Küchengeräte, Matratzen, Verbandsmaterial und so weiter.
Jeden Tag geht einer der Ordensbrüder oder ein Freiwilliger zum Markt, um Spenden zu erbitten. Die Grundnahrungsmittel wie Mais oder Nudeln werden uns gespendet. Darüber hinaus zeigen wir Gewaltverbrechen und weitere Menschenrechtsverletzungen an, welche die Migranten, die zu uns kommen, erleiden. Wir haben Frauen aufgenommen, die vergewaltigt wurden, sie hatten ihre zerrissene Kleidung noch an. Ich selbst habe mehrere Massenentführungen, die am helllichten Tage in Tenosique stattfanden, anzeigen müssen.

Wer war für die Entführungen verantwortlich?
Das Organisierte Verbrechen – sicherlich steht in vielen Fällen das Kartell der Zetas dahinter. Als Beweise habe ich die Aussagen von den Migranten, die zu uns kamen. Eine Entführung hat mich sehr betroffen gemacht: Wir wollten gerade einen Gottesdienst beginnen, als zwei Männer aus El Salvador auftauchten, die eine Frau aus Honduras trugen. Wir haben sie sofort mit dem Auto ins Krankenhaus gebracht. Aber dort wollte man sie nicht aufnehmen, weil sie „illegal“ sei. Es ist eine fürchterliche Kaltherzigkeit nicht nur bei den Behörden, sondern auch in den Krankenhäusern – wo doch davon ausgegangen wird, dass sie aus Menschlichkeit jeden Notfall behandeln müssten.

Wissen Sie mehr über den Fall?
Bei uns sagt man: Mit dem Schlechtesten, was du dir ausmalen kannst, liegst du genau richtig. In diesem Fall war es offensichtlich, dass die Migrationsbehörde mit der Organisierten Kriminalität zusammengearbeitet hat. Angestellte der Migrationsbehörde hatten den Zug kurz nach Tenosique angehalten, um Migranten festzunehmen. In dem Zug waren rund 500 Migranten, aber in die Autos der Behörde passten höchstens 20. Nur wenige Minuten, nachdem sie weg waren, rückte das Organisierte Verbrechen an und entführte so viele wie irgend möglich. Einige flohen in den Fluss, wo auf sie geschossen wurde. Die Frau aus Honduras kam deswegen verletzt in die Herberge.

Wie weit reichen die Kriminalität und die Korruption der Migrationsbehörde?
Es gibt Belege dafür, dass die Migrationsbehörde in vielen Landesteilen mit der Organisierten Kriminalität zusammenarbeitet. Menschenrechtsverteidiger aus Tapachula in Chiapas berichten, dass Angestellte der Behörde dort Bars und Bordelle betreiben. Ich kenne dort den Fall einer Herberge für minderjährige Migranten ohne Begleitung, die „Todos por ellos“ heißt. Der evangelische Pastor, der die Herberge geleitet hat, erstattete Anzeige wegen Menschenhandels.
Daraufhin kam die Bundespolizei in die Herberge, schloss die Einrichtung und bedrohte ihn. Er hat das Land verlassen, die Herberge gibt es nicht mehr. In Coahuila werden Mitarbeiter der Behörde beschuldigt, Migranten an die Zetas zu übergeben; in Sonora wird das Gleiche über die Gruppe Beta, eine staatliche Schutzeinheit für Migranten, gesagt.
Und in Cancún, wo sehr viele Migranten ohne Papiere über den Luftweg einreisen, ist die Behörde auch in Fälle von Korruption und Menschenhandel verstrickt. Bei einer internen Kontrolle wurden dort im Schreibtisch des Vertreters am Flughafen stapelweise Geldscheine entdeckt. Obgleich die Migrationsbehörde in diesem Jahr 1.000 korrupte Angestellte entlassen hat und nun Schulungen durchführen möchte, glauben wir nicht, dass sich die Einrichtung bessern wird.

Sollte die Migrationsbehörde besser abgeschafft werden?
Wir glauben nicht, dass die Behörde gerettet werden kann. Sie ist eine der korruptesten Institutionen des Landes. Momentan wird sie von Ardelio Vargas geleitet. Er verantwortete 2006, als Enrique Peña Nieto noch Gouverneur war, den Polizeieinsatz von Atenco im Bundesstaat Mexiko. Damals wurden mehr als 40 Frauen von Polizisten vergewaltigt. Jetzt vertritt er den gewünschten Diskurs. Er besuchte uns in der Herberge, gab den Migranten die Hand, hörte ihnen zu. Das ist die institutionalisierte Korruption der PRI. Die Partei denkt, dass sich ihr Image allein dadurch ändert, dass sich einer ihrer Vertreter neben einem Menschenrechtsaktivisten oder einem der Opfer ablichten lässt.

Die Mitarbeiter_innen der Herberge wurden bereits mehrmals von der Organisierten Kriminalität bedroht. Wie setzen Sie Ihre Arbeit unter diesen Bedingungen fort?
Im vergangenen Jahr verließ Alejandro Solalinde nach Morddrohungen das Land. Ich wurde gefragt, ob ich dies auch tun werde. Aber das kommt für mich nicht in Frage. Vielleicht realisiert man selbst die Gefahr nicht mehr, wenn man mehrmals bedroht wurde. Dieses Jahr wurde uns empfohlen, die Herberge eine Zeit lang zu schließen, bis sich die Lage beruhigt und das Organisierte Verbrechen seine Aufmerksamkeit nicht mehr so stark auf uns richtet. Das gesamte Team sowie der Franziskaner-Orden haben sich dagegen entschieden.

Wieso haben Sie sich gegen die Schließung entschieden?
Es ist wichtig, den Migranten Halt zu geben, Unterstützung anzubieten. Diese Menschen werden nicht nur bedroht – sie werden tatsächlich umgebracht.
Mittlerweile empfangen wir viele Familien mit Kindern, haben teilweise einen richtigen Kindergarten in der Herberge. Wenn wir in Tenosique die einzige Herberge im ganzen Bundesstaat schließen, wo gehen die Migranten dann hin? Wo können sie übernachten? Und wenn wieder eine Migrantin vergewaltigt wird, wer zeigt dann den Fall an? Ich möchte damit nicht sagen, dass wir unverzichtbar sind, aber wir können einen winzigen Funken Hoffnung geben.
Letztlich würde die Schließung oder das Verlassen des Landes bedeuten, dass wir eine Schlacht in diesem Krieg – es ist nichts anderes als ein Krieg – verloren geben. Wir sind weder besonders mutig noch möchten wir Helden sein. Natürlich haben wir Angst. Aber wir möchten uns nicht unterkriegen lassen.

// HOFFNUNGSLOSER FALL

Die Messlatte lag nicht allzu hoch. Eine einzige Hoffnung hatte es mit der Wiederkehr der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) an die Regierungsmacht in Mexiko vor einem Jahr gegeben: eine Eindämmung der entgrenzten Gewalt und des massenhaften Mordens. Der „Krieg gegen die Drogen“ der Vorgängerregierung Felipe Calderóns von der Partei der Nationalen Aktion (PAN) hatte die Gewalteskalation ausgelöst. Als Meister des Klientelismus und der Korruption traute man der PRI schlicht die besseren Deals mit den Drogenkartellen zu. Integration der Schattenmacht in das schmutzige politische System Mexikos statt offener Bekämpfung. Die Geschäfte der Organisierten Kriminalität sollten geräuschloser ablaufen. Die Partei mit 71 Jahren durchgehender Regierungserfahrung wird’s schon richten. War es in Mexiko während der Jahrzehnte unter der PRI im lateinamerikanischen Vergleich nicht einigermaßen friedlich zugegangen?

Doch die Messlatte wurde vom neuen Präsidenten Enrique Peña Nieto klar gerissen. Bereits seine Amtseinführung hatte für Straßenkämpfe in Mexiko-Stadt gesorgt. Die polizeiliche Repression gegen Demonstrant_innen wurde deutlich verschärft. In letzter Zeit scheint die Staatsmacht einen neuen Feind ausgemacht zu haben: die freie Presse. Bei Demonstrationen geht die Polizei immer gezielter und gewalttätiger gegen Journalist_innen vor – inklusive Verhaftungen und juristischer Schikane. So kann Peña Nieto sich voll auf die propagandistische Berichterstattung des Fernsehriesen Televisa verlassen, dem er seine Karriere größtenteils verdankt. Denn geändert hat sich an der Gewalt in ganz Mexiko nach seinem ersten Regierungsjahr nur der offizielle Diskurs. Der martialische „Krieg gegen die Drogen“ wurde abgelöst durch die Formel „Wiederherstellung des Rechtsstaats.“ Und wie der neue Präsident diese beherrscht! Die brutale Niederschlagung der Proteste in Atenco 2006 betitelte er als verantwortlicher Gouverneur des Bundesstaates México in gleicher Manier zynisch als „Wiederherstellung der Ordnung“. Von einer Stärkung des Rechtsstaats und befriedenden Deals mit den Drogenkartellen fehlt bisher jede Spur: Die offene Gewalt geht weiter, die Militarisierung des Landes wird weiterhin zur Oppositionsbekämpfung genutzt, die Zahl der Toten hat nicht abgenommen.

Ansonsten präsentiert sich die neue PRI im alten autoritären Gewand. Nötige Reformen im Energie- und Bildungssektor werden von oben bestimmt. Die fehlende Verhandlung mit den Lehrer_innen bei der Bildungsreform sorgt für bis heute anhaltende Streiks und monatelangen Schulausfall in vielen Gebieten. Statt ernsthaftem Dialog wurde das Protestcamp in Mexiko-Stadt gewaltsam geräumt. Die Energiereform hingegen leitet die Privatisierung des staatlichen Erdölkonzerns PEMEX durch die Hintertür ein. Das System PRI befriedigt seine Klientel. Bei Telekommunikations- und Finanzreform geschieht das durch strategische Untätigkeit. Man will schließlich das Fernsehduopol von Televisa und TV Azteca nicht verärgern oder die Oligarchie zum Steuerzahlen zwingen. Stattdessen gibt es eine Erhöhung der Mehrwertsteuer und trifft somit vor allem die mehrheitlich arme Bevölkerung.

Den Zustand der mexikanischen Demokratie symbolisieren auch die beiden anderen großen Parteien. PAN und die Partei der Demokratischen Revolution (PRD) gucken den autoritären Reformprojekten nicht etwa hilflos zu. Sie machen kräftig mit. Zusammen mit der PRI wurde der „Pakt für Mexiko“ unterzeichnet, der ein Abkommen über die zentralen politischen Projekte der PRI-Regierung darstellt. Warum und wie sich die PRD immer noch als linke Oppositionspartei präsentieren möchte, ist keinem mehr zu erklären. Der Regierungsstil der PRI ist keine große Überraschung. Gekonnt kooptiert sie die anderen Parteien, die keine Gegenwehr bieten. Sie betreibt Klientelismus, ist korrupt und repressiv wie eh und je. Nach sechs Jahren des Drogenkriegs mit über 60.000 Toten hatten dies viele Mexikaner_innen mit Hoffnung auf ein Ende der offenen Gewalt in Kauf genommen. Doch auch dieser kleine Funke Hoffnung im Elend der mexikanischen Politik ist eindeutig erloschen.

Kampf ums goldene Kalb

Der„Monat des Vaterlands“, wie der September in Mexiko aufgrund diverser Nationalfeiertage auch genannt wird, steht bislang ganz im Zeichen wütender Proteste. Denn durch das Reformprogramm der neuen Regierung unter Präsident Enrique Peña Nieto sehen viele Mexikaner_innen die Grundfesten ihres Staates bedroht. Seit Wochen campieren tausende Lehrer_innen im Zentrum der Hauptstadt, um eine Rücknahme der Bildungsreform zu erreichen (siehe LN 469/470), der internationale Flughafen wurde vorübergehend blockiert. Dazu gesellt sich nun auch der erbitterte Widerstand gegen die geplante Energiereform, der Erdölsektor gilt seit seiner Verstaatlichung 1938 als das stärkste Symbol der nationalen Souveränität. Immer wieder kommt es zu Massendemonstrationen, die oft in Straßenschlachten mit der Polizei enden.
Kaum wurde Peña Nieto im Juli 2012 zum Präsidenten von Mexiko gewählt, begann er auch schon in regelmäßigen Abständen von der Notwendigkeit einer Reihe „struktureller Reformen“ zu sprechen, mit denen das Land endlich „in der Modernität ankommen“ sollte. Dahinter steht seine Einschätzung, dass das fehlende Wirtschaftswachstum das Resultat eines Systems sei, das nicht mit den Industrieländern konkurrieren könne. So präsentierte Peña Nieto schließlich die – nach seinem Politik- und Wirtschaftsverständnis – Mutter aller Reformen: die sogenannte Energiereform.
Diese „Energiereform“ soll im Wesentlichen auf zwei Punkten basieren: der Förderung von Erdöl und der Erzeugung von Strom. Dazu sieht Peña Nieto eine Änderung der Artikel 27 und 28 der mexikanischen Verfassung vor. Diesen beiden Artikeln zufolge darf einzig der Staat über die unterirdischen Ressourcen verfügen; Verträge mit Privatunternehmen zum Abbau dieser Ressourcen sind demnach nicht erlaubt. Insgesamt ist die Energieerzeugung laut Verfassung Sache des Staates.
Sollte Peña Nietos Gesetzesvorschlag angenommen werden, entfiele für den Staat zum einen das Verbot, Verträge über die private Ausbeutung fossiler Brennstoffe abzuschließen, zum anderen verlöre der Staat den strategischen Bereich der Erdölchemie. In anderen Worten: Durch die angestrebte Gesetzesreform könnten Verträge mit Privatunternehmen zur Förderung von Erdöl abgeschlossen werden und privates Kapital könnte in den Bereichen der Raffination, Transport, Speicherung und der Verteilung fossiler Brennstoffe zum Einsatz kommen. Der staatliche Besitz der Erdölindustrie stellt eines der letzten Überbleibsel des Interventionsstaates dar, die die neoliberalen Reformen überdauert haben, welche in der Regierungszeit Miguel de la Madrids (1982-1988) einsetzten und bis zur Präsidentschaft Felipe Calderóns (2006-2012) weitergeführt wurden.
Die Gesetzesinitiative des Präsidenten zielt aber auch darauf ab, Privatunternehmen den Markt für die Stromerzeugung zu öffnen. Zwar bliebe das Stromnetz in staatlicher Hand, die Stromerzeugung sowie dessen Verteilung könnte jedoch durch Privatunternehmen erfolgen.
Um rechtsgültig zu werden, müsste der Reformvorschlag eine Zweidrittel-Mehrheit im Senat und in der Abgeordnetenkammer erhalten und zudem die Zustimmung von zwei Dritteln der Parlamente der 32 Bundesstaaten erhalten. Sicher ist die geschlossene Zustimmung der Abgeordneten aus den eigenen Reihen der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI). Darüber hinaus kann Peña Nieto mit der Zustimmung von Teilen der rechtskonservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN) sowie der sozialdemokratischen Revolutionären Demokratischen Partei (PRD) rechnen.
Auf den Straßen und in den Universitäten des Landes zeichnet sich allerdings ein ganz anderes Bild ab. Obwohl Erdöl- und Energieerzeugung die beiden zentralen Themen der Energiereform sind, ruft vor allem ersteres Unmut in der Gesellschaft hervor. Die Energieerzeugung sorgt für weniger Polarisierung, da es sich dabei im Gegensatz zum Erdöl um keinen Bodenschatz handelt und die vorgesehene Reform letztlich nur illegale Verträge legalisieren würde. Denn die Teilhabe von Privatunternehmen an der Energieerzeugung wird bereits durch die „Pläne zur unabhängigen Stromerzeugung“ gewährt. Solche Verträge stammen aus einer ersten Privatisierungswelle in den 1990er Jahren, ihre Verfassungsmäßigkeit ist allerdings umstritten. Auf Grundlage dieses Modells betreiben transnationale Unternehmen aus Spanien und den USA Geschäfte am Rande der Legalität. Einer der größten Nutznießer, das Unternehmen Iberdrola, nahm im vergangenen Jahr die ehemalige Staatssekretärin für Energie der Regierung Felipe Calderóns, Georgina Kessel, als Vorstandsmitglied unter Vertrag. Dies ist ein besonders offensichtlicher Fall von Interessenverquickung.
Weitere Schlüsselelemente bleiben in dem 19-seitigen Dokument gänzlich unerwähnt: die Förderung erneuerbarer Energien sowie die Reduzierung des Gebrauchs fossiler Brennstoffe. Obgleich nicht auszuschließen ist, dass diese Punkte in weiteren Gesetzesentwürfen Eingang finden werden, gibt es bisher keinen einzigen fundierten Vorschlag hinsichtlich eines Übergangs zu weniger umweltbelastenden Energien. Ebenfalls unerwähnt bleiben mögliche Umweltschutzauflagen im Hinblick auf die Förderung von Schiefergas.
Ganz im Gegenteil: In Bezug auf die Erdgasförderung durch Fracking (hydraulisches Aufbrechen von Gesteinsschichten mittels Chemikalien, d. Red.) hört man nichts als Lobhudelei. Nicht ein einziges Wort wird über die Emissionen von Methangas durch diese Methode verloren. Die mexikanische Allianz gegen Fracking hat die Abgeordneten aufgerufen, diese Form der Energiegewinnung zu verbieten, weil sie zur globalen Erderwärmung beiträgt, erhebliche Wassermengen erfordert und das Risiko der Grundwasservergiftung birgt. Die Folgen für die Umwelt spielen in Peña Nietos Reformvorhaben, wie überhaupt in der gesamten Politik, die sich dem Wachstumsparadigma unterordnet, jedoch nicht die geringste Rolle.
Das Thema, das die Diskussion um die Reformen dominiert, ist das Erdöl. Immerhin macht die Erdölförderung 35 Prozent des Gesamteinkommens der mexikanischen Regierung aus und ist damit deren größte Einnahmequelle. Von diesen Einnahmen hängt das Wohl jeder Regierung, unabhängig von der politischen Couleur, ab.
Peña Nieto und seine Regierung betonen immer wieder, dass ihre Reform nicht die Privatisierung des staatlichen Monopols von PEMEX (Petróleos Mexicanos) vorsieht, sondern „lediglich“ Risikoverträge mit Privatunternehmen ermöglichen soll. Diese könnten dann Erdölquellen erschließen – gemäß den Vertragsbedingungen – und einen bestimmten Anteil des fossilen Brennstoffs erhalten. Für bestimmte Aufgaben gibt es bereits Abkommen mit von PEMEX beauftragten Firmen. Was bislang nicht erlaubt war, sind Verträge, die eine Bezahlung basierend auf der wahrscheinlichen Menge an Erdöl pro Quelle vorsehen. Laut Peña Nieto wird „durch das Gesetz nicht ein Schraubstock des Unternehmens (PEMEX) privatisiert“. Womit er nicht unrecht hat, denn de facto werden durch die Verträge die Gewinne und die Ölreserven privatisiert. Es verläuft nach dem altbekannten Rezept: Verluste werden verstaatlicht, Gewinne privatisiert.
Die Begründung für die Reform beruht auf zwei Hauptannahmen: Einerseits leidet PEMEX seit langem an Ineffizienz. Andererseits kann sich der mexikanische Staat die nötigen Investitionen zur Förderung fossiler Brennstoffe in mehr als 500 Metern Tiefe gar nicht leisten.
Beide Annahmen sind zum Teil richtig, jedoch gibt es für beide eine sehr eindeutige Erklärung und Lösung. Vor Abzug der Steuern belegt PEMEX Platz fünf der profitabelsten Erdölunternehmen weltweit. Aber der Konzern unterliegt einem Steuersystem, das es ihm nicht erlaubt, sein Investitionsbudget gemäß seinen Produktionsbedürfnissen zu nutzen. Ganz im Gegenteil, über 70 Prozent seiner Einnahmen gehen an die Staatskasse. Eine derartige Steuerlast macht es dem Unternehmen unmöglich, in das notwendige Know-how und entsprechende Technologien zu investieren, um seinen Produktionsrhythmus langfristig aufrechtzuerhalten. Der ehemalige Präsidentschaftskandidat und Gründer der PRD, Cauthémoc Cárdenas, dessen Vater Lázaro Cárdenas seiner Präsidentschaft (1934-1940) die Erdölindustrie verstaatlichte, widerspricht entschieden der Diagnose, dass PEMEX vor dem Konkurs steht: „Dass PEMEX Einnahmen entzogen und die Liquidität genommen werden, ist eine andere Frage. Vielleicht mag das Unternehmen nicht immer sofort zahlen, aber es erfüllt seine Verpflichtungen gegenüber Vertragsnehmern und Personal“, führte er im Interview mit der Zeitschrift Proceso aus. Die Begründung der Reform erinnert insofern an die Privatisierungspolitik, welche in Mexiko in den 1990er Jahren umgesetzt wurde. So erklärt Arturo Romero Contreras von der Organisation México vía Berlin: „Mit der gleichen Begründung wurde das Telekommunikationsunternehmen TELMEX privatisiert, das heute eines der größten Monopole darstellt. Die Mexikaner_innen zahlen heute die höchsten Tarife für Telefon und Internet in der gesamten OECD. (Organisation der führenden Industriestaaten, d. Red.)“.
Diese Situation resultiert aus dem fehlenden Interesse der mexikanischen Regierung, ein gerechtes und progressives Steuersystem zu schaffen. In Mexiko betragen die öffentlichen Steuereinnahmen weniger als zehn Prozent des Bruttoinlandprodukts. In den restlichen OECD-Ländern machen diese im Durchschnitt 35 Prozent aus. Die Durchsetzung einer entsprechenden Steuerreform ist deswegen so schwierig, weil sie auf den Widerstand der nationalen Eliten und des transnationalen Kapitals stößt, Steuern gemäß ihren Gewinnen zu zahlen.
PEMEX‘ Kernproblem ist die fehlende budgetäre Autonomie des Unternehmens. Nur durch eine proportionale Steuerlast, die den Wachstumsprognosen des Unternehmens angemessen ist, könnte die gesamte Wertschöpfungskette der fossilen Brennstoffe zurückgewonnen werden und somit die Abtretung von Erdöleinnahmen an Privatunternehmen vermieden werden.
Daran würde auch die geplante Steuerreform nichts ändern, die Peña Nieto am 8. September, begleitet von Protesten, vorgestellt hat. Demnach sollen der Spitzensteuersatz von derzeit 30 Prozent angehoben und Kapitalerträge künftig stärker besteuert werden. Der Vorschlag der Regierung sieht zudem die Abschaffung einer Reihe von Steuererleichterungen für Unternehmen sowie eine Ökosteuer auf Treibstoffe vor. Mit den zusätzlichen Einnahmen will Peña Nieto eine Arbeitslosenversicherung und eine Grundsicherung für Rentner_innen einführen. „Diese Steuerreform ist eine soziale Reform“, sagte er. Das glauben ihm weder die Opposition noch große Teile der Bevölkerung.
An PEMEX geht die Steuerreform vorbei. Eine Eigenständigkeit des Staatsunternehmens hat die Regierungen der letzten Jahre aber nie interessiert und interessiert sie auch jetzt nicht. 1993 produzierte PEMEX hunderte von Produkten, die aus Erdöl hergestellt wurden und verfügte über ein Konzerneigenkapital von über 82 Milliarden mexikanischen Pesos (ungefähr 4,7 Milliarden Euro). Heute hat das Unternehmen mehr als die doppelte Summe an Schulden und beschränkt sich darauf, Rohöl zu exportieren, welches die Regierung anschließend als Benzin wieder importiert. Das Ganze ist ein langer Prozess systematischen Kapitalentzugs, an dem sich bestimmte Gruppen vorsätzlich bereichern. Die von Peña Nieto vorgeschlagene Reform ist nur der nächste Schritt in diesem Prozess.

Auf dem Prüfstand

Seit 2009 ist Mexiko in fünf Fällen vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechtsverletzungen verurteilt worden. Es ist das Land, gegen das die meisten Klagen vor diesem Gericht eingereicht wurden. In welchen Bereichen besteht aus eurer Perspektive die größte Notwendigkeit, Reformen durchzuführen?
Georgina Vargas: Ich glaube, dass die effektive Durchsetzung der Verfassungsreform von 2011 sehr wichtig ist, weil sie die Akzeptanz, das Verständnis und die Anwendung der Menschenrechte von Seiten der drei Gewalten auf allen staatlichen Ebenen ermöglichen wird. Die Menschenrechte sollen komplett in die Strukturen der Institutionen integriert werden, um eine ganzheitlichere Politik zu machen.
Daniel Joloy: Persönlich halte ich die „Militarisierung“ für eines der entscheidenden Themen. Denn die Strategie für öffentliche Sicherheit, die sich auf die Streitkräfte stützt, hat zu einer Serie schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen geführt. Seit die Militärs Polizeiaufgaben übernehmen, haben zum Beispiel die Fälle von Folter, des „Verschwindenlassens“ und der außergerichtlichen Hinrichtungen zugenommen. Eine Sicherheitsstrategie, welche die Menschenrechte besser achtet, würde helfen, viele andere Probleme zu überwinden, die sich zugespitzt haben.
Malú Aguilar: Sicher sind die fünf Urteile des Interamerikanischen Gerichtshofs sehr wichtig. In vier davon handelt es sich um den Missbrauch von Zivilisten durch Militärs, darunter sind drei Fälle von Gewalt gegen Frauen. Ich glaube, das ist sehr repräsentativ für die fehlende Rechtsstaatlichkeit in Mexiko. Durch die Militarisierung nahm die Straflosigkeit zu, die in allen Menschenrechtsfragen wesentlich ist.

Ihr habt die Militarisierung der öffentlichen Sicherheit als zentrales Problem benannt. Wie beurteilt ihr die sicherheitspolitischen Reformen, die von der Regierung der PRI (Revolutionären Institutionellen Partei) seit 2012 angestoßen wurden?
DJ: In einer der ersten Reformen wurde das Ministerium für öffentliche Sicherheit – die wesentliche Institution in der Sicherheitsstrategie der [vorherigen] rechtskonservativen PAN-Regierungen – abgeschafft und die Bundespolizei wieder dem Innenministerium unterstellt. Dadurch könnte die Bundespolizei wieder zum verlängerten Arm der politischen Machthaber werden, wie es in den früheren PRI-Regierungen der Fall war. Die Reformen beinhalten zudem keine Kontrollmechanismen gegenüber einem starken Polizeiapparat, wie es ursprünglich mit der Schaffung eines unabhängigen Kontrollgremiums vorgesehen war. Außerdem will die Regierung eine neue Polizeieinheit, die Gendarmerie, schaffen. Die Regierung von Enrique Peña Nieto präsentiert sie als bürgernahe Polizei zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität. Soweit wir informiert sind, wird sich die Gendamerie jedoch aus Angehörigen der Armee zusammensetzen und auch die Ausbildung der Rekruten sollen Militärs übernehmen. Deshalb befürchten wir, dass diese neue Sicherheitseinheit langfristig die Militarisierung institutionalisiert. Was sich ändert, ist nur die Farbe der Uniform – aber die für viele Menschenrechtsverletzungen verantwortliche militärische Ausbildung und Arbeitsweise werden weiterexistieren.

In der Vorstellung des Berichts betont ihr, dass die Menschenrechtsverletzungen nicht nur mit dem Drogenkrieg zu tun haben, sondern auch strukturell bedingt sind, wie zum Beispiel die geschlechtsspezifische Gewalt. In den vergangenen Jahren schuf die mexikanische Regierung eine Vielzahl von rechtlichen Instrumenten zum Schutz von Frauen. Inwiefern hat das tatsächlich zu einer Verbesserung der Situation geführt?
MA: Diese Instrumente zum Schutz von Frauen sind an sich eine gute Sache. Doch die Institutionen, die sie durchsetzen sollen, besitzen weder die Kapazitäten noch eine politische Strategie dazu. Es gibt keine konkreten Handlungen der Regierung, die auf strukturelle Veränderungen des Sexismus und Machismo in der Gesellschaft abzielen. Es existieren immer noch viele grundlegende Mängel. Wenn eine indigene Frau anzeigt, dass sie von ihrem Ehemann geschlagen oder von Angehörigen staatlicher Institutionen vergewaltigt wurde, nehmen die Behörden ihre Anzeige nicht auf. Es gibt keine Übersetzer und keine Rechtsmediziner, die die Frauen untersuchen könnten. Diese Fälle kenne ich aus sehr armen und marginalisierten Gebieten, aber sie sagen viel über die mexikanische Realität aus. Auch in urbanen Gegenden hat es keinen Wandel gegeben, der die rechtlichen Veränderungen widerspiegelt. Frauen haben immer noch weniger Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem.
GV: Ein Beispiel für die Defizite ist das rechtliche Instrument „Alarmzustand geschlechtsspezifischer Gewalt“. Wenn dieser Zustand deklariert wird, sollen unter anderem mehr Ressourcen für den Schutz von Frauen zur Verfügung stehen. In fünf Bundesstaaten forderten zivilgesellschaftliche Akteure bereits die Anerkennung eines solchen Alarmzustandes, da dort sehr viele Femizide begangen werden oder geschlechtsspezifische Gewalt stark verbreitet ist. Aber in keinem dieser Fälle wurde der Alarmzustand ausgerufen. Es scheint, als ob dieses wichtige Instrument sich zu einer politischen Last entwickelt hat, das heißt niemand möchte der Erste sein, in dessen Bundesstaat der Alarmzustand anerkannt wird.

Besonders bekannt ist der Fall Atenco, in dem sich der mexikanische Staat wegen sexueller Gewalt und Folter an elf Frauen durch Angehörige staatlicher Institutionen verantworten muss. Das Zentrum ProDH (für Menschenrechte) hat zusammen mit anderen Organisationen erreicht, dass der Fall vor die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte kam. Wie ist der aktuelle Stand?
GV: Der Fall wurde 2008 der Kommission vorgestellt. Im März diesen Jahres wurde eine der elf Frauen, Barbara Italia Méndez, von der Kommission angehört. Das war aus zwei Gründen überaus wichtig: Erstens, weil es immer gut ist, dass die anwesenden Beauftragten der Kommission Augenzeugen anhören und nicht nur Dokumente lesen. Für Italia war es auch sehr wichtig, sich vor einer Instanz wie der Kommission äußern zu können. Eine gütliche Einigung, wie sie der Staat vorgeschlagen hatte, hat sie deutlich abgelehnt. Die Frauen haben immer wieder gesagt, dass staatliche Vertreter sie weiter aufsuchen, anrufen und bedrohen. Italia hat den Brief der elf Frauen an die Kommission übergeben, in dem sie eine gütliche Einigung ausschließen. Sie haben den Staat gebeten, dass er sie in Ruhe lässt.
Wir hoffen, dass die Kommission zu den nächsten Sitzungen im Juli, spätestens November, den Hintergrundbericht herausgibt und den Fall ans Gericht überstellt. Mexiko hat in den letzten Monaten versucht, den Prozess zu verzögern, und die Kommission stark unter Druck gesetzt, den Hintergrundbericht nicht herauszugeben.

Welche Rolle spielt die Zusammenarbeit mit anderen Menschenrechtsorganisationen in eurer Arbeit?
DJ: In den letzten Jahren hat sich die Kooperation zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen in Mexiko verstärkt. Ich weiß, dass ich immer das Thema der Militarisierung anspreche, aber die Strategie im Bereich der öffentlichen Sicherheit hat uns meines Erachtens wirklich überrannt. Wir kamen aus der politischen Transition des Jahres 2000, die auch mit einer Öffnung der Menschenrechtsagenda einhergegangen war. Nachdem 2006 das Militär [zur Bekämpfung der Drogenkriminalität, Anm. der Redaktion] eingesetzt wurde und seitdem die Hoffnungen auf eine Verbesserung der Menschenrechtslage „niedergeschossen“ werden, fragten sich die Organisationen, woher dieser schwere Schlag kam. Ich glaube, sie haben sich auf der Suche nach einer Antwort immer stärker vereint. Aber es ist wichtig, die Arbeit der Organisationen in den Bundesstaaten sowie die Zivilgesellschaft vor Ort zu stärken. In Mexiko konzentrierte sich Menschenrechtsarbeit lange auf die Hauptstadt und es gibt immer noch sehr wenige bundesstaatliche Organisationen, die auch international vernetzt sind.

Infokästen:

PRÜFUNG DER MENSCHENRECHTSLAGE

Seit 2007 wird im Rahmen des Universellen Periodischen Überprüfungsverfahrens des UNO-Menschenrechtsrates die Menschenrechtslage in allen 192 Mitgliedsstaaten in einem vierjährigen Zyklus überprüft. Zum ersten Mal erhielt die mexikanische Regierung 2009 insgesamt 91 Empfehlungen. Davon akzeptierte sie 83, traf zu fünf von ihnen keine klare Aussage und lehnte drei davon ab. Die drei abgelehnten Empfehlungen betrafen zentrale Punkte wie die separate Gerichtsbarkeit für Angehörige des Militärs, die Untersuchungshaft (arraigo) und eine Neudefinition des Tatbestands der Organisierten Kriminalität.
Im Oktober 2013 werden die Ergebnisse der zweiten Überprüfung veröffentlicht. In Vorbereitung darauf sind die mexikanischen NGOs dazu aufgerufen, Berichte beim UN-Menschenrechtsrat einzureichen. Als Vertreter_innen eines Zusammenschlusses von 40 Nichtregierungsorganisationen stellten Malú Aguilar, Georgina Vargas und Daniel Joloy die Ergebnisse des Berichts in Brüssel, Genf, Berlin, Prag und Wien vor.

ZU DEN PERSONEN

Malú Aguilar arbeitet seit über zwei Jahren für das Centro de Derechos Humanos de la Montaña Tlachinollan (Menschenrechtszentrum der Tlachinollan-Berge) in der Berg- und Küstenregion Costa Chica im Bundesstaat Guerrero. Seit 19 Jahren begleitet Tlachinollan vor allem indigene Gruppen in ihrem Kampf für Gerechtigkeit und die umfassende Respektierung ihrer Menschenrechte.

Georgina Vargas ist Juristin und im Bereich Internationales des Centro de Derechos Humanos Miguel Agustín Pro Juárez (Menschenrechtszentrum Miguel Agustín Pro Juárez) tätig. 1988 gegründet, arbeitet das Zentrum ProDH von seinem Hauptsitz in Mexiko-Stadt aus mit Organisationen in sämtlichen Regionen des Landes zusammen, um Fälle vor lokalen, nationalen und internationalen Instanzen zu vertreten. Dabei konzentriert es sich insbesondere auf die indigenen Völker, Frauen, Migrant_innen und Opfer gesellschaftlicher Repression.

Daniel Joloy ist Koordinator für Internationales der Mexikanischen Kommission zur Verteidigung und Förderung der Menschenrechte. Diese zivilgesellschaftliche Organisation mit Sitz in Mexiko-Stadt wurde 1989 gegründet und begleitet nationale und internationale Gerichtsfälle in verschiedenen Bundesstaaten. Aktuell arbeitet die Kommission an einer Kampagne zur Sichtbarmachung und Anerkennung der Arbeit von Menschenrechtsverteidiger_innen.

„Im Stillen weiterarbeiten“

Am 11. Mai 2012 besuchte der damalige Präsidentschaftskandidat der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), Enrique Peña Nieto, die Iberoamerikanische Universität in Mexiko-Stadt. Nach Protesten musste Peña Nieto aus der Universität flüchten, der Auftakt für die Entstehung der Bewegung #YoSoy132. Wie entstand der Protest in der privaten Universität?
Ignacio Martínez: Was am 11. Mai 2012 passierte, war von verschiedenen Zellen organisiert worden, die sich erst an diesem Tag vereinten. Mich persönlich hat einfach gestört, dass ein mutmaßlicher Verbrecher Präsidentschaftskandidat für dieses Land ist. Peña Nieto hier in der Universität zu haben, das war eine perfekte Gelegenheit ihm dies ins Gesicht zu sagen. Letztlich erkannten wir, dass diese Wut sehr weit verbreitet war. Bis dahin hatte Peña Nieto praktisch alle unkontrollierten Interviews und Auftritte gemieden, aber hier in der privaten Iberoamerikanischen Universität hatte man wohl gedacht, dass alles ruhig bleiben würde. Am 11. Mai selbst kam Peña Nieto schließlich mit einem großen Aufgebot an Sicherheitspersonal und eigenen Aktivisten, die einen Großteil der Eintrittskarten für das Audimax bekamen.

Genau das war doch eine der Strategien, mit der im Nachhinein die Proteste diffamiert wurden: dass sie von anderen Parteien, wie der PRD, bezahlt worden seien.
IM: Ja, aber das Gegenteil ist der Fall. Die PRI brachte ihre Anhänger und extrem viel Wahlkampfmaterial mit, während Peña Nietos Sicherheitsleute uns die Plakate wegnahmen. Erst das Einschreiten der Sicherheitskräfte der Ibero gab uns die Möglichkeit auch unsere Plakate ins Audimax mitzunehmen. Als Peña Nieto dann die Repression in Atenco verteidigte, brach die Hölle los. Er musste durch die Hintertür fliehen, aber die Universität war komplett voll mit Studenten. So entstanden die berühmten Bilder, auf denen er durch die Uni gejagt wird und letztlich für zirka 20 Minuten Zuflucht auf einer Toilette suchen musste.

Wie ging es nach diesem Tag weiter? Wie entstand die Bewegung aus Ihrer Perspektive?
IM: Alles passierte Schlag auf Schlag. Nach dem 11. Mai wurde in vielen Zeitungen, vor allem denen der Agentur El Sol de México, geschrieben, dass Peña Nietos Besuch der Ibero ein Erfolg gewesen sei und die Proteste von außerhalb gekommen wären. Sogar einer unserer Professoren, José Carreño, jetzt Direktor des Fondo de Cultura Económica (Verlagshaus des mexikanischen Staats; Anm. der Red.), behauptete, die Studenten wären von anderen Gruppen manipuliert worden. Deswegen entstand das Video mit 131 Studenten, die ihre Studentenausweise zeigten. Plötzlich hatten wir mittags schon ein halbe Million Views und wurden in Twitter zum weltweiten Trending Topic. Wir erkannten, dass wir in eine für Mexiko wichtige politische Konjunktur geraten waren und sagten: „Jetzt wo sie uns die Mikrofone geben, müssen wir uns organisieren und etwas sagen.“ So entstand #YoSoy132.

In dieser Zeit wurde schon von #YoSoy132 gesprochen?
IM: Es gab viele, die sagten, es gäbe mehr als 131, die so denken wie wir. Als diese Idee der 132 schon etwas fester war, organisierten wir den Demonstrationszug zu den Büroräumen des Medienunternehmens Televisa in Santa Fé. Das war das erste Mal, dass auch viele andere Universitäten kamen und wir miteinander sprachen und planten, was in Zukunft passieren sollte. In der ersten interuniversitären Versammlung wurde dann unser Hauptziel beschlossen: die Demokratisierung der Medien. Mit diesem Thema konnten wir ein sehr großes Spektrum von Leuten erreichen. Es war außerdem ein großer Erfolg, die Barriere zwischen privaten und öffentlichen Universitäten gebrochen zu haben. Die nächsten Demonstrationen wurden immer größer und die Bewegung wuchs und wuchs, denn uns einte ein Ziel, weniger eine Ideologie.

Was waren die größten Erfolge der Bewegung in dieser Zeit?
IM: Ein großer Erfolg ist sicherlich der politische Reifeprozess, den wir alle durchmachten – diese Dinge hätten wir sonst niemals gelernt. Aber auch jeden Tag weiter zu machen. Ich spreche hier von den riesigen Demonstrationen, die wir organisierten, das Konzert auf dem Zócalo (zentraler Platz in Mexiko-Stadt; Anm. der Red.). Bei diesem Konzert brachten wir 500.000 Personen zusammen und erkannten, dass wir in der Lage sind, etwas in diesem Land zu bewegen. Und natürlich die dritte Debatte der Präsidentschaftskandidaten, die das IFE (Instituto Federal Electoral, die Nationale Wahlkommission; Anm. der Red.) nicht veranstalten wollte. Wir brauchten keine zehn Millionen Pesos dafür; das Internet und drei Kameras – und die Debatte funktionierte! In dieser Hinsicht betrachte ich lediglich als Fehler, dass wir uns als Bewegung klar als „antiPeña“ bezeichnet hatten, denn dies gab ihm ein einfaches Argument, nicht zu unserer Debatte zu erscheinen.

Nachdem sich verschiedenste Gruppen zusammengeschlossen und #YoSoy132 ihren Höhepunkt erreicht hatte – wann fing die Bewegung an, sich aufzulösen?
IM: Ich denke, nach den Wahlen am 1. Juli 2012. Peña Nieto wurde Wahlsieger und auch wenn es sehr schön gewesen wäre – eine Maschinerie, die das Land seit fast 83 Jahren im Griff hat, kann man nicht in zwei Monaten zerstören. Nach den Wahlen war das zweite große Ziel der Bewegung, eben den Wahlsieg Peña Nietos zu verhindern, nicht mehr vorhanden. Jede einzelne Gruppierung innerhalb der Bewegung fing an, nach ihrer Ideologie zu handeln und die Massenmedien nutzten dies aus. Eine ihrer Strategien war es, uns übermäßig in die Öffentlichkeit zu stellen, bis die Menschen uns nicht mehr sehen konnten. Gleichzeitig gaben sie ein extrem verzerrtes Bild der Bewegung wieder. Genau das Problem, welches wir beheben wollten, trug maßgeblich zur Zerstörung der Bewegung bei.

Wie hat die Gewalterfahrung bei Peña Nietos Amtsantritt in Mexiko-Stadt das Auseinanderbrechen der Bewegung beeinflusst?
IM: Für mich gab es, wie gesagt, in der gesamten Zeit zwischen 1. Juli und 1. Dezember kein gemeinsames Ziel mehr. Und dann war bereits vor dem 1. Dezember zu erkennen, dass dies eine gewalttätige Konfrontation werden würde. Die gemeinsame Bewegung brach zusammen und es war klar, dass die Radikaleren an diesem Tag kein Abkommen respektieren würden. Aber die extreme Polizeigewalt, die unrechtmäßigen Verhaftungen am Tag selbst – das hat viele demoralisiert und außerdem den Medien die Möglichkeit gegeben, uns als Vandalen darzustellen.
Julio César Colin Paredes: Ja, der 1. Dezember war das Ende eine Etappe von #YoSoy132. Wir bekamen die Macht zu spüren, mit der die Regierung soziale Bewegungen angreift und auch die neue Haltung des damaligen Bürgermeisters von Mexiko-Stadt, Marcelo Ebrard (Partei der Demokratischen Revolution, PRD). Dies war praktisch der Auftakt für eine Art Hexenjagd gegen uns. Viele Mitglieder der Bewegung waren politisch noch unerfahren. Am 1. Dezember erkannten sie, dass echte Opposition zu sein in Mexiko nicht leicht ist. Leider ging mit der enormen Gewalt auch die Offenheit der Bewegung für alle politischen Gruppierungen verloren, es entstand Misstrauen unter verschiedenen Mitgliedern. Der 1. Dezember ist für uns eine Lektion gewesen, in jedem kritischen Moment auch das schlimmste Szenario zu bedenken.

Wie sieht die Situation heute aus? Nennt sich die Bewegung noch immer #YoSoy132?
IM: Die Massenbewegung #YoSoy132 als solche existiert heute nicht mehr. Es bleiben verschiedene Arbeitsgruppen und das in der Zeit aufgebaute Netzwerk, aber wir repräsentieren niemanden mehr. Außerdem haben wir hier in der Ibero eine eigene Position. Wir sind die 131, dieses Kernstück der Ibero. 132 ist eine viel größere Dimension, zu der sich fast jede Person zählen kann und die so auch an Bedeutung verloren hat. Wir waren eine sehr wichtige Versammlung innerhalb der gesamten Bewegung und ausschlaggebend für das, was bisher passiert ist. Genau jetzt zum Jahrestag der Bewegung fragen wir uns, wer wir sind. Und wir sagen, dass wir eben keine Versammlung mehr sind. Wir repräsentieren ja nicht mal mehr die Ibero, wir sind inzwischen ein Kollektiv und arbeiten vor allem mit Videos, die auf unserem YouTube-Kanal MásDe131 (Mehr als 131) zu sehen sind. Wir sind die Leute, die weiterhin als Aktivisten arbeiten wollen, und die gesamte Bewegung gab uns die Möglichkeit, uns kennenzulernen. Zurzeit sind wir ausschließlich aus der Ibero, aber zum 11. Mai wollen wir das Kollektiv für weitere Personen öffnen und dafür eine neue Internetplattform erstellen.
JCCP: Ich denke, man sollte die Idee nicht aufgeben. Klar, es sind nur noch wenige übrig, aber vor einigen Tagen zum Beispiel trafen sich Mitglieder aus den nördlichen Staaten und beschlossen eine gemeinsame Erklärung. Manche meinen, #YoSoy132 wäre tot, weil es keine großen Mobilisierungen et cetera mehr gibt. Aber im Stillen wird an vielen Stellen weitergearbeitet. #YoSoy132 war während seines Bestehens Ausgangspunkt für viele kleinere Kämpfe und bleibt dies auch weiterhin. Die Regierung sollte nicht glauben, dass dies bloß eine Frage der Wahlen war. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Bewegung in der einen oder anderen Form wieder auferstehen kann.

Megaprojekte im Gegenwind

„Heute um 10.30 Uhr fuhr ein Mann in einem großen weißen Pickup vor das Haus des Gemeinderadios von Santa María Xadani. Er fragte im Befehlston eine Compañera, die sich gerade in der Radiostation aufhielt, wo Filiberto Vicente Aquino sei, sie würden ihn holen, denn sie seien ihn leid. Die Compañera antwortete, dass er nicht da sei. Darauf drohte der Mann, er sei ein Zeta (Mitglied eines besonders brutalen Drogenkartells, Anm. d. Red.) und sie solle dem Compañero Filiberto sagen, dass sie ihn finden würden.“ Mit diesen Worten schildern am 24. April lokale Aktivist_innen im südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca eine Drohung gegen einen der ihren. Derselbe Radioaktivist erhielt bereits im März, nach der Teilnahme an einer Pressekonferenz der Gemeinden, die sich gegen die Windparks wehren, eine Morddrohung.
Seit Monaten verschärfen sich die Konflikte im Isthmus von Tehuántepec, der Landenge im Süden Mexikos, wo aufgrund der exzellenten Windbedingungen Investor_innen riesige Windparks errichtet haben und weitere sich im Bau befinden. Die überwiegend indigene Bevölkerung protestiert seit langem dagegen. Zum einen, da sie nicht konsultiert wurde oder bei den Entschädigungszahlungen betrogen wurde. Zum anderen, da sie die ökologischen, sozialen und ökonomischen Auswirkungen fürchten (siehe LN 450, 456).
Besonders konfliktträchtig ist der Windpark San Dionisio an der Pazifikküste auf dem Territorium der gleichnamigen Gemeinde der indigenen Ikoots, wo 102 Turbinen installiert werden sollen. 30 weitere Turbinen sind auf dem Gebiet der Gemeinde Santa Maria del Mar geplant. Mit einer erhofften Stromerzeugung von 396 Megawatt wäre dies der größte Windpark Lateinamerikas. Hinter dem Projekt steht das Konsortium Mareña Renovables, eine japanisch-europäisch-australische Investorengruppe. Mit Zufahrtsstraßen und fünf Anlegestellen tangiert der Windpark das Territorium der vier Gemeinden der Ikoots-Indigenen sowie einige zapotekische Gemeinden, darunter Álvaro Obregón. Allerdings ist der Bau des Windparks San Dionisio blockiert seit in einer Gemeindeversammlung im Januar 2012 aufflog, dass der Gemeindepräsident von San Dionisio, von der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI), klammheimlich 20.5 Millionen Pesos (ca. 1,3 Mio. Euro) von den Investor_innen für die Umnutzung des Bodens kassiert hat. Daraufhin besetzte die Bevölkerung das Gemeindehaus und verhinderte jegliche Bautätigkeit von Mareña Renovables. Das Megaprojekt mit einem Investitionsvolumen von einer Milliarde US-Dollar ist auch legal ausgesetzt: Ein Richter verhängte Ende 2012 einen Baustopp, da nie über das Projekt auf kommunalem Land abgestimmt wurde und somit die indigenen Rechte der BewohnerInnen verletzt wurden. Zudem ist bei der Interamerikanischen Entwicklungsbank eine Klage der Projektgegner_innen wegen Schmiergeldzahlungen hängig.
Mehrere Versuche einer nachträglichen Bewilligung durch improvisierte Gemeindeversammlungen scheiterten, es kam zu Konfrontationen der verfeindeten Lager. Schließlich drohte das Konsortium Mareña Renovables Ende Januar auf einer Windenergiemesse in Mexiko-Stadt ultimativ, es werde sich zurückziehen, wenn nicht endlich gegen „die 20 Personen, die das Projekt blockieren“ vorgegangen werde. Dass sie damit den Widerstand massiv unterschätzten, zeigten die folgenden Tage: Kurz darauf versuchte die bundesstaatliche Polizei mehrmals in die Gemeinde Álvaro Obregón vorzudringen, wo die Bevölkerung seit November den Zugang zur Baustelle blockiert. Anfang Februar eskalierten die Auseinandersetzungen, die Polizei musste sich zurückziehen.
Eine ähnliche Eskalation erlebte auch das benachbarte San Mateo del Mar, mit 15.000 Einwohner_innen und 12 Weilern die größte Gemeinde der Ikoots. Am 21. März wurden dort sieben Personen, darunter zwei Journalisten der Tageszeitung Jornada und Aktivisten der Menschrechtsorganisation Ucizoni, von einer Gruppe von 50 bewaffneten und betrunkenen Personen für drei Stunden festgehalten. Die Delegation wollte die Übergriffe der Behörden auf Oppositionelle dokumentieren. Die Täter stammen aus dem Umfeld des lokalen PRI-Bürgermeisters Francisco Valle Piamonte. Auch Valle Piamonte wurde aufgrund massiver Korruptionsvorwürfe vor einem Jahr in einer Gemeindeversammlung abgewählt. Das Parlament Oaxacas blockierte jedoch das Amtsenthebungsverfahren gegen ihn, es wurden Neuwahlen angesetzt.
Doch Valle Piamonte kam diesen zuvor: In einem nächtlichen Überfall eroberte er im November mit bewaffneten Anhängern den Gemeindesitz zurück, kurz darauf trafen Einheiten der Bundesstaatspolizei ein, um „die Sicherheit und Ruhe“ in der Gemeinde zu gewährleisten. Seither regiert Valle Piamonte mit Hilfe von parapolizeilichen Gruppierungen, die auch Straßensperren errichtet haben. Jüngst griffen Unbekannte das Haus der Windparkgegnerin Reyna Gutiérrez Luis an und drohten sie zu „zerstückeln“. Gutiérrez Luis, die als erste Frau ein Amt innerhalb der Dorfrates innehatte, klagt im Dokumentarfilm Somos Viento die soziale Zerrüttung durch das geplante Megaprojekt an: „Welches Erbe werde ich meinen Kindern hinterlassen? Eine unregierbare Gemeinde? Unser Land, unser Meer verschmutzt?“
Die privatisierte Stromgewinnung im Isthmus wird dabei großzügig durch Weltbankkredite sowie Finanzierungsinstrumente wie den Clean-Development-Mechanismus der UNO und den EU-Fonds LAIF (Latin America Investment Facility) subventioniert. 15 Windparks auf 11.079 Hektar Land sind schon im Betrieb und produzieren Strom für Großunternehmen wie Coca-Cola, Cemex oder Walmart, die sich mit der vergleichsweise sauberen Energie ein grünes Mäntelchen erkaufen. Das Geschäft ist doppelt attraktiv: Die Windparks können auch via CO2-Zertifikate am internationalen Emissionshandel teilnehmen. Und das Potenzial der Region ist erst zu 10 Prozent ausgeschöpft, denn gemäß der staatlichen Kommission für Energieregulation könnten auf 100.000 Hektaren mindestens 10.000 MW Strom produziert werden.
Die fehlende Information und Konsultation der indigenen Bevölkerung, unlautere Verträge über die Pacht von Land sowie Korruption und Einsatz von Gewalt der lokalen Behörden bilden das Muster dieser Investitionen zugunsten des „ökologischen Fortschritts“. „Die multinationalen Unternehmen bemächtigen sich unserer Territorien, als sei diese Region jungfräulich, unbewohnt“, klagte die zapotekische Menschrechtlerin Bettina Cruz Velázquez anlässlich einer Rundreise in Europa. Doch selbst die verstärkte Repression scheint den Widerstand der Gegner_innen nicht brechen zu können. Eine baldige Befriedigung der Situation ist unwahrscheinlich, im Gegenteil.

Aktueller Dokumentarfilm Somos Viento zum Thema: http://somosvientodocumental.wordpress.com/

„Es hat keine unmittelbaren Veränderungen gegeben“

Sie arbeiten seit vielen Jahren mit Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Aktivist_innen, die sich für Menschenrechte einsetzen. Wie haben sich ihre Arbeitsbedingungen seit Beginn des sogenannten Drogenkrieges verändert?
Das hohe Risiko, dem sich Menschenrechtsaktivisten ausgesetzt sehen, besteht nicht erst seit der Regierungsperiode von Felipe Calderón und dem Beginn des Drogenkriegs. Auch zuvor waren Menschenrechtsverteidiger schwierigen Bedingungen ausgesetzt. Einige Entscheidungen des ehemaligen Präsidenten trugen jedoch dazu bei, dass sich die Situation verschärfte. Die Verwundbarkeit und die Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger stiegen seit Beginn des Drogenkriegs aus mehreren Gründen an.

Was sind das für Gründe?
Zunächst ist die Regierungspolitik zu erwähnen, die den Kampf gegen die Drogenkartelle auf das Militär stützte, was von vornherein mit einem Anstieg von Menschenrechtsverletzungen einherging. Der Truppeneinsatz sowie das vermehrte Einrichten von Wachposten, Hausfriedensbruch, willkürliche Festnahmen, Verstöße gegen die Prozessordnung – all das führte zu einer Vervielfachung von Menschenrechtsverletzungen. Für die NGOs und ihre Kapazitäten bedeutete dies eine enorme Überlastung.
Zweitens ist das Verhalten von ­Staatsbediensteten auf allen drei Regierungsebenen der mexikanischen Republik anzuführen. In Mexiko wird viel von der Rolle des Staates gesprochen, der dann auf die Bundesregierung reduziert wird. Dabei wird übersehen, dass alle drei ­Regierungsebenen die Arbeit von Menschenrechtsverteidigern erschweren.
Drittens trugen die Gruppierungen der Organisierten Kriminalität zu einer Verschärfung der Bedingungen bei. Die Anzeigen, die sich auf das Verschwinden von Personen oder Unterlassungen bei der Untersuchung von Fällen bezogen, in die staatliche Akteure verwickelt waren, waren den kriminellen Vereinigungen ein Dorn im Auge. Es ist bekannt, dass staatliche Bedienstete mit Gruppen der Organisierten Kriminalität zusammenarbeiten. Es kam zu einem Anstieg von Drohungen und Morden – vor allem im nördlichen Bundesstaat Chihuahua, wo Menschenrechtsaktivisten mitsamt ihrer ganzen Familien umgebracht wurden.

Sie haben Attacken seitens staatlicher Akteure erwähnt. Wie genau kann man sich diese aktiven Angriffe vorstellen?
Dazu zählen das Herunterspielen ihrer Arbeit und verbale Angriffe. Oftmals wird in öffentlichen Erklärungen auch behauptet, die NGOs verfolgten nur die Verteidigung von Kriminellen. Wenn beispielsweise ein Fall von willkürlicher Festnahme verfolgt wird, wird behauptet, der Inhaftierte ­gehöre möglicherweise zum Organisierten Verbrechen und für ihn einzutreten sei verdächtig. Zudem kommt es zu Einschüchterungen, bei denen Polizeitruppen oder Wachpersonal zu den NGOs geschickt werden. In Chihuahua beging die Bundespolizei Hausfriedensbruch in den Büros des Menschenrechtszentrums Paso del Norte. Vorwand war die Suche nach Drogen, obwohl allseits bekannt war, dass es sich um eine Menschenrechtsorganisation handelt. Ähnliche Vorfälle ereigneten sich landesweit.

Seit Beginn des Jahres sind in den Bundesstaaten Guerrero und Michoacán indigene Selbstverteidigungsgruppen aufgetreten. Was sind aus Ihrer Sicht die Chancen und Grenzen ihrer Arbeit?
Ein Modell, das seit 15 Jahren existiert, ist die Gemeindepolizei in Guerrero. Ihr Konzept funktioniert, weil es auf einem Gemeinschaftsansatz basiert. Wenn es zu Gesetzesverstößen kommt wird eine Strafe verhängt, allerdings immer auch mit dem Ziel der Resozialisierung.
Gegenwärtig treten zahlreiche Gruppen auf, die ich als Selbstverteidigungsgruppen bezeichnen würde. Sie bilden sich vor dem Hintergrund von Unsicherheit, Gewalt und Untätigkeit von staatlichen Akteuren. Ihr Ziel ist es, Verbrechen in ihren Gemeinschaften einzudämmen.
Ich bezweifle, dass das eine positive Entwicklung ist. Bislang ist nicht klar, welche Kriterien hinter ihren Handlungen stehen. Es gab einen Fall, in dem eine Person getötet wurde, weil sie nicht am Wachposten angehalten hat. In einer anderen Gemeinde wurden mehrere Personen mit der Begründung verhaftet, sie gehören der Organisierten Kriminalität an. Ihre Familienangehörigen behaupten demgegenüber, dass die Festnahmen willkürlich erfolgten. Die Lage ist ernst, denn diese Erfahrungen sind auf die Defizite der Institutionen zurückzuführen. Langfristig können solche Vorfälle dazu führen, dass das Vertrauen ­gegenüber ­Initiativen, die sich gegen Gewalt einsetzen, sinkt.
Momentan herrscht also große Unklarheit über die Gruppen vor. Klar ist, dass ihrem Entstehen drei Ursachen zugrunde liegen: Die Leute haben die Untätigkeit der staatlichen Akteure satt, sie sind von Gewalt betroffen und sie haben Zugriff zu Waffen. Das ist eine explosive Gemengelage. Aber zurzeit kann wohl niemand sagen, wer genau die Mitglieder der Selbstverteidigungsgruppen sind. Meine Einschätzung ist, dass sie sehr unterschiedliche sind. Es gibt einige Richtung ­Gemeindepolizei und andere, deren Absichten noch nicht identifizierbar sind.

Viele Expert_innen sind der Ansicht, dass der Wahlsieg der PRI darauf basiert, dass Teile der Wählerschaft die Hoffnung haben, dass die Partei es schafft, die Drogenkartelle wieder unter Kontrolle zu bringen und so die Gewalt im Land eindämmen.
Es hat keine unmittelbaren Veränderungen ­gegeben, das wäre auch unlogisch. Allein im ­ersten Monat von Peña Nietos Amtszeit gab es über 1.000 Tote, das waren etwa gleich viele wie unter Calderón. Die Wahrscheinlichkeit, dass man die Kartelle kontrollieren kann, ist gering. Die Selbstverteidigungsgruppen, die sich im Augenblick bilden, sind doch der Beleg für die Untätigkeit der Regierungsinstitutionen. Es zeigt sich, dass diese zumindest bisher weder die Polizeireform angehen noch die Verfolgung von Straftätern oder eine funktionierende Rechtsprechung gewährleisten. Da also nicht einmal solch grundlegende Dinge im Sicherheitsbereich gewährleistet werden können, ist Experten zufolge nicht damit zu rechnen, dass das Gewaltproblem kurzfristig in den Griff zu bekommen ist. So wie es aussieht, wird das noch Jahre dauern, es ist also eher ein mittelfristiges Ziel.

Hat sich die Situation seit dem Amtsantritt denn in irgendeiner Weise verändert?
Etwas, das sich in der Tat verändert hat, ist der Ansatz und der Diskurs der PRI. Sie sagen, dass sie das Militär abziehen wollen, damit die Polizei ihre eigentliche Arbeit, nämlich für Sicherheit zu sorgen, wieder aufnehmen kann. Das wird aber nicht so schnell passieren, wie man es erwartet hatte.
Allerdings hat die PRI gerade das Nationale Programm zur Gewaltprävention gestartet. So ein „nationales“ Programm hat es unter Calderón nie gegeben und das Interessante daran ist, dass andere Maßnahmen als bisher vorgestellt werden, um die Gewalt zu stoppen, dass der Ansatz ein präventiver ist. Und das ist umso ­bemerkenswerter, da Calderón sich praktisch auf den Einsatz von Streitkräften beschränkt hat.
Angeblich will die PRI auch eine umfassendere Sozialpolitik einschlagen und die Armut bekämpfen, den Apparat zur Verfolgung von Straftaten wiederherstellen und stärken und eine nationale Polizei schaffen.
Natürlich wissen wir, dass es häufig lange Diskurse gibt, auf die wenige Taten folgen, deshalb muss man das alles unter Vorbehalt betrachten. Aber zunächst wirkt das doch wie ein grundlegend anderer Ansatz: der Versuch, von der Politik der „harten Hand“ wegzukommen und stattdessen auf sozialer Ebene mehr auf Prävention zu setzen.

Welche Erwartungen und Befürchtungen haben die Zivilgesellschaft und Menschenrechtsverteidiger_innen angesichts der neuen PRI-Regierung?
Eine große Sorge ist, dass es sich bei der PRI um eine Art Januskopf handelt. Von ihrer mehr oder weniger schönen Seite habe ich ja bereits gesprochen. Aber es gibt auch immer wieder Aktionen, die gegen die Menschenrechte verstoßen und eine Bürgerbeteiligung erschweren.
Eine weitere Sorge ist, dass ein Abgeordneter eine Reform des Artikel 1 der Verfassung veranlasst hat, die zur Folge hätte, dass die mexikanische Verfassung bei der Verteidigung der Menschenrechte und in allen Gerichtsverfahren, über den internationalen Abkommen stünde. Und das wäre ein wirklicher Rückschritt, denn die meisten Gesetze der internationalen Abkommen sind ­fortschrittlicher als die Verfassung.
Ein weiterer Aspekt, der viele Fragen aufwirft, ist: wie entwickelt sich die PRI. Momentan strebt sie nach Legitimation, sie versucht sich allen ­möglichen zivilgesellschaftlichen und Menschenrechtsorganisationen anzunähern und sucht den Dialog mit ihnen. Dabei stellt sich die Frage, was geschehen wird, denn die PRI hat eben zwei ­Gesichter: ein mehr oder weniger versöhnliches, das zum Dialog einlädt und ein hartes, das auf subtile Weise Äußerungen unterdrückt, die ihm nicht gefallen.
Die PRI ist die einzige Partei, die im ganzen Land präsent ist; auf Bundesebene, zum Beispiel in der Außenpolitik, ist sie traditionell offener. Aber im Bereich der Sicherheit wissen wir es noch nicht. Ich glaube, dass die PRI beide Gesichter zeigen wird, und in jedem einzelnen Fall wird man sehen müssen, wie sie zur Zivilgesellschaft steht.

Infokasten:

RODOLFO AGUIRRE REVELES
hat Wirtschaftswissenschaften an der UNAM studiert und arbeitet seit einigen Jahren bei verschiedenen NGOs in Mexiko-Stadt. Nach seiner Mitarbeit beim Menschenrechtszentrum Miguel Agustín Pro Juárez (Centro Prodh) war er beim Mexikanischen Aktionsbündnis zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Freihandel (RMALC) tätig. Aktuell ist er Projektkoordinator im Bereich Demokratie und Menschenrechte im Regionalbüro der Heinrich-Böll-Stiftung für Mexiko, Zentralamerika und die Karibik. Er ist einer der Herausgeber des Buches Picar Piedra. Iniciativas ciudadanas frente a la violencia, das im Anschluss an eine Konferenz der Stiftung zur Vernetzung zivilgesellschaftlicher Organisationen entstand, die mit ihrem Engagement der Gewalteskalation in ihren Ländern etwas entgegensetzen möchten.

// DOSSIER: MEDIEN UND MACHT IN LATEINAMERIKA

 

(Download des gesamten Dossiers)

Cristina Fernández de Kirchner „begann die privaten Medien zu bekämpfen“, kritisierte die FAZ am 19. Februar 2013 in einem Porträt der argentinischen Präsidentin. Am selben Tag konnte die bekannte Bloggerin Yoani Sánchez aus Kuba nach Brasilien reisen und sorgte damit nicht nur für internationale Berichterstattung, sondern bei ihrer Ankunft auch für Demonstrationen in Recife. Nur einen Tag zuvor hatte die Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen per Pressemitteilung den wiedergewählten ecuadorianischen Präsidenten Rafael Correa aufgefordert, „kritische Journalisten nicht länger zu diffamieren und restriktive Mediengesetze zurückzunehmen“. Das Verhältnis zwischen Medienkonzernen, Medienmacher*innen und staatlicher Macht in Lateinamerika scheint aktueller und brisanter denn je. Doch warum?

 

                   Streetart aus San José, Costa Rica  (Foto: Benjamin Keuffel)

 

Medien und Macht – in den meisten lateinamerikanischen Ländern ist das Verhältnis zwischen der „Vierten Gewalt“ und dem Staat seit Jahrzehnten von großer Nähe zwischen den Medienkonzernen, von denen sich viele seit mehreren Generationen in der Hand einiger weniger Familien befinden, und den Mächtigen geprägt. Im medialen Alltag Lateinamerikas produzieren die großen Mediengesellschaften in unterschiedlichen Formaten immer dieselben Inhalte. Crossmedial werden beispielsweise die Themen und Protagonist*innen der Feierabendserien in eigenen Zeitschriften und Internetseiten, bei Talkshows und Veranstaltungen immer neu aufbereitet und an die Frau, den Mann oder das Kind gebracht. Und in fast allen Ländern wird die privatwirtschaftlich organisierte Berichterstattung nicht durch ein öffentlich-rechtliches Rundfunksystem ergänzt oder „ausgewogen“ gestaltet.

Ökonomisch und juristisch liegen die Wurzeln dieser Medienkonzentration meist in der Zeit der Militärdiktaturen. Roberto Marinho, Gründer des brasilianischen Medienimperiums Globo, sendete sein erstes TV-Programm zu Beginn der Diktatur. Am Ende der Militärherrschaft war seine Macht größer als die der Generäle. Von Tancredo Neves, dem ersten wieder demokratisch gewählten Präsidenten, ist die Aussage überliefert: „Ich lege mich mit dem Papst an, ich streite mich mit der katholischen Kirche, mit meiner Partei PMDB, mit aller Welt, aber ich streite mich nicht mit dem Doktor Roberto Marinho!“. Auch in Chile beruht das faktische Duopol in den Printmedien auf der guten Zusammenarbeit der beiden größten Medienkonzerne mit den Machthabern der Militärdiktatur. Und innerhalb des mexikanischen TV-Duopols ist die Marktmacht von Televisa untrennbar mit der 71-jährigen Herrschaft der PRI, der Revolutionären Institutionellen Partei, verbunden.

Heute treffen mehr Mitte-Links-Regierungen als jemals zuvor die politischen Entscheidungen auf dem lateinamerikanischen Kontinent, was auch die Medienpolitik einschließt. Sie stoßen dabei auf ein Mediensystem, das nicht der ausgewogenen Berichterstattung und der Beachtung journalistischer Standards verpflichtet ist, sondern die politischen Interessen ihrer Eigentümer*innen vertritt. Auch Reporter ohne Grenzen kritisiert Brasilien in einem Bericht als „das Land der 30 Berlusconis“. Politische Reformen der Mediengesetzgebung im Sinne einer Demokratisierung von Frequenzen und Inhalten oder einer Einführung von öffentlich-rechtlichen Medien erzeugen aber erbitterten Widerstand der betroffenen Medienkonzerne. Venezuela, Argentinien und Brasilien sind nur drei aktuelle Beispiele, in denen neue Mediengesetze von großen politischen Auseinandersetzungen begleitet wurden und werden.

Dabei sind die traditionellen Medienkonzerne eigenständige politische Akteure, die aktiv in innenpolitische Auseinandersetzungen eingreifen oder „ihre“ politischen Kandidat*innen lancieren. Hier sind die Wahlwerbung des mexikanischen Senders Televisa im Präsidentschaftswahlkampf 2012 oder die Unterstützung des Putsches in Honduras durch Fernsehsender und Zeitungen im Jahr 2009 gute Beispiele.

In Deutschland wiederum ist – unter anderem durch die Zeitungskrise – die Zahl der Auslandskorrespondent*innen seit Jahren rückläufig und Beiträge lateinamerikanischer Medien werden oft unkritisch übernommen. Dieses Medien-Dossier der LN will deshalb über die Hintergründe der lateinamerikanischen Berichterstattung informieren und gleichzeitig alternative Medien bekannter machen.
Denn so stark die geballte Medienmacht auch ist, so vielfältig sind auch die Versuche, die immer gleichen Botschaften der Medienkonzerne durch eigene zu ersetzen. Die „Empfänger*innen“ haben längst begonnen, das Menschenrecht auf Kommunikation einzufordern und kritische Fragen zu stellen: Warum spielen in meiner Lieblingsfernsehsendung eigentlich so wenige Menschen eine Rolle, die so aussehen wie ich? Und wenn, warum dann nur als Täter*innen oder Opfer von Gewalt? Warum kommt das, was in meinem Stadtteil mit tausenden von Bewohner*innen passiert, eigentlich nie in den Nachrichten vor? Warum erfahre ich so viel über das Leben der reichen und schönen Weißen, aber nichts, was mir im Alltag weiterhilft? Wieso haben wir als Indigene keine eigenen Medien in unserer Sprache, die uns die ILO-Konvention 169 garantiert?

Das Menschenrecht auf Kommunikation, das allen nicht nur das theoretische Recht auf Meinungsäußerung, sondern tatsächlichen Zugang zu Medien garantiert, wurde in den letzten zwei Jahrzehnten von vielen sozialen Bewegungen gefordert. In Venezuela garantiert es die neue Verfassung von 1999, die eine Fülle von Neugründungen alternativer Medien auslöste. Viele Bewegungen befürworten auch den Aufbau öffentlich-rechtlicher Medien, auch wenn diese allein keine „Ausgewogenheit“ der Berichterstattung garantieren.

Ob in den Favelas der Maré in Rio de Janeiro, in ländlichen indigenen Gemeinden oder auf den Wänden des jamaikanischen Kingston – überall versuchen Menschen ihre eigene Sicht auf ihre Wirklichkeit auszudrücken und zu verbreiten. Die Ernsthaftigkeit und der Spaß, den sie dabei empfinden, vermitteln sich live on air, über Fotoausstellungen, Texte oder über coole Sprüche an rauen Wänden. Hilfreich ist dabei die zunehmende Verbreitung des Internets: Blogs und Internet- radios, selbst Internet-TV, sind kostengünstig zu produzieren und haben ein immer größeres Publikum – auch wenn in vielen Gegenden Radio-wellen oder bedrucktes Papier noch die meisten Menschen erreichen.

Dass kritischer Journalismus auch gefährlich ist, zeigt sich aktuell besonders in Mexiko und in Honduras. Im vergangenen Jahr wurden sechs mexikanische Journalist*innen ermordet, seit dem Jahr 2000 waren es mindestens 66, weitere zwölf werden vermisst. Und nach den Recherchen der Journalist*innen-Organisation Artikel 19 sind es nur in jedem zweiten Fall die Drogenkartelle, die mexikanische Journalist*innen bedrohen. In allen anderen Fällen sind es staatliche Stellen. Auch in Honduras wurden 2012 zwei Journalisten Opfer einer Ermordung, die in direktem Zusammenhang mit ihren Recherchen stand. In den vergangenen drei Jahren sind dort mindestens 29 Journalist*innen ermordet worden.

Aus der Fülle dieser Themen haben wir für dieses Dossier eine Auswahl von sechs Ländern getroffen: Mexiko, Honduras, Jamaica, Venezuela, Brasilien und Chile. Zu fünf der Länder thematisiert ein Beitrag das Verhältnis zwischen Politik, Wirtschaft und Medien. Ergänzt wird dies durch ein Interview oder ein Feature über ein Projekt kritischer Gegenöffentlichkeit. Dabei war uns wichtig, dass die Beiträge möglichst unterschiedliche Medienformate vorstellen: Eine alternative Nachrichtenagentur in Mexiko, kommunales indigenes Radio in Honduras, Streetart in Jamaica, einen alternativen Fernsehsender in Venezuela, verschiedene Favela-Medien in Brasilien und ein Radioprojekt in Chile sollen ein möglichst vielfältiges Bild von lateinamerikanischer Gegenöffentlichkeit skizzieren.

Begleitet werden die Texte von Streetart-Fotos aus der Länderauswahl sowie aus Argentinien, Guatemala und Costa Rica. An dieser Stelle herzlichen Dank an alle Fotograf*innen sowie das Goethe-Institut in Mexiko, das uns viele Fotos zur Verfügung stellte.

 

Medienmacht außer Kontrolle

Fernsehen ist das meistgenutzte Medium in Mexiko. Und in den allermeisten Fällen wird es von den beiden Unternehmen Televisa und TV Azteca produziert. Zusammen teilten sich die beiden Konsortien 2010 circa 98 Prozent des Publikums. Die während des Präsidentschaftswahlkampfs 2012 entstandene Protestbewegung #YoSoy132 stellte politische Maßnahmen gegen Televisa und TV Azteca daher allen anderen Forderungen voran. Die Vorwürfe gegen die Medienkonsortien: Korruption, Manipulation und die systematische Diffamierung politischer Gegner_innen. Aktuell kommt im Fall Televisas noch der Verdacht auf Drogenhandel hinzu, nachdem im August 2012 in Nicaragua sechs auf das Unternehmen zugelassene Lieferwagen mit neun Millionen US-Dollar und Spuren von Kokain aufgegriffen wurden. Doch bisher scheint das Duopol gegen jeden Skandal immun. Über das Fernsehen hinaus kontrollieren die beiden Konsortien eine Vielzahl von Radiosendern, Zeitschriften und Zeitungen. Andere Medienunternehmen spielen in der öffentlichen Meinungsbildung in Mexiko dagegen nur eine marginale Rolle. „Es ist notwendig anzuerkennen, dass die Medien eine Macht erreicht haben, welche die der politischen Institutionen übersteigt“, analysierte Patricia Ortega Ramírez, Professorin der staatlichen Universität UAM-Xochimilco, 2010 die politische Einflussnahme des Fernsehens.
Um die heutige Machtposition des TV-Duopols sowie die zahlreichen Proteste dagegen zu verstehen, muss man die mexikanische Mediengeschichte kennen. Denn die Konzentration war zu Beginn des kommerziellen Fernsehens in den 1950er Jahren politisch gewollt. Der damalige Präsident Adolfo Ruiz Cortines (1952 – 1958) sah in dem neuen Kommunikationsmittel die perfekte Möglichkeit, seine Botschaften im Land zu verbreiten. Das Fernsehen sollte schnell wachsen, Konkurrenz war unerwünscht. Die drei bestehenden Sender wurden daher unter dem Vorsitz von Emilio Azcárraga Vidaurreta, der bereits im Radiogeschäft tätig war, vereint. Diese laut Verfassung illegale Monopolbildung, schuf die Basis für das spätere Medienimperium Televisa, heute in dritter Generation von Emilio Azcárraga Jean geführt. Bis zur Gründung TV Aztecas 1993 behielt das Unternehmen die Monopolstellung.
Die gleichzeitige politische Machtkonzentration in der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI), welche das Land 71 Jahre in Folge regierte, begünstigte so, was Ortega Ramírez als „Vernunft- ehe“ bezeichnet. Das Monopol wurde nicht angetastet, die Politik der PRI unterstützt. Noch 1980 betonte Emilio Azcárraga Milmo, damaliger Chef des Konzerns: „Wir sind von der PRI, wir waren immer von der PRI, wir glauben an keine andere Formel. Als Mitglied unserer Partei werde ich alles tun, damit unser Kandidat gewinnt.“
Heute scheint sich auf den ersten Blick daran nichts geändert zu haben. Der neue Präsident Enrique Peña Nieto gilt allgemein als Kandidat von Televisas Gnaden (siehe LN 463). Der zweite große Medienakteur TV Azteca ist ebenso wenig an einer kritischen politischen Berichterstattung interessiert. Repression gegen soziale Bewegungen wird verschwiegen oder, wenn dies nicht möglich ist – wie im Fall von Atenco, bei dem Peña Nieto eine Schlüsselrolle spielte (siehe LN 384) –, gerechtfertigt. Selbst einer allgemeinen Informationspflicht, wie der Übertragung der Debatte der Präsidentschaftskandidaten wollte die Fernsehanstalt auf keinem ihrer Kanäle nachkommen. Auch Televisa übertrug die Debatte nicht auf seinem größten Kanal. Der fehlenden Aufmerksamkeit für Debatten stand eine ausschließlich positive Berichterstattung zu Peña Nieto gegenüber, zum Beispiel in Form unseriöser Umfragen. Die Zustimmung für Peña Nieto soll laut diesen bis zu 20 Prozentpunkte höher gelegen haben, als die für seinen schärfsten Konkurrenten Andrés Manuel López Obrador von der vergleichsweise linken Revolutionären Demokratischen Partei (PRD) – beim Wahltag waren es letztlich 6,5 Prozent Abstand.
Alles beim Alten also? Die mächtigsten Medien klar auf Linie der PRI? Berichte der britischen Tageszeitung The Guardian lassen die „Vernunftehe“ heute in anderem Licht erscheinen. Bereits bei den Wahlen 2006, damals mit Felipe Calderón von der Partei der Nationalen Aktion (PAN) als schärfstem Konkurrenten López Obradors, wurde eine klare Kampagne gegen den PRD-Kandidaten gefahren – gegen Bezahlung. Dem Guardian vorliegende Dokumente benennen das Ziel: „López Obrador gewinnt die Wahlen 2006 nicht.“ Ein früherer Angestellter Televisas bestätigte dem Guardian: „Es gab eine Strategie und es gab einen Kunden, der viel Geld bezahlte.“ Die der Zeitung zugespielten Dokumente erwecken den Eindruck, dass sich Televisa auch die günstige Berichterstattung für Peña Nieto bezahlen ließ. Durch Wikileaks veröffentlichte Depeschen von US-Diplomat_innen in Mexiko bestärken den Verdacht. In Mexiko selbst erreichten diese Vorwürfe jedoch keine größere Öffentlichkeit und hatten weder politische noch juristische Konsequenzen.
Die aktuellen Vorwürfe zeigen jedoch, dass Televisa gegenüber der Politik inzwischen selbstbewusster auftritt. Ob PRI oder PAN: Die Politik zahlt Geld für eine positive Berichterstattung. Ein ehemaliger Mitarbeiter bestätigte dem Guardian: „Vergesst nie den Fakt, dass dies ein Unternehmen ist. Die Loyalität gilt der Position, nicht der Person.“ Und da Televisa und TV Azteca rund 60 Prozent der TV-Frequenzen sowie über 90 Prozent aller erteilten Sendelizenzen kontrollieren, führt der Weg in die breite Öffentlichkeit nur über sie. „Die politische Klasse hat vor diesen Sendern inzwischen Angst. Sie weiß, dass die Medien sie leicht fallen lassen können.“, so Fabián Bonilla López, Dozent für politische Kommunikation an der Nationalen Autonomen Universität (UNAM). Der Fall des früheren Regierungssekretärs Santiago Creel Miranda (PAN) zeigt, dass diese Angst nicht unbegründet ist. Nach Kritik an Televisa wurde Creel 2008 von den Fernsehbildschirmen verbannt. Für Bonilla López stellt dies die Legitimation der mexikanischen Politik in Frage: „Wie soll man von Peña Nieto erwarten, dass er die Massenmedien angreift, wenn er doch ihre Dienste in Anspruch nahm, um an die Macht zu gelangen? Und wie kann man einer politischen Klasse vertrauen, die bereits vor Amtsantritt Kompromisse mit dieser faktischen Macht eingeht?“
Alternative Medien und Proteste in sozialen Netzwerken versuchen derweil eine Gegenöffentlichkeit aufzubauen. Letztere sind bei den derzeitigen Kosten und der geringen Verbreitung des Internets in Mexiko jedoch klar benachteiligt. Am 1. Juli 2012, dem Tag der Präsidentschaftswahl, hatte nur ein Drittel der Mexikaner_innen Zugang zum Internet. Und der bloße Zugang bedeutet nicht automatisch eine politische Nutzung. Eine wirkliche Lösung sieht Bonilla López nur in einer fundamentalen Neugestaltung des TV-Systems – von der Politik ist dabei wenig Hilfe zu erwarten.

Massenhaftes Schweigen und kämpferische Worte

„Habt Ihr‘s gehört? Es ist der Klang Eurer Welt, die in sich zusammenfällt. Der der unseren, die aufersteht. Der Tag, der der Tag war, war Nacht. Und Nacht wird der Tag sein, der der Tag wird. Demokratie! Freiheit! Gerechtigkeit!“. Dies waren die knappen Worte des Kommuniqués der Generalkommandantur des Geheimen Revolutionären Indigenen Komitees (CCRI-CG) der EZLN am Nachmittag des 21. Dezember 2012. An jenem Tag endete der 13. Baktún und damit ein Zyklus des Maya-Kalenders. Um diesem Tag beizuwohnen, hatten sich deutlich mehr Tourist_innen als üblicherweise in Palenque, einem der Orte mit Maya-Ruinen, eingefunden. Sie staunten nicht schlecht als gegen mittag des als möglicher Weltuntergang fehlinterpretierten Tages ca. 6 000 vermummte Maya-Nachfahr_innen dort eintrafen. Die zivile Basis der EZLN aus der nördlichen Region des südmexikanischen Bundesstaats Chiapas nahm den zentralen Platz der Stadt für mehrere Stunden unbewaffnet, friedlich und schweigend ein. Bereits in den Morgenstunden „besetzten“ auf die gleiche Art eine ähnliche Anzahl an Zapatist_innen aus der Region des Lakandonischen Urwalds den nahe gelegenen Ort Ocosingo. Am frühen vormittag füllte die Basis der EZLN die Hauptplätze von San Cristóbal de Las Casas, Altamirano und Las Margaritas.
Die Schweigemärsche von laut mexikanischer Presse 40 000 Zapatist_innen in die fünf Kreisstädte und das am selben Tag erschienene Kommuniqué rückten die EZLN schlagartig ins Licht der mexikanischen Öffentlichkeit. Die Bewegung, die in den letzten Jahren von vielen totgesagt worden war, hatte sich mit einem Mal massiv zurückgemeldet. Es war die größte Mobilisierung der EZLN seit dem bewaffneten Aufstand am 1. Januar 1994. Damals waren neben San Cristóbal, Ocosingo, Altamirano und Las Margaritas auch drei weitere kleinere Städte eingenommen worden. In der linken überregionalen Presse wurde das Ereignis vom 21. Dezember dann auch als Zeichen dafür gewertet, dass die Bewegung nicht an Stärke eingebüßt habe und die von ihr in den 1990er Jahren aufgeworfenen Themen, vor allem im Bereich indigene Rechte und Kultur, immer noch aktuell seien. Aufmerksamkeit erregte zudem die große Partizipation junger Zapatist_innen. Somit rückte für eine breitere Öffentlichkeit der Generationswechsel in den Blick, den lokale, in zapatistischen Gemeinden arbeitende Organisationen schon seit einiger Zeit konstatieren konnten. Ein Großteil der lokalen Presse hingegen, die seit langem im Ruf steht, von der jeweiligen amtierenden Regierung gekauft worden zu sein, reagierte mit Zurückhaltung bis Unverständnis über die Bedeutung der Schweigemärsche.
Die Reaktionen der Regierung ließen nicht lange auf sich warten. Bereits am 22. Dezember erklärte der neue Gouverneur von Chiapas, Manuel Velasco Coello, die Mobilisierung sei friedlich abgelaufen und die Polizei sei an jenem Tag nicht auf den Straßen präsent gewesen, um einen störungsfreien Ablauf zu ermöglichen. Velasco Coello hatte die Bewegung bei seiner Amtsantrittsrede am 8. Dezember erwähnt und wenige Tage vor der Mobilisierung vom 21. Dezember die Freilassung von zwei inhaftierten Zapatist_innen angeordnet, was als Zeichen der Entspannung gewertet wurde. Dennoch betrachten Sympathisant_innen der EZLN den neuen Gouverneur, der einer Oligarchenfamilie entstammt, mit viel Skepsis. So koaliert seine Partei – die Grün-Ökologische Partei Mexikos – die ideologisch mit anderen Grünen Parteien kaum mehr als den Namen gemeinsam hat, in Chiapas mit der verhassten Revolutionären Institutionellen Partei (PRI).
Am 24. Dezember reagierte der Innenminister Miguel Ángel Osorio Chong für die mexikanische Bundesregierung in einem Interview mit der Tageszeitung La Jornada auf die Ereignisse: „Ihr kennt uns noch nicht, seid nicht voreilig“, waren seine Worte an die EZLN. Die neue PRI-Regierung fühle sich den indigenen Gruppen Mexikos verpflichtet. „Präsident Peña Nieto weiß um die Probleme, deshalb wird er die indigene Bevölkerung unterstützen und sich speziell der von Chiapas annehmen“, so Osorio Chong. Des Weiteren verwies er auf den kürzlich zwischen den drei großen Parteien PRI, PAN (Partei der Nationalen Aktion) und PRD (Partei der Demokratischen Revolution) geschlossenen „Pakt für Mexiko“, in dem neben den großen politischen Projekten der neuen Regierung auch mehrere Vorhaben in Bezug auf die indigene Bevölkerung aufgelistet werden. Zwischen Weihnachten und Neujahr meldeten sich auch mehrere Kongressabgeordnete mit der Forderung, die 1995/96 für den Dialog mit der EZLN ins Leben gerufene interparlamentarische Kommission für Versöhnung und Befriedung (COCOPA) zu reaktivieren und auf die Forderungen der Aufständischen einzugehen. Die Umsetzung der damals ausgehandelten so genannten Verträge von San Andrés scheiterten 2001 an der parteiübergreifenden Ablehnung des mexikanischen Parlaments.
Mit einem ausführlicheren Kommuniqué meldete sich EZLN am 30. Dezember zu Wort. Darin erklärt sie ihre Mobilisierung vom 21. Dezember als Reaktion auf die Rückkehr der PRI an die Regierungsmacht, wobei sie die Amtseinführung des neuen Präsidenten Peña Nieto als „medialen Staatsstreich“ bezeichnet: „Wir haben uns gezeigt, um sie wissen zu lassen, dass wir genau so wenig weg waren wie sie.“ Ebenso rechnet sie mit den Teilen der mexikanischen Linken ab, die die EZLN für die umstrittene Wahlniederlage der PRD im Jahr 2006 mitverantwortlich gemacht hatte machte, da die Zapatistas dem PRD-Kandidaten López Obrador die Unterstützung versagt hatten. In Anspielung auf die erneute Niederlage der PRD bei den Präsidentschaftswahlen 2012 stellt sie fest: „Sechs Jahre später sind zwei Dinge klar: Sie brauchen uns nicht, um zu versagen. Wir brauchen sie nicht, um zu überleben.“ Während die großen Medien sie in den letzten Jahren totgeschwiegen hätten, habe die EZLN ohne jegliche Regierungshilfe und trotz „Angriffe aller Art“ die Lebensbedingungen in ihren autonomen Gebieten deutlich verbessert, besonders die Ernährungssituation, die der Bildung und der Gesundheitsversorgung: „Die indigenen Priistas [Anhänger_innen der PRI; Anm. d. Red.] kommen in unsere Krankenhäuser, Kliniken und Labors, weil es in denen der Regierung weder Medizin, Apparate, Ärzte noch qualifiziertes Personal gibt“.
Auch werden im Kommuniqué weitere Schritte angekündigt. So bestätigt die EZLN ihre Zugehörigkeit zum Nationalen Indigenen Kongress, einem Zusammenschluss indigener Organisationen, den sie 1996 im Rahmen der Abkommen von San Andrés mit der mexikanischen Bundesregierung ins Leben gerufen hatte. Zudem wolle sie wieder verstärkt Kontakt mit den Anhänger_innen der „Sechsten Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald“ in Mexiko und weltweit aufnehmen. Viele von ihnen mobilisieren seit 2006 unter dem Namen „Die Andere Kampagne“ strikt außerparlamentarisch für ein antikapitalistisches Mexiko.
Deutlich macht die EZLN vor allem, dass sie unabhängig von dem bisherigen feindlichen und auch künftigen Verhalten der parteipolitischen Klasse Mexikos sowie der Massenmedien existiert und existieren wird: „Wie sich am 21. Dezember 2012 gezeigt hat, sind alle gescheitert“. Gesprächsbereitschaft mit der neuen Regierung schließt die EZLN im Kommuniqué nicht explizit aus, verweist jedoch gleichzeitig auf deren Bringschuld: „Es bleibt daher der Bundesregierung (…) überlassen zu entscheiden, ob sie die Politik zur Aufstandsbekämpfung wieder aufgreifen möchte, (…) oder ob sie ihre Verpflichtungen anerkennt und erfüllt und die indigenen Rechte und Kultur auf eine konstitutionelle Ebene erhebt, wie in den so genannten Abkommen von San Andrés festgesetzt, die 1996 von der Bundesregierung unterzeichnet wurden“.
Neben dem Kommuniqué wurden am 30. Dezember auch zwei Briefe des Sprechers der EZLN, Subcomandante Insurgente Marcos, veröffentlicht. Einer der Briefe, mit dem Titel „Wir kennen Euch nicht?“ und an „die Damen und Herren da oben“ adressiert, bezieht sich auf die Äußerungen des mexikanischen Innenministers vom 24. Dezember. In Form von rhetorischen Fragen („Ist das nicht der, der…?“) zeigt Marcos systematisch auf, wie die PRI-Regierungspolitiker_innen in den letzten Jahren für alle möglichen Formen von Repression und Korruption verantwortlich waren. Bei Innenminister Osorio Chong selbst erinnert Marcos daran, dass gegen diesen ein Ermittlungsverfahren wegen Verbindungen zum Drogenkartell Los Zetas geführt worden sei.
Eine fast schon Tradition zu nennende Gewohnheit im Schreibstil von Marcos findet sich am Ende wieder: die Postskripte. Darin bietet er „den schlechten Regierungen ein Handbuch mit zehn Schritten“ an, „um einen Zapatisten zu identifizieren und wissen zu können, ob gesagt werden kann ‚Man hat Kontakt mit der EZLN‘ oder nicht“. Darin macht er klar, dass die Zapatist_innen die Regierung um nichts bitten werden, und sich weder kaufen noch einschüchtern lassen.
Der zweite Brief des Subcomandante ist vor allem eine Abrechnung mit der Regierung von Ex-Präsident Felipe Calderón und dessen Partei PAN. So dürfte das „massenhafte Schweigen vom 21. Dezember“ diesen klargemacht haben, dass ihre Politik der Aufstandsbekämpfung gescheitert sei. Marcos bezeichnet Calderóns Regierung als „die kriminellste, unter der das Land seit Porfirio Díaz (mexikanischer Präsident, der bis zur Revolution 1911 jahrzehntelang diktatorisch regierte; Anm. d. Red.) gelitten habe “. Er erinnert zudem daran, dass es die PAN war, die im Januar 1994 für eine militärische Lösung in Chiapas plädiert hatte. Denn deren Ansicht nach „drohten wir damit, das Land in ein Blutbad zu tauchen. Nun stellt sich heraus, dass Ihr, an der Regierung, Terror, Angst, Zerstörung und Tod in alle Ecken unseres bereits übel zugerichteten Landes ausgeweitet habt.“
Sowohl das Kommuniqué als auch die beiden Briefe haben erneut verschiedene Reaktionen der politischen Klasse und einiger Intellektueller hervorgerufen, deren Tenor von Zustimmung zu einzelnen Aussagen bis hin zu Ablehnung seitens einiger Parlamentarier_innen der drei großen Parteien reichte. Der Gouverneur von Chiapas richtete einen Brief an die EZLN, in dem er sich für die Umsetzung der Abkommen von San Andrés aussprach. Zudem sicherte er der Bewegung unter anderem zu, ihre Ländereien zu respektieren, in Gemeinden mit zapatistischer Präsenz vorsichtig bei der Planung und Umsetzung von Regierungsprogrammen vorzugehen sowie sich für gerechte und dauerhafte Lösungen der Konflikte in den Gemeinden San Marcos Avilés und Comandante Abel einzusetzen. Die landesweite oppositionelle Friedensbewegung MPDJ äußerte Sympathie für die Anliegen der EZLN und zeigte Bereitschaft, mit ihr zusammenzuarbeiten.
Die mexikanische Bundesregierung hat derweil die frühere Kommission für den Dialog und die Verhandlungen in Chiapas in Kommission für den Dialog mit den Indigenen Völkern umbenannt und das ehemalige Mitglied der COCOPA, Jaime Martínez Veloz von der PRD, zu deren Vorsitzenden ernannt. Präsident Peña Nieto selbst bereiste am 21. Januar zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt Chiapas, um in Las Margaritas, einem der Landkreise mit zapatistischer Präsenz, das neue Regierungsprogramm „Nationaler Kreuzzug gegen den Hunger“ einzuweihen. Doch für wie wenig glaubwürdig die EZLN dessen Kampagne hält, verdeutlichte ein Plakat, das die Bewegung am Tag von Peña Nietos Ankunft in Chiapas auf ihrer Homepage veröffentlichte. Adressiert an „Ali Baba und seine 40 Räuber (Gouverneure, Minister und Speichellecker)“ heißt es: „Wir finden keine Worte, um unser Gefühl gegenüber Ihrem Kreuzzug gegen den Hunger auszudrücken. Daher ohne Worte“ und ein Bild eines ausgestreckten Mittelfingers.
Bis Mitte Januar sind drei weitere Verlautbarungen der EZLN erschienen, weitere sind angekündigt. Die Regierungen in Mexiko-Stadt und Tuxtla Gutiérrez (Chiapas) richten gezwungenermaßen ihre Augen wieder auf die indigene Bevölkerung und die Zapatist_innen. Diese jedoch, auf Distanz zur politischen Klasse und den Institutionen, gehen nun – wie im Kommuniqué vom 30. Dezember angekündigt – erneut auf jene zu, „die unseren Weg begleitet haben und begleiten, ohne sich den medialen und politischen Moden zu ergeben.“

Mehr Infos und die Kommuniqués auf:
www.enlacezapatista.ezln.org.mx
www.chiapas.eu Preis // Website

Mexikos politische Quote

„Was für Bürger will Mexiko?“. Diese Frage stellt Edith Echavarría Colungo in die Runde aus Freund_innen, Familienmitgliedern, Journalist_innen und Anhänger_innen der Protestbewegung #YoSoy132, als sie am 9. Dezember 2012 vor dem Gefängnis Reclusorio Norte vergeblich auf die Freilassung ihres Sohnes wartet. Obed Palagot ist einer der 14 Gefangenen, die nach mehr als einer Woche Haft weiterhin in den Gefängnissen Reclusorio Norte und Santa Martha Acatitla in Mexiko-Stadt ausharren müssen. 56 Gefangene wurden an jenem Sonntag entlassen. Es lag nicht genug Beweismaterial vor, um die Anklage des „Angriffs auf den öffentlichen Frieden“, verankert im Artikel 362 des städtischen Gesetzbuches, zu rechtfertigen. Zwar bieten die weiteren 14 Fälle ebenso wenig Angriffsfläche wie die der Freigelassenen. Dennoch beschloss man, sie weiterhin in Haft zu behalten; angeblich, um ein mögliches Zutreffen des Artikels zu prüfen.
Seit 2:00 Uhr morgens warten Familienmitglieder und Freund_innen auf die unklare Entlassung der Männer. Als diese gegen 8.30 Uhr mit hoch -gereckten Armen und geballten Fäusten zum Ausgang laufen, ist die Stimmung euphorisch, erleichtert und traurig zugleich. Während andere mit Freudentränen ihre Söhne und Freunde in die Arme schließen, weint eine Frau im roten Pullover aus einem anderen Grund: „Sie haben uns nicht erlaubt, ihn zu sehen“, erklärt die Mutter des 19-jährigen Oswaldo Rigel Barrueta Herreda, einer der 14, die bleiben müssen. „Er wollte nur ins Zentrum, um neue Saiten für seine Gitarre zu kaufen“, erzählt sie. „Er war nicht mal wegen der Demonstration dort.“
Die elf Frauen, die am 1. Dezember verhaftet wurden, verbrachten die Haft im Frauengefängnis Santa Martha Acatitla. Zehn von ihnen erlangten am Sonntag ebenfalls ihre Freiheit zurück. Rita Emilia Neri Moctezuma bleibt als Einzige in Haft. Laut ihrer Familie ist Neris einziges Vergehen, dass sie am Samstag dabei sein wollte, als 3000 Menschen in den Morgenstunden vor dem Kongressgebäude zunächst friedlich gegen den Amtsantritt Enrique Peña Nietos und die Rückkehr der PRI demonstrierten. Im Laufe des Tages kam es zu Auseinandersetzungen, bei denen die Polizei eine hohe Gewaltbereitschaft zeigte und die Massenverhaftungen vornahm.
Zu den Ungerechtigkeiten des unter dem Stichwort #1DMX in die Geschichte Mexikos eingegangenen Tags gehörten bereits die Umstände der Verhaftungen: Obed Palagot, so berichtet seine Mutter, wurde laut Anklageschrift an vier verschiedenen Orten verhaftet. Zur selben Uhrzeit, physisch unmöglich, aber Beweis genug, um neun Tage oder länger eingesperrt zu werden. Ähnliches schildert auch Ángel Esperanza Guzmán, 29 Jahre, nach seiner Freilassung. Den Glauben an die Gerechtigkeit der Verfassung Mexikos hat er verloren. „Mein Prozess verlief außerhalb des Gesetzes, meine Rechte wurden verletzt. Meine Freilassung habe ich denen zu verdanken, die Videos ins Internet gestellt, das Geschehene in den sozialen Netzwerken verbreitet und von außen Druck gemacht haben.“ Wie die meisten seiner Leidensgenoss_innen ist auch Ángel verhaftet worden, als er Polizeikräfte daran hindern wollte, weiter auf bereits Verhaftete einzuschlagen.
Eine Vielzahl an Videos, welche die Ausschreitungen dokumentieren und auf der Website www.1dmx.org hochgeladen wurden, um die Gefangenen zu entlasten, fand im Prozess kaum Beachtung. Laut ANAD, der nationalen Vereinigung demokratischer Anwälte, haben die Behörden von Mexiko-Stadt mit dieser Prozessführung die gesetzlich verankerten Rechte der Angeklagten komplett übergangen. Die Polizeitruppen blieben unbehelligt, obwohl es zahlreiche Beweise für die eindeutige Überschreitung ihrer Befugnisse – wie den Einsatz von Gummigeschossen – gibt. Dies erklärt David Peña, Anwalt der speziell für den Prozess gegründeten Liga der Anwälte des 1. Dezember in der Zeitschrift Proceso.
Zudem liegen Zeug_innen- und Medienberichte vor, welche die Vermutung stützen, dass Personen von der Regierung in den Kreis der Demonstrant_innen eingeschleust wurden, um Gewaltausbrüche wie das Werfen von Molotowcocktails auf die Polizist_innen zu initiieren und damit eine brutale Reaktion zu rechtfertigen. Für Juan de Dios Hernández Monge, Sprecher der Liga der Anwälte, ist das nicht verwunderlich: „Es wurden Sturmtruppen eingesetzt, in zivil gekleidet […], um die Polizei zu provozieren. Das sind bekannte Taktiken der PRI, alt, aber wirkungsvoll“, zitiert die Internetseite SinEmbargo den Anwalt. Die Partei stellte von 1929 bis 2000 alle Präsidenten des Landes und ist für Korruption, Wahlbetrug und ein ausgeklügeltes Kontrollsystem bekannt.
Die Tageszeitung La Jornada, die sich als eines der wenigen Printmedien Mexikos für die Inhaftierten einsetzt, hat Interviews mit anonymen Polizist_innen publiziert, die aussagten, den Befehl zu willkürlichen Festnahmen bekommen zu haben, um eine Quote zu erfüllen. Die Befehle an die Beamt_innen kamen von ganz oben: Die Anweisungen zu den Festnahmen sollen von Marcelo Ebrard und von Manuel Mondragón gekommen sein. Ebrard war zum Zeitpunkt der Demonstrationen amtierender Bürgermeister, Mondragón arbeitet seit dem Amtsantritt Peña Nietos als Leiter des Bundesministeriums für Öffentliche Sicherheit. Auch nach Meinung der ANAD stellten die 14 Gefangenen eine politische Quote dar; sie müssen nur deswegen in Haft bleiben, um andere abzuschrecken, die vorhaben, sich gegen den Präsidenten zu äußern.
Ángels Gefühle sind gemischt. Einerseits froh, wieder draußen und bei seiner Familie zu sein, ist er mit den Gedanken bei seinen Kameraden. „Wir sind in einer außergewöhnlichen Situation zu einer Gruppe zusammengewachsen. Ich bin tieftraurig, dass einige noch weiter einsitzen. Ich mache mir Sorgen.“ Natürlich kämpfe er nun für die schnelle Befreiung der anderen, sagt er in überzeugtem, fast abgeklärtem Ton. Das sei seine Verantwortung.
Der Grundtenor ist bei allen Befreiten gleich: Es wird weitergekämpft, bis alle draußen sind. Todos somos presos. „Wir sind alle Gefangene“. Dieser Satz wird zum Leitmotto für die Mobilisierung der nächsten Tage und Wochen. Auch Yessica Reyna Camargo, eine der entlassenen Frauen betont das Versprechen gegenüber ihrer Mitstreiterin Rita Neri Moctezuma: „Wer draußen ist, hört nicht auf zu kämpfen, bis alle frei sind.“ Genauso wie Ángel berichtet sie von der Zusammengehörigkeit innerhalb der Gruppe. Der Empfang durch andere Insassinnen sei zunächst schroff gewesen. „Hallo Schlampen“ als Begrüßung und die ganze Nacht „Peña, wir lieben dich!“-Rufe. Am nächsten Tag hätte es aber Glühlampen, Seife, Zahnbürsten und Entschuldigungen für die Neuankömmlinge gegeben. Zwiespältig beschreibt die 21-Jährige Studentin auch die Reaktionen der Wärterinnen als bekannt wurde, dass nur Rita bleibt. „Den meisten war klar, dass wir nichts gemacht haben.“ Ungerecht sei das ganze und noch gemeiner, eine allein drinnen zu lassen. Andere ließen sich allerdings zu einem „So lernt ihr wenigstens eine Lektion!“ hinreißen. Yessica lässt sich davon nicht beeindrucken. Auch macht sie keinen Hehl daraus, dass sie natürlich zur Demo gegangen ist, um sich gegen EPN auszusprechen. „Nicht gegen ihn als Person, sondern gegen das, was er repräsentiert, die PRI und die Methoden, die diese benutzt: Leute einschleusen, Gewaltaktionen, wen auch immer festnehmen, das alles haben wir jetzt wieder gesehen.“ Ihr ist das Spiel der Regierung klar: „Sie lassen ein paar, aber nicht alle gehen, damit die Message klar wird: Du kommst hier nicht sobald raus, wenn du dich gegen uns auflehnst.“ Jetzt ginge es darum, zusammenzuhalten. „Wenn wir frei sind und nicht weiter kämpfen, dann hätten sie gewonnen“, unterstreicht sie.
Bereits einen Tag nach der Entlassung wurden Versammlungen von #YoSoy132 und Anwält_innen einberufen, um die weitere Vorgehensweise zu planen. Neben Demonstrationen für die Freilassung der Inhaftierten versammelten sich die Mütter der Gefangenen vor dem Museo de Bellas Artes, um sich zu ermutigen und die Schicksale ihrer Söhne und Tochter Rita weiter publik zu machen. Neben den Anwaltsvereinigungen wurden auch nationale und internationale Menschenrechtsorganisationen mobil gemacht, wie mir Claudio González Sanchez, Beauftragter für Menschenrechte von #YoSoy132, erklärt. Es ging zunächst darum, alle Menschenrechtsverletzungen dieses Prozesses zu dokumentieren und damit Druck auf die Regierung auszuüben. Von willkürlicher Festnahme bis hin zu Folter, die Liste der Vorwürfe gegenüber Regierung und ausführenden Organen ist lang. Am 10. Dezember 2012 wurde versucht, die Anklage des Angriffs auf den öffentlichen Frieden innerhalb von 48 Stunden zu ändern. Es sollte länger dauern.
Der wichtigste Schritt ging letztendlich innerhalb der Justiz vonstatten: ANAD legte der Vorsitzenden der parlamentarischen Kommission für Menschenrechte der Hauptstadt, Dinorah Pizano, einen Vorschlag zur Abschaffung des widersprüchlichen Artikels 362 vor. Dessen Streichung wurde zwar nicht erreicht, aber das Strafmaß wurde von maximal 30 auf sieben Jahren reduziert. Zudem wird die Möglichkeit eingeräumt, auf Kaution freizukommen. Von der am 26. Dezember 2012 verabschiedeten Artikeländerung machten die Anwälte gleich Gebrauch: Am 27. Dezember kamen alle 13 Männer und Rita mit Hilfe von Kautionszahlungen von bis zu 107.000 Pesos (ca. 6300 Euro) frei. Doch nicht nur ihnen ist klar, dass das Verhältnis zwischen EPN und der jungen Generation Mexikos nicht mehr gekittet werden kann.

Newsletter abonnieren