Nicht nur eine Band, sondern auch ein Freundeskreis

Wiederstand und Spaß Fast 30 Musiker und Freunde haben in 30 Jahren bei Desarme gespielt (Foto: Desarme Rock Social)

Was motiviert euch, Musik zu machen?
Daniel: Als die Band Desarme 1993 entstanden ist, waren wir alle Jugendliche und wollten der damaligen Politik, die nur Armut, Ungerechtigkeit und Misere hervorbrachte, etwas entgegensetzen. Als Form wählten wir den Punkrock, vielleicht weil man dazu kein Musikstudium braucht. Nach und nach kamen neue Bandmitglieder dazu und die musikalische Qualität wurde immer besser, die Kritik an der Politik blieb.

Wie spiegelt die Geschichte eurer Band die verschiedenen Phasen der politischen Situation in Kolumbien wider?
Daniel: Vor kurzem haben wir uns unsere Alben und Musiktexte angeschaut. Eines der Lieder heißt „Te odiamos!“ (Wir hassen dich!). Es war dem Präsidenten Pastrana gewidmet, der zu dieser Zeit an der Macht war. Fünf Präsidentschaften vergingen und wir kritisierten eine nach der anderen. Wir wollten auf der Bühne stehen, Gruppen kennenlernen und Teil der Bewegung sein, die Kritik an den Zuständen äußert. Es ist nicht unser Lebensprojekt, sondern eher eine Ausrede, um an Orte zu kommen und mit aller Kraft der Mikrofone und Verstärker zu sagen, womit wir nicht einverstanden sind und was sich ändern soll.

Diego: Wir machen seit langer Zeit wegen genau dieser Nonkonformität Musik. Denn wir denken, wie es in einem Lied von Desarme heißt, dass eine bessere Welt möglich ist und es eine Welt für alle gibt, die unsere Rechte, die Gemeinschaften und die Unterschiede respektiert und sich um ein freies Denken dreht.

Wie sieht euer Kompositionsprozess aus und wie wählt ihr Themen für eure Lieder aus?
Daniel: Die meisten Texte drehen sich um Sozialkritik und sind in einer sehr einfachen Weise formuliert, um zu sagen, was man fühlt, begleitet von lauter, mitreißender Musik. Das Motto der Gruppe und des Punks generell ist, Ideen und Gedanken mit Musik zu verbinden, die Aufmerksamkeit erregen. Du interviewst uns an einem wichtigen Ort. Er heißt Poemapa und wurde von unserem Freund Erik Arellana gegründet. Unser Lied „Yo digo vida“ (Ich sage Leben) basiert auf einem seiner Gedichte.

Es ist also ein kollektiver Prozess?
Daniel: Ja, das ist es, was uns von anderen unterscheidet und uns zusammengehalten hat. Desarme ist weder eine Person noch eine Musikgruppe, sondern ein Freundeskreis, in dem jeder und jede willkommen ist. Fast 30 Musiker haben sich in den letzten 30 Jahren beteiligt, andere haben uns mit Videos und grafischen Erzeugnissen geholfen.

Diego: Und jetzt sind wir schon so alt, dass wir wie eine Familie sind. Aber ich möchte gern, dass Erik etwas über „Yo digo vida“ sagt.

Erik, wie war es für dich, als dein Gedicht zu einem Lied wurde?
Erik: Das war sehr schön, gerade weil es eine Anspielung inmitten des Krieges war, zu dem sie uns gezwungen haben. Auf das Leben zu setzen, ein Leben wie es Desarme zeigt. Denn trotz der bewaffneten Akteure werden wir nicht aufhören zu sagen, was wir denken. Als die CD herauskam, musste ich nach Deutschland ins Exil gehen, so war es auch ein Weg, mit Kolumbien verbunden zu bleiben. Das Lied wurde bekannt, die Veröffentlichung des Albums ist jetzt schon zehn Jahre her. Die Leute haben sich das Lied zu eigen gemacht. Das ist das soziale Gefüge, das Desarme webt. Zurückkehren zu können, obwohl ich im Exil war, und wieder mit diesem Engagement verbunden zu sein, geht weit über Musik hinaus und das ist toll.

Welche musikalischen Einflüsse habt ihr?
Daniel: Wir sind Lateinamerikaner. Wir sind aus einem Teil der Welt, in dem sich viele Musikgenres vermischen und wir schon als Kinder Cumbia, Vallenato, Ranchera bis zum Rock in spanischer und englischer Sprache oder auch Balladen hören. Aber was uns schließlich zusammenbrachte, ist der Hardrock. Den meisten von uns gefällt der Punkrock, vor allem Punk auf Spanisch. Spanische Bands wie Polla, Escorbuto, Vómito waren sehr wichtig für die Bewegung im Baskenland und hatten Einfluss in Bogotá, ebenso der Metal.

Wie beschreibt ihr eure politische Haltung?
Diego: Wir glauben daran, dass man etwas verändern kann – im Leben und an der politischen und sozialen Situation. Wir verstehen uns als Freigeister, weil wir mit der politischen Linie der Regierungen nicht übereinstimmen. Ob sie nun links, rechts oder aus der Mitte sind: Es bleiben Regierungen, die über die Menschen herrschen wollen. Sie unterwerfen und trennen uns voneinander.

Erik: Im Kollektiv erkennen wir die Potentiale und die Unterschiede zwischen allen, es gibt etwas Gemeinsames und genau das gibt uns die Stärke, denn 30 Jahre zu bestehen schafft nicht jede Band in Kolumbien.

Welches Angebot macht ihr?
Daniel: Wir haben den Radikalismus und den Pragmatismus der Worte und Einstellungen hinter uns gelassen. Unsere Standpunkte sind die Freiheit und die Anerkennung des anderen. Aber unter dem Vorwand der Demokratie wird uns auch ein patriarchales, kapitalistisches, machistisches System aufgedrückt, welches den Wettbewerb zwischen uns Gruppen in der Musik sucht. Für uns ist jedoch klar, dass Solidarität immer Teil von Freiheit ist.

Wie viele Alben habt ihr bis jetzt veröffentlicht und welche Touren gemacht? Welche Unterschiede gibt es zwischen dem Publikum in Lateinamerika und Europa?
Diego: Unserem Publikum gefällt, was wir zu sagen haben. Die Nonkonformität gibt es nicht nur hier in Kolumbien, die gibt es weltweit. Diese Unzufriedenheit mit der Politik und diesen Regierungen, die die Türen und Fenster für die Menschen nicht öffnen. Natürlich hat das Publikum in Europa eine Perspektive der sogenannten ersten Welt. Auch sie führen Kämpfe, aber unsere Kämpfe sind andere. Ich glaube, die Bedürfnisse der Bevölkerung in Europa sind sehr verschieden von denen in den Ländern hier in Lateinamerika oder auch in Afrika. Die Leute können ein großes Bewusstsein haben, dass sich Sachen ändern sollen, aber wenn die Bedürfnisse verschieden sind, dann sind auch die Kämpfe andere.

Daniel: Desarme hat an mehr als 14 Sammelalben von autonomen Labels und Gruppen teilgenommen, denn Solidarität ist uns wichtig. 2021 haben wir mit dem Lied „Cantos de Resistencia“ (Gesänge des Widerstandes) bei einem antifaschistischen Kollektiv aus Deutschland mitgemacht. Außerdem haben wir vier eigene Alben, drei haben wir selbst bei Diego und Antonio zu Hause aufgenommen und das vierte hat das unabhängige Label El Lokal aus Barcelona produziert.

Erik: Die Musik kann eine eigene Energie produzieren. Ich denke an Rock al Parque 2012. Da gab es einen magischen Moment, als viele Personen zu den Liedern von Desarme tanzten, es war eine starke Energie zu spüren, etwa bei dem Lied „El baile contra la motosierra“ (Der Tanz gegen die Motorsäge), ein politischer Tanz gegen die Gewalt. Die Motorsäge ist ein Werkzeug, das dazu verwendet wurde, Menschen zu zerteilen. Genau dagegen tanzen wir. Auch beim letzten Konzert an der Universidad Pedagógica (staatliche Pädagogische Hochschule) oder beim Protest gegen Stierkämpfe wurde durch die Musik eine kollektive Energie für soziale Veränderung geschaffen.

Ihr seid Musiker, aber ihr habt auch andere Jobs, weil es euch wichtig ist, eine Verbindung zum Alltag zu haben…
Daniel: Es ist nicht unser Ziel, von der Musik zu leben, denn die Bedingungen sind nicht einfach und der Wettbewerb ist groß. Wir wollen nicht mit unseren eigenen Freunden in Wettbewerb treten. Mario arbeitet mit dem Kulturministerium, Raul mit dem Kultursekretariat, Diego arbeitet für die Integration von Obdachlosen, El Gato (Andres) und seine Partnerin sind Tierärzte. Ich arbeite auch für die soziale Integration mit Indigenen und gefährdeten Bevölkerungsgruppen.

Welche Pläne habt ihr als Band für die Zukunft?
Daniel: Letztes Jahr haben wir unser 30-jähriges Bestehen gefeiert. Deshalb waren wir in Kolumbien in verschiedenen Städten auf Tour und auf einem Festival in Mexiko. Der Plan ist, die nächsten drei Jahre noch verschiedene Touren zu machen, aber das Wichtigste ist, ein Buch herauszugeben. Es soll nicht die Geschichte der Band erzählen, sondern davon, was um dieses Abenteuer herum passiert ist – zusammen mit einer CD, die diese 30 Jahre zusammenfasst. Und wenn alles gut geht, werden wir im März 2025 nach Europa fliegen.

Welchen kollektiven Traum habt ihr für Kolumbien?
Erik: Unser Lied „Die Transformation der Gesellschaft“ nimmt auf die Geschichte Bezug und spricht vom Volksaufstand 1948 (Bogotazo nach Ermordung von Jorge Elicier Gaitan, Anm.d.Red). Auch andere Lieder aus unterschiedlichen Epochen handeln von der gleichen sozialen Transformation, aber aus der Perspektive des Alltags. Freunde und Freundinnen, die mit uns zusammen gekämpft haben, mussten durch das System den Kampf aufgeben. Wir verstehen, dass die Überlebensbedingungen sie dazu gezwungen haben, den aktiven Kampf aufzugeben, aber sie sind immer noch präsent. Sie sind hier mit uns. Es sind diese Veränderungen im Alltag. Wir fangen mit unseren Bekannten an, ausgehend von der Solidarität. Das ist die Art von Gesellschaftsmodell, das wir wollen: Eines, das die Unterschiede und die verschiedenen menschlichen Potentiale anerkennt, über das ökonomische Modell hinaus.

Diego: Ich würde mich freuen, wenn dieser Scheiß-Imperialismus aufhören würde. Wir sind autonome Gesellschaften und brauchen weder Megaprojekte noch multinationale Unternehmen oder die Invasion der Regierungen der USA oder Europa. Wir können auch ohne sie leben. Weil wir Gesellschaften sind, die mit dem, was sie haben, ohne Probleme leben können. Wir brauchen keine Plünderung der natürlichen Ressourcen. Wir haben das Wasser, das wir brauchen und unser tägliches Brot. Ich wäre froh, wenn sie uns in Ruhe lassen würden.


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MIT MUSIK BEWUSSTSEIN SCHAFFEN

Was hat euch dazu motiviert, zu eurem fünfzehnjährigen Jubiläum ein Best-Of Album aufzunehmen?
Unser Hauptmotiv ist, dass heute kaum noch Alben erscheinen. Alle veröffentlichen nur noch Singles. Deshalb haben wir uns entschieden, alle unsere Klassiker neu aufzunehmen, denn viele kennen diese gar nicht mehr. Wir wollten die Klassiker mit Gastmusiker aufnehmen, die für uns sehr wichtig sind, und drei neue Lieder auf dieser CD veröffentlichen. Das ist unsere Art und Weise, wie wir die Romantik der Veröffentlichung von Alben beibehalten. Heute werden ja kaum noch komplette CDs gehört werden. So haben wir einen Mix aus der alten und neuen Schule gemacht. Wir sind super zufrieden mit diesem Projekt. Die neuen Versionen unserer Klassiker haben die Lieder wirklich auf ein anderes Niveau gehoben.

Ihr habt euren Stil in den letzten Jahren deutlich weiterentwickelt. Welche musikalischen Einflüsse haben euch zu den neuen Liedern und den neuen Versionen eurer Klassiker inspiriert?
Einflüsse … Also, zuerst einmal war das Che Sudaka selbst. Denn wir haben eigentlich ganz viele Coverversionen unserer eigenen Lieder gemacht, die wir mit unsere „Mákina Punk” dem aktuellen Stil der Band angepasst haben. Dabei zählten wir auf die Zusammenarbeit mit den Leuten von Massilia Sound System aus Frankreich, auf die Zusammenarbeit mit Grupo Chontaduro aus Barcelona. Das sind Kolumbianer, die Trommeln spielen. Es war also ein Mix aus Folk, Elektronik und Rock. Alle Leute, die mitgearbeitet haben, waren eine Inspiration: Manu Chao, Dr. Ring Ding, Amparo, BNegão aus Brasilien – sie alle waren große Einflüsse für dieses Album. Auch Facundo Cabral, der auf der CD mit ein paar Wortbeiträgen erscheint, ist so etwas wie unsere spirituelle Referenz, wenn wir Musik machen. All die, die uns hierher gebracht haben, sind eigentlich auch unsere heutige Referenz.

Wie habt ihr mit den anderen Künstler*innen zusammengearbeitet?
Wir kennen die schon seit vielen Jahren und wir hatten Glück, dass sie gerade Zeit hatten, mitzuarbeiten. Das Resultat ist dann sehr schön geworden. Die meiste Zusammenarbeit ist aus einer räumlichen Distanz entstanden – moderne Technik machts möglich – BNegão und Amparo sind in unser Studio gekommen, und es war toll, sie dort zu empfangen. Die CD wurde komplett in unserem eigenen Studio Cavernícola Records aufgenommen und gemischt. Sergio, unser Akkordeonspieler, hat sie produziert. Mit Manu, Dr. Ring Ding, Hugo Lobo und anderen war es eine Zusammenarbeit aus der Ferne. Sie waren zwar nicht hier, aber trotzdem waren wir uns nahe und bestimmt werden wir uns bald treffen und diese Dinge persönlich teilen.

Welchen Beitrag kann die Musik deiner Meinung nach leisten, um ein Bewusstsein für politischen Themen zu schaffen?
Wir glauben, dass die Musik eine unglaubliche Kraft hat, und darauf setzen wir. Die Musik hatte für uns schon immer die Aufgabe, Bewusstsein zu schaffen. Unser ganzes Leben lang, seit wir angefangen haben, Musik zu hören, hat sie uns geprägt. Wenn du größer wirst, verstehst du auch ein bisschen besser, was dir die Musik eigentlich sagen will. Aber sie war schon immer eine Schulung des Bewusstseins. Zum Beispiel im Fall von Bob Marley hat uns seine Musik schon immer gefallen, aber wir kannten seine Aussagen nicht, da wir kein Englisch sprachen. Als wir seine Texte dann verstehen konnten, sagten wir: Klar, dass sie uns gefallen hat! Darauf beziehen wir uns ein bisschen, um zu sagen, was wir sagen und zu singen, was wir singen, und zum Beispiel in Deutschland zu spielen. Uns ist klar, dass die Menschen vielleicht nicht verstehen, was wir sagen. Aber sie werden es vielleicht in einem anderen Moment verstehen. Sie bekommen das Gefühl, dass gerade etwas passiert.

In den vergangenen Jahren hattet ihr die Möglichkeit, nach Lateinamerika zurückzukehren und dort Musik zu machen. Wie war diese Erfahrung für dich?
Das war wirklich aufregend. Vor allem die Tatsache, dass die Leute nicht nur das verstehen, was das deutsche oder französische Publikum zum Beispiel versteht, sondern auch die Nachricht dahinter. Vielleicht verstehen sie diese Nachricht nicht einmal in Spanien, obwohl sie die gleiche Sprache sprechen wie wir. In Lateinamerika dagegen wissen alle, was wir sagen wollen. Denn wir kommen von dort und unsere Worte sprechen die Sprache Lateinamerikas. Von Mexiko bis Ushuaya in Argentinien, nicht wahr? In Lateinamerika werden wir verstanden, wir teilen alle eine Geschichte. Wenn man mal darüber nachdenkt, dann ist die Geschichte Lateinamerika doch eins. Abgesehen von ein paar Unterschieden haben wir alle das Gleiche erlebt. Unsere Nachricht kommt dort also ungefiltert an. Und das kam auch zu uns zurück, denn wenn du auf einer Bühne stehst und etwas kreierst, kommt das wie eine Welle wieder zu dir. Und es war sehr gewaltig, was uns da erreichte. Das hat uns viel Kraft gegeben, nach Europa zurückzukehren und zu versuchen, so etwas auch hier zu erreichen. In jüngster Zeit entsteht so eine Stimmung auch hier immer mehr, und das haben wir unserer Rückkehr nach Lateinamerika zu verdanken.

Vor fünfzehn Jahren habt ihr als Band angefangen, auf der Straße zu spielen. Heute reist ihr um die ganze Welt und gebt Konzerte – wie haben euch diese Anfänge als Straßenmusiker geprägt? Was ist davon übrig geblieben?
Um darauf zurückzukommen, was uns beeinflusst hat: Es gab ein Lied von Facundo Cabral, in dem er sagt „Kein Genie geht verloren, ich trage alles bei mir”. Wir haben nichts verloren, alles begleitet uns. Was sich vielleicht etwas verändert hat, ist die Gegenwart von Che Sudaka, denn wir sind an immer mehr verschiedenen Orten und unsere Nachricht erreicht immer mehr Menschen, die kommen, um uns zu sehe, und die etwas von uns erwarten. Aber der Geist der Straße hält uns als unabhängige Band auf den Beinen, obwohl es manchmal schwierig ist, weil du ein bisschen mehr arbeiten musst als wenn dir jemand sagt, was zu tun ist. Aber das erlaubt dir erstens, zu sagen, was dir in den Sinn kommt und was du fühlst, und zweitens ist da der Stolz, die Dinge auf eine – naja- sagen wir, natürliche Art zu machen. Man wird so etwas wie der Bauer der Musik, der früh aufsteht, um die Samen zu einzupflanzen und der aufsteht, um sie zu ernten. Alles braucht seine Zeit. Wenn wir also nie auf der Straße gespielt hätten, dann hätten wir dieses Bewusstsein nicht. Glücklicherweise begann es alles genau so.

Wie erlebst du, vor allem in deinem persönlichen Kontext als argentinischer Migrant in Barcelona, den Unabhängigkeitsprozess in Katalonien?
Ehrlich gesagt, ist uns die Unabhängigkeit des Individuums wichtiger als die Unabhängigkeit eines Landes, egal von welchem. Denn wenn das Individuum nicht unabhängig ist, kann es auch wenig für den Rest machen. Wenn die Unabhängigkeit eines Landes eine positive Veränderung zur Selbstverwaltung beitragen kann, ist sie herzlich willkommen. Ich weiß aber nicht, wie es wäre, wenn das hier passiert. Deshalb kann man in diesem Fall nicht von außen urteilen, denn wir leben zwar hier, aber mit kühlem Kopf. Wir ergreifen nicht Partei – wir können gar nicht Partei ergreifen! Denn du hast einen Freund, der hat die eine Meinung, und ein anderer hat eine andere. Was machst du da also? Kämpfst du den einen Tag mit einem und den anderen Tag mit dem anderen? Oder du versuchst, einfach menschlich zu sein und die Kompromisse zwischen den Menschen zu fördern.

Und was meinst du, was in Zukunft mit Menschen passieren könnte, deren Aufenthaltstitel unsicher ist und die keine Dokumente haben?
Die Leute ohne Papiere werden weiterhin ohne Papiere sein. Denn die Veränderungen, die auf Regierungsebene passieren, passieren nicht auf der Straße. Da wird dann einfach eine Verfügung in Brüssel erlassen, oft auch im Auftrag großer, multinationaler Unternehmen. Deshalb glaube ich, dass wir da gar nicht viel machen können. Wenn wir da etwas beitragen könnten, würden wir das ohne zu zweifeln tun. Aber im Moment glauben wir, dass wir nur positives Denken zum Geist der Einheit aller Menschen beitragen können. Egal, welche Flagge sie tragen. Aber, ehrlich gesagt, glauben wir nicht an Flaggen.


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DER REBELLION NICHT MÜDE

Als „punk reggae party“ bezeichnen die Musiker von Che Sudaka ihren eigenen Stil. Und unter diesem Motto steht auch das neue Album der Band aus Barcelona (siehe LN Interview). Die meisten Stücke darin sind nicht neu: Es enthält viele bekannte Klassiker wie „Mentira Polítika“, „La risa bonita“ oder den Titelsong „Almas Rebeldes“. Jedoch ist das Album weit ab von einem schnell zusammengewürfelten Best-of Album, für das sich Künstler*innen entscheiden, wenn sie plötzlich knapp bei Kasse sind. Almas Rebeldes verfolgt mit viel Aufmerksamkeit für jedes Detail ein Gesamtkonzept: In neuen Versionen eingespielte, alte Stücke sind mit neuen Liedern bewusst aufeinander abgestimmt. Jeder Song geht flüssig in den nächsten über, sodass Übergänge manchmal gar nicht zu merken sind.

Bei vielen Liedern sind andere Musiker*innen zu Gast: So etwa der deutsche Ska- und Reggae-Künstler Dr. Ring Ding, die ehemalige Frontfrau der Band Amparanoia Amparo Sánchez oder Manu Chao. Mit manchen der Künstler*innen haben Che Sudaka schon häufiger zusammengearbeitet und wurden von ihnen in ihrem musikalischen Werdegang beeinflusst. Viele der Features sind aber auch zum ersten Mal dabei und geben den Liedern einen ganz neuen Charakter.

Almas Rebeldes ist, sowie auch die bisherigen CDs von Che Sudaka, ein politisches Album. Es handelt von sozialen Bewegungen und Protest, Polizeigewalt und Repression, sozialer Ungleichheit und fehlendem Vertrauen in Politik und Staat. Vor allem die Themen Saatgut und bäuerliche Autonomie stehen im Mittelpunkt und werden von Anfang bis Ende des Albums immer wieder angesprochen. Der Aufruf zum Widerstand („almas rebeldes levántense“) zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Album. Sogar das CD-Cover, das von dem Künstler Pablo Kalaka entworfen wurde, spiegelt diese Nachricht wider und ist Aussagen der Band zufolge eine Hommage an alle Bäuerinnen und Bauern, welche für sie die Hoffnung auf eine bessere Welt repräsentieren.

Dieser ernsthafte Charakter wird aufgelockert von Stücken, die die Freude am Leben feiern, wie etwa „La risa bonita“ oder „El libro de los abrazos“. Mal haben die Songs mehr Cumbia- oder Rumba-Rhythmen, mal geht es rockiger zu, öfters sind Hip-Hop Elemente dabei. Das ganze Album wirkt sehr energisch, die neuen Auflagen der Klassiker sind meist schneller und werden durch elektronische Komponenten dem neueren Stil der Band angepasst. Die Musik von Che Sudaka lässt sich noch immer schwer in feste Genres einordnen und hat sich über die Jahre zu einem ganz eigenen Stil mit verschiedenen Einflüssen entwickelt. Gesungen wird auf fünf Sprachen, überwiegend auf Spanisch, aber auch Portugiesisch, Französisch, Englisch und Kibunda.

Almas Rebeldes reißt einen beim Hören mit und regt zum Tanzen, zum Abschalten, aber auch zum Nachdenken an. Es ist ein rundes und sehr gelungenes Album einer Band, die sich seit ihrer Gründung immer weiterentwickelt hat und sich kontinuierlich neu ausprobiert. Diesen Prozess mit zu verfolgen und sein vorläufiges Ergebnis auf diesem Album zu erleben macht Spaß – und vor allem bekommt man Lust auf mehr von dieser Band, die auch nach 15 Jahren nicht müde wird, sich und die Welt immer wieder neu erfinden zu wollen.

 


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