Nach dem Putschversuch Räumung des Camps der Bolsonaristas (Foto: Fernando Frazão, Agência Brasil)
Das Jahr 2023 begann in Brasilien mit einem großen Fest der Demokratie. Endlich war die vierjährige Schreckensherrschaft des rechtsradikalen Jair Bolsonaro beendet. Die Feier zum Amtsantritt von Lula da Silva am 1. Januar war voller symbolischer Gesten und ein gelungenes Signal für die Hoffnungen, die die neue Regierung repräsentiert. Acht Menschen, die für die Gesamtheit aller Brasilianer*innen und die Zivilgesellschaft stehen – darunter Raoni Metuktire, indigener Anführer der Kayapó, und Aline Sousa, Wertstoffsammlerin aus Brasília – überreichten Lula die Präsidentenschärpe. Auch die Regierungsbildung ist hoffnungsvoll: Zum ersten Mal in der Geschichte Brasiliens gibt es mit Sônia Guajajara eine Ministerin für indigene Völker. Die Schwester der 2018 ermordeten Stadträtin Marielle Franco, Anielle Franco, wird Ministerin für die Gleichstellung ethnischer Gruppen. Mit der Ernennung der international hoch angesehenen Marina Silva zur Umweltministerin zeigt der Präsident, dass es ihm mit dem Kampf gegen Entwaldung ernst ist. Lula gibt damit ein starkes Signal für grundlegende Änderungen – und seine Person verleiht dem Glaubwürdigkeit.
Aber am 8. Januar erreichten ganz andere Bilder aus Brasilien die Welt: Anhänger*innen Bolsonaros stürmten das Parlament, den Obersten Gerichtshof und den Palast Planalto, Sitz aller amtierenden Präsident*innen. Die live übertragenen Bilder waren kaum zu glauben. Denn die radikalen Anhänger*innen Bolsonaros hatten nicht nur praktisch freien Zugang, sie wurden von der Polizei sogar zu den Gebäuden begleitet. Und erst nachdem sie diese gründlich verwüstet hatten, wurden sie schließlich von der Polizei vertrieben, wobei aber der größte Teil der Anti-Demokrat*innen ungehindert in das Protestcamp vor einer Militärkaserne abziehen konnte. Dort verhinderten Militärs jegliche Festnahmen durch die Polizei. Erst Stunden später wurden rund 1 200 von ihnen polizeilich festgenommen, auf Anweisung des Obersten Richters Alexandre de Moraes.
Inzwischen gibt es ein klareres Bild davon, was am 8. Januar passierte
Präsident Lula hielt sich während der Verwüstung des Regierungsviertels im Bundesstaat São Paulo auf. Er reagierte sofort mit einem Dekret für die Intervention der Bundesbehörden und der Entlassung des für öffentliche Sicherheit zuständigen Sekretärs des Hauptstadt-Distriktes Brasília, Anderson Torres. Torres ist inzwischen in Haft, ebenso wie der ebenfalls entlassene Kommandant der Militärpolizei im Regierungsbezirk, Fábio Augusto Vieira. Der Gouverneur von Brasília, Ibanais Rocha, ein Anhänger Bolsonaros, wurde vom Obersten Gerichtshof für 90 Tage von seinem Amt suspendiert.
Inzwischen ist es möglich, ein etwas klareres Bild von den Ereignissen des 8. Januars zu gewinnen. Die Absicht der Anti-Demokrat*innen war es offensichtlich, eine Art Aufstand im gesamten Land anzustacheln und die Militärs zum Eingreifen zu bewegen, um die in ihren Augen illegale Regierung Lula zu stürzen. Dieser Plan ist kläglich gescheitert. Weder gab es landesweit signifikante Unterstützungsaktionen, noch intervenierten die Militärs. Die Polizei reagierte, wenn auch spät, und einige der Vandalen landeten nun sogar hinter Gittern. Nach ersten Umfragen lehnen 93 Prozent der Brasilianer*innen die Aktionen des 8. Januars ab. Kurzfristig kann dies sogar der Regierung Lula nützen: Auch Gouverneur*innen, die mit Unterstützung Bolsonaros gewählt wurden, distanzierten sich. Die Regierung hat nun die Legitimität, gegen radikale Bolsonaristas vorzugehen und die noch verbliebenen Protestcamps zu räumen.
Dennoch bestehen Gründe zur Besorgnis. Denn die Ereignisse des 8. Januars werfen auch ein Licht auf die enge Verbindung von Teilen der Streitkräfte mit dem Bolsonarismo. Militärs waren massiv an der Regierung Bolsonaro beteiligt und unterstützen diesen offensichtlich aktiv und aus voller Überzeugung. Nicht zuletzt das Bekenntnis Bolsonaros zur Militärdiktatur als einer positiven Epoche Brasiliens und seine Huldigung von Foltergenerälen fanden Zustimmung bei vielen Militärs, die die Einrichtung einer Wahrheits- kommission über die Verbrechen der Militärdiktatur unter der Regierung von Dilma Rousseff als Demütigung empfanden und diese mit allen Mitteln bekämpften.
Die Regierung Bolsonaro war mit einem enormen Anwachsen der politischen Rolle der Militärs verbunden. Aber die Bedeutung des Militärs fußt auf dem Artikel 142 der Verfassung von 1988, der als Rolle der Streitkräfte eben nicht nur die Landesverteidigung, sondern auch die Garantie der Verfassung definiert. Auf diesen Artikel berufen sich die Bolsonaristas, wenn sie eine Intervention der Militärs fordern. In der Praxis ist in den vergangenen Jahren aber etwas anderes relevanter, nämlich die „Garantie von Gesetz und Ordnung” (GLO). Dieses Instrument ermöglichte es dem Präsidenten oder der Präsidentin, die Militärs für innenpolitische Aufgaben einzusetzen. Unter der Regierung Dilma Rousseff wurde dies häufig praktiziert, zum Beispiel bei Unterdrückung der Proteste im Jahre 2013 oder im Vorfeld der Mega-Events der Fifa-WM (2014) und den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro (2016). Das GLO diente aber auch bei einer militärpolizeilichen Intervention in der Favela Maré in Rio de Janeiro zur Repression. Einen weiteren Schritt zum Aufstieg der Militärs leitete Präsident Michel Temer (2016-2018) ein, als dieser eine Militärintervention im Bundesstaat Rio de Janeiro dekretierte und den General Braga Neto mit umfassenden Vollmachten ausstattete. Braga Neto wurde später zu einem engen Verbündeten Bolsonaros und dessen Kandidat für die Vizepräsidentschaft. Bolsonaro schließlich brach mit der republikanischen Tradition, das Verteidigungsministerium mit einem zivilen Politiker zu besetzen.
Die Absicht war, eine Art Aufstand im gesamten Land anzustacheln
Die Aufgabe der Regierung Lula ist es nun, diesen unguten Geist der politisierten Militärs wieder einzufangen. „Das Problem ist, dass wir jetzt wissen, wie sie denken und wie sie agieren – und dass dies völlig anders ist als das, was die demokratische Allianz denkt. Es wird eine schwierige Beziehung werden“, kommentierte der Militärspezialist Martins Filho die jüngsten Ereignisse gegenüber den Medien. Dennoch gehen praktisch alle Beobachter*innen davon aus, dass kurzfristig keine Gefahr eines Putsches besteht. Lulas selbst hat den Oberkommandeur des Heeres zügig ersetzt. Der neue General hat zumindest die unpolitische Rolle der Streitkräfte betont. Bolsonaristas und die verbündeten Militärs bereiten jetzt vermutlich eine längerfristige Strategie vor, die bereits beim Sturz der Regierung Dilmas erfolgreich war: systematische Delegitimierung der Regierung und Rückeroberung der Straße mit andauernden Protesten. Dagegen gibt es nur eine wirksame Gegenwehr – den Erfolg der Regierung Lula.
Angesichts der politischen Wirren rund um den 8. Januar sind andere Themen in den Hintergrund getreten. Aber mit seinen ersten Aktionen zeigt Lula, dass jetzt ganz andere Zeiten begonnen haben. Nach Meldungen über die katastrophale Lage im Gebiet der indigenen Yanomami, die besonders schwer von der Invasion des illegalen Goldbergbaus betroffen sind, reiste er in das indigene Gebiet und versprach Sofortmaßnahmen gegen Hunger, Gesundheitsnotstand und zur Verbesserung der medizinischen Versorgung. Brasilien hat wieder einen Präsidenten, der zu Empathie fähig ist. Zumindest im Kampf gegen Abholzung und Klimawandel hat ein klarer Kurswechsel bereits begonnen. Es sei möglich, bis 2030 die Entwaldung auf null zu senken (Desmatamento Zero), so Lula.
Dies ist für die internationale Wahrnehmung der Regierung sicherlich von großer Bedeutung. Für den innenpolitischen Erfolg Lulas werden aber die Ergebnisse von Wirtschafts- und Sozialpolitik entscheidend sein. Für eine wichtige Aufgabe gibt es sogar gute Gründe für Optimismus: Lula hat bereits in seinen ersten Regierungen bewiesen, mit welchen Maßnahmen der Kampf gegen den Hunger erfolgreich sein kann. Bewährte Programme wie die Förderung von Schulspeisungen und den Aufkauf der Produktion von Kleinbäuer*innen können jetzt wieder aufgenommen werden. Aber eine große sozialpolitische Transformation ist von der Regierung Lula und der breiten und heterogenen Koalition, die sie trägt, kaum zu erwarten. Es erweist sich als schwierig, für dringende sozialpolitische Maßnahmen Ausnahmen von der per Gesetz definierten Haushaltsbremse mit einem ziemlich konservativen Kongress auszuhandeln. Dies zeigte sich bei den Verhandlungen um die Fortsetzung der Sozialzahlungen an infolge der Pandemie besonders Bedürftige. Aber auch an der Erhöhung der Mindestlöhne, die geringer ausgefallenen ist als von Sozialverbänden erhofft wurde, trotz der Reallohnverluste während der vier Jahre unter Bolsonaro. Haushaltspolitisch ist das Budget auf Kante genäht. Aber die dauerhafte Konsolidierung demokratischer Strukturen, Erfolge im Kampf gegen Hunger und Entwaldung, die politische Marginalisierung des Bolsonarismo, all das ist möglich und wäre nicht wenig.