ROTE TÜCHER ALS ZEICHEN DES PROTESTS


Desinfektionsmittel hilft nicht gegen den Hunger Viele Menschen haben durch die Krise ihre Arbeit verloren (Foto: Liberman Arango)

Seit dem ersten bestätigten Coronafall am 6. März – inmitten der Debatte um den Wahlbetrug des Präsidenten Ivan Duques (siehe LN 550) – ist die Zahl der Infizierten in Kolumbien auf 14.939 (Stand 17.05.20) gestiegen – nach offiziellen Angaben sind 562 Menschen an Corona gestorben. Die Dunkelziffer der nicht erfassten Infektionen ist ungewiss, denn wie auch in anderen Ländern sind in Kolumbien die Testkapazitäten begrenzt.

Dabei handelte sich die Regierung vor allem in der Anfangszeit die Kritik ein, den Virus zu unterschätzen. So zögerten Präsident Duque und sein Gesundheitsminister Fernando Ruiz beispielsweise damit, die internationalen Flughäfen zu schließen.

Angesichts der Untätigkeit der Regierung gingen die Bürgermeister*innen landesweit in vielen Gemeinden mit eigenen Schutzmaßnahmen voran. Doch Präsident Duque zwang per Dekret die Lokalverwaltungen sogar zur Rücknahme der eingeleiteten Corona-Maßnahmen. Erst unter dem Druck der Öffentlichkeit machte die Regierung eine 180-Grad-Wende und verhängte ab dem 20. März für alle über 70-Jährigen eine Ausgangssperre, die vier Tage später auf die gesamte Bevölkerung ausgeweitet wurde. Seit dem 11. Mai gibt es einige Lockerungen der bis zum 25. Mai vorgesehenen allgemeinen Ausganssperre. Diese gilt nun nicht mehr für jene Landkreise, die keine neuen Fälle aufweisen. Dort kann das öffentliche Leben weitestgehend zur Normalität zurückkehren. Restaurants bleiben jedoch geschlossen und Veranstaltungen mit großen Gruppen sind auch dort weiterhin verboten.

Nachdem über viele Wochen von der strengen Ausgangssperre lediglich Menschen in systemrelevanten Berufen ausgenommen waren und alle anderen nur zum Einkaufen im nächstgelegenen Supermarkt oder zum Spaziergang mit dem Hund in der Nähe des eigenen Hauses auf die Straße durften, sind die Regeln nun auch in den noch betroffenen Landkreisen etwas gelockert. So dürfen alle Menschen über 6 Jahren jetzt dreimal die Woche für eine halbe Stunde draußen Sport machen und auch einige Wirtschaftszweige, vor allem Teile der Industrie und das Handwerk, aber auch Buchläden, dürfen wieder öffnen.

Duque will Reaktivierung der Wirtschaft auf Kosten der Gesundheit

Zuvor legten einige große Städte, in denen die Ansteckungsgefahr wegen der dichten Besiedlung besonders hoch ist, zeitweise sogar fest, dass jede*r das Haus nur noch an zwei bestimmten Wochentagen verlassen darf. In Bogotá führte Bürgermeisterin Claudia Lopez ein genderbasiertes System ein, bei dem Frauen und Männer an jeweils unterschiedlichen Tagen das Verlassen des Hauses erlaubt ist, was auf große Kritik aus der queeren und trans Community stieß.

Hauptstadtbürgermeisterin Lopez und Präsident Duque sind gegenüberstehende Protagonist*innen der Krise. Während Lopez öffentlich immer wieder die Aufrechterhaltung der Maßnahmen forderte, will Duque möglichst schnell den Weg für eine Reaktivierung der Wirtschaft einschlagen – laut seiner Kritiker*innen auf Kosten des Gesundheitsschutzes.

Das kolumbianische Gesundheitssystem ist eine öffentlich-private Mischform. Zwar garantiert die öffentliche Minimalversicherung laut Regierungsangaben 95% der Kolumbianer*innen Zugang zur ärztlichen Grundversorgung (laut BBC sind es nur 76%); für jegliche weitere Leistungen, die oft noch im Bereich des medizinisch Notwendigen liegen, sind jedoch private Zusatzversicherungen notwendig, die sich nur ein kleiner Teil der Bevölkerung leisten kann.

Auch die Anzahl der Intensivbetten mit 5349 bei knapp 50 Millionen Einwohner*innen (zum Vergleich: Deutschland verfügt über 31.500 Intensivbetten) ließ zunächst befürchten, dass das kolumbianische Gesundheitssystem schnell an seine Belastungsgrenze kommen würde, zumal sich die Intensivbetten im Wesentlichen auf einige wenige Regionen konzentrieren. In 4 Departamentos gibt es kein einziges. Arbeitende im Gesundheitswesen beklagen zudem den Mangel an Schutzmaterial, wie Handschuhen oder Masken, um sich während der Epidemie schützen und eine weitere Ausbreitung verhindern zu können.

Kurz vor der Ausgangssperre in Medellín Mittlerweile haben sich viele Kollektive zum Verteilen von Lebensmittelspenden gegründet (Foto: Liberman Arango)

Die landesweite Ausgangssperre brachte viele Kolumbianer*innen in existenzielle Probleme. Ein großer Teil der Menschen lebt vom informellen Sektor. Ob Straßenverkäufer*innen, Tagelöhner*innen, Selbstständige, Inhabende von kleinen Läden oder Sexarbeiter*innen sowie jene, die ihre Arbeit im Zuge der Krise verloren, brach die ökonomische Grundlage schlagartig weg. Haushalte, die sich nicht mehr selbst versorgen können, begannen damit, rote Tücher an ihre Fenster zu hängen, um so nach Hilfe in der Krise zu rufen. „Ich war traurig, als ich von der Arbeit kam, weil sie mir nur die Hälfte meines Lohnes gezahlt haben und nun muss ich entscheiden, ob ich die Miete oder das Essen für meine Familie bezahle“, erzählt Jorge, der als Kurier nach wie vor arbeiten muss, um Medikamente und Lebensmittel auszuliefern, ohne dabei von seiner Firma Masken oder Desinfektionsmittel zu erhalten. Auf einer seiner Lieferfahrten stieß Jorge auf eine Demonstration von Menschen mit roten Halstüchern, die herausschrien, dass sie Hunger haben. „An diesem Tag konnte ich nicht schlafen.“

Der Hunger ist in Kolumbien ein alter Virus. Die roten Tücher entwickelten sich neben dem Hilferuf auch zum Protestsymbol. Immer wieder kam es zu Straßenblockaden, die gewaltsam von der Polizei aufgelöst wurden. Besonders in den peripheren Regionen und jenen Vierteln der Städte, in denen es nicht einmal eine öffentliche Wasserversorgung gibt, spitzt sich die Situation mit jedem weiteren Tag der Quarantäne zu. Die staatlichen Hilfen sind ungenügend. Zwar gab es neben Aushilfskrediten für Unternehmen auch ein Verbot von Zwangsräumungen für die Zeit der Ausgangssperre, Essenslieferungen und zeitlich begrenzte Mehrwertsteuersenkungen für einkommensschwache Familien sowie regional auch Einmalzahlungen; doch die Umsetzung der Maßnahmen ist viel zu langsam. Sie wird unter anderem dadurch erschwert, dass viele Bedürftige in den staatlichen Systemen nicht erfasst sind.

Gefängnisaufstände werden brutal niedergeschlagen

Dazu droht Kolumbien durch den fallenden Ölpreis sowie eine abstürzende Währung eine Verschärfung der wirtschaftlichen Probleme. Durch seine extraktivistische Exportorientierung ist das Land außerdem in hohem Maße vom schwächelnden Weltmarkt abhängig.

Auch weitere gravierende Probleme bleiben in der Krise bestehen: So ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen Funktionäre in 8 Departamentos wegen der Veruntreuung der Corona-Hilfsgelder. Derweil investierte das Innenministerium mitten in der Krise in den Kauf von 5 gepanzerten Fahrzeugen für die Aufstandsbekämpfungseinheit ESMAD im Wert von 1,86 Millionen Euro. Ein Versuch, das sowieso schon ramponierte Image der für ihre Brutalität berüchtigten Einheit etwas aufzupolieren, war, die ESMAD-Einheiten in voller Ausrüstung Lebensmittelspenden verteilen zu lassen. Überhaupt scheint die Regierung auf Militarisierung zu setzen. Neben der Unterdrückung von Protesten wurde der „Krieg gegen den Virus“ ausgerufen, den paramilitärische Gruppen in vielen Teilen des Landes nun umsetzen, indem sie mit Androhung von Waffengewalt für die Einhaltung der Ausgangssperre sorgen.

In den überbelegten und unterversorgten Gefängnissen wiederum breitete sich wenige Tage nach Beginn der Ausgangssperre Panik aus. Im Hauptstadtgefängnis La Modelo reagierten die Sicherheitsbeamten mit einem Massaker auf einen Aufstand und brachten 23 Gefangene um, 83 wurden verletzt. Auch in weiteren Gefängnissen kam es zu Rebellionen, die allesamt niedergeschlagen wurden.

Die sozialen Bewegungen versuchen derweil autonom der Krise durch Solidarität etwas entgegen zu setzen. Mit Beginn der Ausgangssperre gründeten sich spontan viele Kollektive zum Sammeln und Verteilen von Lebensmittelspenden. Es entstanden freie Radioprogramme, die den Ausnahmezustand kritisieren, sowie ein breites selbstorganisiertes Bildungsangebot. So wurde die Forderung nach einem Bedingungslosen Grundeinkommen ebenso laut wie Kritik an der Verletzung des Arbeitsschutzes, dem unzureichenden Gesundheitssystem oder den Zuständen in den Gefängnissen. Es waren vor allem unabhängige Journalisten, die vom Hunger, dem Protest und der staatlichen Unterdrückung berichteten.

Als in Medellín aus dem Helikopter ein Konzert zur Unterhaltung der Menschen angekündigt wurde, waren die Proteste mit der Forderung nach echter Hilfe anstatt eines sündhaft teuren Konzerts so laut, dass das Konzert abgesagt wurde. Neue Formen des Protests brachte auch der erste Mai mit sich. Gewerkschaften riefen zur Kampagne „Demonstrieren wir im Netz“ (marchemos en la red) auf. Die Mitorganisatorin der Kampagne Araceli Cañaveral erklärt mit Blick auf den Anstieg der Ermordungen von sozialen Aktivist*innen im Monat der Quarantäne: „Hier kam alles zum Stillstand außer dem Paramilitarismus“. Die illegalen bewaffneten Gruppen bewegten sich sogar noch ungestörter in ihren Territorien. Im Cauca, Nariño, Antioquia und Norte de Santander wurden im Monat April 15 soziale Aktivist*innen sowie Ex-FARC-Kämpfende ermordet.

DER MARKT IST VOLL, ABER KAUM JEMAND KAUFT EIN

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Dicht gedrängt trotz Quarantänebestimmungen Menschen im Markt von Ruiz Pineda (Fotos: John Mark Shorack)

Eine ältere Frau mit grauem Haar steht am Eingang zum Markt, über der Schulter trägt sie einen vollen Beutel. Mit Mundschutz und Handschuhen verkauft sie eine Mischung aus Koriander und Frühlingszwiebeln, genannt „monte“. Es ist das Einzige, was sie verkauft. “Monte ist eine gute Alternative zu Zwiebeln“, erklärt sie. Wie viele andere musste sie sich im Zuge der Pandemie neu erfinden und arbeitet jetzt als Lebensmittelverkäuferin – eine der wenigen noch erlaubten Tätigkeiten. Sie akzeptiert keine Kartenzahlung, nur Bargeld. Dies sei aber „schwierig, denn es gibt kaum Bargeld”.

Der Markt von Ruiz Pineda im Südwesten der venezolanischen Hauptstadt Caracas ist überdacht und hat sehr enge Gänge, die bereits ab dem frühen Morgen voller Kund*innen sind. Am Eingang gibt es inzwischen keine Kontrollen mehr und die Menschen stoßen immer wieder aneinander. Nach sieben Wochen in Quarantäne scheinen die Präventionsstrategien – wie Abstand zu halten und nur eine begrenzte Zahl von Käufer*innen auf einmal einzulassen – vergessen zu sein.

Nach sieben Wochen Quarantäne sind die Präventionsstrategien vergessen

Seit Mitte März gelten in Caracas und im restlichen Land Quarantänebestimmungen. Die Menschen dürfen daher ihre Wohnung nur zum Kauf von Lebensmitteln und Medikamenten verlassen. Die Regierung hatte zudem die Unterbrechung der meisten Arbeitstätigkeiten, des internationalen Flugverkehrs sowie eine Mundschutzpflicht angeordnet. Nur die im Bereich der Lebensmittelversorgung, des Gesundheitssystems, des Verkehrs und der Sicherheit Beschäftigten dürfen noch arbeiten. Die Polizei und die Nationalgarde kontrollieren das Tragen des Mundschutzes und blockieren mit Straßensperren den Zugang zu den einzelnen Stadtvierteln. Die Schulen wurden ebenfalls geschlossen, die Schulküchen sind jedoch weiter in Betrieb, um Menschen über 60 und Schüler*innen unter 19 Jahren ein tägliches Mittagessen anzubieten.

Am ersten Tag der Quarantäne stehen die Menschen Schlange vor den Geschäften, um sich – die am 15. März ausbezahlten Löhne in der Tasche – mit Lebensmitteln einzudecken. „Man kann nicht zu Hause bleiben. Wie soll man essen? Man muss rausgehen,” sagt eine Frau, die  in der Schlange vor der Bäckerei wartet. Gegenüber an der Bushaltestelle steht Raul Martinez, ein Bewohner des Viertels Ruiz Pineda. “Wasser gibt es hier nur an zwei Tagen in der Woche,” sagt er. Für ihn wäre das Allerwichtigste, während der Quarantäne “immer Wasser zu haben”.

Seit Beginn der Quarantäne ist der Markt des Viertels nur noch am Vormittag geöffnet. Geschäfte, die zunächst geschlossen hatten, haben nach und nach wieder geöffnet, um Lebensmittel zu verkaufen. Sie verkaufen das, was es in der Hauptstadt ausreichend gab: Haltbare Lebensmittel, Gemüse und Früchte. Aber im Vergleich zu den Löhnen sind Grundnahrungsmittel und elementare Hygieneprodukte bereits zu Beginn der Quarantäne teuer. Ein monatlicher Mindestlohn, umgerechnet fünf Euro, reicht gerade für ein Kilo schwarze Bohnen, ein Kilo Maismehl, ein Pfund Käse und eine Packung Toilettenpapier.

Die Preise für Grundnahrungsmittel haben sich in 2 Monaten mehr als verdoppelt

Ende März werden einige der Einschränkungen bereits inoffiziell gelockert. Kund*innen stehen sehr nah beieinander, mehr informelle Verkäufer*innen gehen auf der Straße ihrem Geschäft nach, und in den Wohngebieten wird der Mundschutz weniger häufig getragen.

Schon vor dem Ausbruch von COVID-19 führten die internationalen Sanktionen und die staatliche Misswirtschaft zu gravierenden Problemen bei der Wasser- und Stromversorgung, zu Krankenhäusern in schlechtem Zustand und Mangelsituationen in fast jedem Aspekt des Alltagslebens der Venezolaner*innen. Mit der Pandemie haben sich diese noch weiter verschärft.

Bei Erklärung der Ausgangssperre bat die venezolanische Regierung daher die Weltgesundheitsorganisation um Unterstützung und erklärte landesweit 46 Krankenhäuser zu Anlaufstellen für COVID-19-Patient*innen. Diese Entscheidungen und die Mobilisierung kamen schnell, dennoch fehlte es von Anfang an an wichtiger Ausrüstung, wie Corona-Tests und Schutzkleidung. Aufgrund der internationalen Sanktionen war deren Einkauf nicht möglich; verbündete Länder wie Kuba und China schickten jedoch im März humanitäre Hilfe in Form von Mediziner*innen, Medikamenten, Schutzausrüstung und Testkits.

Juan Guaidó, der sich im Januar 2019 selbst zum Präsidenten ernannt hatte, äußerte sich am 28. März zur Pandemie. Er forderte per Twitter-Video die Bildung einer „Nationalen Notstandsregierung“. Zwei Wochen später verkündete er, dass er “Mittel der Venezolaner*innen zurückerlangt“ habe und drei Monate lang jedem Angestellten des venezolanischen Gesundheitssystems je 100 Dollar auszahlen werde. Mehrere Medien berichteten, das Geld käme von einem Konto der venezolanischen Zentralbank (BCV) in den Vereinigten Staaten. Die Trump-Regierung genehmige die Überweisung an ein Konto der Federal Reserve Bank of New York. Die BCV nannte es eine „rüde Plünderung“ ihrer Mittel. Die Geldtransfers waren ein Versuch Guaidós, im politischen Spektrum des Landes präsent zu bleiben. Weil die Entscheidungen im Zusammenhang mit der Pandemie nicht von ihm getroffen werden, ist dies jedoch schwierig und seine Bedeutung in der venezolanische Opposition sinkt.

Einmal Markt und zurück, mehr geht nicht Wartende mit ihren Einkäufen an der Bushaltestelle (Foto: John Mark Shorack)

Am 11. April verlängerte die Vizepräsidentin Delcy Rodriguez in einer Fernsehansprache die landesweite Quarantäne um dreißig Tage. „Die Kurve ist abgeflacht”, sagte sie, “und wir müssen mit der Quarantäne fortfahren.“ Sie bestätigte insgesamt 175 Corona-Infektionen im Land. Im gleichen Zug verkündete sie die Ankunft von 15.000 Testkits, zusätzlich zu den bereits im März gelieferten. Als es eine Woche später 52 neue Fälle von Infektionen in drei Tagen gab, wurde im Bundesstaat Nueva Esparta eine Sperrstunde verhängt.

Caracas leidet aber nicht nur unter der Corona-Pandemie, seit Ende März gibt es auch großen Benzinmangel. „Es ist wie in San Cristóbal”, sagt ein Busfahrer und meint damit die Stadt an der kolumbianischen Grenze. Dort müssen die Leute schon seit längerem stundenlang auf Benzin warten und dafür möglichst frühmorgens gegen drei Uhr an der Tankstelle sein. Trotzdem werden viele Autos abgewiesen und müssen an einem anderen Tag zurückkehren, oder sogar mehrere Tage warten. Der Benzinmangel führt zu Störungen beim Transport von Lebensmitteln sowie im öffentlichen Verkehr.

Durch den Umsturzversuch ist die Glaubwürdigkeit von Guaidó weiter gesunken

Gleichzeitig steigen im April der Wechselkurs der Parallelwährung US-Dollar sowie die Lebensmittelpreise weiter: “Die Preise sind sehr hoch. Hähnchenschnitzel kosten 500.000 Bolivares pro Kilo,” meint eine Frau auf ihrem Weg vom Markt nach Hause. Das entspricht einem Mindestlohn von etwas mehr als einem Monat. Zwischen Anfang März und Ende April haben sich die Preise für Grundnahrungsmittel wie Eier, Käse und Bananen mehr als verdoppelt.

Ab dem 1. Mai hat die venezolanische Regierung daher Preisobergrenzen für 27 Produkte angeordnet, darunter Eier, Käse und Maismehl, sowie den Mindestlohn um 60 Prozent erhöht. In der ersten Woche der Maßnahmen ist der starke Anstieg der Preise und des Dollarwechselkurses zurückgegangen. Aber auch mit einem höheren Mindestlohn ist das Essen immer noch zu teuer für viele Menschen in Caracas. Die meisten kaufen daher Gemüse und Obst der Saison wie Bananen, Maniok und Mango, die besonders billig sind. Für haltbare Grundnahrungsmittel wie Bohnen oder Reis sind viele im Stadtviertel Ruiz Pineda auf die monatliche Lebensmittelskiste der Regierung und Unterstützung von Angehörigen im  Ausland angewiesen.

“Die Mehrheit der venezolanischen Bevölkerung schafft es nur deshalb, über die Runden zu kommen, weil es den informellen Sektor und die Auslandsüberweisungen gibt,” so Atenea Jimenez, Sprecher des Nationalen Netzwerks der Kommunarden und Kommunardinnen im Interview mit der Zeitung Green Left. Durch die Quarantäne “ist die Situation noch schwieriger geworden, die Leute können nicht mehr rausgehen, wann immer sie ihre alltäglichen Aufgaben im informellen Sektor erledigen müssen oder um Auslandsüberweisungen abzuholen”, sagte Jimenez weiter. Die Atmosphäre im Markt von Ruiz Pineda hat sich daher in den letzten vierzehn Tagen verändert. Der Markt ist immer noch voll, aber weniger Leute kaufen ein. „Die Menschen haben kein Geld mehr,“ erklärt der Metzger auf die Frage, warum sein Stand so leer ist. Ein Gemüsestand nebenan hat eher ältere Ware: „Es ist sehr schwer, Benzin zu bekommen. Wir haben es nicht geschafft, im Großmarkt neue Ware einzukaufen.“

Der Corona-Virus fühlt sich in Venezuela einfach an wie ein weiteres Problem

Die Zahl der Infektionen mit dem Corona-Virus steigt langsam weiter, auf zuletzt mehr als 450 Fälle und 10 Tote. Im Vergleich zu anderen südamerikanischen Ländern steht Venezuela damit sehr gut dar, mit der geringsten Anzahl von Fällen pro eine Million Einwohner. Grund genug für die Regierung, sich selbst zu loben. Aber die Entscheidung über die Fortsetzung der Quarantäne-Maßnahmen – wie sie andere Länder mit deutlich mehr Infektionen schon gefällt haben – ist schwierig. Sie könnte wegen des Benzinmangels größere Konsequenzen haben und als ein Versuch sozialer Repression verstanden werden. Trotz der gültigen Ausgangsperre und der täglichen Pressekonferenz der Regierung öffnen schon jetzt in Ruiz Pineda und Caracas Schreibwarenläden, Friseure und andere Geschäfte, die eigentlich noch geschlossen bleiben müssten. Am 12. Mai hat Präsident Maduro die Fortsetzung der Beschränkungen um weitere 30 Tage angekündigt.

Mitten in der Pandemie ereignete sich noch ein gewaltsamer Umsturzversuch. Am Morgen des 3. Mai teilte Innenminister Nestor Reverol mit, dass „eine Invasion über das Meer“ vereitelt worden sei. Es habe acht Tote und zwei Festnahmen gegeben. Am gleichen Abend bekannten sich Jordan Goudreau, US-Amerikaner und ehemaliger Soldat, sowie Javier Nieto Quintero, ehemaliger Kapitän der venezolanische Nationalgarde, per Video zu der „Operacion Gedeon.“ Nach weiteren Festnahmen von sechs Venezolanern und zwei ehemaligen US-amerikanischen Soldaten aus einem zweiten Motorboot am folgenden Tag veröffentlichte Goudreau einen angeblichen Vertrag mit Juan Guaidó. Ziel des Vertrages, den Guaidó als „Präsident Venezuelas“ unterschrieben habe, wie die The Washington Post berichtete, sei die „Festnahme und Auslieferung Maduros“ gewesen. Guaidó bestreitet seine Unterschrift. Ein weiterer Unterzeichner bestätigte den veröffentlichten Vertrag auf CNN, allerdings als „Vorvertrag“. Die Verhandlungen seien jedoch im November abgebrochen worden. Durch den gesamten Vorfall ist die Glaubwürdigkeit des selbsternannten Präsidenten Guaidó weiter gesunken. In den folgenden Tagen wurden insgesamt 45 an dem Putschversuch Beteiligte festgenommen. Präsident Maduro sprach von einem gescheiterten Umsturzversuch, der von den USA eingefädelt worden sei. “Donald Trump ist der direkte Chef dieser Invasion”, sagte Maduro am 6. Mai. Der US-amerikanische Präsident hatte jegliche Beteiligung bereits zuvor zurückgewiesen.

Die Venezolaner*innen haben sich an Schwierigkeiten gewöhnt, Inflation und Probleme bei Transport und Verkehr gehören zum Alltag – auch wenn die Pandemie eine neue Situation ist. „Man ist nicht daran gewöhnt, nichts zu tun“, sagt eine ältere Frau auf der Straße. Vor der Pandemie hat sie Kinder beaufsichtigt, „aber jetzt arbeitet niemand mehr“. Manche putzen oder reparieren ihre Wohnungen, spielen Domino oder versammeln sich an der Straßenecke. Pandemie, mangelnde Versorgung und Putschversuch – der Corona-Virus fühlt sich in Venezuela einfach an wie ein weiteres Problem.

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