An dem Morgen, an dem er zum ersten Mal einer der 23 Anhörungen des historischen Prozesses beiwohnte, in dem der ehemalige Diktator Efraín Ríos Montt des Völkermords für schuldig befunden wurde, war der junge Diego Albúrez Gutierrez, ein guatemaltekischer Demograf und heute Forscher am deutschen Max-Planck-Institut, aus zwei Gründen perplex. Zum einen wegen der Härte und des Mutes der Zeugenaussagen der 90 Überlebenden des Genozids – alle Mitglieder des Maya Ixil Volkes. Sie bezeugten Landzerstörung, Zwangsarbeit, Verstümmelungen, Vergewaltigungen und Massenmorde. Der Exgeneral regierte zwischen 1982 und Juli 1983 und war durch einen Putsch an die Regierung gekommen.
„Ich will, dass sie für das Blut meines Mannes und meiner Tochter bezahlen. Wir wollen, dass er ins Gefängnis geht, denn es waren nicht wir, die etwas gestohlen haben. Ich möchte so etwas nie wieder sehen. Eines Tages werde ich sterben, aber auch meine Kinder werden hiermit leben müssen“, spuckte Jacinta Rivera Brito, eine Frau des Ixil-Volkes, die in der Nebaj-Gemeinde ihr Milpa-Feld bestellt, Ríos Montt ins Gesicht. Die Kugel, die das Auge ihres Manns durchdrang, tötete auch ihre Tochter in seinen Armen. Sie blieb tagelang ohne Essen und Kleidung in den Bergen, verängstigt sich den Körpern ihrer Familie zu nähern – es wurde gemunkelt, dass die Soldaten Granaten neben den Toten platzierten. Unter Ríos Montt wurden über 1700 Personen der Ixil in nur zwei Jahren ermordet, die Hälfte davon Kinder.
Am 10. Mai 2013 dann, hörten Jacinta, Diego, die Angehörigen des Ixil-Volkes und ganz Guatemala, wie Ríos Montt zu 50 Jahren Haft wegen Genozids und weiteren 30 Jahren wegen Verbrechen gegen die Pflichten der Menschlichkeit (ein Urteil, das als juristische Figur nur in Guatemala existiert; Anm.d.Red.), verurteilt wurde. Tage später hob das guatemaltekische Verfassungsgericht das Urteil auf, da die Anwälte des Angeklagten parallel einen juristischen Schutzprozess vorangetrieben hatten. Ríos Montt starb ohne Bestrafung während eines neuen Prozesses wenige Jahre später. Das guatemaltekische Volk jedoch hielt an dem Urteil fest. In den Vierteln und Dörfern ist der Satz „das Urteil ist gültig und in Kraft“, etwas, was man noch immer hört. Der zweite Grund der Diego Albúrez überraschte, war, dass die Zeugenaussagen trotz ihrer Überzeugungskraft nicht in Form von quantitativen Daten systematisiert wurden.
„Zeugenaussagen sind notwendig, aber die gesamte Ermittlung schien qualitativ. Wie viele Menschen wurden ermordet, wie waren sie verteilt, in welchen Regionen, zu welchen Gruppen gehörten sie? Mit diesen Daten erkennt man Zusammenhänge, die in den Gerichten konkret behandelt werden.“
Nach der internationalen Definition eines Genozids, wie auch der von Guatemala, ist nicht die Zahl der ermordeten Personen ausschlaggebend, sondern die Absicht eine ethnische, rassifizierte, nationale oder religiöse Gruppe in Teilen oder vollständig auszulöschen. Die „Operación Sofia“ war der Plan der Armee politische Dissident*innen zu ermorden. In diesem Plan ist eine Zahl entscheidend um die Absicht der Vernichtung zu begründen. In den Dokumenten, die von der National Security Agency der Vereinigten Staaten – einem Land, das Ríos Montt den Rücken stärkte – freigegeben wurden heißt es, dass „100 Prozent“ der Ixil-Bevölkerung als Verbündete der Guerilla angesehen wurden. Sie wurden somit in ihrer Gesamtheit zum „interner Feind“ erklärt. Diese Zahl erregte die Aufmerksamkeit der verstorbenen US-amerikanischen Anthropologin Diane Michelle Nelson, die als eine der Expert*innen für den Fall angesehen wird. In einem heißen Sommer, im Juli 2011, besuchte Nelson mit einigen Freund*innen den „La Verbena“ Friedhof in Guatemala-Stadt. An einer Exhumierungsstätte mit menschlichen Überresten stand auf einem Schild: „Mit deiner DNA-Probe kannst du deine im Bürgerkrieg verschwundene Familie wiederfinden. Kostenlos und vertraulich“. Zwischen 1960 und 1996 wurden 200.000 Personen im Land durch Militärregierungen ermordet, etwa 40.000 verschwanden. Das Schild war ein Angebot der Stiftung für forensische Anthropologie in Guatemala, die seit 1997 zur Identifizierung der Opfer beiträgt.
An diesem Tag auf dem Friedhof wurde Diane Nelson klar, wie die Suche nach Fragmenten von Vermissten, das Auffinden von menschlichen Überresten – eine schmerzlich vertraute Realität für die Bevölkerung von Guatemala, Mexiko, Chile und Argentinien – untrennbar mit der Erstellung von Statistiken quantitativer Daten verbunden sein sollte, wie sie in ihrer Publikation „Deshuesadero: Algebra des Genozids“ herausarbeitet. Solche Statistiken stellen wichtige Beweise in Prozessen zur Rechenschaftslegung von Völkermords dar. Genau diese Systematisierung hatte der junge Diego im Prozess gegen Ríos Montt vermisst.
Das Erstellen von Datenbanken, die zur rechtlichen Argumentation des Völkermords und letztendlich zur Identifikation der verschwundenen Personen beitragen, beschreibt Nelson in mehreren Arbeitsschritten: das Sammeln von Körperteilen einer Person, das Integrieren der Person in ein Kollektiv durch die Zusammenfassung der Fälle und das Erkennen bestimmter Teile dieses Kollektivs, um sie dann in einen Zusammenhang des Ganzen zu setzen. So wurde zum Beispiel der prozentuale Anteil der Morde durch das Militär an Indigenen Bevölkerungsgruppen gegenüber nicht-Indigenen Gruppen festgestellt. Abschließend ergibt sich die Möglichkeit mit der Zusammenfassung in den statistischen Datenbanken das ansonsten anonyme, menschliche Skelett mit Namen zu versehen, es einzigartig und individuell zu machen und so wieder zu vermenschlichen. Aber auch die statistische Zusammenfassung an sich ist von hoher politischer Wichtigkeit, mehr noch als das Invididuum selbst.
Verbrechen gegen die Pflichten der Menschlichkeit
Die Kommission zur historischen Aufklärung (Comisión de Esclarecimiento Histórico) hat mehr als 7.000 Interviews systematisiert und dadurch etwa 42.000 Mordopfer festgestellt. Statistische Hochrechnungen wurden hinzugefügt und später die Zahl von 40.000 verschwundenen Personen, wodurch die Gesamtzahl von 200.000 Ermordungen zustande kam. Das beweist das beabsichtigte Vorgehen der guatemaltekischen Armee und des Staates gegen die eigene Bevölkerung des Landes in all ihrer verheerenden Dimension im sogenannten Bürgerkrieg. 83% der Opfer waren Indigene, 93% wurden durch die Armee getötet. Insgesamt wurden zwischen 70 und 90% der Ixil-Bevölkerung ausgelöscht.
Die Anerkennung dieser Kausalität und die damit verbundene politische und historische Verantwortung suchte Diego Albúrez während des Prozesses vergeblich. Und er dachte wie wichtig sie für den Kampf gegen systematisierte Gewalt wäre.
In diesen Momenten der Anhörungen entschied der junge Demograf, sein Leben durch demografische Techniken der Nachforschung zu Menschen, die in Gewaltkontexten getötet worden waren, zu widmen. Seitdem hat er Untersuchungen zu Erinnerungsarbeit und Verlust nach dem Genozid in Guatemala und in 16 anderen Kontexten bewaffneter Konflikte veröffentlicht. Er entwickelte seine eigene Methodik, um abzuschätzen wie viele Angehörige die Opfer zurückließen und welche Auswirkungen das auch nach dem Ausgang des Krieges hat.
Aber außer Schmerz aufzuzeigen, können Zahlen und Daten auch dazu verwendet werden, kämpferische und hoffnungsvolle Narrative zu schaffen. „80% der verbleibenden Biodiversität des Planeten, wird von Indigenen Völkern geschützt und bewahrt“, sagt die Maya K’iche‘-Aktivistin und Journalistin Andrea Ixchiú oft auf Straßendemonstrationen, Vorträgen, Reden und Interviews weltweit. Die Kampagnen des Netzwerks Futuros Indígenas, von dem sie Teil ist, werden von internationalen Medien wie The Guardian, BBC und Democracy Now breit aufgegriffen.
Ohne Frage ist die Produktion dieser Zahlen Teil eines Territoriums umkämpfter Narrative, indem die Dynamiken der Produktion und der Deutungshoheit ständig neu konfiguriert wird. Im heutigen Mexiko beispielsweise erkennt der Staat mindestens 68 verschiedene Indigene Völker an. Trotzdem ist die Selbstzuschreibungskategorie bei Volkszählungen nur in Indigen oder nicht-Indigen aufgeteilt.
Gleichzeitig gibt es auch Fortschritte. Bei der Volkszählung von 2020 wurde erstmals die Kategorie „Afromexikanisch, Afroabstammend oder Schwarz“ eingeführt. Die Erhebung und Nutzung von Statistiken ist jedoch immer ambivalent. „Obwohl Zahlen und Daten vom Staat größtenteils in Form von Militärberichte erstellt werden, ist es relevant für Opfer und Überlebende des Genozids, Teil der Statistik zu sein “, sagt Nelson zu diesem Dilemma. Braucht es mehr oder weniger Daten, um Gewalt zu bekämpfen, die durch Kategorisierungen wie Geschlecht oder Ethnie motiviert ist?
Für Autor*innen wie Nelson oder auch Patrick Ball, Statistiker, der als Sachverständiger an den Prozessen teilnahm, sind nationale Statistiken ein unverzichtbares Werkzeug, um Sachverhalte systematisch zu überprüfen und Absichtlichkeit feststellen zu können. Die täglichen Statistiken des Gesundheitsministeriums von Gaza sind in Gerichtsdebatten Teil der Argumentation darüber, ob die Massenmorde an der palästinensischen Bevölkerung einen Genozid nach der international anerkannten juristischen Definition darstellen und sie waren es auch im Fall des Völkermords am jüdischen Volk.
In „Statistiken zur Population, der Holocaust und Nürnberger Prozesse“, beschreibt der Statistiker William Seltzer, wie die deutsche Volkszählung 1939 wenig zur Identifikation des jüdischen Volks beitrug, obwohl sie zu diesem Zweck konzipiert worden war. Die damals noch gültigen Vertraulichkeitspraktiken führten dazu, dass die Volkszählung mit versiegelten Umschlägen durchgeführt wurde. So wurden einige Daten wie die ethnische Zugehörigkeit von der Bevölkerung, die das Ziel des Holocausts war, nicht ausgefüllt und waren für den geplanten Zweck unbrauchbar. Nichtsdestotrotz fanden nationalsozialistische Statistiker*innen eine aktuellere und funktionsfähigere Informationsquelle: die Meldedaten der jüdischen Gemeindezentren, die von der Sicherheitspolizei übernommen wurden.
Daten für kämpferische und hoffnungsvolle Narrative
In Deutschland gibt es seit 1987 keine vollständigen Volkszählungen mehr, sondern nur Erhebungen, die ausgerechnet auf Verwaltungsunterlagen beruhen – obwohl es solche Daten waren, die von den Nazis für die Erfassung und Verfolgung jüdischer Personen genutzt wurden und eben keine Volkszählung. Das führt zu einer Vielfalt von Problemen: bei der letzten Volkszählung 2022 ergab die Statistik, dass Deutschland 1,4 Millionen weniger Menschen hat, als bei letzten Befragungen geschätzt. Das Thema stellte ein Problem dar, da die Kommunen Gelder erhielten, die teilweise auf der Zahl einer Bevölkerung basierte…die nicht existierte. Aber das ist nur eines der Probleme einer Politik ohne Volkszählungen und ohne die Erhebung von Daten zu Ethnie oder Rassifizierung, die eine Reaktion auf den tödlichen Datenmissbrauch während des Holocaust darstellt.
10 Jahre nach seiner Teilnahme an den Anhörungen in Guatemala, sitzt Diego Albúrez im Garten der Humboldt-Universität in Berlin und recherchiert für das Max-Planck-Institut. Er ist seit 5 Jahren im Land. „Als ich nach Deutschland gekommen bin, schien es mir ein Beispiel für eine Nation zu sein, die weiß wie man mit der Vergangenheit umgeht. Die Datenpolitik als Weg mit dieser Vergangenheit umzugehen, kann ich verstehen, aber sie schafft sehr viele Probleme“, sagt er. „Es gibt eine Vielfalt der Bevölkerung, auf die man keinen Zugriff hat, deswegen liegt der Fokus der Forschung immer auf den Kategorien, zu denen man den Zugriff hat. Ein klassisches Beispiel dafür ist der Fokus auf Frauen und die Ungleichheit zwischen Geschlechtern. Das ist sehr wichtig zu betrachten, aber es wird in Deutschland losgelöst von anderen Ansätzen, wie man sie in anderen Teilen der Welt kennt, analysiert, wie das Zusammendenken von Ethnizität und Rasse. Das liegt zum Teil am Fehlen von Daten, aber teilweise ist es auch das kulturelle Verständnis, das kulturelle Identität hier keine Rolle spielen würde“, erklärt Diego.
Statistiker wie Seltzer argumentieren, dass obwohl statistische Erhebungen gewisse Risiken bergen, festgestellt werden muss, dass nicht nur die Statistik, sondern alle Institutionen des deutschen Staats während der nationalsozialistischen Regierung versagt haben. Nur wenn man ganz genau erkennt, wo Risiken liegen und welche Instrumente es braucht, um sie zu bekämpfen, kann man ihren Missbrauch verhindern.
Die Dezentralisierung und Unabhängigkeit der Institutionen, die Daten sammeln und verarbeiten, von der Regierung stellt einen wichtigen Fortschritt in der Verfassung des Nationalen Instituts für Statistik und Geografie (INEGI) in Mexiko dar. Die Prozesse in denen Daten anonymisiert werden, können zufällige Fehler in Rohdaten einführen um die Lokalisierung einzelner Personen zu vermeiden, argumentiert Seltzer. So können „synthetische Daten“ hergestellt werden, die statistisch den gleichen Trend wie die Bevölkerung haben, der aber durch „fiktive“ Daten hergestellt wird.
Die letztendliche Frage sei, so Diego, ob staatliche Kategorisierungswerkzeuge wie Statistiken benutzt werden könnten, um Auswirkungen staatlicher Gewalt zu bekämpfen. Es geht auch darum, darüber nachzudenken, wie wir den Staat zu einer vertrauenswürdigen Einheit machen können. „Im Laufe der Zeit ermöglichte mir die Anthropologie die Verbindung herzustellen, dass die materiellen Bedingungen der Ungleichheit von Strukturen stammen, die nach rassistischen Prinzipien organisiert sind. Die Frage ist ob der antirassistische Kampf mit Werkzeugen geführt werden kann, die ein rassistischer Staat zur Verfügung stellt, oder nicht.“