RAÚL CASTRO IN ZWEITER REIHE

Ende einer Ära Zum ersten Mal seit 1965 führt kein Castro die Kommunistische Partei Kubas (Foto: @Doug88888 via flickr.com, CC BY-NC-SA 2.0)

Es ist vor allem ein symbolischer Einschnitt. Erstmals seit 1965 wird die Kommunistische Partei Kubas (PCC) nicht mehr von einem Castro geführt. Auf dem VIII. Parteikongress Mitte April stellte sich der bisherige Parteivorsitzende Raúl Castro nicht mehr zur Wahl. Vor Raúl, der 2006 zuerst provisorisch und dann endgültig den Posten an der Parteispitze für seinen erkrankten Bruder übernahm, hatte der 2016 verstorbene Revolutionsführer Fidel Castro selbst die Zügel in der Hand. Die PCC wurde in der heutigen Form als Einheitspartei erst sechs Jahre nach der Revolution 1959 gegründet.

Raúl Castro verkündete, er werde künftig „das Vaterland, die Revolution und den Sozialismus“ als einfacher Parteisoldat verteidigen. Auch andere Vertreter der historischen Garde schieden aus dem Amt. Zum Nachfolger an der Parteispitze wurde Staatspräsident Miguel Díaz-Canel gewählt, der 2019 ebenfalls auf Raúl Castro an die Spitze des Staates folgte.

In der öffentlichen Wahrnehmung spielte der Abschied Raúls allerdings nur eine untergeordnete Rolle. Dabei haben die Jahre Raúl Castros an der Spitze von Partei und Staat das Leben der Kubaner*innen nachhaltig verändert. Seit seiner Regierungsübernahme im Jahr 2008 leitete er einen Umbruch ein. Die Wirtschaft wurde für ausländisches Kapital geöffnet, der Staatssektor reduziert und mehr Privatinitiative zugelassen. Darüber hinaus erlaubte die Regierung den Kauf und Verkauf von Autos und Immobilien, hob Reisebeschränkungen auf und baute den Internetzugang für die Bevölkerung aus. Mit der Verabschiedung der mehr als 300 lineamientos, der Leitlinien der Wirtschafts- und Sozialpolitik, wurden auf dem VI. Parteikongress im April 2011 wichtige Reformvorhaben angeschoben, wenn auch bis heute nur zum Teil umgesetzt.

Eine nicht zu unterschätzende Leistung Raúls war es, nach dem sehr personalisierten politischen System unter Fidel Castro die kubanische Politik stärker institutionalisiert zu haben – durch Einführung einer Amtszeitbegrenzung und einer Altersgrenze für politische Ämter sowie der Schaffung des Amtes eines Premierministers. Die größte Leistung war vielleicht die Annäherung auf Augenhöhe zusammen mit Barack Obama an den Erzfeind USA, die von US-Präsident Donald Trump jedoch zurückgedreht wurde.

Für ein Päckchen Hühnerfleisch steht man zum Teil acht Stunden lang an

Raúl Castro übergibt den Parteivorsitz in einer Zeit, in der die verschärfte US-Blockade und der coronabedingte Einbruch des Tourismus Kuba in eine tiefe Wirtschafts- und Versorgungskrise gestürzt haben. Zu deren Sinnbild sind die langen Warteschlangen geworden. „Alles ist schwierig … Um ein Päckchen Hühnerfleisch zu kaufen, steht man zum Teil sieben, acht Stunden lang an“, sagt Ricardo Barragán. Zwar habe sich die Situation zuletzt etwas gebessert, aber es könne durchaus passieren, dass 200, 300 Leute vor einem Laden anstünden, so der 59-jährige Familienvater. Wie alle Protagonist*innen in diesem Text bat er darum, seinen Namen zu ändern. Vor Beginn der Pandemie verdiente er als Kunsthandwerker sein Geld; seitdem hält er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Oft aber ist er den ganzen Tag unterwegs, um etwas Reis oder Fleisch aufzutreiben.

Die Corona-Pandemie hat die bereits zuvor akute Krise auf der Insel weiter verschärft. Die Einnahmen aus dem Tourismus brachen fast vollständig weg; immer schärfere US-Sanktionen erschweren Geldüberweisungen von Auslandskubaner*innen. Die Regierung in Havanna reagierte darauf zu Jahresbeginn mit einer Währungsreform, begleitet von einer Preis- und Lohnreform. Nach 25 Jahren wurde der Konvertible Peso (CUC) abgeschafft und der Kubanische Peso (CUP) als einzige Währung im Umlauf belassen. An die Stelle des CUC ist aber längst eine andere starke Währung getreten: der US-Dollar.

Statt nach hinten, wachsen in Kuba die Schlangen nach vorn

Um dringend benötigte Devisen einzunehmen, eröffnete die Regierung im Oktober 2019 staatliche Devisenläden, in denen Haushaltsgeräte und Autoteile und seit Juni 2020 auch Lebensmittel und Hygieneartikel per Kartenzahlung gegen Devisen gekauft werden können. Mittlerweile gibt es zwei Wechselkurse gegenüber dem US-Dollar. Während offiziell 24 CUP einem US-Dollar entsprechen, die staatlichen Wechselstuben aber keine Devisen mehr ausgeben, wird auf dem Schwarzmarkt bereits das Doppelte, also 48 CUP und mehr für einen US-Dollar gezahlt.

Schlange stehen Mittlerweile sogar ein Geschäftszweig (Foto: Andreas Knobloch 2020)

In den Nicht-Devisenläden ist das Angebot ausgedünnt. Dort, wo es noch etwas zu kaufen gibt, bilden sich lange Schlangen. Die sind zum sichtbaren Ausdruck der prekären Versorgungslage geworden. Praktisch für jedes Produkt wird angestanden – oft stundenlang. „Einen Tag Hähnchen hier, morgen Speiseöl dort. Die Schlangen hören dadurch nie auf“, klagt Barragán. Viele, gerade ältere Leute können oder wollen aber nicht Schlange stehen. Hinzu kommt die Sorge vor der Corona-Ansteckungsgefahr in den Menschenansammlungen. Dies hat einen Geschäftszweig aufblühen lassen: professionelle Schlangensteher*innen, so genannte coleros, die ihren Platz in der Warteschlange gegen eine kleine Summe abtreten oder Waren zum Zwecke des Weiterverkaufs auf dem Schwarzmarkt erstehen.

Marco Jiménez hat durch diese Tätigkeit in der Pandemie ein Auskommen gefunden. Der Anfang Vierzigjährige ist in einem staatlichen Optiklabor angestellt. Vor der Währungsumstellung verdiente er 280 CUP im Monat, knapp zwölf US-Dollar. Nebenbei verkaufte er unter der Hand Brillengläser und besserte so sein Einkommen auf. „Ab Ende 2019 aber gab es keine Materialien mehr, kein Glas, und wir wurden nach Hause geschickt. Zwei Monate bekamen wir noch Gehalt, dann nichts mehr“, sagt er. Ein Freund brachte ihn auf die Idee, mit Schlangestehen Geld zu verdienen.

Seit Beginn der Corona-Pandemie werden aus Hygienegründen in die meisten Geschäften nur noch zwei bis vier Kund*innen gleichzeitig hereingelassen. Das hat die Warteschlangen potenziert. Die Reduzierung der Öffnungszeiten und die in Havanna geltende nächtliche Ausgangssperre verschärfen das Problem noch. „Ab fünf Uhr morgens darf man raus. Die Leute markieren ab dann ihren Platz in der Schlange“, sagt Jiménez. Das tun sie, indem sie nach dem Letzten (el último) in der Schlange fragen. „Statt nach hinten, wachsen in Kuba die Schlangen nach vorn. Denn mit Ladenöffnung um neun Uhr tauchen diejenigen auf, die vorher markiert haben. Es kann also passieren, dass dann nicht mehr zehn, sondern plötzlich 70 Leute vor einem stehen.“ Einige verkaufen ihren Platz in der Schlange, in der Regel für 50 CUP.

Zeitaufwendiger, aber auch lukrativer ist es, selbst einzukaufen und dann weiterzuverkaufen. „Hühnchen, Hackfleisch, Mayonnaise, Spaghetti, was auch immer es gibt“, sagt Jiménez. Beim Weiterverkauf verlange er in der Regel das Doppelte. Er schätzt, dass 80 Prozent der Leute in den Schlangen Weiterverkäufer*innen sind. Auch wenn die Zahl vielleicht etwas hoch gegriffen ist, die Dynamik ist klar: Ein Großteil der Produkte landet auf dem Schwarzmarkt.

Die Regierung versucht gegenzusteuern, hat Preisobergrenzen festgelegt und von allen, die einen Laden betreten, wird der Ausweis gescannt. Damit soll verhindert werden, dass die Leute sich jeden Tag oder mehrmals täglich irgendwo anstellen. Die Geldbußen sind hoch. Zahlreiche Produkte sind darüber hinaus normiert. So gibt es beispielsweise pro Person nur ein Päckchen Hühnerfleisch. Jiménez nimmt daher in der Regel zwei, drei Leute mit, um größere Mengen einkaufen zu können, wie er sagt. „Ansonsten lohnt es sich nicht.“ Manchmal spricht er auch vor dem Laden Wildfremde an und bietet ihnen etwas Geld, damit sie ihn begleiten und er mehr kaufen kann.

Hoffnungen setzt die Regierung auf den Corona-Impfstoff

Marco Jiménez verdient nach eigenen Angaben zwischen 750 und 1000 CUP pro Woche. Damit komme er gut über die Runden. Zumal er seit zwei Monaten vom Staat für pesquisas eingesetzt wird, also von Haustür zu Haustür geht, um Coronainfizierte aufzuspüren. Dafür erhält er derzeit wieder sein staatliches Gehalt. Das hat sich durch die Währungsunion brutto verzehnfacht. Allerdings sei auch alles teurer geworden, so Jiménez. Das britische Wirtschaftsinstitut Economist Intelligence Unit erwartet für Kuba in diesem Jahr einen Preisauftrieb zwischen 400 und 500 Prozent.

Die Versorgungskrise und Inflation in den Griff zu bekommen, wird die große Herausforderung der kubanischen Führung um den neuen Parteivorsitzenden Díaz-Canel sein. Überraschungen bei der Besetzung der Führungsgremien der Partei blieben aus. Das neue Politbüro hat statt 17 künftig 14 Mitglieder, darunter nur drei Frauen. Zu den fünf neugewählten Mitgliedern des Politbüros gehören Premierminister Manuel Marrero, der gerade erst neu ernannte Verteidigungsminister Álvaro López Miera, sowie Luis Alberto Rodríguez López-Callejas, Chef der mächtigen GAESA-Holding, die weite Teile der Wirtschaft kontrolliert. Die Vertreter der historischen Garde, José Ramón Machado Ventura, 90, und Ramiro Valdés, 88, gaben wie Raúl ihre Ämter ab. Díaz-Canel betonte in seiner Antrittsrede Kontinuität und machte klar, dass er auch in Zukunft alle strategischen Entscheidungen des Landes mit Rául Castro abstimmen werde. Ein dramatischer Kurswechsel ist also nicht zu erwarten.

Insgesamt entwickelt Kuba fünf eigene Impfstoffe

Über den Generationenwechsel an der Parteispitze hinaus, brachte der Parteitag keinerlei Neuerungen. Kuba bleibt ein Ein-Parteien-System und Staat und staatliche Unternehmen die wichtigsten Akteure in einer zentral gelenkten Wirtschaft. Dem Privatsektor wird allenfalls eine ergänzende Rolle zugestanden. Der zentrale Bericht des Parteitages betont die Bedeutung der Entwicklung der Volkswirtschaft sowie den Kampf für Frieden und ideologische Festigkeit als Hauptaufgaben der Partei; ohne über Maßnahmen ins Detail zu gehen. Aber ohnehin sollte der Bericht eher als politisches denn als konkretes Regierungsprogramm gelesen werden. Praktische Antworten auf die schwere Wirtschaftskrise muss die Regierung finden. Denn wie sagte Regierungschef Marrero Anfang April, als er über die Dringlichkeit von Reformen sprach: „Die Leute essen keine Pläne.“

Hoffnungen setzt die Regierung auf den Corona-Impfstoff. Zwei der auf Kuba entwickelten Vakzine, Soberana 02 und Abdala, haben Phase III der klinischen Studien abgeschlossen. Wie alle kubanischen Impfstoffe bestehen sie aus rekombinantem Protein, sind also sogenannte Totimpfstoffe. Das US-amerikanische Unternehmen Novavax verwendet für seinen Impfstoff dasselbe Prinzip. Die Ergebnisse seien bislang „hinsichtlich der Sicherheit des Vakzins und der Immunantwort ermutigend“, sagte die Hauptverantwortliche der Studie, Dr. María Eugenia Toledo, im kubanischen Fernsehen. Gemeldete COVID-19-Fälle unter den Freiwilligen hätten nur „milde Symptome“ gezeigt.

Insgesamt entwickelt Kuba fünf eigene Impfstoffe: neben Soberana 02 und Abdala, Soberana 01 (in Phase II), Mambisa (in Phase I) und Soberana Plus. Für ein kleines Land wie Kuba, das zudem unter der Blockade der USA leidet, eine außerordentliche Leistung.

Die kubanischen Wissenschaftler*innen gehen davon aus, im Laufe des Jahres die gesamte Bevölkerung der Insel immunisieren zu können. Im August soll ausreichend Impfstoff zur Verfügung stehen. Ab Anfang Mai werden bereits 1,7 Millionen Bewohner*innen der kubanischen Hauptstadt Havanna in Abstimmung mit der Weltgesundheitsorganisation mit Soberana 02 und Abdala immunisiert. Länder wie Argentinien oder Vietnam haben bereits Interesse an den kubanischen Impfstoffen signalisiert. Der Export der Vakzine könnte wichtige Deviseneinnahmen bringen und so ein Hoffnungsschimmer für die Überwindung der schweren Wirtschaftskrise sein.


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DER SCHULDENDIENST HAT PRIORITÄT

Omar Everleny Pérez Villanueva
ist ehemaliger Leiter des Studienzentrums der kubanischen Wirtschaft (Centro de Estudios de la Economía Cubana – CEEC) an Havannas Universität und arbeitet derzeit als freier Analyst. Der 1960 geborene Wirtschaftswissenschaftler plädiert für zügigere Reformen und sieht derzeit erste Ansätze dafür unter dem neuen Präsidenten Miguel Díaz-Canal.

Foto: Knut Henkel


Kuba macht derzeit eine Versorgungskrise durch. Nachdem im Dezember Mehl und Brot knapp wurden, fehlt es inselweit an Speiseöl und an Devisen, um die nötigen Importe zu tätigen.
Ja, und das hat die Regierung bereits Ende 2018 bei der letzten Sitzung des Parlaments angekündigt. Die Importe müssen reduziert werden, weil nicht ausreichend Devisen zur Verfügung stehen. Hintergrund ist, dass die Exporte in den letzten Jahren eingebrochen sind, sowohl beim Zucker als auch bei anderen Produkten. Dieses einkalkulierte Geld fehlt heute, und deshalb ist Kuba weder in der Lage, seine Auslandsschulden zu bedienen, noch das Importniveau aufrechtzuerhalten. Das hat die Regierung entsprechend angekündigt, und Priorität hat die Bedienung dieser Schulden.
Das ist nachvollziehbar, denn sowohl der Pariser Club als auch Russland sind der Regierung in Havanna weit entgegengekommen, haben einen Großteil der Schulden erlassen, diese umgeschuldet und klare Zahlungsziele für die Restschulden vereinbart. Die will Kuba bedienen, um auf dem internationalen Finanzmarkt nicht erneut zum Aussätzigen zu werden und nur noch Zugang zu teuren Risikokrediten zu haben. Die Bedienung der Auslandsschulden hat seitdem Priorität, auch wenn es schwerfällt.

Die Einnahmen im Tourismus steigen nicht ausreichend?
Nein, denn die Touristenzahlen steigen zwar, aber die Einnahmen stagnieren. Der wesentliche Grund dafür ist, dass die Zahl der Kreuzfahrttouristen zugenommen hat. Die bringen aber wenig Geld in die Kassen, denn sie essen in der Regel an Bord und übernachten auch dort. Folgerichtig bringen sie kaum Geld.
Hinzu kommt, dass die Zuckerrohrernte 2018 erneut eingebrochen ist und nur noch 1,1 Millionen Tonnen Zucker produziert wurden – in etwa das Doppelte war geplant. Ein weiterer Faktor ist, dass im vergangenen Jahr der Vertrag mit Brasilien, wo rund 8000 kubanische Ärzte im Einsatz waren, gekündigt wurde. Das hat zu Einbußen von 300 bis 400 Millionen US-Dollar in der Staatskasse geführt, die nicht kompensiert werden konnten. Zudem wirkt sich die politische und ökonomische Krise in Venezuela negativ aus, denn es kommt weniger Erdöl nach Kuba als früher. Derzeit sind es etwa 50.000 Barrel täglich, früher war es das Doppelte. Das große Problem in der Regierung ist, dass weniger Devisen in der Kasse sind.

 

Fast leere Regale Die Versorgungskrise macht sich bemerkbar (Foto: Knut Henkel)

 

Raúl Castro hat vor ein paar Tagen angekündigt, dass die finanzielle Situation schwierig ist und gleichzeitig bekräftigt, dass die sich abzeichnende Krise nicht vergleichbar wäre mit jener zu Beginn der 1990er Jahre. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ja, denn die Strukturen der kubanischen Wirtschaft haben sich deutlich verändert. Ein Teil der Bevölkerung verfügt heute über ganz andere finanzielle Möglichkeiten als früher.

Für die Regierung hat der Schuldendienst Priorität gegenüber der Versorgung der eigenen Bevölkerung?
Ja, gerade weil die Gläubiger auf bis zu 90 Prozent der Altschulden wie im Falle Russlands verzichtet haben; allerdings pochen sie auf verbindliche Zahlungen für die Restschulden.

Die USA verschärfen die Sanktionen. Anfang April hat die US-Regierung mehreren Schifffahrtsgesellschaften Sanktionen angekündigt, deren Tanker Rohöl aus Venezuela nach Kuba transportieren. Droht eine Energiekrise auf der Insel?
Das ist eine Entscheidung, die sich in den nächsten Monaten negativ auswirken kann. Bisher ist aber die Versorgung mit Benzin in Kuba stabil und auch bei der Stromversorgung läuft alles normal. Das kann sich aber ändern. Allerdings gibt es auch Optionen für Dreiecksgeschäfte, so dass Russland in die Bresche springen könnte, um die Versorgung Kubas aufrechtzuerhalten. Ich hoffe, dass der Schlag der USA nicht so gravierend werden wird. Zudem gibt es die Option aus Algerien oder Angola Erdöl zu beziehen. Aber natürlich ist die Entscheidung aus dem State Department eine neue Herausforderung für Kuba.

1990 hat die ökonomische Krise die ganze Bevölkerung hart getroffen – ist das 2019 anders?
Oh ja, die kubanische Gesellschaft ist heute deutlich stärker ausdifferenziert. Besitzer eines paladar (kubanisches Restaurant) oder einer Bar werden von der Krise nicht so heftig getroffen wie ein Mitarbeiter in einer staatlichen Fabrik – da gibt es immense Unterschiede. Die Zahl der Menschen, die direkt vom Staat und seinen Arbeitsplätzen abhängt, ist deutlich geringer als früher.

Für den Privatsektor könnte sich die Krise negativ bemerkbar machen, wenn es an Produkten fehlt, die für ein Restaurant, für eine Bar oder für den Klempner an der Ecke notwendig sind, oder?
Ja, das ist richtig. Engpässe bei der Lebensmittelversorgung wirken sich auch auf das Angebot in den Restaurants aus, aber die sind es gewohnt zu improvisieren.

Die USA haben den Artikel III des Helms-Burton-Gesetzes in Kraft gesetzt. Damit haben US-Bürger seit 2. Mai die Möglichkeit, gegen ausländische Unternehmen auf Entschädigung zu klagen, die Eigentum nutzen, das nach der Revolution 1959 in Kuba enteignet wurde. Wer mit solchem Eigentum gehandelt hat, soll kein US-Visum mehr bekommen. Wie beurteilen Sie das?
Das ist eine politisch motivierte Maßnahme. Wie die sich in der Realität auswirken wird, muss man abwarten, denn die Kubaner, aber auch ihre Partner sind seit Jahren auf die Implementierung dieses Artikels vorbereitet. Warum? Weil das Helms Burton Gesetz seit 1996 existiert und es viel Zeit gab, sich mit dem Artikel III zu beschäftigten. Zudem denke ich, dass die Umsetzung mit einer Klagewelle einhergeht, die erst einmal lange Jahre keine direkte Auswirkung haben wird.
Zudem gehe ich davon aus, dass große Hotelgruppen wie Melía oder Iberostar aus Spanien sich sehr genau überlegt haben, ob sie ein Hotel übernehmen oder dort bauen, wo es us-amerikanische Ansprüche gibt. Das Gros der Neubauten im Tourismussektor wurde auf Grundstücken errichtet, die aus der Perspektive des Gesetzes „unbelastet“ sind. Natürlich werden die Anwälte in den USA nun aktiv werden, aber ich denke nicht, dass es schnell gravierende Auswirkungen geben wird. Zudem werden sich die Europäer zu wehren wissen und die spanische Regierung wird ihre Tourismusunternehmen nicht hängen lassen.

Aber wird sich durch den Artikel III nicht das Investitionsklima in Kuba eintrüben?
Das ist wahrscheinlich, denn alle Unternehmen werden genau kalkulieren, ob sich der Aufwand lohnt, wenn es derart viele Dinge zu bedenken gibt, wenn man in Kuba investieren will. Insofern ist der Artikel III eine zusätzliche Hürde, aber das gilt zum Beispiel nicht für neue Investitionsstandorte wie Mariel, wo Kubas Freihandelszone mit speziellen Bedingungen lockt.

Wie entwickelt sich Mariel? Es sind doch gerade mal 17 Unternehmen, die dort bisher produzieren.
Ja, aber man kommt voran, die Freihandelszone wird wichtiger.

Welche Initiativen erwarten Sie angesichts der Versorgungsprobleme von der kubanischen Regierung?
Die Regierung hat angekündigt, dass sie reagieren wird. Großmärkte sollen nun wirklich für die Privaten eröffnet werden, Gesetze, die kleine und mittlere Unternehmen fördern sollen, sollen nun endlich kommen. Die ökonomische Situation zwingt dazu, und Präsident Miguel Díaz-Canel hat sich in den vergangenen Monaten flexibel gezeigt und angekündigt, dass er das Reformtempo erhöhen wird. Warten wir es ab.

Schon der frühere Präsident Raúl Castro äußerte, dass die anstehende Währungsreform „nicht länger hinausgeschoben“ werden könne. Wird Díaz-Canel das doppelte Währungssystem antasten.
Nein, das ist zu komplex, denn es existieren mehrere Wechselkurse im Land. Aber Aussagen, dass keine Unterschiede mehr gemacht werden zwischen staatlichen und privaten Unternehmen, sind neu und interessant.

Wichtig wäre es, die Agrarwirtschaft zu reanimieren. Wo liegen die Hürden?
Ich denke, dass das staatliche Ankaufsystem „Acopio“ ein Bremsklotz ist, aber die Bauern müssen auch in die Lage versetzt werden Agrartechnik kaufen zu können: Gerät, Werkzeug, Saatgut – all das fehlt. Die neuen Traktoren, die man im Land sieht, gehören den staatlichen Unternehmen. Doch die privaten sind es, die 95 Prozent der Zwiebeln, des Knoblauchs im Land produzieren – ihnen muss man endlich helfen. Großmärkte für Agrarinputs fehlen, und darüber haben wir schon vor neun Jahren diskutiert.

 


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PRAGMATIKER DER KONTINUITÄT

Übergang nach Plan in Kuba. Der 58-jährige Miguel Díaz-Canel löst als Staatschef Raúl Castro ab. Díaz-Canel hat alle Parteiebenen durchlaufen, war Erster Parteisekretär in Villa Clara und Holguín, später Bildungsminister. „Er wurde in eine der großen Provinzen im Osten geschickt, nach Holguín, wie wir es mit mehr als einem Dutzend jungen Leuten getan haben; von denen die meisten bis ins Politbüro gelangt sind, es aber nicht geschafft haben, ihre Vorbereitung zu materialisieren. Er war der einzige Überlebende, sage ich mal, etwas übertrieben“, so Raúl Castro nach der Wahl im Parlament über seinen Amtsnachfolger.

Beobachter beschreiben Díaz-Canel als Pragmatiker, guten Zuhörer und zugänglich. Während seiner Zeit in Villa Clara setze er sich für Schwulenrechte ein. Er gilt als Verfechter einer Modernisierung der staatlichen Medien und des Ausbaus des Internetzugangs auf der Insel._
„Er ist kein Emporkömmling oder Improvisierter. Seine berufliche Karriere umfasst fast 30 Jahre, begonnen an der Basis“, so hatte Raúl Castro Díaz-Canel präsentiert, als dieser im Jahr 2013 zum Ersten Vizepräsidenten von Staats- und Ministerrat ernannt wurde. Spätestens ab da an galt er als potenzieller Nachfolger Raúl Castros.

In seiner Heimatprovinz Villa Clara machen heute noch diverse Anekdoten die Runde, die Díaz-Canel als bodenständigen Charakter beschreiben. So erinnern sich die Leute daran, wie er in den Krisenjahren der 90er, damals schon erster Parteisekretär, als Benzin knapp war, im Gegensatz zu anderen Funktionär*innen jeden Morgen mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhr. Bei den Parlamentswahlen Mitte März dieses Jahres schlenderte Díaz-Canel Hand in Hand mit seiner Ehefrau Lis Cuesta zum Wahllokal in Santa Clara. Wie die anderen Wähler*innen stellte er sich in die Schlange und wartete 20 Minuten. Die Zeit nutzte er, um zu plaudern._

Es bestehen wenig Zweifel, dass Díaz-Canel die unter Raúl Castro begonnenen Reformen fortführt. Zumindest kündigte er das in seiner Antrittsrede vor dem Parlament an. Eine der meistgebrauchten Worte war „Kontinuität“. Es werde keinen Raum für eine politische Transition geben; einer „Restauration des Kapitalismus“ erteilte er eine Absage. Auch werde Raúl Castro „die wichtigsten Entscheidungen für die Gegenwart und Zukunft der Nation anführen“.

Erstmals seit der Revolution steht mit Díaz-­­Canel jemand an der Spitze des kubanischen Staates, der nach 1959 geboren wurde, nicht den Namen Castro trägt, nicht den Streitkräften angehört und (noch) nicht Erster Parteisekretär ist, damit aber auch weniger Macht hat als seine Vorgänger. Unter Raúl Castro wurde die Machtbalance von Staat, Partei und Militär gestärkt. Die personalistische Struktur der Macht, verkörpert durch die „charismatische Führerschaft“ des Ende November 2016 verstorbenen Fidel Castro ist abgelöst worden von einem „institutionenbasierten bürokratischen Sozialismus“, wie es der Politologe Bert Hoffmann nennt. Die von Raúl Castro betriebene Amtszeitbegrenzung auf zweimal fünf Jahre ist Ausdruck dessen.

Castro wird zwar als Präsident aufhören,_aber weiter Parteichef bleiben – für dieses Amt ist er bis 2021 gewählt – und damit ein Garant für Stabilität. Am Ein-Parteien-System und der Führungsrolle der Kommunistischen Partei wird auch unter Díaz-Canel nicht gerüttelt.


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SANFTER ÜBERGANG

Raúl Castro ist nach zehn Jahren Präsidentschaft abgetreten. Was hat er bewegt?
Als Raúl an die Macht kam, ersetzte er Fidel Castro, den unumstrittenen historischen Führer der Revolution, jemanden, der das Land ein halbes Jahrhundert lang geführt hat. Durch die schwere Erkrankung Fidels kam er 2008 zufällig an die Macht. Trotzdem musste die Machtübergabe so normal wie möglich geschehen, ohne die Regierungsfähigkeit einzuschränken. Einen ruhigen Übergang hinbekommen zu haben, ist Raúls Leistung. Nun leitet er einen neuerlichen Übergang hin zu einer neuen Führung, auf eine Art und Weise, dass sie von der Bevölkerung als normal angesehen wird, ohne Brüche. Das ist die erste Leistung.

Und sonst?
Die zweite Leistung: Während der Interimspräsidentschaft, noch im Jahr 2007, befragte Raúl die Bevölkerung: Kritik und Vorschläge dienten ihm als Basis für das, was er von da an beförderte: vor allem ökonomische Reformen sowie ein Paket von Deregulierungen, wie die Migrationsreform zur Reisefreiheit. Vor allem von 2008 bis 2010 war der Diskurs Raúls ein reformistischer: Es müsse Reformen geben. Er übte Kritik an den Problemen und nannte die Dinge beim Namen. 2010 wurden die ersten Ideen formuliert, es fand eine breite öffentliche Debatte über die Vorschläge statt. Im April 2011 dann tagte der VI. Parteikongress, der über die Vorschläge abstimmen ließ und Leitlinien aufstellte, die anschließend von der Nationalversammlung verabschiedet wurden und sich damit in ein Programm des Staates verwandelten. Die Leitlinien bilden seitdem den Rahmen für die Wirtschaftspolitik.

Mit welchen realen Auswirkungen?
Dieser Prozess zog zunächst Nutzen aus der Verbesserung der Beziehungen zwischen Kuba und den USA, die Raúl Castro durch seine (Annäherungs-)Politik erreichte. Die US-Blockade besteht zwar weiter fort, aber unter Obama wurden einige Aspekte aufgeweicht.
Zuletzt aber haben sich die globalen Rahmenbedingungen wieder verschlechtert: Trump löste Obama ab und die USA kehrten zu einer Rhetorik zurück, die an die 1960er erinnert. Das vorteilhafte Panorama verschwindet und könnte sich noch weiter verschlechtern. Hinzu kommen die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Venezuelas und der Siegeszug der Rechten in Ländern wie Brasilien oder Argentinien.

Wie wirkt sich das auf Kubas Reformkurs aus?
Das führt dazu, dass die internen Programme unter Druck geraten und die Reformen verlangsamen. Raúls Nachfolger erben also eine schwierige Situation. Raúl aber hat eine “sanfte” Transition erreicht; und ein Ambiente von Reformprogrammen hinterlassen, die die nachfolgende Regierung nicht erst anstoßen muss, sondern auf die sie aufbauen kann. Die politische Führung ist daran interessiert, den Übergang ohne Spannungen durchzuführen. Ich für meinen Teil glaube, dass alles mit beträchtlicher Ruhe über die Bühne gehen wird. Wenn Raúl Parteichef bleiben wird, besitzt er Kraft seines Amtes zudem das Instrument, um mögliche Differenzen zu schlichten.

Welche Differenzen meinen Sie?
Wenn in einer Führungsposition ein 86-Jähriger durch einen Endfünfziger ersetzt wird, hast Du bildlich gesprochen zwei Generationen dazwischen aus dem Spiel genommen. Jemand, der vielleicht Minister ist und 70 Jahre alt, denkt, dass er jetzt aufsteigen müsste und plötzlich wird ihm gesagt: Deine Karriere ist vorbei. Man kann sich ein gewisses Nichteinverstandensein bis hin zu Widerstand ausmalen.

Den Titel Ihres Buches La evolución del poder en la Revolución Cubana (Die Evolution der Macht in der Kubanischen Revolution) aufgreifend: Wie hat sich die Macht in Kuba seit dem Amtsantritt von Raúl Castro im Jahr 2008 entwickelt?
Die Idee, dass die Macht evolutioniert, definiert sich nicht nur über die Persönlichkeiten, die bestimmte Führungspositionen besetzen. Es ist die Idee, dass die Macht als Fähigkeit das Verhalten der Gesellschaft zu bestimmen, sich durch Institutionen ausdrückt, die auftauchen und sich verändern, durch soziale Akteure, die die Machtpositionen besetzen. Gleichzeitig gibt es eine ökonomische Macht. Sie hat die Fähigkeit, Macht auszuüben über und ausgehend von der Wirtschaft. Es gibt ferner die Macht, die von und über die Zivilgesellschaft ausgeübt wird, und letztlich auch eine sogenannte ideologisch-kulturelle Macht. Macht hat also verschiedene Dimen­sionen: institutionell, politisch, wirtschaftlich, zivil, ideologisch-kulturell.
Im Fall Raúl Castros, abgesehen von seinen Machtpositionen als Staatschef, Chef der Kommunistischen Partei, Chef des Ministerrates, und über die historischen Meriten als Kämpfer der Revolution hinaus, besitzt er ebenso wie Fidel – und das erscheint mir sehr wichtig – die Fähigkeit, die Differenzen im Schoß der politischen Klasse zu schlichten._

Ihre Hypothese ist: Die Konsolidierung und Reproduktion der Revolution über die Zeit war möglich wegen des außergewöhnlichen Charakters der politischen Macht und der Hegemonie der sozialen Macht. Nun wird vor allem die soziale Macht herausgefordert durch Forderungen nach wirtschaftlichem Aufschwung und auf dem kulturellen Feld durch die globale Unterhaltungsindustrie, die auch in Kuba an Boden gewinnt, oder?
Ja. Aber die Ressourcen der Macht der Revolution sind weiterhin in Takt. Es existiert immer noch kein interner Herausforderer für diese Macht. Die Hauptherausforderung, der sich diese Macht gegenübersieht, ist es zu erreichen, den mehrheitlichen Konsens in der Bevölkerung beizubehalten. Im Verlauf des vergangenen halben Jahrhunderts hat dieser Konsens, der einmal bei 97 Prozent lag, augenscheinlich abge­nommen, einige Studien gaben ihm zuletzt aber noch 70 Prozent. Es ist weiterhin ein enormer mehrheitlicher Konsens. Ich glaube, dieser mehrheitliche Konsens wird fortbestehen, hat aber zwei fundamentale Bedrohungen: die ökonomische Krise seit 25 Jahren. Auch wenn wir sie überlebt haben, wurde der Lebensstandard nicht wieder hergestellt. Die Wirtschaft muss wachsen, um die Situation der Bevölkerung zu verbessern: Basiskonsum, Gesundheit, Bildung sind gesichert, aber es gibt andere Forderungen und Erwartungen der Bevölkerung, die nicht erfüllt werden können, ohne dass sich die Wirtschaft erholt. Deshalb ist das Thema Wirtschaft politisch entscheidend.

Auch weil der Wohlstand nicht mehr von Generation zu Generation wächst, oder?
Ja. Man kann sagen, die Revolution befindet sich in der siebten Generation. Die ersten drei lebten jeweils besser als ihre Eltern, die vierte gleich wie ihre Eltern und die fünfte und sechste schlechter als ihre Eltern, und die siebte läuft Gefahr, nicht viel besser als ihre Eltern zu leben. Diese Generationen sehen ihre Erwartungen frustriert. Die Tatsache, dass ein Dritte-Welt-Land jedes Kind in die Schule schickt, erscheint ihnen als etwas Natürliches; der Aufwand dafür aber ist enorm. Kuba gibt fast 70 Prozent seines Staatshaushalts für Sozialleistungen aus. Die jüngsten drei Generationen sind mit den sozialen Errungenschaften wie Bildung und Gesundheit als Selbstverständlichkeit aufgewachsen. Sie wollen mehr Konsum, Internet, Reisen – legitime Forderungen. Das Problem liegt bei der Revolution, diese Forderungen zu erfüllen.

Die Anspruchshaltung der Bevölkerung wird zum Problem für die Revolution?
Die Bevölkerung hat ihre Fähigkeit, Opfer zu bringen, wiederholt bewiesen. Die neuen Generationen stehen also vor diesem ökonomischen Problem, das gleichzeitig ein politisches Problem ist. Sie fühlen sich nicht ausreichend repräsentiert. Die politische Führung ist überaltert; die Mittzwanziger bis Mittdreißiger schauen nach oben und wer da an der Macht ist, sind ihre Großeltern. Sie fragen sich also: Was habe ich mit diesem Haus zu tun? Und was ist die Antwort? Entweder steige ich im Haus auf oder ich verlasse das Haus. Wir erleben beide Reaktionen. Es erscheint jedes Mal schwieriger, alle Generationen in das Projekt der Revolution zu integrieren. Man kann sagen, dieser mehrheitliche Konsens im Land nimmt mit jeder Generation ab.

Liegt darin nicht der Keim für die Formierung einer Oppositionsbewegung?
Theoretisch vielleicht, das Kuriose aber ist: Diese Abnahme des Konsens verwandelt sich nicht in politische Opposition, sondern in politische Anomie oder anders gesagt: Was geht mich das Ganze an? Es gibt also weiterhin den mehrheitlichen Konsens, aber der passive Teil dieses Konsens wird proportional immer größer. Zur Lösung der Probleme brauchst du aber nicht nur einen Mehrheitskonsens, sondern einen aktiven Mehrheitskonsens, neue Formen der Beteiligung. Die zu schaffen, ist neben dem Thema Wirtschaft entscheidend.

 


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HISTORISCHE ZÄSUR

Der Übergang in Kuba nimmt seinen sozialistischen Lauf. Ende Februar dekorierte Kubas Präsident Raúl Castro in einem Festakt drei zentrale Figuren der Generation der „historischen Führer“ der kubanischen Revolution mit der Medaille der Helden der Arbeit:_José Ramón Machado Ventura, Ramiro Valdés Menéndez und Guillermo García Frías. Machado, 87 Jahre alt, ist derzeit Vizepräsident und Zweiter Sekretär der Kommunistischen Partei Kubas (PCC). Wie Machado ist der 85-jährige Valdés Vizepräsident und Mitglied des Politbüros der PCC. Lange Zeit war er für die Geheimdienste und die Leitung des Innenministeriums verantwortlich. García Frías, 90, ist ebenfalls Mitglied des Zentralkomitees und des Staatsrates.

Foto: Flickr.com, Thiery Ehrmann (CC BY 2.0)

Nach kubanischen Gepflogenheiten ist diese Art von Auszeichnung gemeinhin mit dem Ruhestand und Abtritt aus dem öffentlichen Leben des Geehrten verbunden. Sofort schossen Spekulationen ins Kraut, die drei historischen Führer könnten zusammen mit Raúl Castro abdanken. Dieser wird nach zwei Amtszeiten als Präsident am 19. April sein Amt abgeben.

Nicht zuletzt deshalb rief die kubanische Parlamentswahl vom 11. März dieses Jahres besonderes Interesse hervor. Denn die neue National­versammlung bestimmt am 19. April in seiner konstituierenden Sitzung den neuen Staatsrat und damit auch Raúl Castros Nachfolger im Präsidentenamt.

Die 605 aufgestellten Kandidat*innen für die Asamblea Nacional del Poder Popular, wie das Parlament auf Kuba heißt, erhielten allesamt mehr als 50 Prozent der Stimmen und wurden damit gewählt, wie die kubanische Wahlkommission (CEN) mitteilte. Die Wahlbeteiligung war mit knapp 85 Prozent gewohnt hoch, aber niedriger als in vorangegangenen Jahren. Bei den Wahlen zwischen 1976 und 2013 hatte die Beteiligung bei jeweils mehr als 95 Prozent gelegen. Dieses Mal waren 5,6 Prozent der abgegebenen Stimmen ungültig oder leere Stimmzettel. Zusammen mit den Nichtwähler*innen machen diese mehr als 17 Prozent aus – was die These von der „einhelligen Unterstützung“ widerlegt.

Die Präsidentin der Wahlkommission, Alina Balseiro, sprach gegenüber der Presse von dem Wahlergebnis als „Erfolg des Volkes“ und „Bestätigung des kubanischen Wahlsystems“. Weitergehende Interpretationen, vor allem zu Nichtwähler*innen, wollte sie nicht anstellen.
In Kuba finden Parlamentswahlen alle fünf Jahre statt, außerdem alle zweieinhalb Jahre Wahlen auf Kommunalebene. Das Wahlsystem zeichnet sich dadurch aus, dass es weder Wahlkampf noch Wahlfinanzierung zulässt. Auch können die Kandidat*innen kein eigenes Programm vorlegen. Genauso werden im Wahlprozess keine Regierungsprogramme thematisiert, weder auf lokaler, Provinz- oder nationaler Ebene.

Das neue Parlament konstituiert sich nicht zufällig am 19. April, an dem Tag jährt sich zum 57. Mal der Sieg gegen die US-Invasion in der Schweinebucht, „die erste Niederlage des US-Imperialismus in Lateinamerika“. Die 605 Abgeordneten wählen dann aus ihren Reihen den 31-köpfigen Staatsrat, das höchste Staatsorgan, das heißt auch einen neuen Präsidenten. Jeder Abgeordnete darf der Nationalen Kandidatenkommission Mitglieder für den Staatsrat vorschlagen, dieser wiederum stellt daraufhin die Kandidat*innen für die Präsidentschaft zur Abstimmung.

Nach zehn Jahren Raúl Castro fällt die Bilanz gemischt aus.

Wer genau das Präsidentenamt übernehmen wird, ist noch unklar. Alles deutet auf den derzeitigen Vizepräsidenten Miguel Díaz-Canel hin. Der 57-Jährige gilt als Parteisoldat und Vertrauter Raúl Castros. Beobachter beschreiben ihn als Pragmatiker und Verfechter einer Modernisierung der staatlichen Medien und des Ausbaus des Internetzugangs auf der Insel. Auf jeden Fall wird erstmals seit 1976 der kubanische Staatschef jemand sein, der nach der Revolution geboren wurde und nicht den Namen Castro trägt. Er wird aber auch weniger Macht haben als seine Vorgänger.

Denn unter Raúl Castro wurde die Machtbalance von Staat, Partei und Militär gestärkt. Die personalistische Struktur der Macht, verkörpert durch die „charismatische Führerschaft“ des Ende November 2016 verstorbenen Comandante en Jefe, Fidel Castro, ist abgelöst worden von einem „institutionenbasierten bürokratischen Sozialismus“, wie es der Politologe Bert Hoffmann nennt. Die von Raúl Castro betriebene Amtszeitbegrenzung auf zweimal fünf Jahre und die Einführung einer Altersgrenze von 70 Jahren für Führungskader sind Ausdruck dessen.

Castro wird Ende April zwar als Präsident aufhören, aller Voraussicht aber weiter Parteichef bleiben. Für dieses Amt ist er bis 2021 gewählt. Am Ein-Parteien-System und der Führungsrolle der Kommunistischen Partei wird nicht gerüttelt. Trotzdem: Erstmals seit dem Triumph der Revolution werden sich Parteivorsitz und Präsidentenamt nicht mehr in einer Hand befinden. Ob diese Gewaltenteilung von Dauer ist, wird sich zeigen.

Die historische Generation der Revolution hinterlässt den Nachgeborenen ein Land, das vor gewaltigen Herausforderungen steht. Nach zehn Jahren Raúl Castro an der Spitze fällt die Bilanz gemischt aus. Zwar hat der Annäherungsprozess mit den USA zusammen mit den angestoßenen Veränderungen, wie mehr Autonomie für Staatsunternehmen, der Ausweitung der „Arbeit auf eigene Rechnung“, dem Gesetz für ausländische Investitionen und einigem mehr, für eine neue wirtschaftliche Dynamik gesorgt. Von den vor sieben Jahren beschlossenen Reformvorhaben wurde aber bisher nur ein Bruchteil umgesetzt. Und die globalen Rahmenbedingungen sind angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten von Kubas engstem Verbündeten Venezuela und der Kalte-Krieg-Rhetorik von US-Präsident Donald Trump nicht günstiger geworden.Auch die Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade der USA ist weiterhin intakt und bleibt ein großes Hindernis.

Junge, gut ausgebildete Leute verlassen das Land oder träumen von Auswanderung

Dies hat bei Kubas Regierung zu einer „Fasten-your-seat-belts“-Reaktion geführt. Weitere Schritte von Öffnung und Reform wurden zunächst hinten angestellt. So wurde die Dezentralisierung staatlicher Betriebe verlangsamt,_der Genehmigungsprozess von Auslandsinvestitionen verläuft nur schleppend; ebenso ist die Öffnung des Privatsektors ins Stocken geraten. Die lange angekündigte Währungsunion der zwei kubanischen Pesos lässt weiter auf sich warten, genauso wie die angekündigte Verfassungsreform und ein Rechtsrahmen für kleine und mittlere private Unternehmen.

Weite Teile der Bevölkerung bemerken auch mehr als sieben Jahre nach Beginn der „Aktualisierung des sozialistischen Modells“ kaum etwas von einer Verbesserung ihrer Lebens­umstände. Sie kämpfen weiter mit geringen staatlichen Einkommen und hohen Lebensmittel- und Konsumgüterpreisen. Vor allem junge, gut ausgebildete Leute verlassen das Land oder träumen von Auswanderung. Das verstärkt noch den demographischen Druck. Denn ein Effekt des guten kubanischen Gesundheits- und Sozialsystems ist, dass die Gesellschaft altert und die Kosten für den Erhalt des Sozialsystems steigen.

Gleichzeitig steht die künftige kubanische Regierung vor der Aufgabe, die gesellschaftlichen Fliehkräfte im Zaum zu halten und die Schere zwischen Arm und Reich nicht zu weit aufgehen zu lassen. Die sozialen Errungenschaften der Revolution, wie allgemeine kostenlose Bildung und Gesundheit, müssen dafür erhalten und verbessert werden. Bei einer Korrosion oder gar Wegbrechen des Sozialsystems würde wohl auch irgendwann der Herrschaftsanspruch der Kom­mu­nistischen Partei in Frage gestellt.

Nicht mit derselben historisch gewachsenen Legitimation ausgestattet wie die „alte Garde“, wird die Stabilität des zukünftigen Präsidenten und des Landes von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängen. Wichtigste Aufgabe wird sein, die durchschnittlichen Einkommen und damit den materiellen Wohlstand der Bevölkerung zu steigern. Auch mit staatlichen Gehältern muss es möglich sein, zumindest die Grundbedürfnisse zu decken. Das ist heute vielfach nicht der Fall. Die meisten Kubaner*innen interessieren heute eher die schlechte Transportlage oder der Preis für Tomaten. Pressefreiheit oder Mehrparteiensystem können warten, bessere wirtschaftliche Möglichkeiten und Anzeichen wachsenden Wohlstands dagegen nicht.


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GEPLATZTE TRÄUME

Pavel Rodríguez’* Traum platzte im Januar. Vorerst. Wie so viele Kubaner*innen hatte er seinen Besitz verkauft, um mit dem Geld in die USA auszureisen, wo sein Bruder bereits auf ihn wartete. Nach dem 1966 verabschiedeten Cuban Adjustment Act gewährte Washington allen kubanischen Migranten umstandslos politisches Asyl und eine schnelle Einbürgerung. Im Jahr 1995 war dieses Gesetz durch die sogenannte „Wet foot, dry foot“-Bestimmung eingeschränkt worden. Demnach kamen nur noch Kubaner*innen, die es auf eigene Faust auf US-Boden schafften, in den Genuß dieser Regelung und erhielten dauerhaftes Bleiberecht. Diejenigen, die von der US-Küstenwache abgefangen wurden, mussten nach Kuba zurückkehren. Diese Einwanderungspolitik sorgte dafür, dass Jahr für Jahr einige tausend Kubaner*innen ihr Hab und Gut veräußerten und auf oftmals kaum seetüchtigen Vehikeln den gefährlichen Weg über die Meerenge zwischen Kuba und Florida wagten. Jahrzehntelang sorgten kubanische Bootsflüchtlinge, die auf Flößen und Autoreifen versuchten, die Südküste Floridas zu erreichen, für dramatische Bilder.

Dies hat sich deutlich geändert. „April war der erste Monat seit sieben Jahren, in dem wir keine kubanischen Migranten hatten, nicht einen“, so der Kommandeur der Küstenwache, Paul F. Zukunft, gegenüber der US-Tageszeitung Wall Street Journal. „An einem gewöhnlichen Tag in dieser Zeit des Jahres vor einem Jahr hätten wir zwischen 50 und 150 kubanische Migranten aufgegriffen.“ Insgesamt waren im vergangenen Jahr 5.396 kubanische Migrant*innen von der US-Küstenwache auf hoher See festgesetzt worden.

Der drastische Wandel hat vor allem mit einer der letzten Entscheidungen Barack Obamas als US-Präsident zu tun. Am 12. Januar, wenige Tage vor der Machtübergabe an seinen Nachfolger Donald Trump, hob Obama die Vorzugsbehandlung kubanischer Einwanderer auf, indem er die seit 1995 geltende Regelung für beendet erklärte. Ebenfalls hob Obama das 2006 vom damaligen US-Präsidenten George W. Bush erlassene „Cuban Medical Professional Parole Program“ (CMPP) auf, wonach „desertierte“ kubanische Ärzt*innen und Mediziner*innen umstandslos in die USA einreisen durften und Aufenthaltsgenehmigungen erhielten. „Kubaner, die illegal in die Vereinigten Staaten kommen und die kein Anrecht auf humanitären Beistand haben, werden von nun an zurückgeschickt“, bekräftigte Obama.

Die kubanische Regierung hatte wiederholt die Beendigung dieser speziell für Kubaner*innen geltende US-Einwanderungspolitik gefordert. „Die Politisierung der Einwanderungspolitik der Vereinigten Staaten gegenüber Kuba muss sich ändern; sie muss aufhören, eine illegale, unsichere und ungeordnete Auswanderung anzufachen“, so ein Mantra der kubanischen Regierung.

Und sie scheint tatsächlich Recht zu behalten. „Es ist eindeutig, dass die Aufhebung der ‘Wet foot, dry foot’-Politik dafür verantwortlich ist“, stellt auch Paul F. Zukunft den kausalen Zusammenhang zum zahlenmäßigen Rückgang der Bootsflüchtlinge her.

Ein ähnliche Entwicklung lässt sich auch an der Grenze zwischen den USA und Mexiko ablesen. Im April wurden nur 191 Kubaner*innen registriert, deren Einreise von den US-Grenzbehörden als „unzulässig“ eingestuft wurden. Im Februar und März waren die Zahlen sogar noch niedriger.
Mit Beginn der Annäherung zwischen den USA und Kuba im Dezember 2014 war in Erwartung eines Endes der US-amerikanischen Vorzugsbehandlung die Zahl ausreisender Kubaner*innen sprunghaft angestiegen. Die Zahlen kubanischer Einwander*innen in die USA wuchsen von 23.740 im Jahr 2014 auf 54.000 im Jahr 2016. Der Großteil wählte die Route durch Zentralamerika beziehungsweise Mexiko.

Das wiederum sorgte Ende 2015 für eine Migrationskrise in der Region. Sichtbar wurde die Krise, als Nicaragua Mitte November 2015 seine Grenze zu Costa Rica für Kubaner*innen schloss und Tausende von ihnen plötzlich in dem zentralamerikanischen Land festsaßen (siehe LN 500). Nach wochenlangen Verhandlungen einigten sich die betroffenen Staaten auf einen Plan zur Bewältigung der Migrationskrise. Die kubanischen Migrant*innen wurden per Luftbrücken von Costa Rica und Panama nach El Salvador und Mexiko ausgeflogen, von wo sie weiter in die USA reisten. Gleichzeitig führte Ecuador ab 1. Dezember 2015 die Visapflicht für Kubaner*innen wieder ein. Bis dahin war das südamerikanische Land Ausgangspunkt der kubanischen Odyssee durch Zentralamerika. Rund 8.000-10.000 US-Dollar wurden für den Weg von Havanna über Ecuadors Hauptstadt Quito bis in die USA fällig. Von dem Geld wurden vor allem Schleuser*innengruppen bezahlt und Grenzbeamt*innen bestochen.

Kern der Migrationskrise war allerdings die unterschiedliche Behandlung kubanischer Migrant*innen gegenüber denen anderer Nationen durch die US-Einwanderungspolitik.

Kern der Migrationskrise war allerdings die unterschiedliche Behandlung kubanischer Migrant*innen gegenüber denen anderer Nationen durch die US-Einwanderungspolitik. Erstere wurden als politische Flüchtlinge eingestuft und erhielten großzügige Aufenthaltsgenehmigungen, während Migrant*innen aus den zentralamerikanischen Staaten nicht selten abgeschoben oder in die Illegalität gedrängt werden. Dabei unterscheiden sich die Auswanderungsmotive der Kubaner*innen – in der Regel wirtschaftlicher Natur – kaum von denen der zentralamerikanischen Migrant*innen.

Von der Entscheidung Obamas wiederum wurden Hunderte Kubaner*innen, die sich bereits „auf dem Weg“ Richtung USA befanden, überrascht und saßen plötzlich in Panama, Kolumbien, Costa Rica oder Mexiko fest.
Ein Großteil kubanischer Ausreisewilliger dürfte künftig bemüht sein, auf regulärem Wege in die USA zu gelangen. Mindestens 20.000 Kubaner*innen erhalten jedes Jahr dauerhafte Einreisegenehmigungen in die Vereinigten Staaten aufgrund von Familienzusammenführung oder wegen anderer Gründe. Auf diese Zahl hatten sich die Regierungen in Washington und Havanna während der Ausreisewelle 1994 geeinigt. Hinzu kommen jährlich rund 30.000 Besuchs- und Geschäftsvisa für Kubaner*innen. Oft handelt es sich dabei um Fünf-Jahres-Visa, die mehrmalige Ein- und Ausreisen erlauben. Anfang 2013 hatte die Regierung Raúl Castro ihrerseits eine Migrationsreform beschlossen. Seitdem benötigen Kubaner*innen keine Ausreisegenehmigung (carta blanca) mehr. Auch dürfen sie nun zwei Jahre außer Landes bleiben (vorher elf Monate), ohne bestimmte Rechte auf Kuba, zum Beispiel ihren Immobilienbesitz, zu verlieren.

Auch Pavel Rodríguez hofft, dass sich sein Traum von den USA doch noch erfüllt. Immerhin hat er ein Visum für Mexiko erhalten. Vor Obamas Entscheidung wäre dies wohl das Sprungbrett gewesen, über die Grenze zu gelangen, in den USA „Asyl“ zu beantragen und die Vorzüge der „Wet foot, dry foot“-Regelung in Anspruch zu nehmen. Stattdessen hat er sich nun eine mexikanische Aufenthalthaltsgenehmigung „gekauft“. „Mit Geld lässt sich in Mexiko alles regeln“, sagt Rodríguez mit einem breiten Grinsen. Damit kann er nun immerhin zwischen Mexiko und Kuba hin- und herreisen. „In einigen Monaten beantrage ich dann ein Besuchsvisum für die USA. Ich will gar nicht dort bleiben. Die Leute denken, das da draußen wäre das Paradies; aber mir gefällt Kuba. Doch ich will meine Famile sehen – und ab und zu mal eine Luftveränderung tut auch gut.“

* Name geändert


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