VERDREHT

© POETASTROS

„Zu viel Denken ist schlecht“ heißt es zu Beginn von EL TANGO DEL VIUDO. Und anfangs scheint viel Denken auch nicht nötig zu sein, um der Handlung des Films zu folgen: Professor Iriarte Gossens ist Witwer, seine Frau María hat sich umgebracht, nun lebt er zusammen mit seinem Neffen Joaquín einen Alltag zwischen der Herstellung nicht weiter erläuterter Flüssigkeiten, Wäschewaschen und Buchlektüre im Santiago der 1960er Jahre. Aufnahmen von alltäglichen Straßenszenen sind selten, die Kamera konzentriert sich vielmehr auf Details und Innenräume. Es wird schnell klar: Im Kopf des Professors ist nichts mehr normal. „Ich will nicht“, raunt er jedes Mal vor sich hin, wenn ihm seine verstorbene Frau erscheint – kichernd unter dem Mittagstisch, in Form einer über dem Boden schwebenden Perücke oder als ein Lachen unter dem Bett. Als seine fiebrigen Zustände immer schlimmer werden, macht sich ein befreundetes Ehepaar Sorgen. Es brauche eine neue Frau für den Professor, meint er; „wir Frauen sind keine Schlaftabletten“, meint sie und knipst das Licht aus.

In diesem Setting entwickelt sich die Handlung des Filmprojektes, das der chilenische Regisseur Raúl Ruiz unter dem Titel des gleichnamigen Neruda-Gedichts entworfen hat und dessen eigene Geschichte schon spannend genug ist: 1967 auf 16mm-Film gedreht und später auf 35mm kopiert, gerät EL TANGO DEL VIUDO wegen fehlender finanzieller Mittel für die Tonproduktion in Vergessenheit. Raúl Ruiz selbst geht nach dem Putsch 1973 ins französische Exil und wird mit Genealogien eines Verbrechens und der Proust-Verfilmung Die wiedergefundene Zeit international bekannt. Nie mehr wird er Gelegenheit oder Muße finden, seinen ersten Langfilm zu beenden.

Als Ruiz 2011 verstirbt, beschäftigt sich die Filmemacherin Valeria Sarmiento – seine Witwe – mehr und mehr mit seinem Frühwerk. Fünf Jahre später finden sie und ihr Team die Filmrollen von EL TANGO DEL VIUDO im Keller eines Theaters in Santiago. Sie produziert eine komplett neue Tonspur, lässt bekannte chilenischen Schauspieler*innen, darunter Sergio Hernández (Una mujer fantástica), dafür einsprechen und macht Jorge Arriagada für die Musik zuständig – eine exzellente Wahl, wie von Anfang an auffällt.

Die aufwendige Postproduktion, die 53 Jahre nach dem Dreh für das Berlinale Forum beendet wurde, schließt mit einem Zusatz für den Titel: EL TANGO DEL VIUDO y su espejo deformante – „Der Tango des Witwers und sein verformender Spiegel“. Sehr treffend, ist doch das Produkt der Arbeit von Ruiz und Sarmiento ein Spiel mit der Zeit, welches die Grenzen zwischen Wahrheit und Wahn allmählich verlaufen lässt. Weite Teile der Handlung werden verzerrt und lassen sich auf einmal in Frage stellen – die Umstände des Todes von Professor Iriartes Ehefrau María inbegriffen. Die Geschichte dreht sich um sich selbst, kehrt sich um, verwirrt und beeindruckt zugleich. Schwer zu sagen, was der verstorbene Raúl Ruiz von seinem nun vollendeten Film gehalten hätte – Zuschauer*innen lässt der Streifen jedenfalls begeistert, wenn auch mit dem Gefühl, nicht ganz durchgeblickt zu haben, zurück. Doch, wie uns der Film lehrt: Zu viel Denken ist schlecht. Nach einer Stunde guter Unterhaltung und Verblüffung darüber, welche Geschichten Film schreiben kann, bleibt EL TANGO DEL VIUDO y su espejo deformante sicher als etwas ganz Besonderes in Erinnerung.

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