DAS GEDICHT HAT DER WELT DEN RÜCKEN GEKEHRT

In Ihrer Dankesrede anlässlich der Verleihung des Iberoamerikanischen Lyrik-Preises „Pablo Neruda“ zitierten Sie das Gedicht Finsternis des französischen Surrealisten Robert Desnos. Weswegen trafen Sie diese Wahl?

Dieses Gedicht hat mich für immer geprägt. Ich las es zum ersten Mal mit 17 Jahren. Desnos hatte nur wenige Stunden das KZ Theresienstadt überlebt (Desnos starb wenige Wochen nach der Befreiung des KZ an Typhus; Anm. d. Red.), er reichte eine Korrektur zu einem seines 30 Jahre zuvor geschriebenen Liebesgedichte ein, das einer für ihn unerreichbaren Person gewidmet war. Dieser Akt unendlicher Zärtlichkeit, zu korrigieren und lediglich ein paar wenige Sätze anzufassen, ist etwas Unbegreifliches im Angesichts des Erlebten. Das wahrhaft Makabere daran ist, dass dieselbe Menschheit, die Theresienstadt und die Vernichtungsöfen schuf, die Atombomben auf Nagasaki und Hiroshima schmiss, auch fähig sein kann, einen Satz mit so viel Feingefühl, unerreichbarer Sehnsucht und Liebe zu erschaffen wie „Ich hab‘ so viel von dir geträumt, dass Du deine Wirklichkeit verlierst“. Desnos hat ein Liebesgedicht an eine erträumte Existenz geschrieben, an jemanden, der niemals da gewesen ist, aber dessen bloße Idee das Grauen des Genozids für nur einen Augenblick in einen Sonnenstrahl verwandelt.

Welche Bedeutung hat die Poesie für die Menschheit heute?
Falls die Poesie verschwindet, verschwindet die Menschheit in den folgenden fünf Minuten. Sie kann die Welt nicht verändern, aber ohne Dichtung ist überhaupt kein Wandel möglich, weil sie die Grundlage des Menschlichen bildet. Das Menschliche beginnt möglicherweise mit der Entdeckung des Todes als unweigerlichem Schicksal – eine Entdeckung, die unmittelbar nach einer Antwort verlangt. Die erste Antwort ist das Gedicht als Akt der Hoffnung, etwas, das bis ins Tiefste in unsere Idee eingeschrieben ist. Wenn die Dichtkunst verschwindet, gibt es keinen Traum. Ohne Träume verliert die Menschheit ihren Lebenswillen und überlässt sich selbst dem Tod.

Welche Art von Verbindung ziehen Sie zwischen Gewalt, Kunst und Menschlichkeit?
Die Poesie ist absolut ungeeignet, um eine Diktatur oder ein Massaker zu stoppen. Sie hat aber viele Formen angenommen. Das Gedicht als gebräuchliche Form der Lyrik begann mit der Ilias (griech. Epos über den trojanischen Krieg; Anm. d. R.), und ringt nun mit ihrem eignen Tode. Wenn ein Außerirdischer jetzt auf die Erde käme und Gedichte das Einzige wäre, was er aus den letzten fünfzig Jahren von der Erde hätte, würde er zu der Schlussfolgerung gelangen, dass – abgesehen von den Problemen der Einsamkeit und existenzieller Angst – überhaupt nichts passiert ist. Das Gedicht hat der Welt den Rücken gekehrt und weiß nichts mehr über sie zu berichten.

Sie haben an den Studierendendemonstrationen der 1960er Jahre und an den massiven Protesten gegen die Militärdiktatur bis zur Volksabstimmung von 1988 mitgewirkt. In den letzten Jahren sind viele chilenische Staatsbürger*innen für eine Bildungsreform auf die Straße gegangen, und jetzt marschieren sie für eine Rentenreform. In welchem Licht sehen Sie die sozialen Bewegungen in Chile?
Ich habe an allen Studierendenprotesten Ende der 1960er Jahre mitgemacht, im Kampf für Hochschulreformen. Wir haben einen Streik organisiert, der der längste in der chilenischen Geschichte werden sollte. Ausgerufen hatte ihn der Studierendenverband der Universität Federico Santa María, angefangen 1967 und beendet 1968. Der ging über acht Monate. Wir haben um mehr Selbstverwaltung gestritten, für die Beteiligung von Universitätsangehörigen an den Wahlen der Universitätsleitungen. Danach kam der Putsch und den Rest kennt man ja. Die einzige Antwort darauf, die man während der Diktatur finden konnte, war der große Kampf um Bedeutungen. Das Wort „Chile“, das Wort „patría“, waren dies Worte, die durch den Militarismus geprägt werden sollten? Oder waren das Worte, die von Pablo Neruda, Violeta Parra, Víctor Jara und Gabriela Mistral mit Inhalt gefüllt worden sind? In einer Diktatur ist der große Kampf der Künstler, Dichter und Schriftsteller der Kampf um den Erhalt von Bedeutungen. Nicht zuzulassen, dass diese Bedeutungen von denjenigen, die siegen, angeeignet werden. Denn dann gibt es keine Chance mehr, die Niederlage abzuwenden. Ich habe mir vorgestellt, Gedichte in den Himmel zu schreiben, um nicht verrückt zu werden, um nicht aus Angst und Verzweiflung zu sterben.

Und wie empfanden Sie die Zeit nach der Diktatur?
Dann gab es eine Periode, in der die Freude über das Ende der Diktatur, sich in den Versuch, das Erlebte zu vergessen, umwandelte. Wir wurden Zeugen der beschämendsten Ereignisse unserer Geschichte, wie beispielsweise die Ernennung Pinochets zum Senator auf Lebenszeit. Im Jahr 2006 begannen die neuen Studierendenbewegungen für vergleichbare Veränderungen zu kämpfen, die meine Generation damals forderte. Doch gleichzeitig sind beide Bewegungen komplett verschieden. Wir kämpften für die Anderen, aber der Höhepunkt dieses Kampfes kulminierte in seiner größten Niederlage: der Tod Salvador Allendes. Die heutige Studierendenbewegung ist selbstbezogener, es gibt kein soziales Ideal, sie haben Forderungen, jedoch fehlt es ihnen an Träumen. Ihre Märsche sind spaßig bis karnevalesk, es mangelt ihnen aber an Flexibilität. In unseren Reihen gab es große Dichter, die uns eine Stimme gaben. Die jungen Studierenden haben heute ebenfalls große Dichter in ihren Reihen, jedoch mangelt es ihnen noch an einer Stimme.

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