In Chile schien in den letzten Jahren vieles richtig gelaufen zu sein. Soziale Bewegungen und linke Parteien schafften es, ein soziales Begehren in ein politisches Projekt zu kanalisieren: Die Verfassung versprach, die progressivste der Welt zu werden. Sie hätte einen fortschrittlichen Sozialstaat mit einer deutlich stärkeren Rolle bei der Daseinsfürsorge in Gesundheit, Bildung oder Rente eingeführt, der Gleichberechtigung von FLINTA* sowie dem Schutz der Umwelt einen hohen Stellenwert eingeräumt und den indigenen Gruppen mehr Anerkennung und Autonomie gewährt. Doch vergangenen Sonntag stimmten 62 Prozent der Wähler*innen, knapp 7,9 Millionen Chilen*innen, gegen sie. Der Traum vom progressiven Chile scheint zerplatzt. Wie konnte das nur passieren?
Im Oktober 2020 hatten sich (bei einer niedrigeren Wahlbeteiligung) noch 78 Prozent der Wähler*innen für eine neue Verfassung ausgesprochen. Doch das Chile von 2022 stellte sich als komplexer heraus als gedacht. Seit dem Wahlsieg des ultrarechten Kandidaten Kast in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl im November 2021 war ein linkes Verfassungsprojekt (wieder) ein Risikoprojekt. Eine von langer Hand organisierte Desinformationskampagne der chilenische Rechten verfing stärker als die Mobilisierung der Verfassungsbefürworter*innen, die noch am Donnerstag vor der Wahl eine halbe Millionen Teilnehmer*innen zu einem Massenevent in Santiago mobilisiert hatte. Bei der Abstimmung zeigte sich aber: Die Mehrheit des Landes konnten sie nicht von ihren Anliegen überzeugen.
Die ersten Auswertungen deuten darauf hin, dass gerade in sozial schwachen Kommunen die Wahl des Rechazo (Ablehnung) mehrheitlich auf in Umlauf gebrachte Fake News zurückzuführen ist. Zentrale Informationskanäle waren private Fernsehsender und soziale Medien – nicht nur in Chile eine Domäne rechter Lobbyist*innen, die diese aufgrund massiver finanzieller Ausstattung mit ihrer oft wahrheitsverdrehenden Meinungsmache fluten konnten. Außerhalb der gesellschaftlichen Sektoren, die die neue Verfassung ohnehin von Anfang an unterstützt hatten, bestimmten bald klassische rechte Themen wie Angst vor Enteignung, Kriminalität und Wohlstandsverlust die Agenda. So musste die Kampagne des Apruebo (Zustimmung), die erst im Juni 2022 aktiv wurde, vor allem versuchen, die in Umlauf gebrachte Desinformation der Gegenseite aufzuklären. Diese hatte bereits im März dieses Jahres das Campaigning für die Ablehnung in den Sozialen Medien aufgenommen und dadurch einen monatelangen Vorsprung, der sich durch enorme Unterstützung durch Wahlspenden, auch aus dem Ausland, weiter vergrößerte. In den einkommensschwachen Kommunen war die Zustimmungskampagne zwar mit Tür-zu-Tür-Gesprächen und auf der Straße aktiv. Wie viele Wähler*innen auf diese Weise überzeugt werden konnten, bleibt aber ungewiss. Denn besonders in diesen Bezirken werden Haustürkampagnen mit etablierter Parteipolitik verbunden. Das trug bei der Abstimmung über eine Verfassung mit überparteilichem Anspruch nicht zur Vertrauensbildung bei.
Mit einem Vertrauensproblem hatte bereits der Verfassungskonvent gekämpft. Die Delegierten hatten durch Skandale und Skandälchen massiv an Legitimität verloren und einen zerstrittenen Eindruck hinterlassen. Die krachende Abstimmungsniederlage nur darauf und auf die Kampagnenstrategie der Verfassungsbefürworter*innen zurückzuführen, ist aber zu kurz gegriffen. Einige Vorschläge erschienen vielen Bürger*innen als zu radikal. Wahrscheinlich ist die chilenische Gesellschaft eine Generation nach dem Ende der Diktatur einfach noch nicht bereit für eine so progressive Verfassung. Das sollte ihre Befürworter*innen aber nicht entmutigen, denn der verfassunggebende Prozess wird vorausichtlich schon bald in die nächste Runde gehen. Es wird dann darauf ankommen, im Konvent und in der Bevölkerung besser für die Vorstellungen einer gerechteren Gesellschaft zu werben, damit möglichst viele von ihnen doch noch Eingang in eine zukünftige neue Verfassung Chiles finden.