“Die spanischen Kollegen sind in einer guten Lage”

Sie stehen von Berlin aus in ständigem Kontakt mit den zuständigen juristischen Stellen in Madrid und setzen sich für die Auslieferung Pinochets nach Spanien ein. Auch persönlich sind Sie in die Geschehnisse seit 1973 involviert. Können Sie uns Ihre Bindungen, persönlich wie beruflich, schildern?

Ich war 1972, damals noch unter der Regierung Allende, im Schüleraustausch in Chile und ging dort viereinhalb Monate zur Schule. Zu dem Programm gehörte auch, daß man in einer chilenischen Austauschfamilie wohnte. Von dieser Familie ist der Onkel meiner Austauschschwester, ein führender Kommunist, am 11. September 1973 (Tag des Putsches, Anm. d. Red.) in der Moneda, dem Regierungspalast, verhaftet worden. Wir wir später durch Zeugen erfuhren, wurde er umgebracht. Die Leiche wurde der Familie nie übergeben. Viele Familienmitglieder sind damals vertrieben worden, mußten ins Exil gehen. Die Familie ist zum Teil auseinandergerissen worden, meine Austauschschwester selbst lebt bis heute im Ausland. Soviel zu den persönlichen Erlebnissen.
Nachdem ich später in Berlin mit dem Jurastudium angefangen hatte, engagierte ich mich zusammen mit Exilchilenen zunächst vor allem für das Schicksal inhaftierter chilenischer Frauen. Später habe ich Chile oft besucht, habe dort auch an Treffen von Menschenrechtsgruppen teilgenommen, wo es um politische Gefangene und die Straflosigkeit der Militärs ging. Dabei fand auch ein Austausch mit Argentiniern statt, die unter der dortigen Diktatur ganz ähnliche Erfahrungen gemacht hatten.

Diese Treffen fanden noch während der Pinochet-Diktatur statt?

Zum ersten Mal habe ich 1988 an einem solchen Treffen teilgenommen. Das war also in der Übergangszeit. Ich habe mich dort juristisch wie auch persönlich mit der jüngeren chilenischen Geschichte beschäftigt, vor allem mit den Problemen der Übergangszeit.

Wann kam dann Ihr Kontakt mit den spanischen Prozeßführern zustande?

Ich bin im Sommer letzen Jahres mit dem spanischen Anwalt Juan Garcés in Verbindung getreten, der die Exilchilenen vertrat, die von Europa aus um ihr Recht kämpften. Auch er ist in die Vorfälle während der Militärdiktatur involviert. Er ist Katalane und hat als Berater Salvador Allendes gearbeitet. Über seine Erlebnisse von 1973 hat er ein Buch geschrieben. Garcés hat in Madrid jahrelang daran gearbeitet, der Straflosigkeit in Chile juristisch beizukommen, und er ist einer der Hauptakteure im Prozeß gegen Pinochet. Er unterrichtet mich laufend über das Verfahren. Durch diese Bekanntschaft kam ich in Kontakt mit dem Anwalt Carlos Slepoy, der sich mit den Verbrechen während der argentinischen Militärdiktatur beschäftigt. Über ihn wiederum lernte ich den Richter Baltasar Garzón aus Madrid kennen, der ja nun als Ermittlungsrichter im Fall Pinochet agiert. Garzón war schon damals als extrem ambitionierter Mann bekannt, der beispielsweise den hochrangigen argentinischen Militärangehörigen Adolfo Scilingo, den er ursprünglich als Zeugen vorgeladen hatte, im Gerichtssaal verhaften ließ. Dieser Fall schlug damals hohe Wellen, da Scilingo in einem Interview die vermuteten „Todesflüge“ zugegeben hat, bei denen Dissidenten über dem Río de la Plata aus dem Flugzeug geworfen wurden. Scilingo bestätigte damals, was Oppositionelle schon von jeher der Militärdiktatur vorgeworfen hatten, und wurde so zu einem der wichtigsten Zeugen des ganzen Prozesses. Garzón hatte damals schon erreicht, gegen einige der argentinischen Verantwortlichen Haftbefehle zu erlassen und ihre ausländischen Konten zu beschlagnahmen. Später wurden auch Kontakte nach Deutschland geknüpft, von wo aus Exilargentinier im Mai dieses Jahres Strafanzeige gegen Angehörige des argentinischen Militärs stellten. Im Laufe der Ermittlungen wurde auch im „Plan Cóndor“ ermittelt. Das war die Zusammenarbeit zwischen den chilenischen und den argentinischen Militärs.

Und uruguayischen Militärangehörigen …

Ja, auch Uruguay und Paraguay waren in diese Zusammenarbeit verwickelt, die auf ein Verschwindenlassen und Ermorden politischer Gegner hinauslief. Jedenfalls hatte Richter Garzón schon damals besonderes Interesse an Pinochet als Beschuldigtem bekundet. Rechtsanwalt Garcés sagte mir schon im Mai dieses Jahres, daß seiner Einschätzung nach Garzón irgendwann einen Haftbefehl gegen Pinochet erlassen wird. Das Problem würde dann bloß sein, Pinochet außer Landes zu bekommen, um den Haftbefehl auch zu vollstrecken. Daß Pinochet einige Monate später nach Großbritannien reisen würde, damit hatten wir natürlich nicht gerechnet.

Wie gestaltet sich Ihre juristische und politische Zusammenarbeit mit den spanischen Juristen von Berlin aus?

Ich bin im wesentlichen daran beteiligt, daß hier politische Aktionen organisiert und koordiniert werden. Wir, das FDCL, haben kürzlich eine Demonstration vor der britischen Botschaft für die Auslieferung Pinochets nach Spanien organisiert. Zur Zeit planen wir eine weitere Demonstration, die sich auf ein breites Bündnis stützt. Auf Wunsch meiner spanischen Kollegen habe ich eine Kampagne in Deutschland angestoßen, bei der es darum ging, Faxe an die Audiencia Nacional (nationaler Gerichtshof Spaniens, Anm. d. Red.) zu schicken, um so, unmittelbar vor der endgültigen Entscheidung über die Zuständigkeit der spanischen Gerichtsbarkeit, Druck auszuüben. Eine ähnliche Kampage haben wir jetzt vor der Entscheidung des britischen Oberhauses über das spanische Auslieferungsgesuch in Richtung London gestartet.
Es ist auch an mich herangetragen worden, eine Sammelklage hier lebender Betroffener zu organisieren. Es existiert zwar tatsächlich die Möglicheit nach deutschem Recht, eine solche Klage einzureichen. Allerdings denke ich, daß der spanische Prozeß mehr Aussicht auf Erfolg hat, und daß man sich auf ihn konzentrieren sollte, da in den letzten zweieinhalb Jahren unheimlich viel Material zusammengetragen worden ist. Durch die gute Dokumentation sind die Kollegen in Madrid einfach in der besten Lage, solch ein Verfahren real, konsequent und erfolgreich durchzuführen.

Wie beurteilen Sie rein juristisch die Entscheidung des britischen „High Court“, Pinochet genieße als ehemaliges Staatsoberhaupt Immunität?

Diese Entscheidung verstößt gegen geltendes Völkerrecht. Zwar sind Staatsoberhäupter grundsätzlich vor Strafverfolgung wegen ihrer Amtshandlungen geschützt – dies entspringt dem gegenseitigen Respekt und der Anerkennung der Souveränität der Staaten. Seit den Nürnberger Prozessen 1945/46 ist jedoch längst anerkannt, daß diese Immunität nicht für schwerwiegende Verbrechen wie Völkermord, Verschwindenlassen und Folter gelten kann. Wie es treffend gesagt wurde: Nach der Rechtsauffassung des Londoner Gerichts hätte selbst Hitler nicht zur Rechenschaft gezogen werden können.

Wie schätzen denn die spanischen Anwälte nun, nach dieser ersten negativen britischen Entscheidung, die Chancen im Prozeß gegen Pinochet ein?

Sie sind nach wie vor sehr davon überzeugt, Erfolg zu haben. Die Audiencia Nacional, ein nicht gerade linkslastiges Gericht, hätte auch niemals das Auslieferungsgesuch des Richters Garzón bestätigt, wenn dem Prozeß nicht eine derart überwältigende Dokumentation der Verbrechen zugrunde liegen würde.

Zu dieser so deutlichen Beweislage trugen sicher nicht zuletzt die zahlreichen Zeugenaussagen bei?

Genau, es sind sehr viele Zeugen – auch aus Chile – gehört worden. Ich selbst habe übrigens für den Anwalt Garcés hier in Deutschland Helmut Frenz als Zeugen ausgemacht. Frenz war Lutheraner und evangelischer Bischof in Chile, und ihm wurde nach dem Putsch 1973 von Pinochet die Einreise ins Land verboten. Er hatte sich damals für einen katholischen Priester eingesetzt und zusammen mit einem katholischen Bischof bei Pinochet vorgesprochen, um diesen Menschen irgendwie zu retten. Während dieses Gespräches sagte Pinochet einige Sätze, die ihn eindeutig als Mitwisser der Verbrechen entlarvten, was ja bis heute immer wieder bestritten wird. Frenz wurde also im Januar dieses Jahres von den spanischen Richtern als Zeuge gehört und es ging danach überall durch die Presse, daß die Mitwisserschaft Pinochets mit dieser Aussage belegt werden kann.

Wie stark war in den letzten zweieinhalb Jahren, die der Prozeß bereits andauert, der Widerstand der rechten Kräfte in Chile?

Die Bestrebungen in Spanien, Pinochet habhaft zu werden, lösten bei seinen Anhängern massive Proteste aus. Es ist sogar so, daß versucht wurde, auf das Verfahren direkten Einfluß zu nehmen -sowohl von chilenischer als auch von argentinischer Seite. So reiste der chilenische Ex-Militärstaatsanwalt Torres nach Madrid – angeblich, um dort Urlaub zu machen – und besuchte „zufällig“ die beiden spanischen Untersuchungsrichter Garzón und García-Castellón. Dort gab er Material ab, das angeblich beweisen sollte, daß alles eine wüste Lügenkampagne sei. Der chilenische Widerstand führte in der Folge auch zu einer Stärkung der Rechten innerhalb der spanischen Justiz. Das ging soweit, daß seitens der spanischen Staatsanwaltschaft argumentiert wurde, daß die Militärregierungen in Chile und Argentinien nur einen „Übergang“ zu einer zivilen, demokratischen Regierung dargestellt hätten. Diese Äußerungen lösten in Spanien einen Skandal aus. Die Presse fiel über die Staatsanwaltschaft her, die dann sofort einen Rückzieher machen mußte.

Wie ist die Stimmung in Chile nach der Festnahme Pinochets in London einzuschätzen?

Die Situation in Chile ist sehr angespannt. Ich denke, daß hier in Europa anfangs nur das angekommen ist, was die Rechte dort an Protesten veranstaltete. Diese nahmen bald extreme Formen an. So ist zum Beispiel auf Initiative eines rechten Bürgermeisters der Müll von der britischen und der spanischen Botschaft nicht mehr abgeholt worden. Allerdings wurden sogleich Müllabfuhren aus links regierten Stadtbezirken geschickt, deren Wagen – eine wirklich sehr nette Anekdote – mit Transparenten bespannt waren, auf denen es hieß: „Wenn ihr unseren Müll beseitigt, holen wir euren ab!“
Aber es ist schon so, daß die Rechte heftig reagiert hat, zum Teil auch wieder mit Morddrohungen, etwa mit den Worten:“Wenn Pinochet etwas passiert, dann bringen wir dich um.“ Die Betroffenen solcher Drohungen sind Rüchkehrer aus dem Exil, Oppositionelle und ehemalige politische Gefangene. Es hat zudem auch einen xenophoben Schub in Chile gegeben. Das bedeutet, daß ein Brite oder Spanier, der heute nach Chile fährt, durchaus unangenehme Erfahrungen machen kann.
Es ist im Grunde herausgekommen, daß die ganze Übergangssituation, die ganze Versöhnung eine einzige Lüge ist und daß sich die Lager immer noch verfeindet gegenüberstehen. Die wahren Machtverhältnisse treten jetzt wieder zutage. Es zeigt sich, wie gespalten dieses Land nach wie vor ist.

Wie würden Sie – auch wenn dies schwerfällt – diese Spaltung prozentual beurteilen?

Nun, ich würde schon von einem Kräfteverhältnis 60:40 zugunsten der Gegner Pinochets ausgehen. Beim Referendum 1988 hat Pinochet einen Stimmenanteil von rund 40 Prozent auf sich verbuchen können. Obwohl er den heute so nicht mehr bekommen würde, kann man doch mit 30 Prozent Pinochetismus rechnen. Dazu kommt der Mittelstand, der auch eher zu dieser Seite neigt. Es gibt die „klassische“ Aufteilung in ein Drittel Rechte, ein Drittel Christdemokraten, ein Drittel Linke. Letztere sind in den siebzehn Jahren Gewaltherrschaft unter Pinochet zerschlagen worden. Den Leuten sitzt heute noch die Angst im Nacken. Chile ist ein Land, in dem man sich über fünfzehn Jahre lang nicht getraut hat, den Mund aufzumachen. Ich bin mir sicher, daß zumindest 60 Prozent der Chilenen am Tag, als die Nachricht der Festnahme kam, zu Hause saßen und gefeiert haben, sich aber nicht getraut haben, damit sofort auf die Straße zu gehen. Die psychologische Einschüchterung ist sehr, sehr verheerend gewesen.
So ist die Situation im Moment. Es steht alles sehr auf der Kippe, obwohl die Stimmung gegen Pinochet zu siegen scheint. Selbst aus den konservativen Kreisen wurden jüngst Stimmen laut, die sich zu der Festnahme positiv äußern. Auch der oberste Gerichtshof ist allmählich nicht mehr ausschließlich von Pinochetisten besetzt, so daß dort das Amnestiegesetz, 1978 von der Junta selbst verfaßt, künftig sogar zur Debatte stehen könnte. Und die Stimmen gegen Pinochets Senatorenamt mehren sich, auch von konservativer Seite.

Nach der Wahl und vor der Wahl

Die Mitte Oktober abgehalteen peruanischen Kommunalwahlen überraschten weder im Verlauf noch im Ergebnis. Die Wahlplattform „Vamos Vecinos“ – ein notdürftig mit dem Etikett der Unabhängigkeit bemänteltes Vehikel des Fujimorismo auf kommunaler Ebene – ging in immerhin 73 der 186 Provinzen als Sieger hervor. Erfolgreich waren auch die tatsächlich Unabhängigen, während die traditionellen Parteien hingegen nach wie vor auf Kommunalebene kaum vertreten sind. Nachdem Regierung und Parlament in den letzten Jahren eine aggressive Zentralisierung durchgesetzt haben, sind den regionalen und kommunalen Selbstverwaltungen kaum noch eigene Ressourcen und Zuständigkeiten verblieben, so daß das Regime auch bisher oppositionell geführte Provinzen und Distrikte an sich nehmen kann. Vor diesem Hintergrund ist die Tatsache zu relativieren, daß der Wahlprozeß selbst im Großen und Ganzen fair verlief. Wenn auch nicht von systematischem Wahlbetrug gesprochen werden kann, kam es gleichwohl im Vorfeld der Wahlen zu Unregelmäßigkeiten und Einschüchterungsversuchen gegenüber oppositionellen KandidatInnen.
In Lima gelang es dem amtierenden Bürgermeister Alberto Andrade, sich klar gegen den Regierungskandidaten zu behaupten. Andrades Gruppierung „Somos Perú“ konnte sich zwar in den Provinzen nicht durchsetzen, er selbst liegt jedoch weiterhin vor Fujimori in der Gunst der Wähler für etwaige Präsidentschaftswahlen. Doch für die im Jahr 2000 anstehenden Wahlen muß angenommen werden, daß Regierung und Parlamentsmehrheit, die auch bisher vor kaum einem Rechtsbruch zurückschreckten, ihre Manipulationen noch potenzieren werden.
Am 24. Oktober wurde Iquitos, die Haupstadt der Grenzregion Loreto, von Krawallen erschüttert, bei denen über ein Dutzend öffentliche Gebäude in Brand gesetzt wurden und sechs Menschen im Laufe des Polizeieinsatzes starben. Der Protest richtete sich gegen die Regierung, nicht jedoch, wie zu vermuten wäre, gegen die autoritären und repressiven Elemente des fujimoristischen Regimes oder dessen Wirtschaftspolitik, sondern gegen die am Vortag von Fujimori in Brasilia unterzeichneten Vereinbarungen mit Ecuador, die als Schritt zur Sicherung der Stabilität und des Friedens in der Region auf sehr positives internationales Echo gestoßen waren.

Gewalttätige Proteste – gegen den Frieden

Bei weiten Teilen der peruanischen Bevölkerung stieß das Ergebnis des Kompromisse jedoch auf Unmut, einige Oppositionspolitiker nutzten den Aufwind und redeten in irrational-chauvinistischer Rhetorik gar von einer nationalen Schande. Dabei kamen die substantiellen Konzessionen zur Erlangung der Übereinkunft allein von Ecuador, die Zugeständnisse von peruanischer Seite sind dagegen minimal und eher symbolischer Natur. Dahinter steht wohl eher das Kalkül, den in seiner Popularität ohnehin stark angeschlagenen Fujimori zu diskreditieren und sich im Gegenzug als wahre Verteidiger der nationalen Interessen zu profilieren.
Bereits vor dem Friedensschluß mit Ecuador war Peru zuletzt blitzlichtartig in die internationalen Schlagzeilen geraten, als am 30. September eine Demonstration in Lima in gewalttätigen Ausschreitungen gipfelte, bei denen einige Demonstranten in den Vorhof des Regierungspalastes eindrangen und dort Schäden verursachten.

Der Weg zur Wiederwahl ist frei

Diese beispiellose Situation – der Amtssitz des Präsidenten wird sonst immer durch ein beeindruckendes Aufgebot von Polizei und Armee gesichert – wurde erst durch ein verdächtig langes Abwarten der Sicherheitskräfte ermöglicht. Hinweise auf infiltrierte Geheimdienst-Mitarbeiter, die die Menge zur Gewaltanwendung aufgestachelt hätten, lassen vermuten, daß die Vorfälle inszeniert wurden. Sollte hiermit bezweckt worden sein, die Opposition zu diskreditieren oder zumindest die breite Bevölkerung von der Teilnahme an weiteren Protesten abzuhalten, so scheint dies jedoch nur sehr bedingt erreicht worden zu sein.
Auslöser für die von Gewerkschaften und studentischen Organisationen angeführte Demonstration, deren Teilnehmerzahl auf einige wenige Tausend begrenzt blieb, war das definitive Scheitern des Referendums gegen Fujimoris nochmalige Kandidatur im Jahr 2000, zu dessen Durchführung die Opposition in einem Volksbegehren anderthalb Millionen Unterschriften gesammelt hatte. Um den Weg Fujimoris zu einer dritten Präsidentschaft zu ebnen, hatte die fujimoristische Parlamentsmehrheit zunächst ein verfassungswidriges Gesetz erlassen, dann die Verfassungsrichter, die gegen dieses votiert hatten, abgesetzt und schließlich mittels der „Justizreform“ (vgl. LN 285) indirekt die Besetzung des noch vor wenigen Monaten mehrheitlich unabhängigen Jurado Nacional de Elecciones (oberste Instanz in wahlrechtlichen Fragen) so in den Griff bekommen, daß dieser einem weiteren verfassungswidrigen Gesetz stattgab: Die Durchführung eines Referendums ist ab sofort von der Entscheidung des Parlaments abhängig.
Und dieses brachte am 27. August das Volksbegehren endgültig zu Fall. Nicht ohne Grund: Meinungsumfragen im August und September hatten wiederholt 70 Prozent Ablehnung gegen eine Wiederwahl Fujimoris ergeben, womit die Regierung Anlaß genug hatte, das Referendum zu vermeiden.

Ein Premier als pseudodemokratische Posse

Der Opposition sind somit so gut wie alle rechtlichen Schritte und Instanzen verwehrt, um eine nochmalige Kandidatur Fujimoris zu verhindern. Das einzig ihr verbliebene Mittel, die Mobilisierung der Bevölkerung, gestaltet sich jedoch ebenfalls schwierig. Schon ohne die schmutzigen Tricks, wie sie die Regierung beispielsweise bei der Demonstration am 30. September einsetzte, ist die Mehrheit der Bevölkerung noch nicht dazu zu bewegen, sich Protestaktionen anzuschließen.
Auch die überraschende Ernennung Javier Valle Riestras zum Premierminister im vergangenen Juni, die kurzzeitig Spekulationen über eine mögliche Demokratisierung des Regimes auslöste, entpuppte sich als Posse ohne größeren Nachhall auf die politische Entwicklung.
Der Anwalt und Verfassungsrechtler Valle Riestra hatte sich in den 80er Jahren als Verfechter der Menschenrechte einen Namen gemacht und auch noch nach dem Selbstputsch Fujimoris gegen den Autoritarismus Stellung bezogen. In den letzten zwei Jahren war er jedoch punktuell in suspekte Nähe zum Regime gerückt. So stützte er beispielsweise die pseudo-legale Argumentation der Regierung, mit der diese im Juli letzten Jahres den regierungskritischen Sender Frecuencia Latina (vgl. LN 279/280) zum Schweigen gebracht hatte.
Bei seiner Antrittsrede für das Premierministeramt gab sich Valle Riestra zwar betont demokratisch. Er forderte die fujimoristische Kongreßmehrheit auf, wieder in den rechtsstaatlichen Rahmen zurückzukehren und die eklatant verfassungswidrige Gesetzgebung der letzten Jahre, insbesondere das Wiederwahlgesetz, rückgängig zu machen. Die fujimoristische Fraktion ließ sich freilich nicht von ihrem autoritären Kurs abbringen; Denn das Amt des Premierministers war ohnehin nie mit effektiver Gestaltungsmacht verbunden und ohne Rückendeckung des Präsidenten – der ihn immerhin ernannt hatte – oder weiterer Kabinettsmitglieder, sah er sich gezwungen, am 7. August, nach nur 54 Tagen im Amt, zurückzutreten.

Die Gringos gehen – der Weihnachtsmann kommt

In Albrook, einer der bereits verlassenen Kasernen des Kommando Süd der US-Streitkräfte am Kanal von Panama, hat in einem der zurückgelassenen Verwaltungsgebäude die City of Knowledge Einzug gehalten, panamaisches Prestige-Projekt unter besonderer Fürsorge des Staatspräsidenten Ernesto Perez Balladares. In der Werbebroschüre wirbt die Stiftung für sich als „einzigartiges Projekt“, unter dessen Dach die Koordination internationaler Lehr- und Forschungsinstitutionen betrieben werden soll, mit dem Ziel, Panama als internationalen Forschungsstandort zu etablieren. Zugpferd ist der US-Forschungskoloß Smithsonian Institute, der seit Jahren schon in den tropischen Wäldern Panamas Biodiversitäts-Studien durchführt.
Kürzlich beschloß die EU, innerhalb der City of Knowledge einen Technologie-Park mit 1,1 Mio US-Dollar zu unterstützen. Die Zugangskriterien zur Ciudad del Saber, wie sie wahlweise genannt wird, scheinen zwar hoch (Internationalität, Renomée und Erfahrung, Interdisziplinarität, Kompatibilität, Innovation, etc.), in der Praxis aber reduziert sich die Sache auf das Zur-Verfügung-Stellen von Infrastruktur für jedwedes Unternehmen, das die Standortvorteile Panamas für seine Zwecke, seien es akademische oder privatwirtschaftliche, nutzen will. Im Dezember vom Parlament ins Leben gerufen, wird nun mächtig die Werbetrommel gerührt. Wenn die City of Knowledge Ende nächsten Jahres nach Fort Clayton, zur Zeit noch von US-Amerikanern besetzt, umziehen wird, „hat sie sich“, so hofft Direktor Prof. Jorge Arosemena, Ex-Chef der Universidad de Panama, „international als First-Class-Forschungszentrum etabliert“.

Rückgabe bis zum Jahr 2000

Die City of Knowledge ist das Vorzeigeobjekt Panamas innerhalb der nicht ganz einfachen Aufgabe, die Territorien der nach und nach an die Staatssouveränität übergebenen US-Kasernen an den Ufern des Kanals in den urbanen und ökonomischen Großraum Panama-Stadt zu integrieren. Viel mehr an städteplanerischen Ideen hat sich die Autoridad de la Region Interoceanica (ARI), die für die Verwaltung, Planung und Nutzung der übergebenen Kasernen-Areale zuständig ist, für die zum Teil ziemlich heruntergekommenen Grundstücke und Immobilien noch nicht einfallen lassen.
Auf dem Gelände des ehemaligen Militärflughafens Albrook wird der Regionalflughafen Paitilla, der zur Zeit noch im Herzen der Stadt die Bankentürme säumt, angesiedelt, hier und da hat man sich eine Altenwohnanlage oder ein Ärztezentrum ausgedacht, verschiedene Regierungsinstitutionen sollen hierher umziehen. Der Großteil der Freizeitanlagen, Sozialzentren, Supermärkte, Verwaltungs-, Büro- und Wohnhäuser aber wird schlicht verkauft. Ursprünglich wollte man eine Quote für InländerInnen freihalten, mangels städteplanerischer Visionen wurde dies dann aber obsolet und schließlich vergessen.
Die Kanal-Verträge zwischen Panama und den USA, 1977 von den Präsidenten Torrijos und Carter unterzeichnet, sehen den vollständigen Abzug der US-Truppen aus Panama bis zum 31.12.1999 vor. Nun ist er im vollen Gange, nach und nach werden unter zeremonienschweren Gedenkfeiern die einzelnen Territorien übergeben und die US-Flaggen eingeholt. Im September 1997 begann der offizielle Abzug, zur Zeit verbleiben noch rund 4000 Soldaten mit ihren Familien in den Basen Davis und Espinar an der Atlantikküste, sowie Amador und Albrook am Pazifik.
Von der Mehrheit der panamaischen Bevölkerung wird der Abzug der Gringos begrüßt, in bestimmten Kreisen erzeugt er allerdings durchaus auch Unbehagen. Die Präsenz der US-Armee bedeutete nämlich in dreierlei Hinsicht einen bedeutenden Faktor für die nationale Ökonomie: Sie steigerte den direkten und indirekten Konsum, sei es in Form von Konstruktionen und Reparaturen oder aller Arten von Dienstleistungen. Außerdem ließ Washington sich die Gastfreundschaft Panamas Ausgleichszahlungen von etlichen Millionen US-Dollar kosten, die jährlich direkt in die Staatskassen flossen. Und nicht zuletzt sind der Kanal und die Freihandelszone das wichtigste Standbein der panamaischen Ökonomie.
Die Einnahmen aus dem Export von landwirtschaftlichen Gütern oder Tourismus sind gering, als internationaler Finanzstandort hat Panama in den letzten zehn Jahren stark an Bedeutung verloren. Die US-Amerikaner waren Garant für die „Stabilität“ im Land und die Offenhaltung des Kanals. Was, wenn sie nun weg sind?, fragen sich nicht wenige. Werden wir in der Lage sein, die Sicherheit und Zukunft des Kanals zu schützen?

Das Centro Multilateral Antidrogas (CMA)

So liegt die Idee nahe, nach einer Möglichkeit zu suchen, unter Umgehung der Torrijos-Carter-Verträge weiterhin die Anwesenheit amerikanischer Streit- und Sicherheitskräfte im Land zu gewährleisten – eine Idee, die im State Department schon zu genüge erörtert worden sein dürfte. Folgerichtig hatte man von US-Seite aus schon frühzeitig das Interesse an einer „reduzierten militärischen Präsenz“ auch nach der Erfüllung der Torrijos-Carter-Verträge angekündigt.
1995 begannen die Regierungen Panamas und der Vereinigten Staaten diesbezüglich informelle Gespräche. Rasch war die Idee eines multilateralen Zentrums zum Anti-Drogen-Kampf geboren, das Centro Multilateral Antidrogas (CMA). Der verstorbene Außenminister Panamas, Gabriel Lewis Galindo, bot in nobler und uneigenütziger Geste panamaisches Territorium zur Initiierung des internationalen Anti-Drogen-Kampfes feil, die Vereinigten Staaten brauchten nur noch, ebenso nobel und uneigennützig, die Geste anzunehmen. Wenngleich als ziviles Projekt konzipiert, war die militärische Komponente von Beginn an fundamental. Aufgabe der US-Streitkräfte und Sicherheitsdienste wäre die Überwachung des Luft- und Seeraumes. Das Gespenst des Drogenhandels tat seine Dienste. Am 23. Dezember des vergangenen Jahres kamen die Unterhändler der beiden Staaten zu einer vorläufigen Übereinkunft. Obschon geheim gehalten, veröffentlichte die mexikanische Presse Ende Januar die wesentlichen Inhalte: 2500 (US-)Soldaten sollen vom 1. Januar 2000 an ihre Arbeit aufnehmen, insgesamt spricht man von einem Personalstock von bis zu 3500 Personen. 53,5 Millionen Dollar jährlich werden die USA dem südlichsten Staat Mittelamerikas für die ersten zwölf Jahre zahlen, danach soll der Vertrag alle fünf Jahre neu ausgehandelt werden. 33 Gebäude auf der 1914 erbauten Howard Base stehen für das CMA zur Verfügung. Um die Multilateralität (und Legitimität) des Zentrums zu garantieren, sieht der Vor-Vertrag vor, die Unterstützung und Mitwirkung von mindestens vier weiteren lateinamerikanischen Staaten zu erreichen.

Quarry Heights – Abschied und Kontinuität

Politisch koordiniert werden soll das CMA von einer Außenstelle des Ministerio de Relaciones Exteriores auf der Quarry Heights Base, jener Base, die 84 Jahre lang das logistische Nervenzentrum der Aktivitäten des Kommando Süd der US-amerikanischen Streit- und Sicherheitskräfte darstellte. Unzählige Operationen und militärische Eingriffe in etlichen Staaten Lateinamerikas wurden von hier aus geplant und geleitet. Auch die Invasion im Dezember 1989 gegen das Regime des General Manuel Antonio Noriega, der jahrelang auf der Gehaltsliste der CIA gestanden und eng mit der Reagan-Administration gegen die sandinistische Revolution in Nicaragua gearbeitet hatte, wurde von hier aus durchgeführt. Noriega verbüßt nun in den USA eine Haftstrafe von 40 Jahren. Hunderte von Zivilisten wurden bei der nur wenige Tage andauernden Invasion getötet.
Im vergangenen September wurde die Kommandantur nach Miami verlegt. Am 8. Januar diesen Jahres übergab der Botschafter der Vereinigten Staaten, William Hughes, dem Außenminister Ricardo Alberto Arias offiziell die Verwaltung von Quarry Heights. Der US-Repräsentant hatte es sich bei dieser Gelegenheit nicht nehmen lassen, eine glorienreiche Rede zu halten über den Sieg der Freiheit über totalitäre Ideologien in der Hemisphäre, dank der würdevollen Arbeit tausender Männer und Frauen, die stets vor Ort waren, „wann und wo auch immer sie gerufen waren“.

Anlaß zur Sorge – Beispiel I

Ein nicht unwichtiger Teil der strategischen Arbeit des Comando Sur der USA wird zu Hause erledigt. Georgia, Fort Benning: Escuela de las Americas. Hunderte lateinamerikanischer Militärs erhielten hier Ausbildung in Kriegsstrategie, Aufklärung, Anti-Guerilla-Kampf, Terror, Zensur und Folter. Heute bekleiden sie, wenn sie nicht gerade zufällig im Gefängnis sitzen wie Noriega, hohe Posten innerhalb ihrer Armeen.
Vor wenigen Wochen wurden Friedensrechtler in den USA zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, weil sie es gewagt hatten, die Einfahrt der Escuela de las Americas für einige Stunden zu blockieren und die Militärs Mörder zu schimpfen. Es ist somit ein äußerst heikler Punkt, daß eine Aufgabe des CMA laut Vertragstext „Anti-Drogen-Training für Militärs und Polizisten“ sein wird. Panama hatte nach der Invasion 1989 seine Armee offiziell abgeschafft. Entsprechend wurden seitdem keine Personen mehr nach Georgia gesandt. Nun besteht durchaus Anlaß zur Befürchtung, daß zwar Panamaer nicht mehr nach Fort Benning, Fort Benning aber nach Panama kommen wird.

Anlaß zur Sorge – Beispiel II

Ende des vergangenen Jahres ging ein Kooperationsvorschlag bei der City of Knowledge ein mit dem Ziel, das Tropic Test Center (TTC), ein angeblich ziviles Forschungszentrum, in die Akademie zu integrieren. In der Beschreibung seiner Tätigkeiten wird man dann stutzig. 60 Prozent seiner Arbeit bestehe aus Munitionstests, die man auf speziellem Gelände in Gamboa, Nuevo Emperador oder Fort Sherman durchführe.
Die Friedensorganisation Fellowship of Reconciliation (FOR) gibt Aufschluß über das TTC. Es handele sich um eine militärische Agentur, die seit 30 Jahren Tests mit aller Art von Geschossen, darunter Nervengas und radioaktive Munition, im Auftrag des Pentagons durchführe. „Das TTC versucht in Geheimverhandlungen, auf panamaischem Boden verbleiben zu können“, gibt FOR zu wissen. Da das TTC keine Möglichkeit mehr für eine Angliederung an das multilaterale Drogenzentrum sehe, versuche man nun die Variante über die City of Knowledge (man erinnere sich an den hübschen Euphemismus jener in Klassenzimmer umgerüsteten Baracken und durch Studenten ausgetauschten Soldaten). „Mein Eindruck ist, daß alles (was in Vietnam benutzt wurde)“, so Rick Stauber, Autor eines Pentagon-Berichts über uranhaltige Projektile, „vorher hier in Panama vom TTC unter tropischen Bedingungen an verschiedenen Orten getestet wurde.“ Balladares scheint eine weitere Präsenz des TTC unter bestimmten Bedingungen gewährleisten zu wollen, die Verhandlungen werden auch hier geheim geführt.

Internationale Unterstützung

Für das CMA sucht man nun dringend internationale Unterstützung, sei es zu Zwecken der Legitimation, sei es der Funktionalität des CMA wegen. Die Regierungen El Salvadors und Boliviens haben Zustimmung und Interesse signalisiert, am CMA mitzuwirken.
Bei seinem Staatsbesuch im November des vergangenen Jahres erkundigte sich der spanische Staatspräsident José María Aznar nach dem Stand der Verhandlungen und setzte ebenfalls schon den ersten Fuß in die Tür des High-Tech-Zentrums: „Wir werden die Sache mit höchstem Interesse verfolgen, und in dem Maße, in dem die Gespräche und Verhandlungen fortschreiten, sehen wir die mögliche Beteiligung Spaniens und anderer Staaten der Europäischen Union“. Im Hinblick auf die Dominanz der Vereinigten Staaten in den Anfangsverhandlungen betonte er allerdings die Notwendigkeit, „die Multilateralität des CMA“ zu garantieren. José Ignacio Salafranca, Präsident der Europäischen Volkspartei, versicherte anläßlich einer Delegationsreise von Abgeordneten des Europäischen Parlaments, die EU sei durchaus in der Lage, das CMA zu unterstützen, sobald denn erstmal seine Parameter definiert seien. Er wies auf die „wichtigen finanziellen Mittel hin“, die die EU in der Vergangenheit „im Subkontinent“ mobilisiert habe, „um dieses Problem zu bekämpfen“ und betonte, die EU könne sich “des Anti-Drogen-Kampfes nicht entziehen“, darum ihr „positiver und aktiver Beitrag“ zum CMA. Es gilt als sicher, daß Kolumbien zu den ersten gehören wird, die sich am CMA beteiligen – zu verlockend ist die Aussicht für die vom Guerillakampf geschundene Armee, Training und Militärhilfe zu ergattern.

Internationale Skepsis

Doch die internationale Zustimmung ist reichlich beschränkt. Die Mehrheit der lateinamerikanischen Staaten steht der Verlängerung US-amerikanischer Präsenz in Mittelamerika eher skeptisch gegenüber.
Mexikanische Sicherheitskreise drücken ihre Ablehnung aus gegen ein „verkleidetes Projekt, das die Vergewaltigung regionaler Souveränitäten legitimiert“. Sergio Gonzales Galvez, bis Februar Außenminister Mexikos (seine Nachfolgerin, Rosario Green, hält gleichwohl nun schon moderatere Töne für das Projekt bereit), bekräftigte die Opposition seines Landes gegen das Projekt, solange sein ziviler und multilateraler Charakter nicht gewährleistet sei und damit die Möglichkeit für die USA ausgeschlossen sei, von dort aus militärische Operationen gegen andere Nationen des Kontinents durchzuführen. Der Vertragstext aber hält sich über die konkreten Aktivitäten des CMA relativ bedeckt. Vom „Einholen und Verarbeiten von Primärinformationen über Wege des Drogenhandels“ ist die Rede, der Koordinierung von Überwachung und Kontrolle in der Region, von humanitären Rettungsaktionen sowie von „weiteren Missionen“ – und hier liegt der Hase im Pfeffer. Als US-Chefunterhändler Thomas McNamara im Februar nach Panama reiste, um die offensichtlich ins Stocken geratenen Verhandlungen wieder aufleben zu lassen, wurde er zu jeder Gelegenheit nach der Bedeutung dieser Formulierung gefragt – und blieb eine Antwort schuldig. Und dies, obwohl seitens der USA bzw. des Pentagons darauf beharrt wird, daß jene Textpassage „unentbehrlich und nicht verhandelbar“ sei: „Ohne das bringt das ganze Projekt nichts“, erklärte ein Pentagon-Funktionär lapidar.
Um was es bei „weiteren Missionen“ letztendlich gehen könnte, läßt das Beispiel Kolumbiens ahnen. Das Bekanntwerden wiederholter Menschenrechtsverletzungen der kolumbianischen Armee, Foltercamps, Massenermordungen und die Zusammenarbeit mit guardias blancas hatten deren Unterstützung im internationalen Rahmen problematisch werden lassen. So war in den letzten zehn Jahren die US-Militärhilfe für die berüchtigte Armee stark zurückgeschraubt worden.
Da es den USA aber mit der Zeit gelungen war, ihrer Militärhilfe durch die strategische Anwendung von Begriffen wie Menschenrechte, Humanismus und eben Drogenhandel ein neues Outfit zu verleihen, konnte im letzten Jahr militärisches Gerät im Wert von mehr als 100 Millionen US-Dollar übergeben werden. Kolumbien ließ sich natürlich nicht lange bitten und beantragte sogleich den Kauf von zwölf Kampfhubschraubern Cobra. (Sollte der Handel von US-Seite genehmigt werden, wäre Kolumbien das erste Land Lateinamerikas, das nach der Aufhebung des US-Embargos gegen den Verkauf von High-Tech-Waffen in die Hemisphäre durch Präsident Clinton Ende vergangenen Jahres solch hochentwickeltes Gerät erhielte.) Ist der Anti-Drogen-Kampf aber erst einmal institutionalisiert und legitimiert, läßt er sich beliebig mit anderen, allzu bekannten Interessen verbinden. „Wir sehen das Problem des Drogenhandels als vorrangig an“, zitiert Ende März die Washington Post einen hohen Pentagon-Funktionär, „aber wir sind sehr sensibel gegenüber der Tatsache, daß es eine Verbindung gibt zwischen Drogenhändlern und den Aufständischen“ (gemeint sind FARC- und ELN-Guerilla). Dann wird er deutlich: Obschon seine Regierung noch (!) nicht „präpariert“ sei, einen militärischen Schlagabtausch direkt zu unterstützen, der nicht mit dem Thema Drogen zu tun hätte, so herrsche doch große Besorgnis angesichts jüngster Niederlagen der Armee und einer wachsenden Feuerkraft der Guerilla.

Nationaler Widerstand

Zur gleichen Zeit regt sich Widerspruch innerhalb des Landes gegen eine verlängerte Präsenz der US-Streitkräfte. „Die Übereinkünfte zwischen Panama und USA, ein Anti-Drogen-Zentrum am Kanal zu installieren“, so Ex-Präsident Guillermo Endara, „sind ein teuflisches Geschenk an die Clinton-Administration“. Kurioserweise ist es eben jener Politiker, den die USA nach ihrer Invasion 1989 als Präsidenten der Republik einsetzten, der heute als einer der vehementesten Wortführer gegen das CMA Front zu machen sucht. Gewerkschaftliche, religiöse und studentische Gruppen rufen zum Widerstand auf gegen das CMA, welches nichts mehr sei als „ein neuer Mechanismus der Kontrolle über die Region“, mit dessen Hilfe und „dem Vorwand des Drogenhandels die USA ihre üblen hegemonialen Interessen im neuen Jahrhundert weiterführen werden“.
Selbst innerhalb der Regierungspartei Panamas, der revolutionären demokratischen PRD, wird das Unternehmen mit verhaltener Kritik begutachtet, war es doch der Gründer der Partei selbst, General Omar Torrijos, der zu seiner Zeit meinte, seine Heimat sei nicht eher souverän, bevor die USA nicht gänzlich das Land verlassen hätten.
Als Staatspräsident Balladares im Februar seine Absicht verkündete, bei den Wahlen 1999 erneut als Kandidat anzutreten, stellte er ein Volksreferendum in Aussicht, bei dem gleichzeitig über eine dazu notwendige Verfassungsänderung und über das CMA-Projekt abgestimmt werden solle. Die Chancen, in beiden Punkten erfolgreich zu sein, stehen nicht allzu schlecht. Obschon eine Mehrheit der Bevölkerung der ökonomischen Situation des Landes und der Außenpolitik der Vereinigten Staaten eher kritisch gegenübersteht und trotz des autokratischen Regierungsstils von Balladares, befürwortet doch eine große Anzahl die weitere Präsenz US-amerikanischer Streitkräfte im Land, und genießt die Opposition des Landes keine große Popularität.
In einer am 23. März veröffentlichten Umfrage (Dichter & Nerira; http/www.prensa.com/encuesta) sprachen sich 60 Prozent der Befragten für das CMA aus. Auf die Frage, ob man zufrieden sei mit der Weise, wie die Regierung die Verhandlungen führe, antworteten allerdings 31 Prozent mit Ja, 48 Prozent mit Nein, 21 Prozent beantworteten die Frage gar nicht. Befragt nach der Erfüllung seines Amtes waren 63 Prozent der Meinung, Balladares erfülle dies gut bis exzellent, bei der Sonntagsfrage schneidet er mit rund 30 Prozent als eindeutiger Sieger ab. Der Regierung stellen 58 Prozent der Befragten ein gutes Zeugnis aus, in Kontrast zum Parlament, dessen Arbeit 64 Prozent mit schlecht oder miserabel bewerten. 58 Prozent der Befragten hält die Opposition des Landes für nicht vorbereitet, ab 1999 die Regierungsgeschäfte zu übernehmen.

Stillstand der Verhandlungen

Doch auch mit diesem demographischen Rückhalt ist die Zukunft des CMA noch ungewiß. Nicht nur inländische Opposition und auswärtige Kritik blasen der endgültigen Verabschiedung eines CMA-Vertrages zwischen Panama und den USA Wind ins Gesicht. Die Verhandlungsbasis der Panamaer ist weder politisch noch ökonomisch souverän, und so hat die Regierung durchaus etwas zu verlieren – bzw. zu gewinnen. Offensichtlich sind sich Balladares und sein Chef-Unterhändler Jorge Eduardo Ritter dessen sehr bewußt, und man ist nicht bereit, sich zu billig zu verkaufen.
Ein Punkt, der die Geister scheidet, ist die Eigentumsfrage über die Einrichtungen des CMA. Panama weigert sich strikt, der Forderung der USA nachzukommen, ihr juristische Verfügung über das Zentrum zu überlassen. In den letzten drei Monaten sind die Verhandlungen praktisch keinen Schritt weiter gekommen. „Ich bin sicher, daß die Vereinigten Staaten ihre Überwachung von einem anderen Ort aus fortführen werden, sollte Panama nicht zu einer Übereinkunft kommen“, meinte spitzfindig Außenminister Ricardo Alberto Arias im vergangenen November. Und im gleichen Ton, befragt nach dem Verhandlungsstand mit den USA, bekräftigte am 26. März Präsident Balladares, daß sein Land keinerlei Eile habe, das Thema einer möglichen Einrichtung eines CMA zu definieren. „Sollte sich dies hinauszögern und kein Referendum vor Ende des Jahres möglich sein, nun dann lassen wir das halt offen“. In jedem Fall dürften die Verhandlungen die Wahlen, die im Mai 1999 abgehalten werden, nicht stören. Und er wurde noch deutlicher: „Wir werden nicht akzeptieren, daß das CMA als Vorwand für die Errichtung einer Militärbasis benutzt wird.“ Es sei nicht einfach, mit den USA zu verhandeln. „Die Geschichte der Beziehungen unseres Landes mit den Vereinigten Staaten ist geprägt von dem Versuch, sich von vornherein unseren Konditionen zu entledigen.“ Während das State Department schon zufrieden sei, daß es eine gewisse US-amerikanische Präsenz in Panama gebe, „hätten die im Pentagon am liebsten, daß das ganze Land eine Militärbasis sei“.
Es bleibt also abzuwarten, wann und unter welchen Konditionen das CMA seine Arbeit aufnehmen wird. Panama, soviel scheint jedenfalls sicher, wird ohne die Mitwirkung anderer Staaten keinen offiziellen Startschuß geben. Und den USA läuft die Zeit davon, nachdem der Versuch, über die Drohung mit Ausweichstandorten wie Miami oder Honduras Druck zu machen, nicht aufgegangen ist.
Nachtrag: Am 29.März erklärte der Botschafter Panamas in Washington, Eloy Aljaro, die Verhandlungen seien bis auf weiteres ausgesetzt, und man warte nun auf den nächsten Schritt, der von Washington kommen müsse.

Verfassungsarithmetik a lo criollo: 2+1=2

Die Peruaner haben den Begriff der „criollada“ für ein nicht nur in der Politik weit verbreitetes Phänomen geprägt: die Anwendung skrupelloser Tricks und Schliche, um sich auf Kosten anderer und der Allgemeinheit persönliche Vorteile zu verschaffen. Alberto Fujimori, wenn auch in ethnologischem Sinne kein „Criollo“, scheint die Criollada mit Hilfe der Winkeladvokaten und Rechtsverdreher seines Regimes perfektioniert zu haben. Er versteht es zudem meisterhaft, sich Bühnen zu verschaffen, auf denen er sich als Erretter der peruanischen Nation darstellen kann. In dieser Hinsicht bietet ihm das klimatische Phänomen des „Niño“ eine willkommene Gelegenheit, seine Superman–Qualitäten unter Beweis zu stellen. Rastlos fliegt er von der einen überschwemmten Stadt zum nächsten von einem Erdrutsch begrabenen Dorf – bemüht, die Katastrophenhilfe im ganzen Land persönlich und vor Ort zu leiten. Auch ist er sich nicht zu schade, quasi als verspäteter Weihnachtsmann durch das Land zu tingeln und Opfern der Katastrophe „Hilfsangebote“ zu unterbreiten: „Wollt Ihr T– Shirts?“ Der Beifall der Bevölkerung, der ihn dort überwiegend immer noch erwartet, ist aus pragmatischer Perspektive verständlich: Die Opfer des „Niño“ wissen, daß sie unverzügliche Hilfe nur von Fujimori höchstpersönlich erwarten können, denn eine effiziente Katastrophenhilfe durch die lokalen Verwaltungen gibt es nicht. Nur Fujimori zeigt medienwirksame Präsenz. Die Mehrheit der Bevölkerung ist sich bewußt, daß hinter diesem exzessiven Protagonismus des Präsidenten dessen ungebrochener Wille zur Macht steht. Fujimori scheint entschlossener denn je, sich im Jahr 2000 zum dritten Mal zu den Präsidentschaftswahlen zu stellen.
Dabei läßt er sich auch nicht im geringsten dadurch beirren, daß die Verfassung nur zwei Amtszeiten hintereinander zuläßt. Und er hat allen Grund zu solcher Zuversicht: es wäre schließlich nicht das erste Mal, daß die fujimoristische Mehrheit sich über elementare Prinzipien der Verfassung hinwegsetzt.

Die Verfassungstradition – aus der Geschichte gelernt?

Aus der wiederholten Erfahrung mit machtbesessenen Autokraten hatten die Verfassungsgeber den weisen Schluß gezogen, daß eine direkte Wiederwahl des Präsidenten nicht zulässig sein darf. Schließlich würde sonst der Amtsinhaber durch die in seinen Händen monopolisierte staatliche Macht einen unermeßlichen Startvorteil gegenüber den anderen Kandidaten besitzen. So untersagte die Verfassung von 1979 eine unmittelbare Wiederwahl. Die namhaftesten peruanischen Verfassungsrechtler stimmen darin überein, daß der Selbstputsch von 1992 insbesondere auf die Abschaffung des entsprechenden Artikels zielte. Die im Anschluß erarbeitete und 1994 in Kraft getretene neue Verfassung belegt dies. Die Vertreter des Regimes setzten durch, daß deren Artikel 112 eine „einmalige“ Wiederwahl zuläßt, womit Fujimori 1995 für weitere fünf Jahre die Präsidentschaft antreten konnte. Dem Verdacht der Opposition, daß sich Fujimori hiermit auf Dauer nicht begnügen würde, entgegnete der damalige Präsident des Verfassungsgebenden Kongresses Carlos Torres y Torres Lara – derzeit Parlamentspräsident –, daß eine zweite Wiederwahl durch die neue Verfassung definitiv ausgeschlossen sei.

Verfassung ad absurdum

Das Gesetz der „interpretación auténtica“ spricht jedoch eine andere Sprache. Im August 1996 drückte die fujimoristische Mehrheit gegen den aussichtslosen Protest der Opposition ein Gesetz durch, das auf sehr eigentümliche Weise besagten Artikel 112 „interpretiert“, so daß dieser eine faktisch zweite Wiederwahl Fujimoris zuläßt. Das Gesetz suggeriert, Fujimori habe 1995 seine erste Amtszeit angetreten, da seine Regierungszeit vor dem Inkrafttreten der neuen Verfassung nicht anzurechnen sei. Eine haarsträubende „Interpretation“, die die Tatsache verkennt, daß Fujimori seit 1990 ununterbrochen an der Macht ist und sie überdies zwischenzeitlich nach dem von ihm inszenierten Putsch gar diktatorisch ausübte.
Bezeichnend war auch der Zeitpunkt, zu dem dieser Willkürakt der fujimoristischen Kongreßmehrheit erging, die weder ihrem Gewissen noch dem Wählerauftrag, sondern ausschließlich den Weisungen aus dem Regierungspalast verpflichtet scheint. Kurz zuvor waren Anschuldigungen gegen Fujimoris Berater Vladimiro Montesinos lautgeworden, die diesen mit dem Drogenhandel in Verbindung brachten. Reflexartig wurde Montesinos von hochrangigen Regierungsvertretern sowie Fujimori persönlich von jedem Verdacht freigesprochen. Kurz danach wurde das Gesetz der „interpretación auténtica“ erlassen, das so als eine Flucht nach vorn erscheint: das Regime lenkt die Aufmerksamkeit auf ein anderes umstrittenes Thema, bekräftigt seinen Willen, sich an der Macht festzukrallen und somit sicherzustellen, daß die dunklen Machenschaften nicht so schnell ans Licht gelangen.

Das Verfassungsgericht erhebt seine Stimme

Das politische System Perus verfügt, zumindest nominell, über eine autonome Verfassungsgerichtsbarkeit, die theoretisch den Exzessen der Exekutive und Legislative entgegentreten soll. Die Verankerung des „Tribunal Constitucional (TC)“ in der neuen Verfassung wird als einer ihrer spärlichen positiven Aspekte bewertet.
Doch realistischerweise muß erkannt werden, daß der „TC“ von Anfang an durch die „Ley orgánica“, die seine innere Struktur und Prozeduren regelt, faktisch geknebelt war. Die Regierungsmehrheit errichtete mittels dieses Gesetzes eine prozedurale Hürde, die es sehr unwahrscheinlich macht, daß ein im Interesse der Regierung liegendes Gesetz für verfassungswidrig erklärt wird: hierzu muß eine Mehrheit von sechs der insgesamt sieben Verfassungsrichter erreicht werden. Ein Ding der Unmöglichkeit, da es der Regierung gelungen ist, zwei Richter in den „TC“ zu hieven, deren „Loyalität“ sie sich gewiß sein kann.
Dennoch beschloß die Anwaltskammer Limas in vielleicht naivem Vertrauen in die Verfassungstreue der Richter des „TC“, den Weg der Verfassungsklage gegen das Gesetz der „interpretación auténtica“ einzuschlagen.
Dies war nicht nur ein kaum aussichtsreicher, sondern zudem ein riskanter Schritt. Denn eine Klage wird als unbegründet abgewiesen, wenn die für ihre Annahme erforderliche Mehrheit nicht zustande kommt; wird eine Klage aber abgewiesen, so hat dies zur Folge, daß das betreffende Gesetz automatisch die Vermutung der Verfassungskonformität genießt. Kein Gericht wird es in konkreten Prozessen mehr infrage stellen können. Auf diese Weise ist die Funktion des „TC“ pervertiert: Anstatt verfassungswidrige Gesetze zu Fall zu bringen, verleiht es diesen unfreiwillig – sofern nur zwei regierungshörige Richter sich sperren – eine unumstößliche Geltung. Um dies zu verhindern, sahen sich drei verfassungstreue Richter des „TC“ gezwungen, einen unkonventionellen und juristisch höchst umstrittenen Weg zu gehen. Da das Quorum, um die Verfassungswidrigkeit feststellen zu können, nicht erreicht werden konnte, erklärten sie mit Billigung des Präsidenten des „TC“, Ricardo Nugent, die Unanwendbarkeit des Gesetzes im Fall Fujimoris.
Die Rache der Regierungsmehrheit ließ nicht auf sich warten. Die Untersuchungskommission des Parlamentes war ursprünglich eingerichtet worden, um Unregelmäßigkeiten innerhalb des „TC“ zu klären, so zum Beispiel die Entwendung von Dokumenten durch einen der regierungstreuen Richter. Sie beschloß kurzerhand, die Richter, die gegen das Gesetz der „interpretación autentíca“ entschieden hatten, wegen Amtsmißbrauchs vor dem Parlament anzuklagen. Dort sorgte die Regierungsmehrheit am 28. Mai 1997 für die Absetzung von Delia Revoredo Marsano, Manuel Aguirre Roca und Guillermo Rey Terry. Doch damit der Repressalien nicht genug; gegen Delia Revoredo wurden strafrechtliche Ermittlungen wegen angeblich illegaler Einfuhr eines PKWs eingeleitet – eine Anschuldigung, die sich als haltlos erwiesen hat. Die willkürliche Absetzung der Richter des „TC“ hatte zur Folge, daß er bis heute keine Klagen auf Feststellung von Verfassungswidrigkeit annehmen kann. Damit hat der „Oficialismo“ faktisch fast erreicht, was einige seiner Vertreter unverhohlen fordern: die gänzliche Abschaffung des „TC“.

Der Wahlrat hat das letzte Wort

Die Regierung verweist seit dieser vorläufigen Schlappe darauf, daß noch nichts endgültig entschieden sei; das letzte Wort habe der „Jurado Nacional de Elecciones (JNE)“, der Wahlrat der Nation. Er ist laut Verfassung die höchste Instanz in wahlrechtlichen Fragen. Bei der derzeitigen Zusammensetzung des „JNE“ hätte Fujimori vermutlich schlechte Karten. Doch die Zuversicht der Regierung gründet sich darauf, daß sie bis 1999, wenn die Entscheidung über die Kandidatur Fujimoris ansteht, die Besetzung des „JNE“ soweit manipuliert haben wird, daß die regierungshörigen Mitglieder in ihm überwiegen. Darauf zielt unter anderem das von der Opposition als „Ley del fraude“ (Betrugsgesetz) gebrandmarkte Gesetz ab. Es stellt die provisorischen Richter und Staatsanwälte bezüglich ihrer Rechte und Befugnisse den beamteten Richtern gleich. Das impliziert, daß diese auch als Vertreter der Justiz beziehungsweise Staatsanwaltschaft in den „JNE“ gewählt werden können. Dies weckt bei der Opposition die Befürchtung, daß die Regierung die ungesicherte Situation dieser Richter ausnutzen wird, um Druck auf sie auszuüben. Es wäre nur die Krönung einer schon länger zu beobachtenden Strategie, die Unabhängigkeit der Richter zu untergraben. Dabei wird unter dem Vorwand einer Justizreform der mehrheitlich provisorische Status der Richter aufrechterhalten, damit nach politischen Kriterien willkürliche Umbesetzungen im Justizapparat vorgenommen werden können (siehe LN 279/280).

Der bislang letzte Streich der fujimoristischen Justiz

Die fujimoristische Kongreßabgeordnete und ehemalige Parlamentspräsidentin Martha Chávez wollte sich jedoch nicht alleine darauf verlassen, daß ein willfähriger „JNE“ schließlich die Kandidatur Fujimoris absegnen wird. Chávez hatte ihren Zynismus schon mehrfach unter Beweis gestellt, so zum Beispiel, als sie nahelegte, daß die von ihren Kollegen gefolterte Ex–Geheimdienstlerin Leonor La Rosa sich ihre Verletzungen selbst zugefügt haben könnte. Auch diesmal tat sie sich besonders in der Verteidigung der Interessen des Regimes hervor. Chávez, von Haus aus Rechtsanwältin, zog gegen die Entscheidung des „TC“ vor die Gerichte, da sie ihr vermeintliches Grundrecht, Fujimori auch im Jahre 2000 wählen zu können, verletzt sah. Zunächst scheiterte sie an der Vernunft und Redlichkeit der zuständigen Richter, doch nachdem die Richterstühle der Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofes umbesetzt worden waren, brachte ihr eine erneute Klage am 9. Februar das erwünschte Urteil.
Die Richter dieser Kammer – auch sie mehrheitlich in provisorischem Status und teils mit fragwürdiger Qualifikation – maßten es sich mit ihrem skandalösen Spruch nicht nur an, sich über das Verfassungsgericht hinwegzusetzen. Sie stellten darüber hinaus fest, daß keine Instanz Chávez’ unumschränktes Wahlrecht beschneiden könne. Sie übersehen dabei, daß keine geringere Instanz als die Verfassung dies tut, indem sie die Kandidatur zu den Präsidentschaftswahlen an bestimmte Bedingungen knüpft, die eben Fujimori nach seinen zwei Amtszeiten nicht mehr erfüllt. Einige Juristen kommentieren sarkastisch, daß dieses gegen jede Rechtssprechung verstoßende Urteil allerhöchstens Wirkung für Chávez selbst entfaltet: sie könnte unter Umständen verlangen, daß eigens für sie im Jahre 2000 ein Wahlzettel angefertigt wird, auf dem sie ihr Kreuzchen für Fujimori machen kann.

Referendum als Waffe gegen den Volkstribun?

Es gibt eine parteienübergreifende oppositionelle Plattform gegen das autoritäre Regime, das sogenannte „Foro Democrático“. Das Forum entschied sich, den Wiederwahlbestrebungen Fujimoris auf politischem Wege entgegenzutreten, statt auf juristischem wie die Anwaltskammer von Lima. Das „Foro“, dem auch prominente Verfassungsrechtler angehören, beschloß im September 1996, das in der Verfassung verankerte Recht des Referendums zu aktivieren. Damit können die Wahlberechtigten ein Gesetz zu Fall bringen.
Mit diesem Rückgriff auf das Instrument direkter politischer Partizipation wollen sie Fujimori mit seinen eigenen Waffen schlagen. Denn er höchstselbst pries das Referendum in seiner Diskreditierungskampagne gegen die Institutionen der repräsentativen Demokratie als Alternative an. Allerdings hatte es der putschende Präsident dabei eher auf von der Regierung eingeleitete Plebiszite abgesehen – seit jeher ein klassisches Instrument von Demagogen.
Die Angst der Regierung vor einem allzu autonomen Gebrauch dieses Instrumentes durch die Bevölkerung wurde schon im April 1996 deutlich, als die fujimoristische Kongreßmehrheit zusätzliche Bedingungen für die Einleitung eines Referendums einführte. Es wurde ein Gesetz erlassen, mit dem ein Referendum über den umstrittenen Verkauf der staatlichen Erdölgesellschaft abgeblockt wurde. Seither muß eine Initiative zum Referendum zunächst eine parlamentarische Hürde nehmen: Eine von den Bürgern ausgehende Gesetzesinitiative bedarf zuerst einer Zwei–Fünftel Zustimmung des Parlaments.
Durch diese Rückkopplung an das Parlament wäre dem Referendum sein Sinn und Wesen als autonome Initiative der Bevölkerung genommen. So urteilte auch der „Jurado Nacional de Elecciones“, der befand, daß dieses Gesetz nicht auf diese Form des Referendums angewendet werden dürfe, da sonst das in der Verfassung verankerte Recht auf politische Partizipation entfallen würde. Daher ordnete dieses höchste Wahlorgan Ende September 1996 an, dem „Foro“ die angeforderten Unterlagen zur Sammlung der für die Beantragung des Referendums erforderlichen 1,2 Millionen Unterschriften auszuhändigen. Es bekräftigte hiermit seine Autonomie der Regierung gegenüber – was immer seltener geschieht. Die Reaktion des „Oficialismo“ im Parlament: ein weiteres Gesetz, das die Modifizierung der Bestimmungen zum Referendum nochmals modifizierte. Doch der „JNE“ ließ sich nicht beirren und stellte abermals die Verfassungswidrigkeit dieses Gesetzes fest. Zudem hätte es, um auf den bereits im Gang befindlichen Prozeß des Referendums noch Anwendung zu finden, rückwirkende Geltung beanspruchen müssen. Der „JNE“ gab daher am 30. Oktober 1996 folgerichtig grünes Licht für das Referendum, das über die Verfassungskonformität beziehungsweise –widrigkeit der „interpretación auténtica“ urteilen soll.
Seither haben die Initiatoren des Referendums annähernd eine Million Unterschriften sammeln können. Da bei den Überprüfungen der Listen gewöhnlich ein erheblicher Prozentsatz der Unterschriften nicht anerkannt wird, müssen insgesamt vermutlich circa 1.5 Millionen eingereicht werden, unter denen dann 1,2 Millionen gültig sein müssen. Vor kurzem noch schien dieses Ziel in einigen Monaten erreichbar, doch seitdem die Meldungen über die Verheerungen des Niño die Schlagzeilen beherrschen, wird es als unmoralisch angesehen, in solchen Zeiten nationalen Notstands konfrontative Politik zu betreiben, weshalb die Unterschriftenkampagne vorerst auf Eis gelegt ist. Sollten die erforderlichen Unterschriften vielleicht gegen Ende des Jahres dann doch einmal erreicht sein, bleibt noch immer die Herausforderung, folgende Bedingungen zu erfüllen: Werden im dann abzuhaltenden Referendum mindestens 50 Prozent gegen das Gesetz der authentisch absurden Interpretation stimmen? Und werden diese auch mindestens 30 Prozent der gesamten wahlberechtigten Bevölkerung entsprechen? Doch die größte Ungewißheit ist wohl: Wird das Regime einen sauberen Ablauf des Referendums zulassen?

Wo bitte geht’s nach Babel?

Gospel aus: Die Schriften des Apostel

.. da erschienen über ihnen gespaltene Zungen
wie aus Feuer und blieben bei jedem von ihnen
und sie waren alle erfüllt vom Heiligen Geist
und begannen mit anderen Zungen zu sprechen

Ein Cholo, ein Mestize, von der Purépecha-Hochebene schlendert die Hauptstraße von Nahuatzen hinunter. Er treibt greise Großmütterchen und Landarbeiter in schmutzigen Stiefeln vor sich her. Seine Kappe mit dem Emblem des Football-Teams “Oakland Raiders” sitzt mit dem Sonnenschild nach hinten auf seinem Kopf, den er sich im typischen East-L.-A.-Stil hat scheren lassen. Er trägt Nike-Sportschuhe und tiefsitzende baggy-Jeans. Seinen Oberkörper schmückt ein ärmelloses T-Shirt, das den Blick auf eine tragikomische Figur freimacht, die als Tattooe auf seiner Schulter prangt. La vida loca, das verrückte Leben ist dort zu lesen.
Er geht mit seinen Kumpels in eine Spielhölle und verbringt eine geschlagene Stunde damit, Ninjas, Schwarze und Araber zu töten. Jedesmal, wenn er einen der Bösen tötet, brüllt er: “En la madre, motherfucker!” Dann besteigt er seinen ranfla, einen schrottigen 79er Datsun mit North-Carolina Nummernschild und kreuzt, cruiseando, durch die Stadt und trällert dabei einen dieser goldenen Oldies: “My angel baby, my angel baby, oooh, I love you, yes I do….” Um acht, zum Geläut der Kirchenglocken, macht er sich auf nach Hause, wo seine Großmutter auf ihn wartet. Sie hat ihre Haare im traditionellen Stil in Zöpfe geflochten. Sie begrüßt ihn in Tarasco, der Purépecha-Sprache, und dieser harte Junge von jenseits der Grenze antwortet ihr mit höchstem Respekt in der alten Sprache.
Sie sitzen im Wohnzimmer, schalten ihren mit einer Satellitenschüssel verbundenen Samsung-Farbfernseher ein und verbringen einige Stunden vor dem Schirm, watchando MTV, CNN, und die telenovela “De pura sangre”.

Jenseits der Grenze ist diesseits der Grenze

Zurück in Los United, den USA: Ich kenne einen jungen Chicano, dessen Familie vor 20 Jahren eben jene Purépecha-Hochebene verlassen hatte, um als Erntehelfer zu arbeiten. Bei der Salaternte in Watsonville/Kalifornien, der Wassermelonen-Ernte in Kentucky, der Tabakernte in North-Carolina und der Orangenernte in Florida. Nachdem sie für eine Zeit lang in Nebraska für die Eisenbahn und in Dallas als Putzkolonne in einem Hotel gearbeitet hatte, ließ sie sich in Südkalifornien nieder. Dort brachte sie ihre Papiere in Ordnung und kaufte ein bescheidenes Heim im San Fernando Valley, zärtlich auch North Hollywood, Michoacán getauft.
Dieser junge Mann war ein herausragender Schüler, er liebt Biologie und studiert nun im dritten Jahr an der Universität von Kalifornien in Los Angeles. Er spricht perfekt Englisch und Spanisch und beherrscht sogar ein paar Brocken Tarasco. Früher hörte er leidenschaftlich gern Death-Metal- und Trash-Musik. Heute gehört er der Studentengruppe Moviemento Estudiantil Chicano de Aztlán (MEChA) an. Jedes Wochenende verbringt er in den Wäldern des Los Padres-Parkes, einer gebirgigen Gegend nördlich von Los Angeles. Dort lehrt ein alter Indianer vom Stamm der Chumash die jungen Chicanos die indianischen Traditionen und predigt von einem spirituellen Krieg, in dem die Rasse der Bronzefarbenen wieder ihre Würde erlangt.
Dieser junge Mann, gleichsam ein Purépecha und ein Chicano, geht nach dem Schwitzhüttenritual in Los Padres nach Hause. Dort verbringt er mit seinen Eltern und Geschwistern ein paar Stunden vor dem Fernseher und schaut MTV, CNN und die telenovela “De pura sangre”.

Gospel: Aus den Abenteuern von La Gaby (skandalöserweise unterdrückt von Kardinal Ratzinger), dem heißesten Jalisco-Transvestiten im La Plaza, einer Schwulenbar für Latinos in Hollywood.

Meine Liebe
wir sind immer im Aufbruch
spalten uns entzwei
reißen uns auseinander
dadurch, daß wir aufbrechen
es ist ein nie endendes Ich-gehe-wir-gehen
das uns nirgendwohin und überallhin bringt
oh mein Süßer! Aber Du bist so hübsch

Würden wir Mexikaner die Gegenwart durch die Linse der Vergangenheit betrachten, wir würden behaupten, unsere nationale Identität sei einmal mehr den Yankee-Invasoren und ihrem Freihandel ausgesetzt. Und wir würden behaupten, jede Satellitenschüssel sei eine direkte Herausforderung für das Königreich Ihrer Heiligkeit, der Jungfrau von Guadalupe. Wir würden weiter sagen, Chicanos seien nichts weiter als ein Haufen von Pochos, die kein Recht hätten, sich Mexikaner zu nennen und daß die Narco-Cholos, die Drogenmafia aus Michoacán die nationale Seele unseres geliebten Mexikos bedrohten. Wir würden sagen: Was für eine Schande, daß Menschen aus Purépecha MTV, CNN und “De pura sangre” glotzen, anstatt ihr Stückchen Maisfeld barfuß und mit den Gerätschaften ihrer Ahnen zu beackern.

Großstadt und Moderne formen neue Identitäten

An allen, die noch immer glauben, es existiere eine scharf gezogene Grenze zwischen dem, was Mexikaner, was Indios, was Mestizen und was Chicanos ausmacht, ist die Geschichte vorbeigerauscht. Wer immer noch der Vorstellung vom spirituellen Indio nachhängt, verneint den Indio der Gegenwart. Indios können so modern sein wie jeder postmoderne Großstädter unseres Planeten. Tatsächlich leben sogar mehr Indios in Städten als auf dem Land, und eine große Zahl lebt jenseits der Grenze in den USA.
Die Indios in den Schaukästen des Museums für Anthropologie und Geschichte in Mexiko-Stadt, die von Mestizen so bewundert werden, sind neugieriger, beweglicher und weitaus mehr mit der Moderne in Berührung als ihre Bewunderer. Die Indios sind diejenigen, die auf der anderen Seite im Norden arbeiten, die mit neuen Fernsehern und Videorecordern zurückkommen. Mestizen lamentieren oft über einen Verlust ihrer indigenen Vergangenheit und betrachten Chicanos und ihre angebliche Identi-tätskrise als tragischen Fall. Aber alle, die einen “Verlust des Mexikanischen” bei Chicanos zu sehen glauben, wissen nicht allzuviel über sich selbst. Chicanos sind in vielen Dingen “mexikanischer” als die Mittelklasse von Mexiko-Stadt, deren Blick ohnehin schon immer eher nach Paris oder New York ging.
Die mexikanische Mittelklas-se hat auf das falsche Pferd gesetzt. Sie glaubt, die Zukunft liege im Norden, also in den USA oder Europa, und die Vergangenheit in der Purépecha-Hochebene oder im Lacandonischen Urwald oder der Sierra Tarahmara. Die Wahrheit ist, daß Raum und Zeit solch primitiven Grenzen nicht länger gehorchen. Die Zukunft liegt auf beiden Seiten der Grenze, genauso wie die Vergangenheit und die Gegenwart überall ist: Satellitenschüssel und Cholos in Michoacán, neo-indianische und mestizische Fußballmanschaften in Kalifornien. Alles ist in Bewegung, alles ändert sich, alles bleibt. Anscheinend sind die einzigen, die sich in dieser rauhen See wohl fühlen, die Indios und die Chicanos. Sie haben verstanden, daß Zukunft und Vergangenheit in der Gegenwart zusammen existieren.
Mehr als ein Identitätsverlust ist eine Fortschreibung der mestizaje, der Prozeß der Mestizierung, zu beobachten. Indios und Chicanos können sich dabei ein Kultur-Paket eigener Wahl zusammenstellen. Kultur ist ein Organismus, der sich einer neuen Umgebung anpassen muß, um zu überleben und zu wachsen. So bleibt der junge Mixteke, der in Fresno, Nordkalifornien lebt, weiter ein Mixteke – auch wenn er die Sprache seiner Ahnen nicht mehr spricht. Schon der Philosoph Oswald Spengler erkannte, daß sich Landschaften kontinuierlich an neu entstehende Organismen anpassen. So ist das auch in diesem Fall. Heute konsumieren Gringos mehr Salsa als Ketchup, um ein eher oberflächliches Phänomen aus der Gastronomie heranzuziehen. Es steht ersatzweise dafür, wie abhängig die Gringo-Gesellschaft ökonomisch und gesellschaftlich bereits von den Latinos in den USA ist.

Stereotype des Indigenen produzieren Opferrollen

Die Zukunft wird nicht zwangsläufig die Vergangenheit auslöschen. Tradition und Moderne können sich in der Gegenwart ineinander verschränken. In den Städten der Purépecha-Hochebene mag das Haus mit der Satellitenschüssel einer bruja, einer Hexe, gehören, die “Krankheiten des Bösen” mit Kräutern oder durch Tarot-Legen heilt. Oder es lebt dort ein dreisprachiger – Englisch, Spanisch und Tarasco – Teenager, der genauso auf traditionelle Musik der Region, die pirecuas, wie auf die Hard-Core Band Transmetal steht.
Diesen gesamten Prozeß als schädlich für die kulturelle Gesundheit zu betrachten, ist nichts anderes als das Bild vom passiven Indio als Opfer der Geschichte zu pflegen. Und das ist so ziemlich das schlimmste Stereotyp, das Mestizen über indianische Identität geschaffen haben.
Vor ein paar Monaten kam eine junge, engagierte Frau aus Los United nach Mexiko. Ihre Eltern waren einst von Indien in die USA emigriert. Sie trug einen dieser merkwürdigen Rucksäcke, den Gringos und Europäer haben, wenn sie die Dritte Welt bereisen (als ob sie zu einer Safari aufbrächen, auf der Suche nach Elefanten oder Eingeborenen). Sie fand Mexiko-Stadt furchtbar. “So viele weiße Menschen”, sagte sie. So viel Lärm, so viele Lichter, so viele Gebäude, so viele Autos.
So machte sie sich auf den Weg zu den Tzotziles in Chiapas. Sie brauchen keinen Strom, kein Fernsehen, keine Bücher oder Schuhe, erklärte sie begeistert. Sie leben “au naturel”. Wie cool!
In ähnlicher Weise erfinden Mestizen aus Mexiko-Stadt Mythen über die Indios, um sich selbst modern zu fühlen. Schuld daran sind Minderwertigkeitskomplexe gegenüber Gringos und Europäern.
Es ist der Gipfel der Verlogenheit, wenn sich ein Großstadt-Mestize als Nationalist produziert und vor Fremden zum Verfechter des Neo-Indigenen wird. Als ich das erste Mal vor gut zehn Jahren nach Mexiko-Stadt kam, behandelten mich Uni-Professoren und Linke paternalistisch. Armer Chicano, hieß es. In Deiner Heimat, den USA, leidest Du unter der Geisel des Rassismus. Hier in Mexiko haben wir keine Identitätskrise. – Nun macht mal halblang!
Wir Chicanos (oder in meinem Fall Chicano-Salvadorianer, der in Los Angeles geboren ist und in Mexiko-Stadt lebt) wissen, so ein bißchen wie Buddhisten, daß Stabilität ein Zustand von Bewegung ist. Menschen, die sich nicht bewegen, sterben.
Das ist nun gerade das Gegenteil vom Motto der letzten Operation der Border Patrol (der US-amerikanischen Grenzpolizei): Bleibt draußen und ihr bleibt am Leben! Aber es gibt viele Mexikaner, die wissen, daß am Leben bleiben in Bewegung bleiben bedeutet – ökonomisch, kulturell, sprachlich, sexuell.
Unter Berücksichtigung all dessen präsentieren wir: Das Programm der Wetback-Partei, der Partei der nassen Hintern:

Das Problem ist nicht die Sprache, die wir sprechen oder der Akzent, mit der wir sie sprechen.
Das Problem ist die Grenzpolizei.
Das Problem ist nicht, daß wir schwul, hetero, bi oder Transvestiten sind.
Das Problem ist AIDS.
Das Problem ist nicht, ob wir Katholiken, Pentecostals oder Sufis sind.
Das Problem ist die fehlende Toleranz und die Tatsache, daß der Staat, die katholische Kirche und andere Gruppen aus Wirtschaft und Gesellschaft Intoleranz fördern, indem sie das falsche Bild von einer homogenen Nation vor sich hertragen.
Das Problem sind nicht die Straßenverkäufer, die Prostituierten oder die Drogenabhängigen.
Das Problem ist der Neoliberalismus, der viele Menschen alleine läßt, ohne jede Chance, ökonomisch oder kulturell am Prozeß der Globalisierung teilzuhaben. Profitieren kann die Mittelklasse in den USA und in Europa, die so gerne Salsa tanzt oder beim Thai ißt.

Gospel aus dem Buch von La Licuadora (ebenfalls skandalöserweise von Kardinal Ratzinger unterdrückt), der größte und härteste der Schlepper von Cherán, Michoacán.

Sie haben uns ganz schön zugesetzt diese Arschlöcher,
die Gringos von der Migra, aber
paßt auf das nächste Mal, denn jetzt
sind wir mit mehr bewaffnet als mit Wasser
an unseren Hintern
Sie nennen mich nicht umsonst “The Blender”

In den USA werden gleichmacherische Unwahrheiten vom konservativen und liberalen Establishment und auch von der extremen Linken verbreitet. So wurde zum Beispiel behauptet, daß mit einer Latino-Mehrheit in einigen US-Großstädten, die Bewegung progressiver Latinos, la raza, politische Macht in den Händen halten könnte, um sich fremdenfeindlichen Vorhaben wie beispielsweise der Proposition 187 in Kalifornien (vgl. LN 246) entgegen zu stemmen oder der infamen von Präsident Clinton abgezeichneten Reform der Sozialhilfe (vgl. LN 268) zu widersetzen. Und tatsächlich jagten die neuen Latino-WählerInnen Kaliforniens bei den Wahlen im November 1996 den Kongreßabgeordneten “B-1” Bob Dornan, ein Republikaner und Nativist, aus dem Amt und wählten eine junge Demokratin – fast überflüssig zu erwähnen, daß es eine Latina war, Loretta Sanchez.
Aber wir Latinos in Los United sind keine homogene Gruppe. Wir sind Salvadorianer und Guatemalteken, Kubaner und Puerto-Ricaner. Honduraner und Kolumbianer und Nicaraguaner, und unter den Mexikanern muß man unterscheiden zwischen denen, die erst vor kurzem ankamen, denen der zweiten und denen der dritten Generation und schließlich noch den Hispanos New Mexicos, deren Wurzeln im Südwesten Jahrhunderte zurückreichen. Und mehr noch: Wir gehören zur Mittelklasse und zu den Arbeitern, wir sind Weiße und Schwarze und Indigenas, Katholiken, Pfingstler und Juden. Wir sind das, was wir auch auf der anderen Seite des Grenzzaunes sind.

Mythos der Latino-Identität

Es ist schwer sich vorzustellen, daß die Kubaner Miamis immer einer Meinung mit den Chicanos Kaliforniens sind oder die Migranten aus Zacateca stets mit denen aus Michoacán klarkommen; es sei nur an die Auseinandersetzungen der beiden letztgenannten in St.Louis im Bundesstaat Missouri erinnert, bei denen es Dutzende Tote und Verletzte gab.
Auf beiden Seiten des Rio Grande sind wir in einen schnell voranschreitenden Prozeß der mestizaje verstrickt. Kulturen und Subkulturen blühen dort wie die tausend Blumen Maos. Dieser Prozeß erschafft gleichzeitig neue Utopien und neue Apokalypsen.
Ein Beispiel aus Compton – diesem Stadtteil im Süden von Los Angeles, berühmt auf der ganzen Welt wegen seiner afro-amerikanischen Gangs und Rapper wie Ice Cube oder Niggars With Attitude (NWA): Dort drohen neu angekommene Latinos, die meisten von ihnen aus Mexiko und Zentralamerika, die alte angestammte afro-amerikanische Gemeinde zu vertreiben. Während sich dieser demographische Wandel vollzieht, stehen sich auf den Straßen Comptons zwei Realitäten gegenüber. Einerseits gibt es einen Rassen- und Klassenkonflikt zwischen Schwarzen und Latinos: Die Konkurrenz um die wenigen schlecht bezahlten Jobs in Südkalifornien: “Pinches mayates” – “Scheiß Nigger” – sagen die Mexikaner zu den Schwarzen. “Scheiß Naßärsche”, ist die Botschaft in die andere Richtung.
Aber aus dieser scheinbar apokalyptischen Situation entstehen auch neue Möglichkeiten. Vor zwei Jahren wurde auf der Compton High School ein junger Salvadorianer Vorsitzender des Schülerrates. Er wurde es mit Stimmen von Latinos und von Schwarzen. Warum? Weil der Junge Spanisch und Englisch spricht. Weil er auf Rap, auf Oldies, auf Boleros und auf Rock steht. Weil seine Freundin schwarz ist. Weil er praktisch im Barrio geboren ist (er kam dorthin als er sechs war) und weil er sowohl das Englisch der Afro-Amerikaner wie auch Spanisch spricht.
Wir haben die Gegenwart zweimal und wir haben die Zukunft zweimal.

Abschied vom American Dream

Das Chaos eines modernen Babel oder eines neuen Pfingsten, in dem jeder jeden verstehen wird, obwohl wir letztenendes alle verschiedene Sprachen sprechen. Was uns mit dem neuen Babel droht, ist die ökonomische Kluft, wegen der Randgruppen um die Brosamen der neuen Wirtschaftsordnung streiten müssen, eine Ordnung, die sicherlich einer Mehrheit nicht den Zugang zum American Dream bringen wird. Das gilt für Mexikaner in New York, Afro-Amerikaner in Chicago, Türken in Frankreich, Nigerianer in England und Purépechas in Michoacán. Die Verzweiflung wächst und damit auch die verzweifelten Versuche zu überleben: Grenzüberquerungen in Arizona mit dem Risiko in der Wüste zu verdursten, Gefahren, in den Drogenhandel zu geraten, in die Prostitution, in den Straßenverkauf, all die tausend Wege, vom Schwarzmarkt zu leben. Oder sich Luft verschaffen durch Gewalt gegen seinesgleichen, wie die Zakateken und Michoacaner, die sich in St. Louis gegenseitig die Köpfe einschlagen, oder die mexikanische Gang “18th street” und die salvadorianische “Mara Salvatrucha”, die um den Stadtteil Pico-Union im Zentrum von Los Angeles kämpfen.

Zersplitterung als logische Folge der Vielfalt

Politische Einheit unter Latinos wird es, wenn überhaupt, immer nur zeitlich begrenzt, für den Moment geben. Der Kampf gegen Proposition 187 in Kalifornien ist dafür ein gutes Beispiel. Wenige Tage vor dem Referendum, mit dem 1994 die gesetzlichen Bestimmungen für ImmigrantInnen verschärft wurden, demonstrierten mehr als 100.000 Menschen in Los Angeles gegen die Proposition, unter ihnen viele Chicanos und Salvadorianer, von der ersten bis zur dritten Generation. Nachdem das Referendum verloren war, löste sich die Bewegung auf. Verzweiflung und Frust können Menschen zusammenbringen, aber sie können auch die Fragmentierung beschleunigen. Heute sind wir zersplitterter denn je. Das ist schrecklich und schön zugleich. Wenn die falschen, gleichmacherischen Konstrukte der Vergangenheit zusammenbrechen, wird das Bewußtsein für unsere Vielfalt, die Toleranz hoffentlich wachsen.
Wenn das “ursprüngliche, wahre” Mexiko nicht mehr existiert, was kann diese Lücke schließen? Wenn der melting pot, der Schmelztiegel, nicht existiert, wie können wir den American Dream wieder erschaffen?
Das ist nicht die Zeit um altes Geschwätz aufzuwärmen oder den Kopf hängen zu lassen. Es ist Zeit, unser Konzept von Identität, Toleranz und Demokratie zu erweitern.
Entscheidend dabei ist es, einen Weg zu finden unsere Prozesse kultureller und sozialer Migration mit unserer sozioökonomischen Situation zu verbinden und dabei gleichzeitig Bündnisse über die Grenzen von Rasse und Ethnie hinweg zu schmieden.
Denn wie sie in Chiapas sagen: Wo es Hunger gibt, kann es keine Demokratie geben. Oder wie eines der Kids aus Purépecha sagen würde: Wenn es keine Arbeit gibt, laß uns einfach auf die andere Seite gehen!

aus: NACLA Jan/Feb 1997
Übersetzung: Martin Ziegele

Wer hat Angst vorm illegalen Mann?

Die WahlkampfstrategInnen des Republika­ners Wilson (des ehemaligen und zukünf­tigen Gouverneurs von Kali­fornien) ent­warfen letztes Jahr ein Wahl­programm, das von den wirtschaftlichen Problemen ablenken und zu zwei äußerst emotionionsgeladenen Problemen hinlen­ken sollte: Immi­gration und Gewalt. Die Schuldigen waren schnell gefunden: Die Verantwortlichen für das Loch im Staats­haushalt seien die ille­galen ImmigrantIn­nen – oder wie sie sich sel­ber lieber nen­nen – die ausweislosen Im­migrantInnen, los indocumentados. Und so star­tete Pete Wilson im August letzten Jahres mit ei­nem dramatischen of­fenen Brief an Bill Clinton die SOS-Kam­pagne (Save Our State) und sammelte mehr als 600.000 Unterschriften für die Durchführung des Referendums 187. Er übertraf damit bei weitem die Mindestanzahl von 385.000 Unterschriften und erhielt mehr Unter­schriften für seinen Gesetzes­vorschlag, als jemals für eine bundesstaa­tenweite Kam­pagne gesammelt worden waren.
Die Sprache des SOS-Antrags ist durch und durch rassistisch. Es geht nicht um illegale EinwanderInnen an und für sich, son­dern um solche, die kriminell sind und die US-AmerikanerInnen allein durch ihre Anwe­senheit bedrohen. Der Gesetzesvor­schlag 187 beginnt mit einem Lamento: “Die Menschen aus Kalifornien erklären, daß sie aufgrund der An­wesenheit illega­ler Ausländer in ih­rem Staat ökonomische Härten erlitten haben und weiterhin erlei­den, und daß sie durch das kriminelle Verhalten der Ein­dringlinge persönliche Verletzungen und Schaden erlitten haben und weiterhin er­leiden; und daß sie ein Recht darauf ha­ben, daß der Staat sie ge­gen illegale Ein­wanderer beschützt.”
Die möglichen Folgen
Nach Inkrafttreten der Gesetzesände­rung sollen alle EinwandererInnen ohne gültige Papiere aus dem öffentlichen Erziehungs- und Gesundheitssystem ausgeschlossen werden. Einzig Notfällen soll weiterhin Erste Hilfe geleistet werden. Ermöglicht werden soll dies durch repressive Kon­trolle durch Er­zieherInnen, LehrerInnen, ÄrztInnen und Pflegepersonal, also durch sogenannte Vertrauenspersonen. Eine Gruppe von ÄrztInnen wehrte sich laut­hals gegen diese Bespitzelung ihrer Pati­entInnen und warnte zu Recht davor, daß unter diesen Bedingungen viele nur noch in absoluten Notfällen kämen und so die Ge­fahr bestehe, daß hochan­steckende Krankheiten unbehandelt blie­ben.
Der durchschlagende Wahlerfolg vom Proposal 187 zeigt, wie sehr dieses Thema den Leuten unter den Nägeln brennt. Selbst gestan­dene DemokratInnen unterstützten dieses Re­ferendum, um ihren Unmut zu äußern. Viele Steuerzah­lerInnen sind einfach erbittert darüber, daß Neuankömmlinge von dem System zu profitieren scheinen, für das sie selbst immer nur zahlen, aber kaum etwas her­auskriegen. So sind die öffentlichen Schulen in einem derartig katastrophalen Zustand, daß Eltern, die sich dies leisten können, ihre Kin­der auf private Einrich­tungen schicken. Das verringert freilich nicht die Steuern, die für öffentliche Ein­richtungen gezahlt werden müssen. Gou­verneur Wilson machte sich dieses Manko in seinem Wahlkampf zunutze, indem er einfach folgendes be­hauptete: Werfe man die ganzen “illegalen” Kinder aus den öffentlichen Schulen, gäbe es genügend Geld, um je­dem verbleibenden Kind einen Computer zur Verfügung zu stellen: eine in­fame, unhaltbare Idee, die bei den Wähler­Innen aber trotzdem sehr gut ankam.
Latinos/as als Sündenböcke
Ein Abbau dieser tiefverwurzelten Vorur­teile – “Kalifornien geht es nur des­wegen jetzt so schlecht, weil seit Ewig­keiten diese Immigranten aus dem Süden kom­men und das amerikanische Gesund­heits- und Sozialsystem ausnutzen” – könnte von Seiten der Latinos/as mit sinn­voller Öf­fentlichkeitsarbeit erreicht wer­den. Diese müßte versuchen, mit Fakten die beste­henden Vorurteile aus der Welt zu schaf­fen. Vorsichtigen Schätzungen zufolge halten sich in Kalifornien 1,5 Millionen ausweislose ImmigrantInnen auf. Umbe­kannt ist aber, wie hoch der Anteil der verschiedenen Ethnien liegt. Denn neben den Latinos/as, die in erster Linie aus Mexiko, Guatemala, El Salvador und Nicaragua kommen, gibt es viele asiati­sche EinwanderInnen und eine Gruppe, von der man wegen ihres as­similierten Äußeren kaum spricht: KanadierInnen.
Immer wieder kommt die erhitzte und emotionale Debatte darauf, wie viele la­teinamerikanische Frauen in die USA kä­men, nur um Kinder zu bekommen und völlig umsonst Schwanger­schaftsversorgung einzustreichen. Diese Kinder wären immerhin qua Geburt US-AmerikanerInnen. Es ge­nügt offenbar, daß es diese Fälle gibt und daß die durch­schnittlichen US-AmerikanerInnen sich durch sie bedroht und ausgenutzt fühlt. Unge­achtet dessen hat ein Großteil der gut bis sehr gut Verdienenden keine Skrupel, solch illegale Arbeitskräfte weiterhin in ihren Haushalten, Gärten und Betrieben zu beschäftigen – ohne Papiere, ohne Steu­ern, ohne Abgaben.
Unterstützung erhielt das Proposal 187 aber auch aus dem sogenannten Ghetto. Argu­mente, daß die Jobs, die die Lati­nos/as annehmen, ansonsten sowieso kei­ner will, treffen für Stadtteile wie South-Central in Los Angeles nicht zu. In diesem wahr­scheinlich ärmsten Slum von Los Angeles, der im April vor zwei Jahren durch die riots zu trauriger Berühmtheit gelangte und seither von Weißen gemieden wird wie die Pest, hat eine Menge Afro-Ameri­kanerInnen für das Re­ferendum 187 gestimmt. Denn hier, wo jeder Job rar ist, glauben die Leute, daß die ImmigrantInnen bevor­zugt werden. Man nimmt auch an, daß mindestens die Hälfte der legalen Lati­nos/as für die Ver­abschiedung des um­strittenen Refe­rendums gestimmt haben. Ihre Argumen­tation beinhaltet eine ge­wisse Logik: Wenn sie sich den Schikanen der INS un­terworfen haben und jetzt brav ihre Abga­ben zahlen, warum sollen die anderen Neuankömmlinge – wenn sie wirklich in den USA bleiben wollen – sich nicht dem gleichen Procedere aussetzen?
Viele linke Intellektuelle sehen die Ein­wanderInnen aus dem Süden hingegen als eine neue, starke, unternehmerische Kraft, die eventuell Kalifornien die wirtschaftli­che Erneuerung bringen könnte, die sich der Bundesstaat so dringend herbeisehnt. Kalifornien ist seit Anfang der neunziger Jahre durch die tiefste Rezession seit den Tagen der Großen Depression in den dreißiger Jahren gegangen. Stichpunkte dazu sind der Zu­sammenbruch der Rüstungsin­dustrie und die Schließung der Aerospace-Werke, bei der Hunderttau­sende ihren Job verloren und die eine Massenflucht von kleinen Unternehmern und Angestellten nach sich zog. Zur Zeit ziehen mehr Men­schen aus dem Bundes­staat Kalifornien weg als sich neue ansie­deln.
Aus der politischen Verschla­fenheit erwachen
Offen bleibt die Frage, ob der Antrag überhaupt verfassungsrechtlich in Ord­nung ist. Vor der Einführung des Propo­sals 187 ver­sprechen sowohl GegnerInnen wie BefürworterInnen dieses Antrages, bis vor das Oberste Ver­fassungsgericht zu gehen. Der sprin­gende Punkt ist, daß die Formulierung des Referendums von “illegalen Personen” ausgeht. GegnerIn­nen argumentieren mit den grundlegenden Menschenrechten, nach denen es keine “illegalen” menschlichen Individuen geben kann. Ein ähnlich for­mulierter Gesetzesamtrag wurde in Texas unlängst als nicht verfassungsmäßig ab­gelehnt. Insofern ist für die GegnerInnen noch nicht aller Tage Abend.
Trotzdem machte sich am Tag nach den Wahlen erst einmal eine gewisse Fas­sungslosigkeit breit. Latinos/as in Kalifor­nien, ob nun legal oder illegal im Lande, verspüren die Notwendigkeit, sich zu or­ganisieren. Selbst für diese wichtigen Wahlen waren die Latinos/as nur schwer zu motivieren. Die spanischsprachige Ta­geszeitung ‘La Opinion’ geht zwar davon aus, daß 1,75 Millionen lateinamerika­stämmige Menschen sich für die Wahlen registrieren ließen, aber höchstens 900.000 auch an den Wahlen teilnahmen. Trotzdem ist dies ein 50prozentiger Zu­wachs an registrierten Wählerstimmen ge­genüber den Wahlen von 1990. Die hef­tigsten Proteste, sowohl vor als auch nach der Wahl, gingen und gehen von den SchülerInnen aus. Und deren explosive Sprengkraft wird von Seiten der Behörden ziemlich gefürchtet, da man Ausschrei­tungen wie im April 1992 verhindern will. Bislang verliefen alle Proteste nach der Wahl friedfertig, einzig in Mexiko wurde ein ‘Mc Donalds’ als Symbol des Yankee-Imperialismus auseinandergenommen.
Es gibt in Los Angeles viele kleinere NGOs, die mit Hilfsbedürftigen aus be­stimmten Ländern zusammenarbeiten. Unterschiedliche politische Hintergründe, geformt durch die Bedingungen in den jeweiligen Herkunftsländern, machen eine Zusammenarbeit der verschiedenen Orga­nisationen aber oft sehr schwierig. Daß diese Haltung aber auch in Krisenzeiten wie in der heißesten Wahlkampfzeit mit der vehementen Po­lemik für das Referen­dum 187, nicht aufgege­ben wird und die spanischsprachige Co­munidad nicht etwas enger zusammen­rückt, ist äußerst schade.
Business as usual
Sowohl bei der Gesundheitsversorgung als auch in den Schulen herrschte am Mitt­woch, dem 9. November, einen Tag nach den Wahlen, business as usual. Fehlende Instruktionen einerseits, andererseits aber auch der Unwillen insbesondere des Ge­sundheitspersonals, sich nunmehr als Spitzel der INS zu betätigen, werden wohl auf kurze Sicht nicht dazu führen, daß das Referendum 187 wirklich eingesetzt und seine Vorschriften befolgt werden. Aber die Angst vor möglicher Denunzierung geht um, und die Verunsicherung ist groß.
Am zweiten Tag nach den Wahlen zeich­nete sich auf bundesstaatlicher Ebene eine multiethnische Kampagne des zivilen Un­gehorsams ab, die die Einführung von “187” um jeden Preis verhindern will. Die erste Aktion dieser Allianz aus asiati­schen, afroamerikanischen und lateiname­rikanischen Gruppen, die sich “Ge­rech­tig­keit für alle” nennt, war das Verteilen von Informationsheften, die zum Engagement für die Bewegung aufrufen. Diese Bewe­gung will die Latinos/as aus deren politi­scher Verschlafenheit erwecken. Voller Selbstkritik beschreiben Re­präsentantInnen aus dem Gewerkschafts- und Arbeitnehmerbereich die Latino-Ge­mein­de in den letzten Jahren als “schlafenden Giganten”.
Trotzdem ist Kalifornien über Nacht, wie die liberale Tageszeitung ‘Los Angeles Times’ schreibt, nicht mehr das “Land al­ler Möglichkeiten”, ist weniger “Schmelz­tiegel”, sondern mehr “wir” und “ihr” ge­worden.

Verraten und verkauft

Am 6. November versuchten etwa 100 der in Guantánamo internierten KubanerInnen die Flucht Richtung Heimat. Sie überwan­den den doppelten Stacheldrahtverhau, von dem alle Camps umgeben sind, und sprangen von den nahen Klippen ins Meer. 39 gelang es, schwimmend kubani­sches Hoheitsgebiet zu erreichen, die an­deren wurden von den Wachposten wieder eingefangen. Ob sie anschließend abge­straft, in die berüchtigten “Gefängnisse im Gefängnis” gesteckt wurden, ist nicht be­kannt. Bereits eine Woche zuvor waren 21 KubanerInnen aus der “Howard Base” in der Panamakanalzone entwichen, wo in vier Lagern ebenfalls Tausende Flücht­linge interniert sind.
Nimmt man die wiederholten Hunger­streiks von “Balseros” hinzu, ergibt sich ein Bild, das die Nachrichtenagenturen mit “wachsende Unzufriedenheit mit der Lage in den Camps” beschreiben. Die Diagnose stimmt – und doch ist die Situa­tion weit verwickelter. Schon die beiden äußerlich so ähnlichen Fluchtversuche las­sen sich keineswegs miteinander verglei­chen. Aber gehen wir etappenweise vor.
Handschellen für HaitianerInnen?
Verweilen wir zunächst noch bei den “längstgedienten” Lagerinsassen in Guantánamo: den haitianischen Boat Peo­ple, von deren Schicksal die internationale Öffentlichkeit spätestens nach der An­kunft der kubanischen Flüchtlinge kaum noch Notiz nahm. Ihre Zahl, die zeitweilig über 20.000 lag und in der Woche vor der Rückkehr von Präsident Aristide nach Port-au-Prince noch 11.700 betrug, ist mittlerweile auf unter 6.000 gesunken. State Department und Lagerbehörden er­klären übereinstimmend, die Rückführung der HaitianerInnen in die Heimat erfolge ausschließlich freiwillig.
Im scharfen Gegensatz dazu stehen Aus­sagen von Flüchtlingen selbst, denen zu­folge die US-Militärs gedroht haben sol­len, jedem Handschellen anzulegen, der nicht von sich aus an Bord der Rück­kehrer-Schiffe gehen wollte. Auch wenn ich diese Berichte bei einem Besuch vor Ort nicht überprüfen konnte: Für mich be­steht kein Zweifel daran, daß zumindest ein Teil der haitianischen Boat People lie­ber noch eine Zeitlang in Guantánamo bleiben würde, als sofort in die Heimat zu­rückzukehren, wo auf sie eine ungewisse Zukunft wartet.
Gleichbehandlung angestrebt
Von haitianischen Exilgruppen war in den letzten Monaten wiederholt der Verdacht geäußert worden, die Flüchtlinge aus Haiti müßten unter schlechteren materiellen Bedingungen leben als die KubanerInnen. Dafür konnte ich keinen Beleg finden, im Gegenteil: Die Zelte der HaitianerInnen stehen “privilegiert” auf dem Beton des McCalla-Flugfeldes, die der Kubaner­Innen auf (nicht weniger ödem) planier­tem Boden, der von Steinen übersät ist. Dort schwebt aber ständig eine riesige rötliche Staubwolke über den Lagern, die die ohnehin prekären hygienischen Bedin­gungen zusätzlich verschlimmert und zu zahlreichen Erkrankungen der oberen Atemwege geführt hat, wie Ärzte unter den “Balseros” berichten.
Zumindest die oberen Chargen in der Mi­litärhierarchie der Basis achten meinen Beobachtungen nach streng auf die Gleichbehandlung von HaitianerInnenn und KubanerInnenn. So ist die Verpfle­gung für beide Flüchtlingsgruppen gleich gut bzw. gleich schlecht (zumeist Fer­tignahrung aus Armeebeständen oder “Humanitärer Hilfe”, zumindest für die mehreren hundert Kleinkinder ungenießbar). Eintreffende Spenden werden pro­portional aufgeteilt. Davon profitieren wiederum eher die HaitianerInnen, da die (vermögende) kubanische Exilgemeinde in den USA größere Mittel für ihre inter­nierten Landsleute aufbringen kann als die (ungleich ärmere) haitianische.
Und damit zu den KubanerInnenn in Guantánamo. (Da ich mich strikt auf das beschränken will, was ich selbst gesehen bzw. gehört habe, lasse ich Panama bei­seite. Ich gehe allerdings davon aus, daß dort prinzipiell die gleichen Probleme herrschen dürften.)
Heimkehrwillige diskriminiert
Zunächst ist eine strikte Unterscheidung nötig zwischen dem Camp “November 2” einerseits und den übrigen 19 Lagern an­dererseits. In “November 2” waren Mitte Oktober 647 Flüchtlinge untergebracht, (647 von 26.471, um die Größenordnun­gen im Auge zu behalten) und zwar Män­ner, die explizit den Wunsch geäußert hatten, zu ihren Familien nach Kuba zu­rückzukehren. Ihre Diskriminierung durch die Behörden der Basis war nicht zu über­sehen. Nur um ihr Lager marschierten die Wachposten mit der MPi auf dem Rücken (überall sonst praktisch unbewaffnet) und nur hier waren bis zum Zeitpunkt meines Be­suchs weder feste Waschplätze noch Du­schen noch Telefonapparate für R-Ge­spräche in die USA installiert worden.
Die Verantwortung dafür, daß den Insas­sen von “November 2” die Heimkehr ver­wehrt wird, liegt eindeutig nicht auf Seiten der kubanischen Regierung. Sie hat allen Flüchtlingen die Rückkehr in die Heimat und sogar ihren alten Arbeitsplatz ange­boten. Mag man an letzterem auch seine Zweifel hegen: Schon allein der Sinn der Führung in Havanna für propagandistische Effekte scheint Bürgschaft genug, um jede Gefahr der Heimkehrer für Leib und Le­ben auszuschließen.
Die Chancen der Bewohner von “November 2” auf baldige Heimkehr er­hielten jedoch mit einem Gerichtsurteil vom 31. Oktober einen Dämpfer. Bundes­richter Clyde Atkins aus Miami stellte sich hinter den Antrag einer Gruppe von Anwälten um Xavier Suarez, Ex-Oberbür­germeister von Miami, um jede Rück­führung von “Balseros” nach Kuba zu verbieten. Begründung: Es könne nicht ausgeschlos­sen werden, daß die Flücht­linge zu diesem Schritt genötigt würden, was den Men­schenrechten widerspräche. (Verschiedene Indizien weisen darauf hin, daß der ein­gangs geschilderte Flucht­versuch von “November 2” ausging und eine Reaktion auf genau dieses Urteil darstellte.)
Schatten des Gipfels
Das Rückführungsverbot wurde wenig später wieder aufgehoben, ohne daß den Insassen von “November 2” eine Frist für die – wie ich bezeugen kann: von ihnen aus freien Stücken angestrebte – Heimkehr gesetzt wurde. Der Grund dafür, daß Washington sich querstellt, dürfte im be­vorstehenden “Amerika-Gipfel” zu suchen sein, zu dem Kuba als einziges Land des Kontinents nicht eingeladen wurde. Viel­mehr soll die Insel dort wegen ihrer Men­schenrechtspolitik an den Pranger gestellt werden. Herausragendes Beweisstück der Anklage: die Massenflucht vom Au­gust/September. Was könnte da den USA ungelegener kommen als die Zeugenaus­sagen ehemaliger Bootsflüchtlinge, die sich über ihre Erlebnisse unter dem Sternen­banner beschweren und gar die Rückkehr ins “Gefängnis Kuba” den spärlichen Seg­nungen der “freien Welt” in Guantánamo vorziehen?
Völlig anders als in “November 2” ist die Stimmung in den übrigen Camps. Dort ist die Bereitschaft, nach Kuba zurückzukeh­ren, gleich Null. Die Euphorische Hoff­nung, vielleicht schon morgen zu den Ver­wandten nach Miami zu gelangen, wech­selt mit tiefer Verzweiflung über die als Haft empfundene Internierung in diesem (Originalton) “Konzentrationslager”. Die “Balseros” weigern sich zu begreifen, daß sie plötzlich in den USA nicht mehr will­kommen sein sollen, nachdem doch jahr­zehntelang jeder Castro-Gegner mit offe­nen Armen aufgenommen wurde.
Kaum jemand ist bereit oder fähig, sich in die Logik der US-amerikanischen Migra­tionspolitik hineinzudenken. Die Flücht­linge fühlen sich verraten und verkauft. Sie wollen nicht wahrhaben, daß sie nicht nur von der kubanischen Regierung, son­dern selbstverständlich auch von den USA als Schachfiguren in einem größer ange­legten Spiel mißbraucht werden.
Nur Einreise wäre eine Lösung
Clintons Angebot, die Flüchtlinge sollten von Havanna aus einen Antrag auf ein Einreisevisum für die USA stellen, stößt hier auf taube Ohren. Schon die Verle­gung nach Panama, wo die Lebensbedin­gungen dem Vernehmen nach besser sein sollen als in Guantánamo, lehnen die mei­sten strikt ab. Nur die Einreise in die USA wird von den “Balseros” als Lösung ak­zeptiert. Auch ihre einhellige, durch wie­derholte Hungerstreiks untermauerte For­derung, als politische und nicht etwa als Wirtschaftsflüchtlinge anerkannt zu wer­den, zielt in diese Richtung.
Überraschende Hilfe hat diese (gegenüber den Bewohnern von “November 2” unver­gleichlich größere) Gruppe von Balseros vom bereits genannten Richter Atkins er­halten. Er stellte im erwähnten Urteil die Behauptung auf, Guantánamo sei souver­änes Gebiet der USA, auf dem US-ameri­kanische Gesetze gälten. Nun ist diese These zwar völkerrechtlich unhaltbar und widerspricht auch Artikel 3 des von den USA erzwungenen “Pachtvertrages” für Guantánamo aus dem Jahre 1903. Doch ehe ein Gericht in nächster Instanz genau dies feststellt, hat sich auch Washington an das Urteil zu halten. Daraus aber erge­ben sich unabsehbare Konsequenzen.
Wäre die Flottenbasis tatsächlich US-Ge­biet, träten sofort verschiedene Gesetze zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der Flüchtlinge in Kraft. Um beim primitiv­sten zu beginnen: Sie hätten dann An­spruch auf anwaltliche Betreuung, wo­durch sie endlich stabilen Kontakt zur ein­flußreichen kubanischen Exilgemeinde und deren Organisationen erhielten und weit effektiver als “pressure group” einge­setzt werden könnten. Zweitens dürften sie nur eine begrenzte Zeit festgehalten werden und müßten danach freigelassen werden – in die USA, versteht sich.
Doch Anspruch auf Asyl?
Drittens könnten die “Balseros” politi­sches Asyl beantragen, wenn sie mit Guantánamo bereits US-Territorium er­reicht hätten. Damit ließe sich ihre Ein­reise nur noch minimal verzögern, aber nicht mehr aufhalten. Und viertens träte der “Cuban Adjustment Act” von 1967 in Kraft. Dieses Gesetz aus dem Kalten Krieg stuft alle KubanerInnen, welche die USA erreichen, automatisch als politische Flüchtlinge ein und verschafft ihnen inner­halb kürzester Zeit Aufenthalts- und Ar­beitsgenehmigungen, ja sogar die Staatsbür­gerschaft.
Daß Atkins’ Entscheidung auch den recht­lichen Status der haitianischen Flüchtlinge grundlegend verbessern würde, sei hier nur am Rande bemerkt. Schon was die KubanerInnen betrifft, stellt jede der ge­nannten Optionen für Washington ein Horrorszenarium dar. Die Regierung will aus innenpolitischen Zwängen heraus un­bedingt vermeiden, der generalisierten Angst vor einer unkontrollierten Einwan­derung neue Nahrung zu geben. (Das Anti-Einwanderungs-Referendum in Kali­fornien am 6. November zeigt, welche Sprengkraft in dieser Frage steckt.) Und außenpolitisch hat sie kein Interesse daran, abermals Zehntausende unzufrie­dene KubanerInnen zur selbstmörderi­schen Flucht gen Norden zu ermutigen – Regimegegner, die sie viel lieber als poli­tische Manövriermasse gegen Fidel Castro auf der Insel selbst einsetzen würde.
Wie also wird die US-Regierung auf die Herausforderung durch Richter Atkins re­gieren? Und viel dringlicher als dieser “sportliche” Wettstreit: Wann wird das menschliche Leiden der Internierten ein Ende haben? Das Schicksal der von (fast) allen Seiten (fast) beliebig zu instrumen­talisierenden “Balseros” in Guantánamo ist eine Zeitbombe, die größere Aufmerk­samkeit verdient – gerade im Vorfeld des Dezember-Gipfels in Miami.

“Jetzt haben die Leute das Sagen”

Der Colorado-Spitzenpolitiker und Ex-Präsident (1985-1990) Sanguinetti be­nutzte einen großen Teil seiner Redezeit dazu, das Schreckgespenst einer linken Regierung, womöglich mit Tupamaros (!) im Parlament, an die Wand zu malen, um vor allem noch am rechten Rand Stimmen zu gewinnen.
Montevideo mit Werbung überschwemmt:
Auf geht’s an die Arbeit
Kaum war die “Debatte des Jahres” been­det, da gab es natürlich bereits die neue­sten Wahlprognosen. Die regierende Nationale Partei (Blancos) habe praktisch gleigezo­gen mit den Colorados, und das Encuentro Progresista liege dicht dahinter und habe in Montevideo noch um zwei Prozentpunkte zugelegt. Solche Fernseh­duelle sind fast schon die Highlights im sonst eher öden uruguayischen Wahl­kampf, und das Publi­kum ist dankbar, daß wenigstens bei die­sen Gelegenheiten ein wenig Polemik und politischer Streit aus­getragen werden. An­sonsten werden die etwa zwei Millionen WählerInnen – in Uruguay besteht Wahl­pflicht – weniger mit Inhalten, sondern hauptsächlich mit Hochglanzprospekten, Fähnchen und Handzetteln “erschlagen”. Im eher vor­nehmen Stadtteil Pocitos ha­ben sich die Hunde- und Eigenheimbesit­zerInnen schon über die Massen von Wahlkampf­zettelchen auf der Straße be­schwert, die sie am Morgen durchwaten müssen, wenn der Vierbeiner Gassi ge­führt wird. Uru­guays Fernseh­zuschauerInnen werden hart strapaziert. Schon außerhalb der Wahl­kampfzeiten präsentieren die drei privaten und der ein­zige staatliche Fernsehkanal bis zu 50 Prozent Werbung im Programm. In der jetzigen heißen Wahlkampfphase dauert ein normaler Spielfilm mindestens drei Stunden, weil zwischen Waschmittel- und Deostiftreklame die Wahlspots pla­ziert sind. Fernsehwerbung ist teuer, und das Verhältnis zwischen TV-Spots der kon­servativen Parteien und denen der Linken dürfte etwa bei 5:1 liegen. Kom­merzielle Werbeargenturen haben die Parteien be­raten, und dabei sind dann so sinnige Sprüche wie ” Ein Uruguay für alle!” oder “Auf geht’s an die Arbeit…!” herausge­kommen. Auch das Mitte-Links-Bündnis Encuentro Progresista war nicht viel krea­tiver und wirbt mit dem Slogan: “Jetzt ha­ben die Leute das Sagen” Über die Bild­schirme flimmern die Präsidentschafts­kandidaten, die ihrer ju­belnden Fan-Gemeinde zuwinken, und auf Montevi­deos Einkaufsstraße, dem 18 de Julio, dröhnen die Wahlkampfslogans und die Erkennungsmelodie aus den Lautspre­chern der Parteibusse. Wahlkampf made in USA, könnte man meinen, und auch AktivistInnen der Linken beklagen durch­aus selbstkritisch, daß ausgeklügelte PR-Kampagnen diesen Wahlkampf zuneh­mend bestimmen und weniger die viel be­schworene militancia política, das politi­sche Engagement der aktiven Basis.
Wahlkampf made in USA
Trotzdem dürfte es am Wahlabend äußerst spannend werden, denn nach den jüngsten Umfragen liegen die traditionellen Par­teien Colotados und Blancos fast gleich­auf mit jeweils 27 Prozent der Stimmen, dicht gefolgt vom Mitte-Links-Wahlbünd­nis Encuentro Progesista, das landesweit bisher bei rund 22 Prozent liegt. Etwa 13 Prozent der WählerInnen sind laut Umfra­gen noch unentschlossen und warten ab, was in den letzten drei Wochen noch an Skandalen und Skankälchen an die Öf­fentlichkeit kommt, und wie sich die Prä­sidentschaftskandidaten, selbstverständ­lich alles Männer, bei den Fensehduellen schlagen.
Montevideo Hochburg der Linken
Als sicher gilt heute schon, daß die Linke erneut die Wahlen in Uruguays Hauptstadt Montevideo gewinnen wird. Dort leben immerhin fast 50 Prozent der insgesamt etwa drei Millionen EinwohnerInnen des kleinsten südamerikanischen Landes. Die uruguayische Großstadtlinke wird in der Metropole mit einem bequemen Vor­sprung erneut den Bürgermeister stellen. Dies wird ab 1. März 1995 der Stadtplaner Mariano Arana sein, kein Politprofi oder Technokrat, sondern eher der sympathi­sche Intellektuelle von der Universität, mit Sinn für Bürgerbeteiligung und behutsame Stadterneuerung. Ihn erwartet keine einfa­che Aufgabe, vor allem wenn er wie sein Amtsvorgänger mit sehr wenig Finanz­mitteln auskommen muß und gegen eine konservative nationale Regierung regieren müßte. Die nationalen Wahlen, und das wissen auch die KandidatInnen der Lin­ken, werden in Uruguay allerdings im Landesinneren entschieden. Da gilt es, die Domäne der konservativen Parteien (Partido Nacional = Blancos und Partido Colorado) zu brechen, um eventuell die Sensation zu schaffen und Tabaré Vázquez, den ersten sozialistischen Bür­germeister von Montevideo, zum neuen Staatspräsidenten zu wählen.
Das Zweiparteiensystem ist geknackt
Vor fünf Jahren war es noch die große Sensation, als das Linksbündnis Frente Amplio zum ersten Mal in der Geschichte des Landes die Bürgermeisterwahlen in Montevideo gewann. Im Jahre 1994, ge­nau 10 Jahre nach Beendigung der Mili­tärdiktatur in Uruguay, hat die Linke das traditionelle Zweiparteiensystem endgül­tig geknackt. Sie hat durchaus Chancen, auch landesweit bei den Wahlen für eine Überraschung zu sorgen. “Wir haben noch vier Wochen Zeit, und es fehlen uns nur noch etwa fünf Prozentpunkte zum Wahl­sieg”, meinte Tabaré Vázquez auf der Ab­schlußkundgebung eines Sternmar­sches des Encuentro Progresista in Montevideo, an dem mehr als 40.000 Menschen teil­nahmen. Vázquez weiß, wovon er spricht, und er weiß auch, daß die Frente Amplio tausende von Aktivi­stInnen mobilisieren kann, die in Stadteil­gruppen organisiert sind und in den bevor­stehenden Tür-zu-Tür-Kampagnen für die Wahl des Encuentro Progresista werben werden – ein Vorteil, den die traditionellen Parteien trotz dickerer Finanzdecke für die teure TV-Werbung und die bezahlten Flugblatt­verteiler nicht so einfach wett­machen können. Trotzdem ist man auch in Uru­guay vorsichtiger geworden, denn auch beim großen Nachbarn Brasilien hatten ja die Meinungsumfragen bis we­nige Mo­nate vor der Wahl dem linken Kandidaten Lula den Wahlsieg vorherge­sagt.
In die Breite und ab durch die Mitte?
Die Linke in Uruguay setzt auf ein breites Bündnis, und Tabaré Vázquez hatte seine Präsidentschaftkandidatur davon abhängig gemacht, daß die Frente Amplio, in der über 20 linke und linksliberale Parteien und Organisationen zusammengefaßt sind, einem breiten Wahlbündnis unter anderem zusammen mit ChristdemokratInnen und DissidentInnen aus der regierenden Blanco-Partei zustimmt. Über das Zustan­dekommen des breiten Bündnisses Encuentro Progresista und vor allem über programmatische Fragen einer gemeinsa­men Wahlplattform hatte es natürlich zu­vor beim Kongreß der Frente Amplio im Juli dieses Jahres heftige Auseinanderset­zungen gegeben. Vor allem der linke Flü­gel der Frente, MLN Tupamaros, UNIR und Teile der ehemaligen KP Uruguays kritisierten die moderaten Töne etwa bei den Themen Bedienung der Auslands­schulden, Verstaatlichung der Banken und Uruguays Rolle im zukünftigen gemein­samen südamerikanischen Markt Mer­cosur. Auf dem Kongreß im Juli dieses Jahres fand sich keine Zweidrittel-Mehr­heit, um das Programm der Frente Amplio aus den siebziger Jahren mit seinem anti-oligarchischen und anti-imperialistischen Grundtenor zu verändern. Trotzdem gab der Kongreß nach langen Debatten grü­nes Licht für die Verhandlungen zum Wahl­bündnis Encuentro Progresista, ohne je­doch genaue Vorgaben für ein Regie­rungsprogramm zu machen. Das Bündnis ist geschmiedet, und das gemeinsame Re­gierungsprogramm ist vielen in der Frente Anplia zu light. Trotz massiver Kritik vom linken Flügel und Drohungen der Füh­rungsspitze der Frente Amplio, “die linken Querulanten sollen doch aus­treten, falls ihnen die ganze Richtung nicht mehr paßt”, hat das Bündnis bisher gehalten. Die Einschätzungen gehen aller­dings ziemlich weit auseinander, was im Falle eines Wahlsieges überhaupt an Ver­änderungen möglich oder erwünscht ist. Alle Beteiligten konzentrieren sich heute auf die gemeinsame Wahlkampagne, auch weil ihnen klar ist, daß ihr zukünftiges Gewicht innerhalb der Frente nicht zuletzt davon abhängt, wieviel Prozentpunkte ihre Gruppierung zum Gesamtergebnis für die Frente Amplio bzw. für deren Wahl­bündnis Encuentro Progresista beiträgt.
Spannungen innerhalb der Frente
Innerhalb der Frente gibt es auch seit Mo­naten erbitterte Diskussionen, welches Gewicht die einzelnen Parteien und Orga­nisationen haben sollen. Geht es nach dem Willen der mitgliedsstärksten Organisa­tionen wie z.B. der Sozialistischen Partei (Tabaré Vázquez) oder der Asamblea Uruguay mit Danilo Astori an der Spitze, so sollen die Parteien in einem zukünfti­gen Leitungsgremium je nach Mitglieds­stärke und errungenen Wahlprozenten Stimmenanteile bekommen.
Vor allem der linke Flügel innerhalb der Frente, das MPP (Movimiento de Partizi­pación Popular), das sind unter anderem die MLN-Tupamaros und einige andere kleinere Organisationen, aber auch UNIR mit dem Movimiento 26 de Marzo und die Rest-KP (eher orthodoxer Flügel), wehren sich ge­gen diese Änderung und befür­worten eine weitgehend gleichberechtigte Repräsen­tanz aller Organisationen und Parteien in­nerhalb der Frente Amplio. Das Thema ist vorläufig zurückgestellt bis nach den Wahlen, wird aber mit Sicher­heit noch ei­nige interne Debatten auslö­sen, und das wissen natürlich auch die politischen Gegner aus der Colorado- und Blanco-Partei. Die traditionellen Parteien schlafen nicht, und sie geben sich redlich Mühe, das Schreckgespenst einer linken Regie­rung an die Wand zu malen. Beim großen Fernsehduell führte der Colorado-Politiker Sanguinetti scharfe Angriffe gegen den linken Flügel der Frente Amplio vor allem gegen die Tupamaros. Vázquez konterte mit Daten und Fakten über die verfehlte Regierungspolitik unter Sanguinettis Prä­sidentschaft und deren Fortsetzung unter der amtierenden Regie­rung Lacallo (Nationale Partei/Blancos). Er betonte, daß die neoliberale Wirt­schaftspolitik der verschiedenen konser­vativen Regierungen für die Mehrheit der uruguayischen Be­völkerung zum Alp­traum geworden sei. “Über 70.000 Indu­striearbeitsplätze sind in den letzten sie­ben Jahren vernichtet worden, und über 50 Prozent der unter 24-jährigen sind arbeitslos oder haben kei­nerlei Aussicht, in ihrem Beruf Arbeit zu finden”, betonte Tabaré Vázquez und fügte hinzu, daß in Uruguay, durch staatli­che Initiativen und Anreize, wieder ver­stärkt Arbeitsplätze vor allem auch im In­dustriesektor und in der Landwirtschaft geschaffen werden müssen. Er forderte einen grundsätzlichen Wandel in der Poli­tik und eine Umvertei­lung der Lasten von unten nach oben und nicht, wie gehabt, in umgekehrter Rich­tung.
Flagge zeigen
Der Wahlkampf in Uruguay tritt jetzt in seine heiße Phase, und neben den ange­mieteten Werbeflächen, vollgeklebten Lichtmasten und bemalten Häuserwänden zeigen jetzt auch viele EinwohnerInnen der Stadt, welchem Kandidaten sie ihre Stimme geben werden. Mit Stickern, Au­toaufklebern oder einem Wahlplakat am Wohnungsfenster oder vom Balkon wird Flagge gezeigt, und die Nachbarschaft er­fährt, was sie eigentlich schon immer vermutet hatte – oder das genaue Gegen­teil. Am Zeitungskiosk, im Lebensmittel­laden oder in der Warteschlange bei Ban­ken und Behörden diskutieren die Men­schen über die Wahlen oder geben ihre Kommentare über Kandidaten oder die neuesten Enthüllungen über Korruption und Vetternwirtschaft in der Staatsbüro­kratie ab.
Fast täglich erscheinen neueste Umfra­geergebnisse, und auch mit diesen Zahlen wird Politik und Wahlkampf gemacht. Die Colorados verlieren ihren bisher deutli­chen Vorsprung gegenüber den Blancos, und das Encuentro Progresista holt leicht auf. Je nach Meinungsforschungsinstitut haben entweder die Blancos oder Colora­dos bislang noch leicht die Nase vorn. In­nerhalb der regierenden Blanco-Partei holt der Lieblingskandidat des amtierenden Präsidenten Lacalle, Ex-Innenminister Dr. Andrés Ramirez kräftig auf gegen seinen Rivalen aus der eigenen Partei, den ehe­maligen Direktor der staatlichen Elektri­zitätsgesellschaft Dr. Alberto Volonté, den wiederum der Präsident nicht leiden kann.
Kompliziertes Wahlsystem
Uruguays Parteienlandschaft ist kompli­ziert, und das Namens- und Kanidatenka­russell ist für AusländerInnen kaum durch­schaubar. Jede Partei besteht aus zahlrei­chen Untergruppierungen, die bei den Wahlen ihre eigenen Listen zur Abstim­mung stellen, auf denen unter­schiedliche Präsidentschaftskandidaten stehen kön­nen. Die traditionellen Parteien Blancos und Colorados haben gleich je­weils drei Präsidentschaftskandidaten zur Auswahl. Das soll WählerInnenstimmen von links bis rechts abschöpfen. Das Mitte-Links-Wahlbündnis Encuentro Pro­gresista hat sich auf einen gemeinsamen Präsident­schaftskandidaten und Vizeprä­sidenten geeinigt, die auf allen Listen der über 20 Parteien und Gruppierungen ste­hen. Für die beiden Kammern des Parla­ments er­scheinen dann die KandidatInnen der je­weiligen Partei oder Gruppe. Uru­guays WählerInnen müssen sich am Wahlsonn­tag durch einen Berg von Wahllisten wühlen, um die Liste ihrer Partei für die nationalen Wahlen und die Regionalpar­lamente in die Umschläge zu tüten. Um die Sache noch etwas kompli­zierter zu machen: In Uruguay wird nicht etwa der Kandidat Präsident, der absolut die mei­sten WählerInnenstimmen be­kommen hat, sondern derjenige, dessen Partei im natio­nalen Maßstab vorne liegt. Ein Beispiel: Tabaré Vázquez vom EP er­ringt die mei­sten Stimmen, und trotzdem wird Sangi­unetti Präsident, weil alle Colorado-Kan­didaten zusammen mehr Stimmen be­kommen haben als das EP und Sanguinetti innerhalb der Colorados die Nase vorne hat. Die vielzitierten politi­schen Beob­achterInnen halten diese Vari­ante sogar für ziemlich wahrscheinlich.
Wahlen und Referendum
Am 27. November wird in Uruguay gleichzeitig über zwei zentrale Themen eine Volksabstimmung durchgeführt. Zum einen geht es um eine Initiative, die in der Verfassung festlegen möchte, daß 27 Pro­zent des Staatshaushaltes für Bildung aus­gegeben werden müssen.
Zum anderen sollen die WählerInnen entscheiden, ob die staatliche Sozial- und Rentenversiche­rung unangetastet bleiben soll. Beide Themen werden natürlich auch im Wahl­kampf heftig diskutiert. Uruguay gibt heute nur etwa vier bis sechs Prozent der Haushaltsmittel für Bildung aus und steht in der internationalen Statistik damit noch hinter Ländern wie Senegal, dem Sudan oder Kolumbien. Ein uruguayischer Grundschullehrer verdient monatlich we­niger als 250 US-Dollar, und 72 Prozent der LehrerInnen haben zumindest zwei Jobs nebeneinander. Die UNESCO fordert die “Entwicklungsländer” auf, mindestens 6 Prozent des Bruttoinlandprodukte für Bildung auszugeben. Uruguay ist heute meilenweit entfernt von diesem Ziel. 1965 wurden immerhin die jetzt wieder gefor­derten 27 Prozent des Staatshaushalts für Bildung ausgegeben. Heute sind die Schulen in einem beklagenswerten Zu­stand, viele davon müßten eigenlich we­gen Baufälligkeit geschlossen werden. Es fehlt überall an Lehrmaterial, und auch die ehemals international berühmte staatliche Uni hat mehr als bescheidene Finanzmit­tel. Die meisten AkademikerInnen arbei­ten eigentlich nur noch an der Uni, weil es sich für die persönliche Biographie gut macht. Parallel suchen sie sich noch einen anderen Job zum Überleben.
Referendum über Bildungs- und Gesundheitspolitik
Es steht völ­lig außer Zweifel, daß das uruguayische Bildungssystem in den letz­ten zwei Jahr­zehnten völlig herunterge­wirtschaftet wurde. Die politische Pole­mik geht nun darum, woher das Geld kommen soll. Die Linke schlägt Kürzun­gen im Verteidi­gungshaushalt, Abbau der Staatsbürokra­tie, Besteuerung von nicht genutztem Agrarland, und die Aussetzung der Be­zahlung der Auslandsschulden vor. “Uruguay überweist täglich 2 Millionen US-Dollar für die Bedienung des Schul­dendienstes”, schreibt die Wahlkampfzei­tung des MPP und der MLN-Tupamaros, La Pulga (der Floh). Eine Mehrheit für das “Ja” zu diesem Thema, gilt als relativ wahrscheinlich, obwohl sich gerade die konservativen Parteien er­bittert dagegen wehren, einen festen Prozentsatz für den Bildungsetat in der Verfassung zu veran­kern.
Auch beim zweiten Thema, Unan­tastbarkeit der staatlichen Sozial- und Rentenversiche­rung, gilt ein “Ja” als rela­tiv wahrschein­lich. Sämtliche Versuche und Vorschläge einer zumindest teilwei­sen Privatisierung dieser Einrichtungen sind bisher immer auf vehemente Kritik bei der Organisation der RentnerInnen, der Gewerkschaften und der linken Par­teien gestoßen. In der reichlich überalter­ten uruguayischen Ge­sellschaft ist die äl­tere Generation auch ein wichtiges Wäh­lerpotential und zudem ziemlich gut orga­nisiert.

Zuviel gesiegt

Das ganze Jahr hindurch hatte der “CCD”, der “Demokratische Verfassungsgebende Kongreß”, getagt, nun lag dem Volke am 31.Oktober das Ergebnis seiner Arbeit zur Abstimmung vor: der Entwurf für eine neue peruanische Verfassung. Überraschungen enthält dieser nicht, hatte Fujimori doch bei der Wahl des Kongresses im November letzten Jahres mit nicht unbedingt demokratischen Mitteln klare Mehrheitsverhältnisse zu seinen Gunsten sichergestellt. Und so erschienen denn auch alle öffentlich umstrittenen Anliegen des Präsidenten in der Vorlage: die Stärkung der präsidentiellen Macht gegenüber dem Parlament, die Wiedereinführung der Todesstrafe und die Möglichkeit der einmaligen Wiederwahl des Präsidenten bis hin zu einer maximalen Amtszeit von zehn Jahren. Vor allem der letztgenannte Punkt setzte Fujimori heftiger Kritik aus, denn man darf davon ausgehen, daß er an sich selbst als ersten Nutznießer dieser Verfassungsänderung denkt.

Der “Präsident von Lima”

Für Fujimori war das Referendum damit auch schon ein erster Vorlauf für die Präsidentschaftswahl 1995. Mit der knappen Zustimmung der peruanischen Bevölkerung am 31.Oktober ist der Weg für eine erneute Kandidatur zwar formal frei, aber Fujimori kann mit dem Ergebnis nicht zufrieden sein. Nur in der Hauptstadt Lima konnte er mit über 60% noch eine solide Mehrheit erreichen, während in vielen anderen Departements das “No” gewann. Schon tituliert die Zeitschrift “Sí” Fujimori als “Präsidenten von Lima”.
Drei Jahre lang hatte er es immer wieder geschafft, im richtigen Moment durch spektakuläre Erfolge Popularitätswerte von über 70% zu erzielen, obwohl er seinen WählerInnen einiges zumutete. Angefangen mit dem wirtschaftlichen Schockprogramm 1990 bis zu seinem “Selbstputsch” am 5.April 1992, als er Parlament und Obersten Gerichtshof auflöste, enthielt seine Regierungszeit allerhand Schwerverdauliches. Aber Fujimori traf mit seinem Auftreten meist ins Schwarze der öffentlichen Meinung. Bei seinem Putsch präsentierte er sich als starker Präsident, der mit dem korrupten Sumpf in Parlament und Justiz aufräumt. Den Höhepunkt des Erfolges bildete der 12.September 1992: Abimael Guzmán wurde verhaftet.
In jedem Fall konnte Fujimori für das Referendum auf die ungewollte Unterstützung der Opposition zählen. Die Kampagne für das “No” war ein Zankapfel zwischen mehreren Oppositionsparteien, von denen pikanterweise ausgerechnet die Ex-Regierungspartei von 1985 bis 1990, Alan Garcías populistische APRA, Führungsansprüche anmeldete. Die bloße Erwähnung der APRA sorgt bei der großen Mehrheit der PeruanerInnen nach wie vor für spontanes Entsetzen, so gesehen konnte die APRA-Spitze Fujimori keinen größeren Gefallen tun, als sich öffentlich vehement gegen den Verfassungsentwurf auszusprechen.

Vom Triumph ins Dilemma

Das wichtigste Element der Kampagne Fujimoris vor dem Referendum war die angebliche Kapitulation Sendero Luminosos. Sorgfältig hatte er die Veröffentlichung der Briefe Guzmáns inszeniert, um sich wieder einen Popularitätsschub in der öffentlichen Meinung zu verschaffen. Guzmán hatte dabei offensichtlich seine eigenen guten Gründe, das Spiel mitzuspielen (siehe LN 233). Fujimori, scheinbar im Besitz aller Trümpfe, könnte allerdings zu sorglos gepokert haben.
Peinlich genug war schon die Vorgeschichte. Unter Berufung auf vertrauliche Palastquellen hatten zwei große Zeitungen in Lima schon im Juli angekündigt, zum Nationalfeiertag am 28.Juli sei eine spektakuläre Äußerung von Abimael Guzmán zu erwarten, er werde die Kapitulation verkünden. Das ganze Land saß während der Präsidentenrede vor dem Fernseher, aber Fujimori erwähnte die Meldungen mit keinem Wort. Auch vor dem ersten Jahrestag der Festnahme Guzmáns am 12.September kochte wieder die Gerüchteküche. Als Fujimori am 1.Oktober vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen den ersten Brief Guzmáns präsentierte, war dieser zwar in Peru immer noch eine Sensation, aber trotzdem blieb der Eindruck, der Präsident habe mit den Guzmán-Briefen taktiert, um sie erst im für ihn geeigneten Moment des Verfassungswahlkampfes an die Öffentlichkeit zu bringen.
Mit seinem Triumphalismus angesichts der angeblichen Kapitulation Senderos hat sich Fujimori, ob es nun von Guzmán beabsichtigt war oder nicht, in ein Dilemma manövriert. Fujimori weiß, daß er mit seinem autoritären Regierungsstil auf die Unterstützung der öffentlichen Meinung angewiesen ist, will er nicht im eigenen Land als einsamer Diktator dem protestierenden Volk gegenüberstehen. Um diese Unterstützung zu behalten, braucht er beides: den Sieg über Sendero Luminoso und die weitere bedrohliche Existenz der Guerilla.
Der Sieg ist die nachträgliche Rechtfertigung aller undemokratischen Maßnahmen. Die Bevölkerung hatte Sendero tatsächlich als so große Bedrohung wahrgenommen, daß sie fast jede beliebige Initiative des Präsidenten mehrheitlich mitzutragen bereit war, solange sie Erfolg gegen den Terrorismus versprach. Ohne eindeutige Erfolgsmeldung mußte die Popularität des Präsidenten bröckeln, deshalb die bombastische Inszenierung des Postverkehrs zwischen Hochsicherheitsgefängnis und Präsidentenpalast.
Darüberhinaus war der Erfolg essentiell für das wichtigste Ziel Fujimoris: Er mußte ein Signal an das bisher so investitionsunwillige internationale Kapital aussenden. Schon als er 1990 das Amt antrat, formulierte er zwei zentrale Anliegen: den Sieg über den Terrorismus und die Anwerbung massiver Investitionen aus dem Ausland. Das Kapital kommt erst, wenn der Ausnahmezustand von Stabilität abgelöst ist und damit die Investitionsrisiken vermindert werden. Nicht zufällig war es die internationale Bühne der UNO, die Fujimori für die Bekanntgabe des ersten Briefes nutzte.
Genauso wichtig wie der Sieg über Sendero ist für den Erfolg Fujimoris in der öffentlichen Meinung allerdings auch die Existenz des Terrorismus. In dem Maße wie das subjektive Gefühl der unmittelbaren Bedrohung durch den Terrorismus bei den Menschen abnimmt, sinkt auch die Selbstverständlichkeit der Unterstützung für den Präsidenten. Fujimori hat seinen Zweck gewissermaßen erfüllt, für die immer weitere Konzentration der Macht in seiner Person fehlt ihm zunehmend die Legitimation. Der Präsident ist dabei, einen der wichtigsten Pfeiler seiner Macht eigenhändig zu untergraben. Die Möglichkeit, mit einer Angstkampagne vor einem Wiederaufleben Senderos die öffentliche Meinung auf seiner Seite zu behalten, birgt ein hohes Risiko, denn in dieser Argumentation läge das Eingeständnis, daß der Sieg nicht ganz so triumphal war, wie noch vor kurzem verkündet. Unbeschädigt kann Alberto Fujimori kaum noch aus diesem Dilemma herauskommen.

Nicht alle Senderistas sind verhaftet

Noch schwieriger wird Fujimoris Position durch die jüngsten Attentate Sendero Luminosos. Die noch aktiven Kader unterstrichen im Vorfeld des Referendums mit einer ganzen Serie von Anschlägen, daß sie keineswegs an Aufgabe denken. Es ist unklar, wie schlagkräftig die Reste Sendero Luminosos noch sind, ob es ein gemeinsames Oberkommando gibt oder ob einzelne “Säulen” isoliert voneinander handeln. Über die Entwicklungen in den noch funktionierenden Strukturen Senderos nach den Briefen Guzmans kann nur spekuliert werden. Interne Spaltungen sind ebenso denkbar wie eine Distanzierung der neuen Sendero-Elite, wenn es sie denn gibt, von der verhafteten Führungsschicht.
Fest steht, daß die Briefe Guzmáns nicht eine allgemeine Demoralisierung der verbliebenen Senderisten bewirkt haben, daß sie aber ganz offensichtlich weit davon entfernt sind, die Kraft für eine neue umfassende Offensive aufzubringen.
Die Frage ist, wie die Lage nun von der Bevölkerung wahrgenommen wird und wie das so heftig umworbene internationale Kapital reagiert. Die neuen Attentate Senderos machen Fujimori nicht völlig unglaubwürdig, aber das Image des “starken, kompetenten Führers” ist schon angekratzt. Auch die potentiellen Investoren dürften mit Aufmerksamkeit registriert haben, daß der offizielle Diskurs Teile der Realität sorgfältig ausspart.

An der Leine der Streitkräfte

In der öffentlichen Meinung hat Fujimori, wie das Ergebnis des Referendums zeigt, seine Mehrheit noch nicht verloren. Aber Fujimori ist ein Präsident, der von kurzfristigen Konjunkturen lebt. Er hat keine stabile soziale Basis und keine starke, ihn stützende Partei. Eine solche Herrschaft ist auf die plebiszitäre Zustimmung der Bevölkerung angewiesen, egal, ob diese den Präsidenten aus tiefster Überzeugung oder als kleineres Übel unterstützt. Wenn, wie in Peru, der Großteil der Unterstützung aus der pragmatischen Entscheidung für das kleinere Übel resultiert, kommen dabei Mehrheiten heraus, die in kürzester Zeit wieder verlorengehen können. Für Fujimori heißt das, daß auch kleine Anzeichen von Mißerfolg und Schwäche schon zu einem rapiden Popularitätsverlust führen können.
Angesichts dieser Gefahr muß sich Fujimori verstärkt auf andere Stützen seiner Macht verlassen, vor allem auf die Militärs, die ihn bisher vorbehaltlos unterstützten. Sie aber fordern für ihre Unterstützung einen Preis: Der Präsident soll ihnen den Rücken gegenüber Vorwürfen wegen Menschenrechtsverletzungen freihalten. Der Fall der verätzten Leichen von La Cantuta könnte dabei für Fujimori zum Prüfstein werden.
Am 18.Juli 1992 waren neun StudentInnen und ein Professor der Universität La Cantuta in Lima entführt und ermordet worden. Erst ein anonymer Brief an eine peruanische Zeitschrift ein Jahr später sorgte dafür, daß die Überreste der Leichen gefunden wurden. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß die Täter aus den Streitkräften kamen. Fujimori weiß, daß international die Menschenrechtssituation in Peru sehr aufmerksam verfolgt wird. Negative Schlagzeilen sorgen schnell für eine schwächere Verhandlungsposition Perus gegenüber anderen Ländern und den großen internationalen Finanzinstitutionen. Auch zwischen der gewachsenen Abhängigkeit von den Militärs einerseits und dem internationalen Druck in Sachen Menschenrechten andererseits sind die Spielräume Fujimoris außerordentlich klein geworden.
Fujimori hatte, ebenso wie Abimael Guzmán, große Pläne zur Schaffung einer “neuen Demokratie”, eines neuen Staates, der die marode Parteiendemokratie ablösen sollte. Guzmán hat seine Pläne bereits verschieben müssen. Vielleicht liegt für Fujimori in dem Triumph, seine Präsidentschaft bis ins Jahr 2000 verfassungsrechtlich möglich gemacht zu haben, gleichzeitig der Anfang seines politischen Endes. Wer davon profitieren wird, ob die alten politischen Parteien oder andere Kandidaten, ist eine Frage für sich. Aber die Jahre der absoluten Herrschaft Fujimoris scheinen vorbei zu sein. Der Spielraum für andere politische Optionen, welcher Couleur auch immer, ist größer geworden.

Geschichten vom transplantierten Intellektuellen

“Der Markt in den Köpfen” ist das Hauptthema des diesjährigen Lateinamerika-Jahrbuchs. Ein Thema, das den HerausgeberInnen wohl auf den Nägeln brannte, ,sind sie doch “verblüfft oder enttäuscht, wenn wir langjährige Weggefährten, Kolleginnen, Forschungspartner ganz unvermutet im neoliberalen Gewande wiedertreffen”, in Lateinamerika, versteht sich. Um die lateinamerikanischen Intellektuellen also geht es, und um die Frage, wie es zu erklären ist, daß so viele, die noch vor wenigen Jahren als schärfste KritikerInnen der kapitalistischen Ausbeutung auftraten, heute die “Marktgesetze” uneingeschränkt gelten lassen. Daß dies das Thema sei, verheißen jedenfalls Titel und Einführung, doch nicht alle Texte halten, was die Ankündigung verspricht.
Urs Müller-Plantenberg beschreibt in seinem Text die Wandlungen der CEPAL, der Wirtschaftskommission für Lateinamerika. Die CEPAL “hat sich in den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz nach dem Zweiten Weltkrieg mit der offensiven Vertretung einer wirtschaftspolitischen Strategie für die lateinamerikanischen Länder einen solchen Namen gemacht, daß es noch heute schwerfällt, sich unter Cepalismo etwas anderes vorzustellen als eben jene Entwicklungsstrategie einer binnenmarktorientierten, importsubstituierenden Industrialisierung.” Das aber muß man wohl, denn nach Jahren der konzeptionellen Abstinenz wartet die CEPAL nun mit einem Programm auf, das, wie Müller-Plantenberg eindringlich schildert, mit allen wesentlichen Grundprinzipien des Neoliberalismus voll in Einklang zu bringen ist. Aber die CEPAL leistet einen eigenen Beitrag damit, “daß sie zusätzlich zur Forderung nach Markteffizienz und Eingliederung in den Weltmarkt weitere Ziele formuliert (..), die nicht im Mittelpunkt des Interesses des Neoliberalismus stehen, gleichwohl aber von ihm akzeptiert werden können.” Namentlich geht es um die soziale Abfederung der Härten neoliberaler Programme. Daß die CEPAL auf neoliberalem Kurs schwimmt, nimmt nicht wunder, denn nach Meinung des Autors konnte sie erst dann überhaupt ein neues Konzept vorlegen, als sie sich wieder auf eine einheitliche Denkströmung in den lateinamerikanischen Ländern stützen konnte -und das ist heute der Neoliberalismus.

Wie kommt der Markt in die Köpfe?

Wieso das so ist, das erfahren wir deutlicher aus dem Aufsatz von Juan Gabriel Valdes “Die Chicago-Schule: Operation Chile”. Haargenau -und im Jahrbuch doch nur in einem Ausschnitt aus einem Buch Valdes’ -belegt der Autor den “Ideologietransfer von Chicago nach Santiago”, der in der Zeit der Pinochet- Diktatur stattgefunden hat. Die ideologische Diktatur der “Autorität der ökonomischen Wissenschaft” hat sich bis heute fortgesetzt. Der Autor braucht keine Verschwörungstheorie zu konstruieren, er beschreibt schlicht anhand von Personen und Vorgängen, wie eine ganze Reihe Hochschulabsolventen der University of Chicago die wesentlichen Positionen der staatlichen Wirtschaftspolitik und der Ideologiebildung in Chile übernahmen. Ziel: Das Ersetzen von Politik durch Technologie, von Politikern durch Ökonomen. Mit der Machtübernahme der Militärs wurde die kontrollierte Zerstörung des Alten -unabdingbare Voraussetzung für die Durchsetzung des neoliberalen Denkens in allen lateinamerikanischen Ländern -rasant vollzogen. “Nirgendwo wandte man die neoklassische Theorie in größerer Reinheit und mit mehr Radikalismus an als hier. Und was noch wichtiger ist: In keinem anderen Fall hatte man die Kühnheit, mit ihr die Gründungsphilosophie einer neuen Gesellschaft verfassen zu wollen.” Wohl diese “Kühnheit”, dieses nicht durch vorgebliche “Sachzwänge”, sondern mit einem positiv formulierten Gesellschaftsmodell vermittelte Programm, ist es, was Chile zum “Modell” werden ließ -und was letztendlich auch die CEPAL-Strategie maßgeblich beeinflußt hat.
In seinem Beitrag “Die Intellektuellen und der mexikanische Staat im verlorenen Jahrzehnt” beschreibt Sergio Zermeño den allmählichen Wandel der Intellektuellen. Er geht von einer Spaltung der Gesellschaft in drei Teile aus: Den “harten Kern”, die “Integrierten” und die “Ausgegrenzten”. Seiner Ansicht nach hat es der harte Kern im Falle der Intellektuellen geschafft, sie durch diverse Mechanismen zu korrumpieren, ihre Kommunikation mit dem Volk zu brechen, und in den Kreis der “integrierten Minderheit” mit einzubeziehen, unter Ausnutzung des intellektuellen Frusts über die Entwicklung. “Es ist vielleicht der Kontrast zwischen den modernen Konzepten, mit denen wir.aufgewachsen sind, und einer Zukunft, die immer weniger mit ihnen übereinstimmt, der dazu führt, daß Wissenschaft und Technik (die Universität) sich immer weiter von der Gesellschaft (und der Natur) entfernten und sich der Macht annähern, vor allem, wenn diese eine Zukunft der Modernisierung verspricht.” Und: “Die Organisationen und die Führungsspitzen der Integrierten vollziehen eine Wende zum Parlamentarismus, zu den Gemeinderäten, zu den Parteivorständen und Leitungsposten in den Ministerien, Universitätsinstituten und Fakultäten, zu Beraterverträgen, Fernsehauftritten und festen Kommentarspalten. Der Sog wirkt von unten und von oben: Politbürokratisierung oder Verelendung.” Nach Zermeño müssen sich die Intellektuellen “die Rekonstruktion der sozialen Identitäten zum Ziel setzen und die fieberhafte Aktivität in den Bereichen des politischen Systems, wo es um Einfluß, um Repräsentation, kurz »politische Demokratie« geht, ein wenig drosseln, die den Ausgegrenzten nur spärlichen Nutzen bringt (…)”
Die anderen Beiträge des ersten Teiles konzentrieren sich auf die -zweifelsohne sehr kompetente -Beschreibung der Auswirkungen neoliberaler Politik in den verschiedenen Ländern. Wolfgang Gabbert beschreibt mit dem mexikanischen PRONASOL-Programm sicherlich eines der wichtigsten Modelle sozialpolitischer Schein-Abfederung neoliberaler Politik. Die Hauptfragestellung der mexikanischen Regierung war nach Gabbert: “Wie läßt sich eine Wirtschaftspolitik, die zu einer zunehmenden sozialen Polarisierung zwischen Arm und Reich führt, politisch absichern?” Vor dem Problem stehen nun alle lateinamerikanischen Regierungen, und PRONASOL “hat in seiner fünfjährigen Laufzeit seine stabilitätssichernden Kapazitäten bewiesen und ist mittlerweile zum Exportschlager avanciert.” Gerade deshalb ist der Beitrag von Wolfgang Gabbert so wichtig.

Und wie kommt er wieder heraus?

Franz Hinkelammert beschreibt in seinem essayistischen Aufsatz die Parallelität zwischen Stalinismus und Neoliberalismus: Beide stellen sich als einzig gangbare, beziehungsweise einzig rationale Alternative gesellschaftlichen Zusammenlebens dar. Wer es auch nur wagt, Alternativen zur derzeitigen Wirtschaftsweise anzudenken, wird ins Reich des Irrationalen verbannt, als Utopist und Träumer aus der Gesellschaft ausgeschlossen -der Totalitarismus des Marktes.
Hinkelammerts Schlußfrage ist so weniger: Wie ist der Markt in die Köpfe gekommen? Sondern: Wie kommt er wieder heraus? “Zunächst einmal sich weigern, verrückt zu werden, wenn unsere Gesellschaft den Wahnsinn zur Rationalität erklärt. (…) Dann aber kommt der Widerstand.” Und dieser müsse nicht immer legal sein, sondern legitim. Das klingt erfrischend revolutionär, aber die Ratlosigkeit, mit der man den Ausführungen Hinkelammerts zustimmt, führt die eigene längst vollzogene Vereinzelung erschreckend vor Augen.
Der Themenschwerpunkt des Buches hält nicht völlig, was er verspricht. Taz- Japan-Korrespont Georg Blume soll beschreiben, wie Japan als “Vorbild auf Lateinamerika wirkt, erklärt aber eher, wie Japan als Handelspartner Anteil an der lateinamerikanischen Entwicklung hat. Enzo del Bufalo kritisiert die neoliberale venezolanische Wirtschaftspolitik als idiotisch und inkohärent -doch die zentrale Fragestellung des Buches berührt er kaum. Und Rainer Dombois schreibt in seinem Artikel über “Arbeitswelt und neoliberale Wende in Kolumbien” zwar, wie sich die wirtschaftlichen Anpassungsmaßnahmen vollzogen haben und die Privatwirtschaft darauf reagiert hat, auch hier aber bleibt die Frage ausgespart, warum es von intellektueller Seite aus so wenig Gegenvorstellungen oder wenigstens Kritik gibt.
Ausgespart, und dies ist ein deutliches Manko, bleiben auch jene Länder, wo neoliberale Anpassungsprozesse zu großen politischen Konflikten geführt haben. Nicaragua, wo sich die Gewerkschaften der Überführung ehemals staatlichen in Belegschaftseigentum verschworen haben und dabei selbst zu Unternehmern werden; Uruguay, wo ein Referendum gegen die Privatisierung nicht nur durchgesetzt, sondern gewonnen wurde -keine Themen im Jahrbuch.
Das ist schade, soll aber von der uneingeschränkten Leseempfehlung nicht abhalten. Der siebzehnte Band, gerade erschienen, lohnt sich allemal. Und daß inhaltliche Konzepte nicht immer bis ins letzte durchgehalten werden können, sollten wir als LN-Redaktion ohnehin besser nicht zu laut kritisieren…
Erstmals erscheint das Jahrbuch nun beim Horlemann-Verlag aus Bad Honnef, endlich wieder im gewohnten Design, von dem man in der zweijährigen Eskapade zum Lit-Verlag hatte abweichen müssen. Erleichternd ist, daß die Länderberichte, die wie immer den zweiten Teil des Buches füllen, diesmal noch nicht völlig veraltet sind -elf AutorInnen berichten mit längerem Atem, aber aktuell, aus ebenso vielen Ländern Lateinamerikas. Erfreulich für die HerausgeberInnen: Das Buch erscheint pünktlich zur Buchmesse -marktgerecht.

Markt in den Köpfen. Lateinamerika -Analysen und Berichte 17, hrsg. von Dietmar Dirmoser u.a., Unkel/Rhein; Bad Honnef: Horlemann 1993; ISBN 3-927905-80-1

Nachholende Privatisierung

Zwar haben seit Beginn der Schuldenkrise 1982/83 auch alle ecuadorianischen Regierungen die Bedingungen der internationalen Gläubiger akzeptieren müssen, haben die Preise von Treibstoffen und Grundnahrungsmitteln erhöht und Sozialleistungen gestrichen. Doch die Regierung des sozialdemokratischen Präsidenten Rodrigo Borja (1988-1992) ließ sich eben nur im Strom der Zeit treiben, während Sixto Durán Ballén nun offensiv auf den neoliberalen Kurs setzt. “Wir wußten, daß sie etwas unternehmen würden”, so Marta Pazmino von einem Gewerkschaftsdachverband. Doch das Schock-Paket vom 3. September machte seinem Namen alle Ehre.
Um das Haushaltsdefizit zu verringern und die Inflation unter Kontrolle zu bekommen, die auf monatlich 50 Prozent geklettert war, wertete die Regierung den Sucre um 35 Prozent ab, erhöhte die Preise für Benzin um 124 Prozent, die Preise für Strom um bis zu 90 Prozent und für Medikamente um 500 bis 600 Prozent. Trotz dieser unerwartet hohen Steigerung der Lebenshaltungskosten enthielt das Paket nur eine Lohnerhöhung von 5 Dollar monatlich, das entspricht durchschnittlich 10 Prozent. (Der Mindestlohn beträgt 30 Dollar, der Durchschnittlohn für BeamtInnen 40 Dollar). Politologe Acosta, der ein Buch zur Privatisierung veröffentlicht hat, kritisiert auch die orthodoxe Interpretation der Inflation, wonach die Schuld allein bei einer zu großen Nachfrage liege. Durch die einseitigen Mechanismen zur Senkung der Nachfrage nehme die Regierung bewußt eine starke Rezession in Kauf. Wohin die erhöhten Einnahmen aus dem staatlichen Benzin-, und Stromverkauf fließen sollen, wurde während der Haushaltsdebatte im Dezember 1992 deutlich. Der einzige Posten, der für 1993 erhöht wurde, war die Zahlung der Auslandsschuld, für die jetzt 38 Prozent des Haushalts vorgesehen sind (für Erziehung sind es 19 Prozent, für Gesundheit 8 Prozent und für Soziales 3,5 Prozent).

Geplante Begriffsverwirrung

Die nächste Initiative wurde mit Hilfe von US-Regierung und Weltbank vorbereitet: Im Oktober 1992 wurde der “Nationale Rat für Modernisierung” (CONAM) ins Leben gerufen. Mit Geldern der staatlichen US-Entwicklungsagentur AID und besetzt aus Regierungsmitgliedern und Unternehmern brütete dieser Rat den Gesetzesvorschlag aus, den der Vizepräsident Alberto Dahik am 8. Februar 1993 unter dem Namen “Gesetz zur Modernisierung des Staates” vorstellte: “Jahrzehntelang und unter dem Einfluß von Ideologien, die die Freiheit und das kreative Potential des Menschen negierten, wurden ein Staat und eine Gesellschaft geschaffen, die auf interventionistischen Mechanismen, auf Protektion für privilegierte Sektoren und irrationalen Führungsattitüden beruhten, sowie auf der Ordnung … des sozialen Lebens durch die Zerstörung jeglicher Einzelinitiative”.
Die Regierung versucht, das Wort “Privatisierung” zu umgehen und durch “Modernisierung” zu ersetzen. Sie beabsichtigt damit, die Stimmung gegen die wirklich schlechten staatlichen Dienste auszunutzen, in denen es geschmiert nur gegen Bestechung läuft. Wer in Ecuador zu telefonieren versucht, gerät unweigerlich in schlechte Stimmung. Wer zehnmal wählt, landet bei zehn verschiedenen Anschlüssen, nur nicht bei dem gewünschten. Und die Knappheit macht Telefone zu einem so begehrten Gut, daß sie schon in Eigeninitiative privatisiert werden: In der Innenstadt von Guayaquil verlegen die glücklichen BesitzerInnen ihr Telefon auf die Straße. Ein Anruf kostet 20 Pfennig, genausoviel wie in der Post – nur die Schlangen sind kürzer. Diese kleinen Geschäftemacher meint die Regierung nicht, wenn sie die Privatisierung der staatlichen Telekommunikationsgesellschaft EMETEL vorschlägt. Sie hofft auf Käufer wie die AT & T aus den USA oder die STET aus Italien.
Die Ineffizienz von EMETEL ist ein Beispiel, das in die Argumentation der Regierung paßt. Darin kommen ineffiziente private Unternehmen genausowenig vor wie effiziente staatliche. Das Dogma, daß staatliche Eingriffe in die Wirtschaft Planwirtschaft bedeuten und schädlich sind, schert die einflußreichen Privatunternehmen allerdings nicht, wenn sie bankrott gegangene Unternehmen aus der Staatskasse wieder aufpäppeln lassen.

Privatisierungen: Verspätet und ungeschickt

Außer der Telefongesellschaft hat die Regierung noch zwei weitere der 176 staatlichen Unternehmen für die ersten Privatisierungen aufs Korn genommen: Die Häfen und die Fluggesellschaft Ecuatoriana. Allerdings kann sie hier von vornherein mit Schwierigkeiten rechnen: Die Hafenarbeitergewerkschaft ist eine der kämpferischsten des Landes und Ecuatoriana ist nicht nur bankrott, sondern konkurriert direkt mit SAETA, der zweiten nationalen Luftgesellschaft. Die gehört dem Innenminister Roberto Dunn, und so mag kaum jemand glauben, daß die Privatisierung von Ecuatoriana “im Interesse der Nation” entschieden wird. Angeblich gibt es KaufinteressentInnen wie die costaricanische Lacsa und die niederländische KLM (beide staatlich!). Der Politologe Acosta meint, daß “wir wie immer zu spät auf den Markt gehen, nämlich jetzt, wo sich bereits viele Käufer zufrieden zurückziehen”. Es sei beunruhigend, daß die Regierung wie im Fall Ecuatoriana Unternehmen öffentlich schlecht mache, die sie verkaufen wolle, “und das in dem Augenblick, in dem es ein Überangebot an bankrotten Staatsunternehmen gibt”.
Das politische Ungeschick der Regierung Durán Ballén zeigte sich zuerst an den Reaktionen im Parlament, wo der Präsident über den Rückhalt von nur einem Drittel der Abgeordneten verfügt. Den politischen Gewinn des Modernisierungsvorschlages kann zunächst vor allem die sozialchristliche Partei PSC einstreichen. Dieser Partei gehörte auch Durán Ballén an, bis er die Republikanische Einheitspartei PUR gründete. In der Stichwahl zur Präsidentschaft gewann er gegen den Kandidaten der PSR, Jaime Nebot. Der wiederum bastelt schon an seinem Image als künftiger Präsident. Dabei wird er heftig vom repressiven Ex-Präsidenten León Febres Cordero unterstützt, der ebenfalls der PSR angehört und von 1984 bis 1988 den “andinen Thatcherismus” prägte. Febres agiert mittlerweile als Bürgermeister von Guayaquil mit spektakulären Militärkommandos gegen die Kriminalität in Ecuadors größter Stadt und verspricht Ordnung, Sicherheit und “ein Guayaquil ohne Löcher in den Straßen”. Was ihm einen Platz in der Geschichte der Stadt sichern würde, aber wofür er erstmal wieder Straßen bauen müßte, so spotten viele Guayaquileñas, wenn sie selbst mitten im Stadtzentrum durch metertiefe Schlammlöcher fahren. Die PSC hat sich zur größten Partei und bislang stärksten Opposition aufgebaut – rechts von der Regierung. Sie benutzt geschickt die schwammigen Schlagworte von Durán Ballén und unterstützt dessen “Modernisierung”, kritisiert aber seine Unfähigkeit und technischen Fehler.
In ihrer Kritik können sich die ParlamentarierInnen auf die Verfassung berufen. Darin sind “strategische Bereiche” wie Telekommunikation und Öl von Privatisierungen ausgenommen. Auch die vorgeschlagene Klausel, die die Entscheidung über Privatisierungen ausschließlich in die Hände des Präsidenten legt, stößt auf Widerstand.

Gewerkschaften zunächst sprachlos

Die ecuadorianische Gesellschaft scheint mit der Wahl von Sixto Durán Ballén einen Rechtsruck vollzogen zu haben. Die Gewerkschaften und andere soziale Bewegungen sind schwer gebeutelt von den Härten der Verschuldungskrise seit Anfang der 80er Jahre sowie der Vereinnahmungsstrategie der sozialdemokratischen Regierung Borja. So hat sich um die geplanten Privatisierungen erst langsam und zögerlich Protest entzündet. Das mag an dem schlechten Ruf der Gewerkschaften liegen, deren Führer sich immer wieder bereichert haben. Sie haben es auch nicht geschafft, sich auf die neuen Interessen von ArbeiterInnen in einer gewandelten Gesellschaft einzustellen, die immer mehr von informeller Arbeit und Arbeitslosigkeit geprägt wird (69 Prozent Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung). Auf der Demonstration zum 1. Mai vertrat der Gewerkschaftsdachverband FUT das Motto: Modernisieren Ja – Privatisieren Nein! Die FUT versucht, das Konzept Modernisierung anders zu definieren als die Regierung: “Den Staat modernisieren heißt vor allem, ihn in Einklang mit dem Charakter unserer Nation zu bringen. Er soll multiethnisch und multikulturell sein, um die koloniale Vergangenheit zu überwinden, die auf allen sozialen Beziehungen lastet und ungeheuerliche Vorurteile und Diskriminierungen der wichtigen Ethnien bedeutet”.
Die Gewerkschaften haben eine “Koordination für das Leben” gegründet, um die Rechte der ArbeiterInnen bei den Privatisierungen zu vertreten, besonders derjenigen, die entlassen werden sollen. Die Koordination will eine Million Unterschriften sammeln, um eine Volksbefragung durchzuführen, so wie jüngst in Uruguay, wo die Mehrheit sich gegen die Privatisierungen aussprach. Doch in Ecuador sind die legalen Möglichkeiten für ein Referendum ungleich schlechter, und Präsident Durán Ballén und sein Vize Dahik haben bekanntgegeben, daß es bereits ein Referendum für die Modernisierung gegeben habe: ihre Wahl an die Regierung.

Die Indigenas: Die aktivste Volksbewegung

Die Indígena-Bewegung, die als einzige in den 80er Jahren angewachsen ist, meldete sich als erste gegen die Modernisierungs-Initiative zu Wort. Im Namen des Dachverbands CONAIE erklärte der Indígena-Führer Rafael Pandam im März vor dem Parlament: “Es wird nicht einmal festgelegt, wohin das Geld aus den Privatisierungen fließen soll… Alles was in Händen des Volkes ist, wird als ineffizient und unnütz abgestempelt. Auf der anderen Seite verschweigt das Projekt, daß seit Geburt der Republik der Staat immer von Interessen der Privatunternehmer und der Banken geleitet wurde. Sie sind für das Anwachsen des Staates verantwortlich.”
Die Feuerprobe für die Mobilisierungskraft der Volksbewegung gegen die Privatisierung wurde dann auch durch die Indígena-Bewegung entschieden. Der landesweite Streik der Angestellten des Sozialversicherungsinstituts IESS begann am 12. April. Die Streikenden forderten vor allem die Auszahlung des Haushalts für 1993, der vom Finanzminister Mario Ribadeneira gekürzt und eingefroren worden war. Außerdem fordert die Gewerkschaft des IESS von der Regierung die Rückzahlung ihrer Schulden. Die verschiedenen Regierungen hatten sich immer wieder der Rücklagen des IESS bedient, so daß der Staat mit 500 Millionen Dollar beim IESS verschuldet ist. Von diesem Geld lagert ein großer Teil in der Zentralbank, um den Geldumlauf zu senken und so die Inflation zu hemmen. “Das Zurückhalten des Haushalts geschieht mit der Absicht, die Sozialversicherung zu schädigen und die Versicherten gegen das IESS aufzubringen, um es dann privatisieren zu können”, meint Diego Ordóñez von der Gewerkschaft des IESS. Die Gewerkschaft erklärte, daß das IESS den ArbeiterInnen gehöre und daher bereits eine private Institution sei. Auf jeden Fall ist das IESS die einzige Institution in Ecuador, in der sozial umverteilt wird. Durch die Pflichtversicherung der öffentlichen Angestellten bezahlen die Mittelschichten gewisse soziale Dienste wie Renten und staatliche Krankenversorgung für alle. Es gibt jedoch auch lautstarke Kritik am IESS, besonders an der auf 14.000 Angestellte aufgeblähten Bürokratie.
Im Laufe des Streiks gingen immer mehr IESS-Angestellte auf die Straße und forderten andere Staatsangestellte zum Mitmachen auf, doch bei den Verhandlungen zwischen Gewerkschaft und Regierung schien sich solange nichts zu bewegen, bis sich am 27. April die im Dachverband CONAIE zusammengeschlossenen Indígena-Organisationen anschlossen. Im Hochland besetzten Indígenas wieder einmal wichtige Straßen und legten Teile des Landes lahm. Sie forderten Garantien für die Beibehaltung der freiwilligen Sozialversicherung für Bauern und Bäuerinnen. Und zum ersten Mal schlossen sich ihnen die nicht indianischen Bauern und Bäuerinnen an der Küste an und legten die gesamte Küstenstraße der Halbinsel Santa Elena mit Barrikaden und brennenden Autoreifen vor strategischen Punkten lahm. Die Straße von Guayaquil nach Santa Elena wurde von Militäreinheiten “freigehalten”. Das gelang ihnen auf der Küstenstraße nicht (siehe Kasten). 36 Stunden nachdem die Indígenas begonnen hatten, Barrikaden zu bauen und nach 15 Tagen Streik erkannte die Regierung ihre Schulden beim IESS an, bestätigte die Auszahlung des Haushalts für 1993, versicherte, die Sozialversicherung für Bauern und Bäuerinnen beizubehalten und zu verbessern und alle beim Streik Festgenommenen freizulassen. Die Verhandlungsergebnisse führten zum Streit in der Regierung, da Finanzminister Ribadeneira nicht mit der nachgiebigen Verhandlungsführung von Innenminister Roberto Dunn einverstanden war und wütend eine Treffen mit diesem und Präsident Durán Ballén verließ.
Egal ob die Regierung sich tatsächlich an die Verhandlungsergebnisse hält, oder nur kurzfristig den Konflikt entschärfen wollte: Der erste politische Sieg im Privatisierungsstreit ging überraschenderweise an die Gewerkschafts- und Indígena-Bewegung. Damit haben sich erste Ansätze für eine gesellschaftliche Opposition zur Privatisierungspolitik eröffnet. In Zeiten des Neoliberalismus wäre der Aufbau einer starken Opposition schon ein großer Erfolg. Selbst das würde sich allerdings kaum auf der parlamentarischen Ebene ausdrücken, da die Kluft zwischen Politik und Gesellschaft kaum noch größer werden kann. Auf der parlamentarischen Ebene ist es die Rechtsopposition unter Jaime Nebot, die vom sich auch in Ecuador bewahrheitenden Effekt profitiert, nach dem sich in Lateinamerika jede Partei an der Regierung verschleißt. Eigentlich verwunderlich, daß sie es trotzdem immer wieder versuchen. Ist es der Reiz der Macht? Oder sind diese Regierungen allesamt mit der Mentalität jenes dicken römischen Präfekten aus “Asterix in der Schweiz” ausgestattet: “Ich habe vier Jahre Zeit, um reich zu werden…”

Kasten:

Schon 10 Kilometer hinter der Stadt Santa Elena an der Brücke vor dem kleinen Fischerdorf Jambelí ist Schluß mit der schönen Fahrt entlang der Küste westlich von Guayaquil. Hier haben sich Bauern und Bäuerinnen hinter Baumstämmen und brennenden Autoreifen verbarrikadiert. Was umso erstaunlicher ist, als sich in dieser armen Küsten-Gegend niemand an größere politische Organisierung erinnert außer einigen Versuchen von Fischern, Handwerkern, Bauern und Busfahrern, Kooperativen zu bilden. Es dauert eine Weile, bis einer der Streikführer von der anderen Seite durch die Rauchwolke springt, um zu erklären, daß die Mitglieder der freiwilligen Sozialversicherungen von Bauern und Bäuerinnen sich aus verschiedenen Dörfern um den jeweiligen staatlichen Gesundheitsposten versammelt haben. Vor allem die Frauen hätten dies organisiert, da der Zusammenschluß der Dörfer lieber mit der Regierung verhandelt hätte, als Blockaden zu organisieren. Jetzt stünden hinter jeder Blockade Tag und Nacht 200 Menschen, die immer wieder abgelöst würden. Es gebe 9000 Versicherte auf der Halbinsel Santa Elena und obwohl die Versicherung mies sei, sei das immer noch besser als gar nichts, erklärt er. Schon jetzt kämen die meisten ÄrztInnen nur widerwillig zu ihrem Pflichtjahr nach dem Studium aufs Land, und Medikamente gebe es fast nie. In dieser Gegend sterben ständig Kinder an Durchfallerkrankungen auf dem langen Weg zum nächsten Gesundheitsposten. Er kündigt an: “Wir wollen 48 Stunden streiken und geben nicht auf, bis die Regierung auf unsere Bedingungen eingeht”. Das klingt hier noch vermessener, weil die Medien die Blockaden an der Küste verschweigen, während die Aktionen der Indígenas in Fernsehen und Zeitungen gezeigt und gemeldet werden, da die Indígena-Bewegung für ihre Stärke gefürchtet ist. Die vor der Barrikade steckengebliebenen Lastwagenfahrer, Händler und eine Gruppe von ausländischen Ingenieuren versuchen ihn dazu zu bewegen, die Barrikade wenigstens am nächsten Morgen einmal zu öffnen. Höflich aber bestimmt und gleichzeitig typisch erwidert er: “Dahinten steht das Volk – und das Volk entscheidet, wie wir weiter vorgehen!”

“Für eine neue argentinische Linke”

LN: Welches sind deiner Ansicht nach die grundlegenden Probleme der argen­tinischen Linken? Wie siehst du ihre Lage im Moment?

H.T.: Ich denke, daß die argentinische Linke dabei ist, sich von der schweren Niederlage zu erholen, die sie in den 70er Jahren hat hinnehmen müssen. Dies war nicht nur eine Niederlage für die Linke, sondern für das gesamte argentini­sche Volk. Viele Kader wurden verloren. Ich gehe davon aus, daß es für die ar­gentinische Linke zwei bedeutende Probleme zu überwinden gilt. Das erste wäre, daß es einen Teil der argentinischen Linken gibt, der sich reorganisiert, der aber eine klare, festere Position vermissen läßt, gegenüber diesen politischen Projek­ten (der Regierungen – LN) und mehr Unabhängigkeit gegenüber den traditio­nellen politischen Parteien. Daher haben wir begonnen, eine neue politische Organisation aufzubauen, die deutlicher und mit mehr Konsequenz als die bis­her existierenden Linksparteien Opposition betreibt.
Das zweite Moment, das bisher eine große Schwierigkeit darstellt, ist die Unfä­higkeit vieler linker Sektoren, sich zu vereinen. Es gibt lediglich eine Einheit gegenüber konkreten Regierungsmaßnahmen, wie zum Beispiel gegen den Indulto (die Amnestierung der für Menschenrechtsverletzungen verantwortli­chen Militärs), aber es gibt keine permanente politische Einheit, und das macht es unmöglich, sich dem argentinischen Volk als eine starke Alternative zu präsen­tieren. Ich glaube, dies sind nur zwei Probleme, denen sich die argentinische Linke gegenübersieht. Sie steht vor einer großen Herausforderung…Denn, was passiert denn in Argentinien heute? Seit ca. 15 Jahren wird derselbe ökonomische Plan durchgesetzt. Durch Regierungen mit verschiedenen Gesichtern: erst eine brutale Militärdiktatur, dann eine Regierung, die mit dem Gesicht demokrati­scher und partizipativer Grundsätze antrat und damit endete, denselben ökono­mischen Plan umzusetzen, und zum Schluß sogar auf Repression zurückgriff, schließlich nun eine Regierung, die sich auf die Geschichte einer Partei stützte, die eine Geschichte der Interessenvertretung der Arbeiter ist und nun ebenfalls diesen Plan durchsetzt. Es gibt also eine Kontinuität. Die Konsequenzen sind fürchterlich. Argentinien hat sein Bruttoinlandsprodukt um 10% in 15 Jahren ver­ringert, die Arbeitslosenzahl hat sich verdoppelt, der Bruttolohn ist um 50% gefallen, Gesundheits- und Bildungssystem verfallen. Es gibt keine Investitionen mehr. Sie sind vielmehr von 22% des Bruttoinlandsprodukts auf 8% gefallen. Es gibt nicht einmal eine Erneuerung von bestehenden Anlagen. Die Armut wächst in extremer Weise. Und kein Land kann so einen Prozeß durchmachen, ohne daß sich die sozialen Spannungen erhöhen.

LN: Ein weiteres Problem der Linken ist doch, daß sie gegenüber der – nennen wir sie einmal global – neolibe­ralen Politik der Regierung dem Volk eine Al­ternative, also auch ein anderes ökonomisches Projekt anbieten muß. Siehst du diesbezüglich Fortschritte? Was kann die Linke unter den aktuellen Gegeben­heiten des Weltmarkts anbieten?

H.T.: Nun, die aktuelle Situation ist schwierig, insbesondere wegen der hohen Aggressivität des Imperialismus unseren Ländern gegenüber und andererseits aufgrund des Zusammenbruchs des sozialistischen Lagers, was den Kampf um nationale Unabhängigkeit natürlich erschwert. Denn alle sich aus der Abhängig­keit lösenden Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika hatten doch eine gewisse Unterstützung aus dem sozialistischen Lager. Trotz all dieser Schwierig­keiten und obwohl wir glauben, daß die Lage recht schwierig ist, sind wir trotz­dem der Überzeugung, daß dies weder früher noch heute ein Hindernis darstellt, sich die nationale Unabhängigkeit zu erkämpfen. Aber, was ist nun die Lehre aus dieser Situation? Man muß erkennen, daß man ein Wurmfortsatz des Imperia­lismus ist, mit allen Folgen, die das mit sich bringt. Im konkreten Fall von Argentinien bedeutet dies eine Rückkehr zu kapitalistischen Formen, die zuletzt vor 60 Jahren geherrscht haben. So entspricht zum Beispiel die Investition in Argentinien heute dem Niveau von 1910, 1975 wurden 270 000 Autos in meinem Land produziert, in diesem Jahr werden es nur 70 000 sein. Natürlich werden dies luxuriöse Autos sein, für eine kleine Oberschicht, die sehr gut lebt. Das ist das Modell, das man uns auflädt und von dem sie sagen, es sei das einzig mögli­che in der aktuellen Weltlage…Ich denke jedoch, wir haben das Recht und die Pflicht, ein Modell zu entwickeln für ein Land mit nationaler Unabhängigkeit und Fortschritt. Mir scheint die erste Lehre zu sein, daß die Modelle nationale sein müssen. Jedes Land hat seine Geschichte, seine Realität, seine Probleme und es muß diese alleine lösen. Das heißt nicht, chauvinistisch zu sein und Hilfe von außen grundsätzlich abzulehnen, aber im wesentlichen muß jeder seiner Pro­bleme selbst angehen. In Argentinien sieht die Sache so aus. Wir haben Vor- und Nachteile. Unser Nachteil ist, daß wir ein starkes Land innerhalb Lateinamerikas sind und uns der Imperialismus daher nicht so leicht die nationale Unabhängig­keit lassen wird. Es wäre ein geopolitisches Risiko, ein potentiell rei­ches Land wie Argentinien mit 30 Millionen Einwohnern, einer industriellen Basis, qualifi­zierter Arbeiterschaft in die Unabhängigkeit zu entlassen. Für uns ist das also sehr schwierig…Aber wir haben auch Vorteile, um die nationale Unab­hängigkeit zu erkämpfen. Wir haben einigen Reichtum, wir sind nicht Nicaragua oder Kuba, kleine Länder… Also wir haben trotz der schwierigeren internationa­len Lage andere Möglichkeiten. Unser Ziel müßte nun sein, ein gerechtes Land zu werden, modern und mit Wohlstand. Wie erreichen wir das? In ökonomischer Hinsicht hat unser Land ein grundlegendes Problem: Das Kapital, das hier akkumuliert wird, verläßt das Land. Dazu kommt ein weiteres, nämlich daß es Produktions­sektoren in meinem Land gibt, die dominant sind, wie die Agrar- und Fleisch­produzenten, die eine niedrige Produktivität haben, da dies den Interessen der Großgrundbesitzer entspricht. Man muß also Maßnahmen ergrei­fen, die diese Formen des Privateigentums abschaffen, die die Situation herbeige­führt haben. Weiterhin muß man verhindern, daß sich eine kleine soziale Gruppe die Rente aneignet und sie außer Landes schafft. (…) Es sind nicht die großen internationa­len Gruppen, die dies tun, sondern die nationalen, die eine weit rückständigere Mentalität haben als die großen Kapitale in Brasilien. (…) Wir müssen also den Außenhandel verstaatlichen, die nationalen Banken verstaatli­chen und außerdem einen bedeutenden Teil der industriellen Produktion. Gleichzeitig müssen wir dies unter eine nationale Kontrolle stellen unter starker Beteiligung der Arbeiter in der Führung. Nun ist mein Land aber auch eines mit einer bedeutenden mitt­leren Unternehmerklasse. Wir haben mindestens 500 000 kleine und mittlere Handels- und Industrieunternehmen und 400 000 Agrarpro­duzenten. Diesen Teil der Ökonomie muß man als Privatunternehmen erhalten. Argentinien muß also eine gemischte Wirtschaftsordnung haben. Erstens weil aus politischen Gründen notwendig ist, diese mittleren Sektoren in den Kampf für ein anderes Argenti­nien zu integrieren. Wenn man also ankündigt, daß man ihnen den Privatbesitz wegnehmen wird, ist klar, daß man ihre Unterstützung nicht bekommen kann. Aber auch aus ökonomischen Gründen sind sie von Bedeutung, denn sie könnten gar nicht ersetzt werden. (…)

LN: Auf diesen Punkt wollte ich mich beziehen…Sagen wir die Wiege der argentinischen Industrieentwicklung liegt in den 30er und 40er Jahren, als der Peronismus begann durch Staatsunternehmen einen Industrialisie­rungsprozeß in Gang zu setzen. Aber, während man damals die weltwirtschaftliche Lage für sich nutzen und den Industrieaufbau durch den Export von Agrarproduk­ten auf den Weltmarkt finanzieren konnte, so sieht das heute ja anders aus.

H.T.: Richtig, aber dieser Prozeß hatte eine Schwäche. Man kam nicht vorwärts hinsichtlich der Bodenbesitzverhältnisse. Und als die Weltmarktbedingungen sich veränderten, war die Produktivität im Agrarbereich immer noch sehr nied­rig. Die peronistische Erfahrung hätte also einen kapitalistischen Entwicklungs­weg, wenn auch in Unabhängigkeit, weiterbeschreiten können, wenn die Frage des Bodenbesitzes gelöst worden wäre. Dann hätte man die Besitzverhältnisse ändern können, die Produktivität erhöhen und das weiter erwirtschaften können, was man in Argentinien die Differenzialrente nennt. (…) Auch wenn es Verände­rungen auf dem Weltmarkt gegeben hat, das hat nur begrenzte Bedeu­tung. Sogar das Modell, das gerade in Argentinien betrieben wird, stützt sich auf eine Exportpolitik. Das Problem ist für uns vielmehr, wie heben wir die Produk­tivität im Agrarsektor, damit wir diesen Investitionskreislauf erhalten können.(…)
Wir glauben, daß ein Argentinien notwendig ist, mit grundlegend demokrati­schen Strukturenen, die in der Verfassung festgeschrieben sind. Argentinien hat eine liberale Verfassung aus dem Jahre 53. Aber was passiert, ist, daß diese durch gesetzliche Entscheidungen in vielfältiger Weise eingeschränkt wird. Es gibt kein Referendum, kein Plebiszit, als gesetzliche Figur, d.h. die Regierenden konsultie­ren das Volk nicht, um es vorsichtig auszudrücken. Wir sind daher der Meinung, daß es notwendig ist, diese Mechanismen abzuschaffen und ein wirklich demo­kratisches, partizipatives Argentinien zu verwirklichen und außerdem ein plura­listisches. Wir sind nicht für das Einparteiensystem, generell und ganz besonders in Argentinien, denn dies ist ein Land mit einer stark differenzierten Klassen­struktur. Es ist irreal, anzunehmen, daß eine einzige Partei alle Interessen dieser Gesellschaft repräsentieren könne, allzumal in Argentinien, in einem Land, in dem man auf 100 Jahre politischer Geschichte zurückblicken kann.

LN: Kann man also in der argentinischen Linken einen Wandel feststellen, der in Zusammenhang steht mit dem Zusammenbruch des real-existierenden So­zialismus?

H.T.: Sieh mal, der Wandel im Osten ist kein Thema, das im Mittelpunkt der lin­ken Debatte steht. Wir sind davon so weit entfernt und unser konkretes Problem ist der Kapitalismus, mit dem wir täglich leben müssen. Generell ist dies das Zentrum der Debatten, nicht ohne sich darüber im klaren zu sein, daß diese Pro­zesse im Osten von großer Bedeutung sind. Nicht zuletzt, weil die Rechte per­manent Kapital daraus schlägt. Eines der bedeutendsten Schlachtrösslein Men­ems ist zu sagen: Aber warum wollt ihr denn dahin gehen, was die Völker im Osten gerade hinter sich lassen. (…) In Argentinien gab es jedoch nie politische Prozesse von größerer Bedeutung unter der Flagge des Sozialismus. Die sozialen Auseinandersetzungen verliefen vielmehr immer zwischen der Oligarchie und ihrem externen Alliierten und der Flagge der Verteidigung der Nation.(…) Der Zusammenbruch des Sozialismus ist insofern kein Diskussionsthema in der Bevölkerung. Innerhalb der Parteien gibt es eine Debatte. Sehr stark in der kom­munistischen Partei, aber selbst da scheint mir die Diskussion doch mehr durch die Lage im Lande motiviert zu sein, als durch die internationalen Vorgänge, wenn sich das auch vermischt. Tatsächlich ist deren Problem, daß sie Schwierig­keiten im Land haben, denn sie haben in ihrer Geschichte schwere politische Fehler begangen. Um die interne Einheit zu erhalten, hatten sie Moskau immer als das große Ziel definiert: sozusagen, hier sind wir zwar klein, aber in der Sowjetunion sind wir an der Macht. Nun ist dies zusammengebrochen und sie stehen vor einem Scherbenhaufen. Die Partei hat sich weiter verkleinert. Sie ist jetzt 10 mal kleiner als vorher, glaube ich, und in sich gespalten. Die andere Kraft, in der es eine diesbezügliche Debatte gibt, ist das MAS. (das trotzkistische “Movimiento al Socialismo”). Sie haben einen strategischen Vorteil gegenüber der kommunistischen Partei. Sie sind Trotzkisten und sagten den Zusammenbruch dieses Sozialismus immer voraus. Nun fühlen sie sich bestätigt. Die Debatte aber hat als Ursache, daß man die Vorgänge interpretierte als eine Auseinanderset­zung zwischen den Arbeitern und der stalinistischen Bürokratie. Zum Teil mag das so gewesen sein. Aber inzwischen haben diese Prozesse eben nicht wie in der Erwartung mehr Sozialismus und Demokratie zum Ziel, sondern die Rückkehr des Kapitalismus. Sie bekommen nun also Schwierigkeiten bei der Interpretation der Prozesse. Zum Beispiel hieß früher ihre Parteizeitung “Solidaridad”. Inzwi­schen haben sie das geändert.(…) Hier gibt es also eine gewisse Debatte. Aber das sind politische Kräfte mit starken Beziehungen nach außen. Darüber hinaus geht die Diskussion nicht.(…)

LN: Ich habe eine gewisse Hoffnung aus deinen Worten herausgehört. Worauf stützen sich deine Hoffnungen? Kommt nur politische Unzufriedenheit zum Ausdruck oder gibt es Veränderungen in den Organisationsstrukturen der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen und wachsen­des politisches Bewußtsein?

H.T.: Es gibt natürlich eine wachsende Unzufriedenheit und Unmut in der Bevölkerung. Das ist schon ein Fortschritt, denn immerhin handelt es sich um eine peronistische Regierung. Der generelle Konsens ist also nicht mehr so leicht herzustellen. Es bleiben der Regierung natürlich weitere Werkzeuge, wie die Repression, aber den Konsens kann sie so leicht schon nicht mehr herstellen. Ein Fortschritt ist das, aber das reicht natürlich nicht aus. Immerhin sollte man nicht vergessen, daß sich Unzufriedenheit auch auf der Rechten Ausdruck verschaffen kann. Die Unzufriedenheit hat sich jedoch in bestimmten Sektoren bereits zu einer regelrechten Konfrontation entwickelt. In erster Linie bei den Arbeitern, genau genommen bei den Staatsangestellten. Zum Tragen kommt diese Kon­frontation in den Gewerkschaften, in diesem Falle in denen der Staatsangestell­ten. Außerdem gibt es Organisationen kleineren Ausmaßes in den Wohnvierteln. Das hat sein Höhen und Tiefen. Manchmal organisieren sich die Leute, aber genauso schnell fällt die Organisation wieder auseinander. Sie können eine kräf­tige Mobilisierung erreichen, wie zum Beispiel wie vor ca. 20 Tagen in der Pro­vinz Chubut…Solche Prozesse werden sich häufen, gerade in den Provinzen, wo das Regierungsprojekt besonders starken ökonomischen Druck hervorruft.(…) Außerdem gibt es jedoch ein Wachstum der Linken hinsichtlich ihrer politischen Repräsentation. So gab es eine große Demonstration der Linken am ersten Mai auf der Plaza de Mayo, zu der 100 000 Menschen kamen. Wir nehmen diesen Wachstumsprozeß der Linken durchaus wahr. Bisher noch vor dem Hintergrund der Unzufriedenheit der Menschen mit der aktuellen Politik. Noch haben wir keine politische Plattform gefunden, die attraktiver wäre, als die, die wir bisher anbieten.(…)

LN: Heißt das Ziel auf mittlere Sicht also, eine verei­nigte, linke politische Kraft im Lande zu etablieren? Ist da der Name Izquierda Unida schon Teil des Pro­jekts?

H.T.: Ich weiß nicht, ob der Name dem entspricht, was sie (die IU) tatsächlich repräsentiert. Denn in meinem Land ist dieser Name nur mit Einschränkungen zu verwenden. Er hat dazu gedient, einen Teil der Linken unter einem Dach zu vereinen. Aber das eigentliche Ziel muß sein, mehr unter einem Dach zusam­menzubekommen.

LN: Ich wollte mich weniger auf das bestehende Wahl­bündnis beziehen als vielmehr auf eine breitere linke Kraft. Könnte zum Beispiel die Frente Amplio in Uruguay in bestimmter Weise ein Modell sein?

H.T.: Das könnte ein Modell sein. Aber man muß berücksichtigen, daß in meinem Land die Krise sehr zugespitzt ist. Wenn man also einen signifikanten Teil der Gesellschaft, der von dieser Krise betroffen ist, ansprechen will, muß man eine starke Oppositionspolitik machen. Es wird zu einer weiteren Einschränkung der politische Freiheiten kommen, denn anders wird die herrschende Klasse die Situation nicht kontrollieren können.(…) Die Demokratie wird lediglich als for­male Schale übrigbleiben. Und es ist wichtig im Ausland daraufhinzuweisen, wo man zwar sieht, daß die ökonomische Lage des Landes schwierig ist, man aber davon ausgeht, daß Demokratie herrscht. Darüberhinaus sind wir davon über­zeugt, daß sich der imperialistische Druck in den 90er Jahren noch erhöhen wird. Dabei waren die 80er Jahre schon schlimm. (…) Die Herausforderung ist, eine neue Linke in Argentinien zu etablieren. Wir sind optimistisch, wenn auch bescheiden und vorsichtig.

Das Imperium ist immer und überall

In seinem Beitrag “Demokratie Als Mittel der Aufstandsbekämpfung” unter­nimmt der Autor ein waghalsiges Unternehmen: Vom Isthums bis nach Feuer­land, so die Erkenntnis, hat die “Neue Rechte” in den Vereinigten Staaten ihr Konzept der “beschränkten Demokratie” ausgearbeitet und durchgesetzt. Ronald Reagan, idealtypische Feindfigur einer ganzen Generation von Internatioanali­stInnen in Europa und anderswo, darf seinen Triumph feiern. Wohin mensch auch schaut, überall auf dem Kontinent sieht man in den 80er Jahren das Entste­hen “verordneter Demokratien”, “ohne Veränderungen der gesellschaftlichen Machtverhältnisse, der Eigentumsverhältnisse und ihrer militärisch-repressiven Absicherung.” Der Autor stellt folglich fest, daß die Bevölkerung von “Demokratisierung nichts gemerkt hat” und das es dem Imperialismus geglückt ist einen üblen Widerspruch wenn auch nicht zu lösen, so doch in die nächste Runde zu tragen: Statt der weiteren Stützung der international diskreditierten, da eben offen-repressiven Militärdiktaturen, hat die im Santa Fé Papier ausgearbei­tete und von so cleveren Menschen wie Reagan und Geißler umgesetzte Strategie der Demokratisierungen durch die Institutionalisierung der “Scheingleichheit der StaatsbürgerInnen an der Wahlurne”, eine moderne Aufstandsbekämpfung ge­schaffen. Ohne repressive Diktaturen und ohne offene Intervention der USA ist die Wirtschaftsordnung auf alle Zeiten neu gesichert, die “Kriegsführung niedri­ger Intensität” hat die Entstehung und Durchsetzung einer Demokratisierung von Unten durch die sozialen Bewegungen erfolgreich verhindert. Soweit Frit­sche.
Ebenso wie all die DDR-BürgerInnen die im März ihre Henker gewählt haben, sind doch tatsächlich Millionen von LateinamerikanerInnen auf die Verspre­chungen der “formalen Demokratie” reingefallen. Schlimmer noch, anders als die BürgerInnen der DDR, die ja noch die Chance haben eine Zwei-Drittel-Gesell­schaft zu etablieren und als zehntreichste Nation der Welt an den Segnungen des zentralen Kapitalismus in der Festung Europa teilzunehmen, haben die Völker Lateinamerikas heute Demokratien verordnet bekommen (erkämpft haben kön­nen sie sie ja nun nicht mehr !), die ja nur zum Ziel haben die Diskussionen über soziale Gerechtigkeit und Wirtschaftsdemokratie zu unterdrücken. Natürlich be­dienen sich die Herrschenden aller Mittel zu Sicherung ihrer Macht, aber sind sie wirklich die einzigen die “beschränkte Demokratien” gegen die Dikaturen durch­setzten und die neuen politischen Freiräume nutzen (wollen) ?
Das schlimme Wort des “falschen Bewußtseins” schwingt bei Fritsches Diskurs ebenso mit, wie er unterstellt, daß keine Diskussionen und keine durchaus kon­troversen Auseinandersetzungen über den “richtigen Weg” bei dem “Wahlvolk” in Lateinamerika existiert. In der jetzigen historischen Etappe, in der sich die Linke (radikal oder sozialdemokratisiert) – in Lateinamerika wie auch bei uns – in einer Defensive befindet, sollte man die lateinamerikanische Debatte ehrlich wie­dergeben und eine differenzierte Interpretation um Entstehung, Grenzen und Chancen der “beschränkten Demokratien” ernst nehmen.
Die Analyse von Eduard Fritsch negiert schlicht und einfach die Existenz realer gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, die auch in der “formalen Demokratie” Menschen Handlungsfreiheiten ermöglichten, die angesichts der vorhergegange­nen Erfahrungen unter den Militärs heute als hoch eingeschätzt werden.
Die Linke Lateinamerikas kämpft zur Zeit um ihr historisches Überleben, bei dem unterschiedlichste Strategien und Handlungsfelder berücksichtigt werden. Ein Prozess der durch das permanente Wiederholen alter Positionen längst verlo­rengegangen wäre. Auch wenn neue Konzepte und Strategien in den überaus komplexen Gesellschaften (noch ?) nicht so herangereift sind, daß sich eine inter­nationalistische Bewegung an sie klammern kann (wen interessiert schon die Kommunalpolitik der PT in Sao Paulo) ohne die Widersprüchlichkeit in der sich linke Politik in Lateinamerika befindet mit aufzuzeigen, sollten diese Versuche nicht durch einen erneuten Verweiß auf die Allmacht des Imperiums unter den Tisch fallen.
Ohne Zweifel sind die Enttäuschungen, der “desencanto político” und die Gefah­ren der “formalen Demokratien” und ihr zustandekommen als “Pakte” groß. Kein Mensch- und schon gar nicht die Betroffenen in Lateinamerika selbst – geben sich heute noch Illusionen über die Versprechungen der “PolitikerInnen” hin. Eben­sowenig wie sie auf einen raschen Wandel durch einen Frontalangriff auf das Sy­stem oder durch ein Vertrauen auf die Parteienpolitik bauen. Vielmehr sind die politischen Kräfte die sich nicht selbst auf das Abstellgleis der Geschichte stellen wollen, an einer Nutzung der wiedererlangten Rechte und deren Verteidigung mehr denn je interessiert. Mit einer vergleichbaren Leichtigkeit über die “formalen Demokratie” herzuziehen, bleibt auch in Lateinamerika das Privileg einer intellektuellen Minderheit. Die sich durch die breite Unterstützung der Be­völkerungen ergebene Restaurierung parlamentarischer Demokratien ergebene Dialektik von Reform und radikalen Widerstand, ist durch den Verweis auf “eine Demokratisierung von der die Bevölkerung nichts gemerkt hat” nicht zu erklä­ren.
Auch wenn es uns nicht schmecken mag: Offensichtlich finden die Konzepte der “Neuen Rechten” in den USA auch ein lateinamerikanisches Pendand, das sich in der Ideologie doch wahrlich mehr aus der nationalen Realitär speist, als durch eine Note des jeweiligen US-Botschafters. Ein Aspekt, der durch die Vereinfa­chung der “Verschwörungstheorie” Fritsches schlichtweg ignoriert wird und den Blick auf die realen, gegenwärtigen Auseinandersetzungen verstellt.
Und sit es wirklich von den USA verordnet wenn die ideologischen AUseinan­dersetzungen in Lateinamerika. wie auch bei uns, um Pluralismus, um Wahlen als einen Teil grundsätzlicher Freiheiten, um individeuelle Rechte und Partizipa­tion eine Aufwertung erfahren ? Diese Felder der Rechten zu überlassen – und das macht Fritsche – wäre der größte Fehler überhaupt.
Wie ist nach dem Muster von Fritsche zu erklären, daß es heftigste nationale Auseinandersetzungen über den Weg der Transformation von den Diktaturenm zur Demokratioe gab ? Wie erklärt sich das Entsehen neuer sozialer Akteure bis hin zu neuen Organisationen ? Warum erlangt denn gerade der Kampf um Öf­fentlichkeit, Transparenz und das Betereten neuer Politikfelder (von der Frauen­bewegung bis zur Ökologiebewegung) eine neue Relevanz ? Wohl kaum, weil die Demokratien ein gigantisches Aufstandsbekämpfungsprogramm eben nur diese sozialen bewegungen zulassen.
Fritsch erklärt zwar das die Unsicherheit über den Begriff der Demokratie umso größer ist, je mehr er auf die Wahlen reduziert wird und dennoch leistet er in sei­nem Beitrag genau dieselbe Verkürzung. Wer verkennt, daß die Frage nach Wahlen (und eben nicht nur der für die Parlamente) in allen “redemokratisierten Ländern” auch die Diskussion um eine innere Demokratierung nach sich gezogen hat, der hat die Auseinandersetzungen der letzten Jahre in Lateinamerika nicht verfolgt.
Wie sind die Unterschiede zu erklären, daß sich Hunderttausende UruguayerIn­nen auf ihre wiedererlangte Verfassung berufen um ein Referendum gegen die Straffreiheit der Militärs zu erkämpfen, während in Chile die Menschenrechts­bewegung eine ähnliche politische Marginalisierung zu erlangen droht wie die argentinische ? Wie ist es zu erklären, daß offensichtlich die “Verteidigung der demokratischen Institutionen” erklärtes Ziel auch linksrevolutionärer Organisa­tionen ist ? Sind die Spielregeln, die ohne Zweifel eng sind, auf alle Zeiten unver­änderbar ? Ist die knappe Wahlniederlage Lulas in Brasilien, der Sieg der Frente Amplio in Montevideo tatsächlich nur ein Kampf gegen Windmühlen ? Und der millionenfache Versuch sich zu organisieren, die politischen Freiräume zu nut­zen, die nopch bis vor kurzem hermetisch verschlossen waren ? Alles eh sinnlos, da durch das Santa Fépapier a proiri zum Scheitern verurteilt ?
Ungewollt schließt sich die Argumentation Eduard Fritsches an das gefasel vom “Ende der Geschichte” an, das jüngst aus dem Weißen HAus zu vermehmen war: Alle sozialen Kämpfe und Hoffnungen, sei es von einer Punk Band in Chile die gegen die Linke des Landes verteidigen muß, warum sie ihre Lieder in englisch singt, oder doe Versuche nach einer Zurückdrängung der immer noch existie­renden MAcht der Militärs und des Autoritarismus, sei es in Chile oder in Uru­guayx, sind schon verlorene Kämpfe.
Scheiterten denn die Versuche der Vergangenheit nicht allzuoft an den nationa­len politischen Bedingungen, die determierend waren für den Erfolg oder Mißer­folg linker Politik in Lateinamerika ? Der wiederholte Verweis auf die Allmacht der Hegemoniemacht USA als Wurzel allen Übels, entschuldigt nicht nur die Fehler der eigenen Geschichte der Linken, sonmdern verstellt darüber den Blick auf die Ausarbeitung tragfähiger am Alltagsbewußtsein der Menschen anknüp­fenden politischer Konzepte. Der Spielraum für das vorantreiben emanzipato­rischer Projekte hat sich in den “formalen Demokratien” erst einmal erweitert. Das diese Projekte auch gesellschaftliche Mehrheiten benötigen, ist eine teuer be­zahlte Erfahrung. Nationale reaktionäre Hegemonien aufzubrechen um der neo­loiberalen Welle etwas entgegenzusetzen, bedarf heute der Nutzung und dem Ausbau aller politischen und sozialen Freiräume. Würde der rundumschlag Frit­sches stimmen: Der antiimperialistische Kampf in Lateinamerika hätte längst tri­umphiert !

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