VERSPIELTE CHANCE?

Das ‚Nein‘ zu dem Friedensvertrag zwischen der Regierung und den bewaffneten Streikkräften Kolumbiens (FARC-EP) löste weltweit Bestürzung aus. Und angesichts des unerwarteten Ausgangs herrscht in Kolumbien jetzt vor allem Unsicherheit: Ist der Friedensprozess gescheitert oder bietet das ‚Nein‘ eine neue Chance für einen breiteren nationalen Konsens? In der kolumbianischen Bevölkerung gehen die Meinungen auseinander.

Der drohende erneute Griff zu den Waffen scheint zunächst abgewendet. Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos hat die Waffenruhe mit der FARC-EP bis zum Ende des Jahres verlängert. Sowohl die Regierung als auch die Delegation der Guerilla in Havanna bemühen sich weiterhin um ein Gelingen des Friedensprozesses. Dazu sollen die Bedingungen des Vertrags neu verhandelt werden, um einen breiteren Rückhalt in der Bevölkerung zu erreichen.
Die zentrale Figur der Kampagne gegen den Friedensvertrag, jetziger Senator und Ex-Präsident Álvaro Uribe Vélez, soll nun an den Verhandlungen beteiligt werden. Zudem hat die Regierung wenige Tage nach dem Plebiszit auch offizielle Verhandlungen mit der nationalen Befreiungsarmee (ELN), der zweitgrößten Guerilla im Land, aufgenommen. Dies wird als wichtiger Schritt hin zu einem dauerhaften Friedensprozess gewertet. Beobachter*innen hatten bereits zu Beginn der Verhandlungen zwischen FARC-EP und Regierung kritisiert, dass ein nachhaltiger Frieden und ein Ende der Gewalt ohne die Einbindung der ELN in die Verhandlungen nicht zu erreichen ist.
Jedoch birgt die Einbindung Uribes auch eine neue Bedrohung für den Erfolg des Friedensprozesses. Gemeinsam mit anderen gesellschaftlichen Gruppierungen wie den konservativen Eliten aus den ländlichen Gebieten Kolumbiens und den evangelikalen Bewegungen führte er einen regelrechten Propagandafeldzug gegen den Friedensvertrag. Zu den Argumenten gehörten neben der durchaus nachvollziehbaren Kritik an der Sonderjustiz für Ex-Kombattant*innen auch fragwürdige Behauptungen bis hin zu eklatanten Lügen. So machten besonders die evangelikalen Kirchen Stimmung gegen die im Vertrag verankerte Gleichstellung der LGBTI-Gemeinschaft und stilisierten den Gender-Diskurs zu einer Ideologie, der sich das kolumbianische Volk zu unterwerfen habe.
Uribe selbst beschwor ebenso immer wieder das Gespenst des drohenden „Chavismus“ herauf und mahnte, die Kolumbianer*innen würden venezolanische Verhältnisse erwarten, sollte die linksgerichtete FARC-EP das im Friedensvertrag zugesicherte Recht auf politische Partizipation erhalten. Der Ex-Präsident zielte damit auf die Angst vor politischer und ökonomischer Instabilität in der Bevölkerung, da Kolumbiens Nachbar Venezuela seit Monaten eine der schwersten Krisen seiner Geschichte erlebt.
Angesichts der Polarisierung im Land und der Unsicherheit gegenüber der weiteren Entwicklung des Friedensprozesses stellt sich die Frage, wie die Bevölkerung auf das ‚Nein‘ reagiert und welche Hoffnungen und Ängste die Kolumbianer*innen mit den aktuellen Entwicklungen verbinden. Die – im wahrsten Sinne des Wortes – Unsicherheit im Land wird deutlich, wenn man mit Aktivist*innen spricht, die in den größeren Städten die Kampagne für den Friedensvertrag unterstützten. Da in den urbanen Zentren im Land mit Ausnahme der Hauptstadt Bogotá das ‚Nein‘ gewonnen hatte, sehen sie sich teilweise massiven Anfeindungen ausgesetzt. Eine Studentin in Bogotá, deren Familie in Medellín über Wochen für das ‚Ja‘ geworben hat, ist seit dem Plebiszit am Boden zerstört – nicht nur aufgrund der „vergebenen historischen Chance auf Frieden“, sondern auch, weil sie und ihre Familie seit dem Morddrohungen erhalten. Aus diesem Grund will sie ihren Namen in keiner Zeitung lesen.
Die indigenen Minderheiten im Land sind ebenso um die Sicherheit in ihren Gemeinden besorgt. Die häufig in Selbstverwaltung lebenden Gemeinschaften waren in der Vergangenheit immer wieder zwischen die Fronten geraten. Um die Menschen in ihren Gebieten vor den Auseinandersetzungen zwischen Guerilla, Paramilitärs und Militär zu schützen, versuchten sogenannte Guardias Indigenas (Indigene Wachen) im Konfliktfall die Kampfhandlungen von den bewohnten Gebieten fernzuhalten und die Menschen in Schulen oder Kirchen in Sicherheit zu bringen. In den letzten Monaten mussten sie dieser lebensbedrohlichen und extrem komplizierten Aufgabe nicht mehr nachkommen. Jetzt herrscht  die Angst, dass sie bald wieder ihr Leben für ihre Gemeinschaft aufs Spiel setzen müssen.
Dieser asymmetrische Charakter des Konflikts, dem in großer Zahl unbeteiligte Zivilist*innen, Aktivist*innen und auch Politiker*innen zum Opfer fallen, ist auch ein essentieller Teil der traumatischen Geschichte der Unión Patriótica (UP). Die Partei wurde 1985 als politische Exit-Option von demobilisierten Guerillakämpfer*innen gegründet. Die zu Beginn beachtlichen politischen Erfolge der Partei gingen jedoch in einem regelrechten Massenmord an ihren Mitgliedern unter. Zwischen 3.000 und 5.000 Personen wurden von paramilitärischen Todesschwadronen, Drogenhändlern und vom Militär selbst ermordet, teilweise im Rahmen blutiger Massaker mit bis zu 43 Toten.
Dementsprechend präsent waren die aktuellen Entwicklungen rund um den Friedensprozess auf dem jährlichen Treffen der Opfer am 21. Oktober in Bogotá. Dabei äußerte sich die Sorge um die Fortdauer des Prozesses in einem klaren Appell von allen Sprecher*innen an die Regierung Santos, die Friedensverhandlungen fortzusetzen und  die Sicherheit der demobilisierten Kämpfer*innen zu garantieren. Ex-Präsident Uribe, der zwischen 2003 und 2006 die Demobilisierung der hauptsächlich für die Massaker an den UP-Mitgliedern verantwortlichen Paramilitärs verhandelte, wurde dabei die Torpedierung des Friedens und seine auf Falschinformationen beruhende Kampagne vorgeworfen.
Viel Lob dagegen fand die „besonnene und dem Frieden zugewandte Reaktion der Unterhändler*innen in Havanna“. Eric Sottas, Direktor der Weltorganisation gegen Folter (OMCT) wies darauf hin, dass man „die kleine Minderheit des ‚Nein‘-Lagers, die einen ohnehin unmöglichen militärischen Sieg verfolgt, isolieren und durch die Annäherung an die übrigen Vertreter*innen dieses Lagers die Chance auf einen besseren Friedensvertrag realisieren muss“.
Eine ähnliche positive Perspektive vertritt auch Eduardo Pizarro Leon Gómez, heute kolumbianischer Botschafter in den Niederlanden. Pizarro war von 2005 bis 2009 Vorsitzender der Nationalen Kommission für Reparation und Aussöhnung, die die rechtliche Aufarbeitung des Paramilitarismus in Kolumbien überwachte. Zwei seiner Brüder kämpften für die Guerilla und waren von Paramilitärs ermordet worden, nachdem sie die Waffen niedergelegt hatten. „Das mit 50.000 Stimmen Vorsprung denkbar knappe ‚Nein‘ zum Friedensabkommen war zwar nicht der optimale Ausgang, stellt aber dennoch eine neue Chance dar“, so der Botschafter. „Dieses suboptimale Ergebnis zwingt uns dazu, einen nationalen Konsens zu finden. Hätte das ‚Ja‘ so knapp gesiegt, wäre dies dagegen ein katastrophaler Ausgang gewesen, da der Friedensvertrag so keine breite Legitimierung gehabt hätte, diese aber auch nicht durch Neuverhandlungen hätte erreicht werden können.“
Seine Deutung der geringen Wahlbeteiligung von knapp über 37 Prozent unterscheidet sich auch von der zahlreicher anderer Beobachter*innen: „Die Wahlbeteiligung war außerordentlich hoch. Da Kolumbien historisch ein enthaltsames Land ist, was Wahlen betrifft, war der Plebiszit geradezu dramatisch. Mit dieser Wahl wurde nicht über politische Ämter abgestimmt, weswegen es kaum zu einer Mobilisierung der Wählerschaft seitens der Politiker kam. Es war vielmehr eine reine Meinungswahl, bei der die Zukunft der Politiker nicht auf dem Spiel stand. Das war ein außerordentlicher Tag und ein Triumph für die kolumbianische Demokratie, der das Land mitten in einer politisierten Debatte zurückgelassen hat.“ Seine Einschätzung für die Zukunft des Landes ist ähnlich positiv. Er verweist auf das Potenzial, das mit dem Freiwerden von Kapazitäten im Sicherheitsapparat verbunden ist, sobald dieser nicht mehr durch den Konflikt mit FARC-EP und ELN gebunden ist. Kolumbien verfügt dank der cirka 6 Milliarden Dollar US-Militärhilfe, die im Rahmen des Plan Colombia ins Land geflossen sind, mit über 600.000 Mann über den größten Militärapparat Lateinamerikas.
Eine andere Position vertritt Jorge Gómez, einer der Gründer der Menschenrechtsorganisation Reiniciar, die unter anderem den jährlichen Kongress der UP-Opfer organisiert. Seiner Meinung nach birgt die Polarisierung der kolumbianischen Gesellschaft durch die aggressive Propaganda des ‚Nein‘-Lagers die Gefahr neuer Gewalt. „Aufgrund der Geschichte des Landes, die seit Jahrzehnten von politischer Gewalt geprägt wird, ist Kolumbien anfällig für Gewaltdynamiken, die aus politischen Disputen erwachsen sind“, so Gómez.
Darüber hinaus sieht er noch eine weitere Gefahr, die mit dem Friedensprozess verbunden ist: Seit dem offiziellen Ende der Demobilisierung der Paramilitärs im August 2006 haben sich zahlreiche neue bewaffnete Gruppen im Land gebildet und den zuvor von den Paramilitärs kontrollierten Drogenhandel unter sich aufgeteilt. Die Gruppen ständen bereits in den Startlöchern, um das Vakuum zu füllen, das eine Demobilisierung der FARC-EP hinterlässt. „Diese Gruppen dringen in die ehemals von der FARC-EP kontrollieren Gemeinden vor, mit den Worten ‚Wir sind gekommen, um zu bleiben‘“, warnt der Menschenrechtsaktivist.
Genau diese Befürchtung bestätigen auch Vertreter*innen der UP aus Urabá. Die für den Drogenhandel strategisch wichtige Region im Nordwesten des Landes liegt an der Grenze zu Panama. In der früheren Hochburg der Vereinten Bürgerwehren Kolumbiens (AUC) herrscht heute mit den Urabeños eine Gruppe, die sich nur im Namen von den früheren AUC-Gruppen in der Region unterscheidet. Sie kontrolliert die Bevölkerung und so gut wie jede ökonomische Aktivität. Ihre Mitglieder haben wichtige Positionen in der Gemeinschaft besetzt und pflegen enge Beziehungen zu den dortigen Eliten. Diese sind häufig Großgrundbesitzer*innen, Drogenbosse und lokale Politiker*innen, die durch die im Friedensvertrag verankerten politischen und sozialen Veränderungen nur verlieren würden.
„Polizei, Militär, Politiker, Großgrundbesitzer – sie alle stecken unter einer Decke mit den Urabeños.“  – so eine Aktivistin, die wegen der gefährlichen Sicherheitslage anonym bleiben möchte. „Ein Frieden mit der FARC-EP hat keine Bedeutung für uns, da er nichts an den bestehenden Verhältnissen in unseren Gemeinden verändern würde. Die Urabeños warten bereits darauf, in die Gebiete vordringen zu können, die zurzeit noch von der Guerilla kontrolliert werden“.
Und darin liegt das tragische der Ablehnung des Friedensvertrags: Ein offizielles Ende des Konfliktes zwischen FARC-EP und Regierung würde bestenfalls einen Teil der Gewaltdynamik in Kolumbien zum Stillstand bringen. Viel dramatischer ist die verpasste Chance auf einen politischen und sozialen Wandel im Land, den der Friedensvertrag in seiner ursprünglichen Form festschrieb.
Durch die Neuverhandlung des Vertrages und die Einbeziehung der konservativen Kräfte um Ex-Präsidenten Uribe sind zahlreiche Projekte wie die dringend notwendige Landreform, die Öffnung des politischen Systems für linke Positionen und die Ausdehnung der Versorgung mit öffentlichen Gütern in die ländlichen Gebiete in Gefahr. Ohne diesen Wandel werden Gruppen wie die Urabeños weiterhin in der Lage sein, gemeinsam mit den lokalen Eliten die Bevölkerung durch Gewalt zu kontrollieren.
Auch die Perspektive, dass sich der gesamte Sicherheitsapparat nach der Demobilisierung von FARC-EP und ELN auf die Verfolgung von Gruppen wie den Urabeños konzentrieren kann, scheint wenig Hoffnung auf eine Verringerung der Gewalt im Land zu geben. Zwar können kriminelle Gruppen im Gegensatz zur politisch motivierten Guerilla durch eine strafrechtliche Verfolgung bekämpft werden. Die militarisierten Strategien des kolumbianischen Sicherheitsapparates in Kombination mit der grassierenden Korruption und den engen Verbindungen zwischen Drogenhändler*innen, lokalen Eliten und Politiker*innen werden aber bestenfalls nur zu einer kurzfristigen Verdrängung von Gruppen wie den Urabeños in den Untergrund führen.
Während die Guerilla uniformiert und vor allem in dünn besiedelten Gebieten aktiv ist, sind die Mitglieder der neuen bewaffneten Gruppen nur schwer von der Zivilbevölkerung zu unterscheiden und in beinahe allen Teilen des Landes aktiv. Sollte das Militär und die militarisierten Polizeieinheiten gegen diese Gruppen vorgehen, wird die asymmetrische Gewalt des Konfliktes um ein Vielfaches zunehmen und erneut besonders Zivilbevölkerung und Aktivist*innen treffen.
Wo also steht Kolumbien nach dem gescheiterten Versuch, einige der grundlegenden Ursachen für den bewaffneten Konflikt im Land durch einen Friedensvertrag und soziale wie politische Veränderungen zu neutralisieren? Präsident Santos hat trotz des ‚Neins‘ im Plebiszits den Friedensnobelpreis erhalten, die Verhandlungen in Havanna gehen weiter und mit dem ELN und Ex-Präsident Uribe werden nun weitere wichtige Partner in den Prozess mit eingebunden.
Gleichzeitig hat US-Außenminister John Kerry am 7. Oktober Uribe per Telefon wissen lassen, dass die USA weiterhin auf dessen Dialogbereitschaft und Engagement für den Frieden zählen. Dies deutet darauf hin, dass die Regierung von US-Präsident Barack Obama hinter den Kulissen Druck auf Uribe aufbaut um zu verhindern, dass dieser den Friedensprozess blockiert. Immerhin ist Kolumbien seit dem Beginn von Plan Colombia 2000 und den Milliarden von Dollar an Militärhilfe ein enger Verbündeter der USA im „War on Drugs“ und im „War on Terror“. Dass die USA mit dem Ende des bewaffneten Konflikts mit der FARC-EP zumindest formell einen partiellen „Erfolg“ ihrer Strategien verbuchen können, ist für den angeschlagenen Ruf der Weltmacht natürlich von großem Interesse. Ob dieser Druck von internationaler Seite ausreicht, um den dringend notwendigen politischen und sozialen Wandel in Kolumbien umzusetzen, bleibt abzuwarten. Gleiches gilt auch für die Hoffnungen, die viele in die Ausdehnung der Verhandlungen setzen. Sicher ist aber, dass solange paramilitärische Nachfolgeorganisationen wie die Urabeños weiterhin große Teile des kolumbianischen Territoriums kontrollieren und mit Gewalt gegen jeden gesellschaftlichen Wandel vorgehen, das Land nicht zur Ruhe kommen wird.

FRIEDEN? JEIN.

Marsch für den Frieden: Am 5. Oktober gingen tausende Menschen in Bogotá auf die Straße (Foto: William Aparicio)
Marsch für den Frieden: Am 5. Oktober gingen tausende Menschen in Bogotá auf die Straße (Foto: William Aparicio)

Überraschend hat die kolumbianische Bevölkerung beim Referendum zum Friedensabkommen zwischen den Bewaffneten Revolutioären Streitkräften Kolumbiens (FARC) und der Regierung Anfang Oktober mit „Nein“ gestimmt. Dies hat bereits erste Auswirkungen auf den weiteren Prozess. So kündigte Präsident und Neu-Friedensnobelpreisträger Juan Manuel Santos an, den Waffenstillstand zumindest bis zum 31. Oktober zu verlängern. Ex-Präsident Álvaro Uribe Vélez feiert unterdessen mit der von ihm angeführten Nein-Kampagne sein politisches Comeback. Ein Versuch, das Referendumsergebnis und die schwierige Phase, der Kolumbien nun gegenübersteht, zu erklären.

Die Frage war denkbar kurz, die historische Bedeutung denkbar groß: „Unterstützen Sie das Abkommen zur Beendigung des Konflikts und den Aufbau eines stabilen und anhaltenden Friedens?“, wurden am 2. Oktober 34 Millionen Kolumbianer*innen gefragt. Überraschend und knapp war unterdessen das Ergebnis, so kam es nicht zum vielerorts erwarteten „Ja“, sondern eine dünne Mehrheit von 50,22 Prozent stimmte mit „Nein“ und damit für die Verhinderung der Umsetzung des Friedensvertrags zwischen den Bewaffneten Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) und der Regierung. Eine klare Mehrheit erzielten derweil mit 62,6 Prozent nur die Nichtwähler*innen. Trotz des negativen Ausgangs des Referendums kündigten jedoch beide Konfliktparteien an, die ausgehandelte Waffenruhe weiter einhalten zu wollen und bekräftigten den Willen, eine Einigung zu finden.

Unabhängig davon ist Kolumbien somit nun das erste Land weltweit, in dem die Gesellschaft ein Friedensabkommen zur Beendigung einer internen bewaffneten Auseinandersetzung durch den demokratischen Weg ablehnt. Die Strategie der „Nein“-Kampagne des konservativen Centro Democrático (CP), angeführt vom Ex-Präsidenten und jetzigen Senator Álvaro Uribe, war dabei zielgenau: Um jeden Preis sollte verhindert werden, dass das Abkommen, das in der kubanischen Hauptstadt vier Jahre lang verhandelt worden war, von der Bevölkerung angenommen wird. Insbesondere war den rechten Kräften die ausgehandelte Teilstraflosigkeit sowie die als mögliche „Apokalypse“ bezeichnete politische Partizipation der FARC ein Dorn im Auge. „Besser 20 Jahre verhandeln, als das Land der FARC auszuliefern“, sagte Uribe dazu.

Ein Manager der „Nein“-Kampagne, Juan Carlos Vélez (CP), gab sogar in einem Interview mit der Zeitung La República zu, dass die Strategie vor dem Referendum auf Desinformation und Provokation basierte. „In Radiosendungen, die von Leute mit hohen Einkommen gehört werden, haben wir uns auf die Straflosigkeit, den Einzug von guerilleros ins Parlament und auf die Steuerreform konzentriert. In Sendungen, die von Menschen mit schwachen Einkommen gehört werden, fokussierten wir die Aufmerksamkeit auf die finanzielle Unterstützung, die die guerilleros nach der Entwaffnung bekommen sollten.“

Anders sahen dies die Menschen in von den Gefechten am schwersten betroffenen Regionen, die aufgrund des Kriegs vom Staat oft vernachlässigt wurden und daher offenbar in einer anderen Realität verankert sind. So gewann in den Verwaltungsbezirken Chocó, Nariño, Guajira und Cauca eindeutig das „Ja“. Sogar in Bojayá, ein Dorf in der Region Chocó, wo die FARC 2002 eine Bombe in die Dorfkirche warfen und damit 80 Menschen töteten, wurde mit 96 Prozent dem Abkommen zugestimmt. 23 von 27 Gemeinden, in denen sich die FARC entwaffnen sollten, sprachen sich eindeutig für den Frieden aus.

Herzen und Kerzen: Zeichen für das Bekenntnis zum Frieden (Foto William Aparicio)
Herzen und Kerzen: Zeichen für das Bekenntnis zum Frieden (Foto William Aparicio)

Mit dem Ergebnis des Referendums hat Kolumbien nun den Bauern und Bäuerinnen, den guerillerxs und den Armen im allgemeinen den Rücken gekehrt. Diejenigen, die am eigenen Körper den Krieg erlebten, sind offensichtlich fähig, zu vergeben. Das „Nein“ zu bejubeln und sich stolz zu fühlen, während gleichzeitig die Opfer erneut zu Opfern gemacht werden, ist daher beschämend. Außer in Bogotá, wo das „Ja“ obsiegte, waren es vor allem die Städte, die über das Schicksal der ländlichen Gemeinden entschieden haben. „Es ist ungerecht, dass wir in Kolumbien um den Frieden betteln müssen“, bedauert in diesem Sinne ein Überlebender des Massakers in Bojayá.

Die äußere politische Rechte und die Kirche feierten unterdessen ihren Sieg, den sie teils mit trügerischen Argumenten errungen hatten. So argumentierten die evangelische und katholische Kirche im Vorfeld schwammig, dass das Abkommen ihre religiösen Werte verletze und mobilisierten stark für das „Nein“. Allerdings muss auch anerkannt werden, dass sich Teile des Landes von den vier Jahre dauernden Friedensverhandlungen auf Kuba nicht berücksichtigt fühlten. Wie verschiedene Analyst*innen meinen, gab es keinen nationalen Dialog, sondern nur einen zwischen bestimmten Lagern in der Gesellschaft.

Auch hat das „Nein“ gewonnen, weil dem Frieden die Unterstützer*innen fehlten. Nicht alle politischen Bewegungen oder linke Parteien haben genügend für den Friedensprozess geworben. Nun müssen sie zusammenhalten und den Prozess verteidigen, um den nächsten Zug von Senator Uribe zu verhindern. Der möchte nämlich das Teilabkommen zur politischen Partizipation der FARC und den Übergangsprozess kippen.

Nun ist es wichtig, nach vorne zu schauen. Der Friedensprozess muss jetzt in ein Abkommen münden, das die Ergebnisse des Referendums mit einbezieht. Der Schlüssel zum Erfolg besteht darin, die konkreten Vorschläge der Regierungskritiker*innen inklusive der Oppositionspartei Centro Democrático sowie die der linken Guerilla Nationale Befreiungsarmee (ELN) zu integrieren. Gesprochen wird in diesem Rahmen über einen nationalen Dialog, einen multilateralen Verhandlungstisch oder eine Verfassunggebende Versammlung. Die Menschenrechtsaktivistin Piedad Cordoba weist jedoch auf bestimmte Aspekte hin, deren Umsetzung bereits möglich wäre. Dazu gehört der Erlass über das Gesetz, das den politischen Status linker Gruppierungen regeln soll. „Dies ist fundamental für ein Land, wo die Linke mit Terrorismus in Verbindung gebracht wird“, sagt sie.

Schwierig, aber nicht unmöglich erscheint es, die mangelnde Bereitschaft zum Frieden vieler Kolumbianer*innen umzukehren. Die öffentliche Meinung wurde stark durch „Vorschläge“ des Centro Democrático beeinflusst, die eher nach Vergeltungsmaßnahmen klingen. Nun muss auf Basis der schon geleisteten Arbeit weiter verhandelt werden.
Die FARC kommentierten ihrerseits, dass die Liebe in ihren Herzen riesig sei. „Mit unseren Worten und Handlungsweisen werden wir fähig sein, Frieden zu erlangen“. Obwohl sie sich an das Abkommen halten wollen, haben auch sie keinen Plan B. „Der Frieden wird siegen“, schrieben sie daher schlicht in einem Kommuniqué. Darauf antwortete die Regierung Santos mit der Verlängerung der bereits ausgerufenen Waffenruhe bis zum 31. Oktober. Und dann? „Kehren wir danach zum Krieg zurück?“, kommentierte Rodrigo Londoño, Kommandeur der FARC, fragend.

Was am 1. November tatsächlich geschehen wird, ist noch nicht absehbar. Indessen hat sich der Präsident bereit erklärt, mit Uribe und seinen Anhängern zu verhandeln. Dabei überschattet die Debatte über die Straflosigkeit alle anderen Themen, was milde gesagt zynisch ist.

"Acuerdo ya!" Lautstark haben die Menschen die sofortige Umsetzung des Abkommens gefordert
“Acuerdo ya!” Lautstark haben die Menschen die sofortige Umsetzung des Abkommens gefordert (Foto: Sebastián Gonzalez)

So klagen Kritiker*innen des Abkommens, dass dieses die Straflosigkeit der FARC-guerrillerxs begünstige. Sie setzen Gefängnisstrafen mit Gerechtigkeit gleich, verkennen dabei aber die Rolle des Staates als einen der Hauptverantwortlichen für die Gewalt. Bei der mutmaßlichen Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung hat schließlich auch die Regierung das Gesetz verletzt. Nicht zuletzt haben Ex-Präsident Uribe und Präsident Santos mittelbar die „falsos postivos“ auf dem Gewissen. Nach offiziellen Angaben handelt es sich um circa 3.000 Personen, die willkürlich hingerichtet wurden, um ihren Tod als gefakten Erfolg im Kampf gegen die Guerillas darzustellen. Schockierend ist, dass Soldat*innen der kolumbianischen Armee straflos davongekommen sind.
Zum Thema Straflosigkeit machte Uribe bis dato indes nur Vorschläge, die im unterzeichneten Abkommen ohnehin enthalten waren. Zum Beispiel Amnestie für einfache Soldaten der Guerilla, die keine Menschenrechtsverletzungen begangen haben. Des Weiteren hat die rechte Opposition Unterhändler ernannt, die aus dem von ihr selbst geschaffenen juristischen Vakuum heraus verhandeln sollen. Unter ihnen der wegen Korruptionsverdacht abgesetzte Generalstaatsanwalt Alejandro Ordóñez (Partido Conservador) sowie der Ex-Präsidentschaftskandidaten Óscar Ivan Zuluaga (Centro Democrático).

Angesichts von Repressionen, Niederlagen und Versuchen, das Volk mundtot zu machen, haben die Kolumbianer*innen stets Strategien entwickeln, um der Gewalt die Stirn zu bieten. Klar ist, dass sich das Land seit der Unterzeichnung des Abkommens verändert hat. Mit der neuen Situation muss auf andere Weise umgegangen werden. Insbesondere, weil das Ende des Konflikts zu einer reellen Idee geworden ist. Am 5. Oktober sind daher in den wichtigsten Städten des Landes tausende Menschen auf die Straße gegangen und haben mit einem lautstarken „Acuerdo Ya!“ (Abkommen Jetzt!) das Ende der kriegstreiberischen Ansätze eingefordert.

Auch ist in den vergangenen Jahren die Anzahl von Friedensforen und akademischen Forschungen zum Thema gestiegen. Nicht-Regierungsorganisationen im Einsatz für Menschenrechte und für die Belange von Opfern des bewaffneten Konfliktes haben sich vervielfacht. Der Journalismus veränderte seine Sprache und die Guerilla erschien, nach Jahren der Zensur, wieder im Fernsehen. Die Opfer des bewaffneten Konflikts wurden gehört, die Guerilla bat um Vergebung. Der Staat erkannte den politischen Charakter der Aufständischen an, und soziale Bewegungen schufen eigene Räume, um über den Konflikt zu reden. Selbstständig machten sie Vorschläge für den Frieden.

Nichtsdestotrotz war das nicht genug. Durch die „Nein“-Kampagne wurden Lügen wiederholt verbreitet, Hass gepredigt und die Stimmung aufgehetzt. Der am 5. Oktober bewiesene Rückhalt in der Bevölkerung hat vor dem Referendum gefehlt, um den 52-jährigen Konflikt beenden zu können. Angesichts der Zweifel und Ahnungslosigkeit ist es daher zumindest beruhigend, dass die Regierung auf einer politischen Lösung des Konflikts beharrt und sich für einen breiteren Dialog einsetzt – sowohl mit der Opposition als auch mit der Bevölkerung.

Es bleibt dennoch ein Moment der Anspannung und Ratlosigkeit. Aus dem Ergebnis des Referendums gehen die falsch spielenden Konservativen und Uribisten gestärkt hervor, während die auf eine politische Lösung setzenden Liberalen an Unterstützung einbüßen. Eine Allianz der alten Eliten könnte also zurückkommen, was nichts anderes bedeutet, als die Ablehnung des Friedens. Die Linke ist der große Verlierer des Tages. Ihr gelang es nicht in ausreichendem Maße, die Bevölkerung anzusprechen und die Instrumentalisierung der Abstimmung zu verhindern. Die politische Stimmung im Land folgte weniger der Vision des Friedens mit sozialer Gerechtigkeit als der politischen Rivalität zwischen Santos und Uribe.

Kolumbien hat in der Summe einen weiteren großen Rückschlag hinnehmen müssen, aber auch wiederholt die Bereitschaft gezeigt, Widerstand zu leisten und den nächsten Schritt zu gehen. Nun geht es nicht darum, den Frieden der Unterhändler*innen zu unterstützen. Vielmehr geht es darum, ein für alle Seiten bestmögliches Abkommen zu beschließen, das in naher Zukunft den bewaffneten Konflikt politisch löst. Sich von Uribe und seinem irrationalen Projekt zu distanzieren, ist dabei politischer Imperativ. Sonst wird die Welt sich auf die Nachricht einstellen müssen, dass sich die Geschichte der gescheiterten Friedensprozesse in Kolumbien wiederholt.

HISTORISCHER DURCHBRUCH

Ja oder Nein? Am 2. Oktober wird die kolumbianische Bevölkerung über die Annahme des Friedensabkommens abstimmen, das Regierung und die Revolutionären Bewaffneten Streitkräfte Kolumbiens (FARC) in vier Jahren in Havanna ausgehandelt haben. Die Kampagnen der Befürworter*innen und Gegner*innen reklamieren jeweils für sich, nur Frieden im Sinn zu haben, allerdings auf gänzlich verschiedene Weise.

Zumindest im links-alternativ geprägten Parque de los Hippies in Bogotá war es ein Freudentag. Menschen im Trikot des kolumbianischen Fußballteams und mit Friedensfähnchen feierten am 24. August die Veröffentlichung der Friedensverträge zwischen der Regierung und den Revolutionären Bewaffneten Streikkräften Kolumbiens, die live im Fernsehen übertragen wurde. „Man hatte vergessen, dass es auch anders geht“, sagte eine der Anwesenden. Rührende, aufmunternde, aber auch skeptische Kommentare überfluteten die Medien und sozialen Netzwerke. Ohne Zweifel war es ein historischer Tag. Wie so viele andere seit Beginn der Verhandlungen mit der ältesten Guerilla Lateinamerikas, die seit 1964 gegen den Staat kämpft.
Bereits 2012 saßen viele Kolumbianer*innen augenreibend vor dem Fernseher, als ausgerechnet der konservative Präsident Santos den Beginn des Friedensprozesses mit der Frage ankündigte: „Wie viele Kolumbianer*innen haben den Konflikt wohl hautnah erlebt, wie viele haben Verwandte und Bekannte, die Opfer der Gewalt wurden?“ Zwar sprach sich die Mehrheit der Bevölkerung anfangs gegen diesen Schritt aus, doch bereits zwei Jahre später sicherten die laufenden Verhandlungen Santos die Wiederwahl. Trotz zahlreicher Krisen und Rückschläge wurde stets weiter verhandelt. Es gab somit viele historische Tage in einem Land, mit einer sehr langen Geschichte gescheiterter Friedensprozesse.
„Ich habe versprochen, dass ihr das letzte Wort haben werdet, und so wird es auch sein!“, sagte Santos am Tag der Veröffentlichung der Verträge und rief die Bevölkerung zum Referendum am 2.Oktober auf. Die Regierung hofft auf ein klares Ja, denn einen Plan B gibt es nicht. Das Bild der Guerilla unter der Bevölkerung hat sich zwar verbessert, doch für ein Ausbruch an Euphorie reicht es bei Weitem nicht. In der jüngsten Umfrage von Datexco für die Zeitung El Tiempo und den Radiosender La W wollen 55,2 Prozent der Befragten dem Abkommen zustimmen, 31 Prozent es ablehnen und zehn Prozent wussten es noch nicht. Allerdings variieren diese Ergebnisse erheblich in den verschiedenen Regionen und andere Umfragen ergaben andere Resultate.
Um eine möglichst breite Beteiligung am Referendum sowie dessen Anerkennung zu erreichen, finanziert die Regierung die Kampagne der Gegner*innen als auch die der Befürworter*innen. Angeführt werden diese jeweils von Ex-Präsidenten des Landes.

Hardliner Álvaro Uribe Vélez, Staatschef von 2002 bis 2010 und jetziger Senator der konservativen Centro Democratico, leitet mit Unterstürzung von Andrés Pastrana, der in seiner Amtszeit 1998-2002 mit der FARC verhandelte und scheiterte, die Nein-Kampagne. Das Ja-Lager führt César Gaviria an, der in seiner Amtszeit von 1990-1994 mit neoliberal geprägter Politik das Land wirtschaftlich öffnete. Dass sie verschiedene Auffassungen von Frieden haben, dürfte mittlerweile allen Kolumbianer*innen klar sein.
„Wir stimmen für den Frieden, indem wir Nein wählen“, erklärte Uribe beim Auftakt seiner Kampagne. ‚Nein zu Straflosigkeit, Nein zu Santos, Nein zu dem castro-chavistischen Terror‘ lauten die Slogans bei Veranstaltungen, auf Tweets und Flugblättern der Gegner*innen der Gespräche. Santos´ Unbeliebtheit in der Bevölkerung erreichte mit der Energiekrise, dem jüngsten Streik der Kleintransporter und der Erhöhung der Steuern, satte 66 Prozent. Innenpolitisch steht seine Politik auf dem Prüfstand und die Kritik seiner Gegner*innen wird bewusst gegen die Verhandlungen seiner Regierung mit der Guerilla eingesetzt.
Für César Gaviria gilt es hingegen, „ein Gefühl von Vergebung hervorzurufen, Halt zu machen und sich nicht für eine Gesellschaft zu entscheiden, die nur an Rache und militärische Lösungen denkt. Es gilt mit dieser Idee zu brechen, auch weil die Bemühungen der vergangenen Jahre außerordentlich groß waren.“ Seine Aufgabe als Leiter der Ja-Kampagne sei es, eine gemeinsame Botschaft zu formulieren, hinter der soziale Organisationen, die Kirche und Einzelaktivist*innen stehen können. „Wir haben bemerkt, dass auf dem Land, die kleinen und mittelgroßen Gemeinden dem Ja stärker zugeneigt sind, weil sie von Gewalt häufiger betroffen waren. Die Friedensbotschaft über das Ende des Krieges ist in ländlichen Gebieten stärker als in der Stadt. Man muss versuchen, den Menschen in der Stadt zu zeigen, wie Kolumbien ohne so viel Gewalt sein könnte“, sagte er in einem Interview mit der spanischen Zeitung El País.

Über fünf zentrale Punkte haben Regierung und FARC im Laufe der letzten vier Jahre verhandelt. Sie lösen nicht alle wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme des Landes, die Einigungen bieten aber noch nie dagewesene Möglichkeiten, die Ursachen des bewaffneten Konfliktes mit den Aufständischen zu klären.
Der erste Punkt der Verträge zielt darauf, die Situation der rund 15 Millionen extrem marginalisierten Kolumbianer*innen in ländlichen Gebieten zu verbessern. Das ist ein großes Versprechen für ein Land, in dem ein Agrarkonflikt sich in einen blutigen Krieg verwandelte, der ein halbes Jahrhundert überzog. Die darin geplante Reform (Reforma Rural Integral – RRI) umfasst die Rückkehr von Vertriebenen in ihre Heimatorte, Landrückgabemaßnahmen an Kleinbauern- und bäuerinnen sowie die Neueinteilung landwirtschaftlicher Nutzflächen und von Naturschutzgebieten.
Doch damit ist die konservative Elite Kolumbiens nicht einverstanden. Das Gespenst des castrochavismo, eine ideologische Mischung der Politik Fidel Castros und Hugo Chávez‘, wird beschworen. „Santos ist zwar kein Chavist, aber seine Politik geht in diese Richtung“, sagte Uribe bei einer Konferenz in der Privatuniversität Sergio Arvoleda in Bogotá. „Im Abkommen wird unser gesamtes freiheitliches System in Frage gestellt und die Rechte der Privatunternehmer verletzt“. Im Hinblick auf Venezuela warnt er vor den Gefahren für die gesamte Wirtschaft, denn „die Kolumbianer*innen investieren nicht mehr. Entweder haben sie Angst vor dem Frieden oder vor den Steuern, um diesen zu finanzieren“. Derartige Bemerkungen sind oft zu hören, besonders in der Stadt.

Ein der Agrarreform sehr ähnliches Projekt, das die Eigentumsverhältnisse in ländlichen Gebieten verändern soll, ist Teil der Strategie, um die strukturelle Ungleichheit zwischen Land und Stadt zu beheben. Laut Vertrag verpflichtet sich die Regierung mit Fortbildungsangeboten, Krediten und Subventionen für kleinere Betriebe, die kommunale Produktion zu fördern. Straßen, Bewässerungssysteme und Stromnetze sollen in den historisch vernachlässigten Gebieten gebaut sowie in Gesundheits- und Bildungseinrichtungen wesentlich investiert werden. Nur so, heißt es im Abkommen, kann das Ziel erreicht werden, in zehn Jahren die extreme Armut zu beseitigen und die Armut in ländlichen Gebieten um die Hälfte zu reduzieren. Im krassen Widerspruch hierzu stehen allerdings die anderen wirtschaftspolitischen Vorhaben der Regierung, nämlich weiterhin vor allem auf Extraktivismus und Monokulturen zu setzen. Auf jeden Fall wird die Inklusion der armen Bevölkerung die zentrale Herausforderung der Zeit Jubel bei historischer Geste Polit-Fanmeile in Bogotá nach Beendigung des bewaffneten Konflikts werden. Immerhin wandten sich sehr viele ländliche Gemeinden dem Schutz der Guerillas zu, weil sie vom Staat allein gelassen wurden. „Der Aufbau des Friedens bedarf der Stärkung der Demokratie“, hieß es in der Einigung zur politischen Partizipation. Darin verpflichtet sich die Regierung das Wahlsystem auf den Prüfstand zu stellen, die Rechte der politischen Opposition zu gewährleisten und ein Schutzprogramm für Ex-Guerillerxs zu errichten, die nach der Entwaffnung als Partei antreten und Politik machen wollen.
Jedoch reagieren große Teile der Bevölkerung und viele Politiker*innen empört auf die Vorstellung, dass die ehemalige Führungsspitze der FARC mit zehn Sitzen einen wahlunabhängigen Einzug ins Parlament bekommen soll, um die Umsetzung der Verträge zu verfolgen. Besorgt sind die konservativen Kräfte andererseits auch darüber, dass linke Ideen und Bewegungen salonfähig werden könnten und nicht wie bisher aufgrund einer ideologischen Nähe zu den Aufständischen leicht zu diskreditieren sind. Nicht völlig unbegründet –„Wir waren immer eine politische Organisation, eine kommunistische Partei (…). Noch ist es zu früh, um über die nächste Wahlperiode zu reden, aber wir streben eindeutig an, zu der Entstehung einer großen alternativen, politischen Bewegung beizutragen“, schreibt der politische Berater des Oberbefehlshabers der FARC, Gabriel Angel, in einem Fragebogen der mexikanischen Presseagentur Notimex.

Wie viele Kolumbianer*innen für solche Botschaften empfangsbereit sein werden, ist unklar. Es gilt, das grundsätzliche Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Guerilla zu überwinden, aber auch gegenüber der Politik, die an der Fortsetzung des Konflikts ebenfalls beteiligt war. 240.000 Personen wurden im Rahmen der bewaffneten Auseinandersetzungen ermordet. Der Ausbau der Luftwaffe, aber auch die Militarisierung von Teilen der Gesellschaft hatte zur Folge, dass nach offiziellen Zahlen 6.883.513 Kolumbianer*innen vertrieben wurden. Massaker, sexualisierte Gewalt und Folter waren hierbei Mittel aller bewaffneten Akteure. Laut Vertrag wird jetzt eine Wahrheitskommission gegründet, die den Paramilitarismus, die Rolle des Staates, die der kolumbianischen Armee und der FARC bei registrierten Menschenrechtsverletzungen des vergangenen halben Jahrhunderts aufklären soll.
Denn juristische Aufklärung, das Sorgen für Gerechtigkeit und die Entschädigung der Opfer sind für die meisten Kolumbianer*innen zentrale Bedingungen für ihre Akzeptanz eines Friedensabkommens, weshalb auch eine Übergangsjustiz verhandelt wurde. Ein Sondergericht für den Frieden soll Haftstrafen für Menschenrechtsverletzungen von acht Jahren für geständige Täter*innen verhängen. Täter*innen, die später überführt werden, müssen für 20 Jahre hinter Gitter. Des Weiteren erhalten die Guerillerxs für Delikte Amnestien, die mit der Finanzierung der Rebellion verbunden waren, wie beispielsweis dem Drogenhandel.
Die Formel „Gefängnis oder Tod“ für Guerillerxs, hinter der noch viele Kolumbianer*innen als Antwort zum Konflikt stehen, steht in direktem Widerspruch mit den Friedensgesprächen, mit dem ausgesprochenen Ziel, Politik ohne Waffen möglich zu machen. „Wird das Nein gewählt, werden beide Parteien vom Tisch aufstehen und das laufende Verfassungsprojekt für das Inkrafttreten des Friedens, wird nicht stattfinden“, sagt César Gaviria. „Wir wollen nicht sagen, dass derjenige der Nein wählt, Krieg will, aber derjenige soll wissen, dass wenn das Nein gewinnt, der Krieg weitergehen wird“
Im Anschluss an die zehnte und letzte Guerillakonferenz vom 17. bis 23. September, nach der die FARC sich auflösen will, werden sich die Aufständischen in 23 ländliche Kleingemeinden und acht Lagern in zwölf verschiedenen Verwaltungsbezirken versammeln und innerhalb von fünf Monaten die Waffen abgeben. Der militärische Rückzug der FARC aus ihren traditionellen Hoheitsgebieten ist bereits in Gang. Die Regierung hat mittlerweile 16.000 Polizist*innen und Soldat*innen für den Schutz von Ex-Kämpfer*innen eingestellt.
Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass zur Zeit diese Gebiete von der linken Guerilla Nationale Befreiungsarmee (ELN) und der rechten paramilitärischen Gaitanistischen Bürgerwehr Kolumbiens (AGC) eingenommen werden. In Nariño und Cauca zum Beispiel kämpfen sie im Moment um rund 18.000 Hektar Koka-Plantagen und weitere neue Gruppierungen sind dazu gekommen. Auch andere jüngste Ereignisse beunruhigen. Auf dem Grundstück der Friedensaktivistin Cecilia Colcué in Corintio Cauca sollten sich Guerillerxs für die Entwaffnung versammeln. Am 6. September wurde Cecilia Colcué tot aufgefunden. Egal wie das Referendum ausgeht, zu einem vollständigen Frieden ist es noch ein weiter Weg.

EIN SCHIMMER HOFFNUNG

Einigung auf 28 Seiten Präsident Santos und FARC-Chef ‚Timoleón Jiménez‘ verkünden den Waffenstillstand (Foto: Presidencia El Salvador CC0 1.0)
Einigung auf 28 Seiten Präsident Santos und FARC-Chef ‚Timoleón Jiménez‘ verkünden den Waffenstillstand (Foto: Presidencia El Salvador CC0 1.0)

#ElUltimoDiaDeLaGuerra (Der letzte Tag des Krieges) – lautete es bereits einen Tag vor der Verabschiedung des Waffenstillstandes zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC-Guerrilla verheißungsvoll von kolumbianischen Twitter-Benutzer*innen am 22. Juni dieses Jahres. Angestoßen wurde dieses Motto von FARC-Chef Rodrigo Londoño Echeverry alias ‚Timoleón Jiménez‘. Es verbreitete sich dann in Windeseile über Nichtregierungsorganisationen und kolumbianische Medien.
Die Friedensverhandlungen, die seit November 2012 in der kubanischen Hauptstadt Havanna stattfinden, waren zuletzt eher schleppend verlaufen. Das Versprechen, bis zum 23. März 2016 eine vollständige Einigung in allen verbliebenen Punkten zu erzielen, mussten die Verhandlungs­partner*innen bereits im Vorfeld widerrufen. Damit boten sie der Opposition eine ideale Zielscheibe für Kritik, angeführt von Ex-Präsident Álvaro Uribe Vélez (siehe LN 501). Im Juni, drei Monate später, dann der entscheidende Durchbruch: Nach zähen Verhandlungen konnten sich die Vertreter*innen der FARC und der kolumbianischen Regierung in fünf der sechs Unterpunkte des wohl wichtigsten Themas, dem Ende des Konfliktes, einigen.
Das am 23. Juni 2016 geschlossene, beidseitige Waffenstillstandsabkommen besiegelt den Konsens. Neben einer Leitlinie für den Prozess zur Entwaffnung der Angehörigen der FARC umfasst das 28 Seiten starke Dokument eine Festlegung auf spezifische Schutzzonen, in die sich die Guerrillerxs für maximal sechs Monate – nach der offiziellen Beendigung der Friedensgespräche – zurückziehen können, um im Anschluss „in das zivile Leben re-integriert zu werden“.

Ein weiterer strittiger Teil der Agenda war der zukünftige Umgang mit paramilitärischen sowie anderen bewaffneten Gruppen und Akteur*innen, die die allgemeinen Menschenrechte verletzten. Dieser Punkt ist besonders entscheidend, weil er die Sicherheitsgarantieren für die Angehörigen der Guerilla definiert. Vor dem Hintergrund des Massenmordes an Mitgliedern der Partei Patriotische Union (UP), zeigten sich die Guerilleros zunächst nicht zu einer Niederlegung der Waffen bereit. Die Partei hatte sich Mitte der 1980er Jahre unter anderem aus dem entwaffneten, politischen Arm der FARC gebildet.
Die Aufsicht über die vereinbarten Punkte übernehmen Organe der Vereinten Nationen (UN), was Menschenrechtsaktivist*innen im Gespräch mit der kolumbianischen Wochenzeitung Semana als Beweis der Ernsthaftigkeit des Abkommens betonen. Die Ratifizierung der gesamten Agenda durch Vertreter*innen der UN führe des Weiteren zu einer „Internationalisierung des Friedens“, was darauf hindeute, dass „die Weltgemeinschaft den kolumbianischen Friedensprozess unterstütze“.
Erstmals seit ihrer offiziellen Gründung am 27. Mai 1964, zeigen sich die Angehörigen der FARC, die aus einer Bauernorganisation in der Region Marquetalia entstanden war, nun also bereit, ihren militärischen Kampf zu beenden und stattdessen auf politischer Ebene für ihre Ziele zu streiten. Die genaue Form dieser aktiven, politischen Teilhabe ist jedoch noch nicht geklärt. Das Waffenstillstandsabkommen gilt dennoch als Meilenstein, da es quasi den gesetzlichen Rahmen der Übergangsphase zum sogenannten posconflicto (Post-Konflikt) und den Entwaffnungsprozess der Guerilla definiert. So betonte der oberste FARC-Befehlshaber ‚Timoleón Jiménez‘ in seiner Rede während des symbolischen Verkündungsaktes am 23. Juni nochmals: „Lass diesen Tag den letzten Tag des Krieges sein!“ – um von Präsident Santos ergänzt zu werden: „Wir haben den Zeitpunkt erreicht, von dem an wir ohne Krieg leben können. […] Der Frieden ist nicht mehr nur ein Traum, sondern wir haben ihn endlich in den Händen. Auch wenn wir heute und vermutlich auch in Zukunft nicht mit der FARC einverstanden sind, rechnen wir ihr dennoch hoch an, dass sie bereit ist, den Schritt vom bewaffneten zum politischen Kampf zu gehen.“
Bei aller Euphorie darf jedoch nicht vergessen werden, dass nach wie vor das letzte Thema, die Umsetzung des Friedensvertrages, nicht geklärt ist. Auch in einigen anderen Punkten gibt es noch offene Fragen, die in den nächsten Wochen geklärt werden müssen. Denn es gilt weiterhin der Grundsatz, dass es keine Einigung gibt, solange nicht Einigkeit in allen Punkten herrscht. Fraglich ist weiterhin, ob und wie es zu dem von der Regierung versprochenen Referendum der kolumbianischen Bevölkerung über das endgültige Friedensabkommen kommen wird (siehe LN 501).
Inwiefern die Regierung und die FARC in ihren eigenen Reihen dazu fähig sein werden, die Beschlüsse auf landesweiter Ebene durchzusetzen, wird sich erst im Anschluss an die Unterzeichnung des Friedensabkommens zeigen. Präsident Santos brachte als mögliches Datum hierfür den 20. Juli, den kolumbianischen Nationalfeiertag, ein. Kolumbianische Medien gehen von ein bis zwei Monaten aus. Noch ist offen, ob aus dem Frieden mit der FARC auch das Ende aller bewaffneter Konflikte in Kolumbien einhergehen wird. So besteht die Gefahr, dass FARC-Mitglieder nachdem Friedensschluss zur zweitgrößten Guerilla des Landes, der Nationalen Befreiungsarmee (ELN) wechseln werden. Erste Friedensgespräche zwischen ELN-Vertreter*innen und der Regierung Kolumbiens erbrachten bisher keine nennenswerte Erfolge. Die Gefahr paramilitärischer Gruppen, die zuletzt einen Aufschwung erlebten und die statistisch für mehr Todesfälle verantwortlich sind als alle Guerilla-Gruppen zusammen, darf ebenfalls nicht außer Acht gelassen werden.
Bis in Kolumbien von einem endgültigen „letzten Tag des Krieges“ gesprochen werden kann, gilt es daher noch einige Hürden zu meistern. Nichtsdestotrotz ist der beidseitige Waffenstillstand ein großer Fortschritt. Die bittere Spaltung zwischen Regierungspartei und Opposition, in welcher die FARC immer eine zentrale Rolle spielte, könnte endlich überwunden werden. Eingefahrene Muster der „Politik mit Waffengewalt“, der Korruption, des Klientelismus und der Benachteiligung eines Großteils der Bevölkerung können ab jetzt hinterfragt werden. Es  ist ein  Hoffnungsschimmer, dass der Frieden endlich in greifbare Nähe rückt.

** ‚Timoleón Jiménez‘ wird in kolumbianischer und deutscher Presse häufig ‚Timochenko‘ genannt. Er selbst und die FARC lehnen diesen Namen jedoch ab, da er als kommunistische Verunglimpfung seines Aliasnamens erfunden wurde und genutzt wird.

FALLSTRICKE DER TRANSFORMATION

Wählerinnen in El Alto
Wähler*innen in El Alto (Fotos: Ximena Montaño)

Erstmals seit seinem Amtsantritt 2006 hat Boliviens Präsident Evo Morales einen Urnengang verloren. Eine Verfassungsänderung, die ihm eine erneute Kandidatur im Jahr 2019 erst ermöglicht hätte, wurde im Referendum vom 21. Februar von 51,3 Prozent der Bevölkerung abgelehnt. Es war auch das erste Mal in der Geschichte, dass alle Bolivianer*innen gefragt wurden, ob sie ihre Verfassung ändern wollen. „Ein wichtiges Rendezvous mit der direkten Demokratie“, nannte José Luis Exeni, Mitglied der Wahlbehörde, deshalb das Plebiszit. Die Möglichkeit dafür hatte die Verfassung von 2009 geschaffen. Diese war innovativ, nicht nur weil sie Bolivien aufgrund seiner indigenen Bevölkerungsmehrheit zum plurinationalen Staat erklärt und damit die Existenz von 36 Kulturen anerkannt hatte. Sie sieht auch drei Formen von Demokratie vor: repräsentativ, direkt/partizipativ und kommunitär – und zwar ohne, dass eine dieser Formen den anderen übergeordnet wäre. Unter kommunitärer Demokratie versteht man eine Versammlungsdemokratie mit Rotationsprinzip, eine traditionelle Entscheidungsform in indigenen Gemeinden.
Die Feministin Elisabeth Peredo beklagte vorab dennoch: „Dieses Referendum stellt uns nicht nur zu einem völlig verfrühten Zeitpunkt vor eine wahlpolitische Alternative. Es hat auch die grundsätzlichen Themen unseres Landes auf ein einfaches Ja oder Nein reduziert. Die Debatte über das Entwicklungsmodell, über die Gefahren, die Bolivien angesichts der globalen Veränderungen drohen, die Frage, ob wir weiter auf jenes megalomane Wachstum setzen sollen, dem ­unsere ­Regierenden­ sich verschrieben haben.“
In der Tat steht das südamerikanische Land vor großen Herausforderungen. Dass makroökonomische Indikatoren wie Wachstum (in den vergangenen Jahren über fünf Prozent) und Armutsminderung (rund 20 Prozent seit 2002) Bolivien ein sehr positives Zeugnis ausstellen, bedeutet nicht, dass es keine drängenden Probleme gäbe. Zwar sind die Sozialausgaben gestiegen. Doch sie bestehen vor allem aus monatlichen Zahlungen kleiner Beträge an verschiedene soziale Gruppen (Schwangere, Kinder, Alte, etc.), ohne dass sich beispielsweise die Qualität oder Ausdehnung der staatlichen Gesundheitsversorgung spürbar verbessert hätte. Noch federn die internationalen Reserven des Landes den weltweiten Absturz des Erdgas- und Ölpreises ab. Doch im Bergbau zeigen sich schon Auswirkungen der auf dem Weltmarkt ebenfalls gesunkenen Erzpreise. Diese zu erwartende tiefe Wirtschaftskrise, die in den Nachbarländern bereits wütet, ist der Grund, warum die Regierung schon zum jetzigen Zeitpunkt auf die Abhaltung des Referendums drängte: Sie sah ihre Gewinn-Chancen schwinden. Das Kalkül ging nicht auf,. „Wir haben eine Schlacht verloren, aber nicht den Krieg.“, kommentierte Evo Morales das Ergebnis.
Bolivien hat zunehmend auf Rohstoffexport und Agroindustrie gesetzt, auch wenn dies laut Vizepräsident Álvaro García Linera nur vorübergehend sein sollte, um irgendwann später eine Industrialisierung und wirtschaftliche Diversifizierung finanzieren zu können. Damit einhergehende Konflikte und Umweltzerstörung wurden in Kauf genommen. Im Sommer 2015 wurden alle Naturschutzgebiete des Landes – Bolivien erstreckt sich weit ins Amazonasbecken hinein – für die Suche nach Ölreserven freigegeben. Vor allem aber hat dieser Extraktivismus längst die typischen Übel hervorgerufen, welche auf Rohstoffrenten zielende Gesellschaften charakterisieren: „Die Überschüsse aus den Rohstoffexporten­ sind nicht für eine Umwandlung der Produktion verwendet worden, sondern um klientelistische Strukturen zu schmieren und so die politische Kontrolle über die Gesellschaft zu verstärken und den Aufstieg einer neuen Bourgeoisie zu ermöglichen“, sagt der Linksintellektuelle Luis Tapia.

Alles korrekt - Stimmauszählung in La Paz
Alles korrekt – Stimmauszählung in La Paz

Seit vergangenem Jahr haben Korruptionsskandale das politische Projekt der Regierungspartei Moviemiento al Socialismo (MAS) schwer erschüttert, an der Spitze wie an der Basis. In der ersten Jahreshälfte 2015 kam heraus, dass praktisch flächendeckend Millionenbeträge in US-Dollar aus dem Fondo Indígena, einem bedeutenden, aus Erdgasexporteinnahmen finanzierten Regierungsfonds zur Förderung indigener und kleinbäuerlicher Organisationen, auf Privatkonten der Führungsriegen gelandet waren. Die geförderten Projekte wurden niemals ausgeführt. Über 200 Gerichtsverfahren sind in Gang, eine ehemalige Ministerin, zwei Senatoren der MAS und eine Reihe bekannter Führungspersonen großer, regierungstreuer Organisationen befinden sich in Haft. Ein politisches Erdbeben für die selbsterklärte „Regierung der sozialen Bewegungen“. Dabei waren­ gerade die indigenen ­Organisationen, die laut Morales für die ethische Integrität seines Transformationsprojekts stehen sollten, besonders betroffen. Zwei davon, CONAMAQ und CIDOB, hatten bereits Jahre zuvor unter anderem diese klientelistischen Praktiken kritisiert und deshalb die Seiten gewechselt. Doch sind sie inzwischen durch systematische Diffamierung und Spaltung seitens der Regierung weitgehend zerrieben.
Die MAS hat sich die großen sozialen Organisationen einverleibt und zur unbedingten Loyalität verdonnert, anstatt ihre Autonomie als notwendiges demokratisches Korrektiv zur enormen Wirkungsmacht staatlicher Institutionen anzusehen und den Dialog zu suchen. Die traditionelle existierende korporative Kultur wurde noch verschärft. Beispielsweise wurden in El Alto ganze Fakultäten der Universität, ganze Stockwerke in Krankenhäusern und ganze Abteilungen der Stadtregierung bestimmten Lokalfürst*innen und ihrem Gefolge „zugesprochen“. Das heißt, sie besetzen dort die Stellen und verteilen die Gelder, ungeachtet von Bedarf, Qualifikation und Qualität. Ansonsten bestünde nicht nur in El Alto die Gefahr, dass massive Demonstrationen den Bürgermeister stürzen könnten – wo wiederum die Teilnahme nicht etwa freiwillig ist, sondern mit Anwesenheitslisten kontrolliert wird. „Die Leute haben diese Strukturen gründlich satt“, erklärt Eliana Tambo, Aktivistin aus einem Jugendprojekt in El Alto. „Nur deshalb ist in El Alto vergangenes Jahr die Oppositionskandidatin Soledad Chapetón Bürgermeisterin geworden.“
Genau das war auch der Hintergrund der tragischen Vorfälle in El Alto vier Tage vor dem Referendum, wo im Zuge einer Demonstration für die bessere Ausstattung von Schulen ein Gebäude der oppositionellen Lokalregierung angezündet wurde. Sechs Angestellte starben an Rauchvergiftung. Wie übel das politische Klima im linksregierten Bolivien in jüngster Zeit ist, wird dadurch deutlich, dass der Vizeinnenminister Marcelo Elío noch am selben Abend öffentlich kommentierte, es handle sich bei dem Angriff auf die Stadtregierung von El Alto um ein „Selbst-Attentat“ der Opposition. Der Fernsehsender Telesur meldete nicht weniger eilfertig, Oppositionelle hätten ein Regierungsgebäude der MAS angezündet – und musste diese Verdrehung der Tatsachen hinterher richtigstellen. Verhaftet wurde schließlich ein Anführer der großen Straßenhändler*innenorganisation, die mit dem ehemaligen MAS-Bürgermeister Patana in enger Verbindung steht. Seine Leute hatten gezielt das Gebäude angezündet, um Ermittlungsakten gegen die Korruption aus der Amtszeit von Patana zu vernichten.
Auch Präsident Morales selbst wurde schließlich Protagonist eines Skandals. Anfang Februar beschuldigte ihn der Fernsehjournalist Carlos Valverde, eine Geliebte in den Aufsichtsrat eines chinesischen Unternehmens namens CAMC Engineering gehievt zu haben. Diese Firma hat in den letzten Jahren Infrastrukturaufträge im Wert von 566 Millionen Dollar von der bolivianischen Regierung zugesprochen bekommen. Valverde legte zum Beweis die Geburtsurkunde eines Kindes von Evo Morales mit der betreffenden Gabriela Zapata vor – die keinerlei Qualifikation für den Posten mitbrachte. Der Präsident gestand ein, mit der damals 19-Jährigen ein paar Jahre ein Verhältnis gehabt zu haben – beschuldigte Valverde jedoch umgehend, als ehemaliger Geheimdienstler im Auftrag des US-Imperialismus zu handeln. Es ist nicht auszuschließen, dass beide Seiten mit ihren Beschuldigungen recht haben. Doch hat die Reputation von Morales durch diese reflexhafte Reaktion nur noch mehr Schaden erlitten.
Auch der international als intellektueller Vordenker der Regierung geltende und durch zahlreiche Ehrendoktorwürden ausgezeichnete Vizepräsident García Linera musste in der Woche vor dem Referendum Federn lassen: Obwohl er in seinen zahlreichen Büchern als Mathematiker und Soziologe firmiert, wurde bekannt, dass er keinen dieser Studiengänge jemals abgeschlossen hat.
Die Tragik liegt darin, dass Bolivien in einem Kontinent, in dem der koloniale Habitus der Unterordnung unter den Patrón die politische Kultur immer noch sehr stark prägt, eben wegen seiner innovativen Verfassung eine wichtige symbolische Ausstrahlung hatte. Die Begriffe der Entkolonisierung und Entpatriarchalisierung, beides heute zentrale Begriffe der Emanzipation nach lateinamerikanischen Maßstäben, sind dort geprägt worden. Doch sind sie mittlerweile aus dem offiziellen Diskurs der Regierung Morales verschwunden. Das knappe Ergebnis zeigt zwar, dass ein Großteil der indigenen Bevölkerung sich nicht vorstellen kann, wieder zu einer Regierung der rassistischen alten Oligarchie zurückzukehren. Doch entschuldigt das in keiner Weise die Praktiken der neuen Eliten, auch wenn sie ethnisch repräsentativer sind. Die Aktivistin Eliana Tambo aus El Alto meint dazu: „Man kann sich des Eindrucks einfach nicht mehr erwehren, dass alles von innen verrottet ist.“
Die Wandlung der Regierung Morales ist ein Lehrstück in Sachen linker, gesellschaftlicher Transformation und ihrer Fallstricke. Vielleicht ist es für die politische Kultur des Landes, aber auch für die Demokratie heilsam, wenn Morales und García Linera nun 2020 nicht mehr kandidieren dürfen. „Auf jeden Fall hat die Demokratie das Referendum gewonnen. Und hoffentlich bekommen jetzt diejenigen Kräfte Auftrieb, die unsere Organisationskultur von Grund auf erneuern wollen“, gesteht ein zum kritischen Flügel gehörender Abgeordneter der Regierungspartei im inoffiziellen Gespräch. Auch Eliana Tambo ist ähnlicher Meinung: „Ich habe keine Hoffnung mehr, dass Erneuerung von der Regierung ausgeht. Aber es gibt hier jenseits der Großen immer noch eine Vielzahl kleiner Organisationen, die zeigen, dass unser Transformationsprozess lebendig ist. Es kommt jetzt darauf an, dass die Leute aufhören, immer nur auf den ganzen Schmutz da oben zu starren und sich selbst wieder als Akteure begreifen. So, wie wir einmal angefangen haben.“

KEINE ENTSPANNUNG IN VENEZUELA

Der Ton in Venezuela wird spürbar rauer. „Für die Streitkräfte ist die Stunde der Wahrheit gekommen“, ließ Mitte Mai der oppositionelle Ex-Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles Radonski verlauten. Das Militär müsse sich entscheiden, ob es auf der Seite der Verfassung oder der durch Nicolás Maduro hervorgerufenen Krise stehe. Der venezolanische Präsident hingegen sieht sich und seine Regierung in der Opferrolle. „Die Kampagne gegen Venezuela zielt darauf ab, Chaos und Gewalt zu schüren, um so eine Intervention der US-Regierung zu rechtfertigen“, sagte der Staatschef ebenfalls Mitte Mai auf einer Pressekonferenz vor internationalen Medien.
Wenige Tage zuvor hatte Maduro den bereits seit Januar geltenden Wirtschaftsnotstand für weitere 60 Tage verlängert und um einen Ausnahmezustand erweitert. Dieser ermöglicht es der Exekutive in mehreren Themenbereichen, per Dekret zu regieren. Das Militär und zivile Basisgruppen erhalten zudem weitreichende Befugnisse wie die Verteilung von Lebensmitteln und Überprüfung der Produktion von Privatunternehmen. Capriles, der innerhalb der Opposition zum moderaten Flügel zählt, rief die Bevölkerung dazu auf, „dieses verfassungswidrige Dekret nicht anzuerkennen“.
Ein halbes Jahr, nachdem das oppositionelle Wahlbündnis Tisch der demokratischen Einheit (MUD) bei den Parlamentswahlen zwei Drittel der Sitze gewonnen hat, tragen die staatlichen Gewalten einen offenen Konflikt aus, der zunehmend an Schärfe gewinnt: Die Opposition machte bereits Anfang Januar keinen Hehl daraus, dass der Hauptzweck ihrer parlamentarischen Arbeit darin liegt, einen zeitnahen Regierungswechsel herbeizuführen. Das Oberste Gericht (TSJ) blockiert oppositionelle Gesetzesinitiativen wie eine Amnestie für die als politische Gefangene angesehenen Personen und die Privatisierung des sozialen Wohnungsbaus. Maduro regiert derweil mit Billigung des TSJ am Parlament vorbei. Dieses wiederum spricht den anderen politischen Gewalten die Legitimität ab, da sie jeweils mehrheitlich von Anhänger*innen des 2013 verstorbenen Ex-Präsidenten Hugo Chávez kontrolliert werden.

Venezuela in Not - Die Opposition will lieber heute als morgen die Macht übernehmen
Venezuela in Not – Die Opposition will lieber heute als morgen die Macht übernehmen (Foto: Carlos Diaz – CC BY 2.0)

Im März hatte sich der MUD nach internen Unstimmigkeiten über die Strategie für einen Regierungswechsel darauf geeinigt, drei Mechanismen in Gang zu setzen. Durch Straßenproteste soll Maduro demnach zum Rücktritt bewegt werden, während das Parlament einen Verfassungszusatz beschließen solle, der die Amtszeit des Präsidenten von sechs auf vier Jahre begrenze. Einen Rücktritt schloss Maduro mehrmals kategorisch aus. Das TSJ hat klar gestellt, das eine mögliche Verfassungsänderung nicht für die laufende Amtszeit gelten könne. Als dritter Mechanismus bleibt ein Abberufungsreferendum. Seit Inkrafttreten der Verfassung von 1999 ist es möglich, alle Mandatsträger*innen nach Ablauf der Hälfte ihrer Amtszeit per Referendum abzuwählen. Um die Formalitäten und den zeitlichen Ablauf streiten sich nun Regierung, Nationaler Wahlrat (CNE) und Opposition.
Am 11. und 18. Mai mobilisierte die Opposition in allen Bundesstaaten vor die Büros des CNE, um ein baldiges Referendum zu fordern. Vor den Hauptsitz des Wahlrates in Caracas durften die Regierungsgegner*innen jedoch nicht ziehen. Denn im chavistisch dominierten Westen der Hauptstadt fanden zeitgleich regierungsfreundliche Demonstrationen statt. Nachdem es am 18. Mai auf der oppositionellen Kundgebung im Stadtzentrum zu Ausschreitungen gekommen war, untersagte das Oberste Gericht bis auf weiteres Demonstrationen, die den CNE als Ziel haben.
Die Opposition drängt auf einen Wahltermin in diesem Jahr und wirft dem chavistisch dominierten Wahlrat vor, auf Zeit zu spielen. Sollte Maduros mögliche Abwahl erst nach dem 10. Januar 2017 erfolgen, gäbe es keine Neuwahlen. Stattdessen würde der amtierende Vizepräsident dessen Amtszeit beenden. Für die Anhänger*innen der Regierung steht eine Menge auf dem Spiel. Sie fürchten einen Rückfall in neoliberale Zeiten, wenn die Opposition wieder an die Macht kommt.
Damit ein Referendum stattfinden kann, muss dies zunächst ein Prozent der Wahlberechtigten aus allen Bundesstaaten per Unterschrift einfordern. Bereits wenige Tage nachdem der Wahlrat die gültigen Vordrucke ausgegeben hatte, reichte die Opposition statt der erforderlichen 195.000 Unterschriften 1,85 Millionen ein. Laut Gesetz sind dazu 30 Tage Zeit. Der Wahlrat pocht auf die penible Einhaltung der Fristen und will den Prozess nicht beschleunigen, nur weil die Opposition dies fordert. Erkennt der CNE diese Hürde nach genauer Prüfung der Unterschriften als gemeistert an, müssen nochmal 20 Prozent der eingeschriebenen Wahlberechtigten unterschreiben, damit das Referendum stattfindet. Um dann Erfolg zu haben, muss bei einer Mindestwahlbeteiligung von 25 Prozent nicht nur die Mehrheit der Wahlberechtigten für Maduros Abberufung votieren. Denn für ein erfolgreiches Abberufungsreferendum schreibt die Verfassung als zusätzliche Hürde vor, dass mehr Menschen für die Abwahl der betreffenden Person stimmen müssen, als sie zuvor ins Amt gewählt haben. Maduro erhielt bei der Präsidentschaftswahl 2013 knapp 7,6 Millionen Stimmen. Bei den Parlamentswahlen im Dezember vergangenen Jahres votierten mehr als 7,7 Millionen Menschen für die Opposition.
Mehrere Mitglieder des Wahlrates deuteten bereits öffentlich an, dass die Opposition zahlreiche ungültige Unterschriften und teilweise leere Listen eingereicht habe. Der oppositionsnahe CNE-Rektor Luis Emilio Rondón zeigt sich hingegen davon überzeugt, dass das Referendum bis Ende Oktober stattfinden könne. „Es gibt weder einen technischen noch juristischen Aspekt, der verhindert, ein Abberufungsreferendum abzuhalten“.
Aus dem chavistischen Lager werden indes zunehmend Stimmen laut, die vor gefälschten Unterschriften warnen und ein Referendum in diesem Jahr allein aus logistischen Gründen ablehnen, da bis Ende des Jahres auch noch Gouverneur*innen- und Bürgermeister*innen-wahlen stattfinden müssen. „Sie wissen, dass es kein Referendum geben wird, weil sie es erstens zu spät begonnen, es zweitens schlecht gemacht und drittens Betrug begangen haben“, sagte der amtierende Vizepräsident Aristóbulo Isturiz Mitte Mai. Maduro betonte, Referenden seien nicht vorgeschrieben, sondern „eine wunderbare Option, aber um Realität zu werden, müssen das Gesetz und die Anforderungen befolgt werden“. Laut dem Abgeordneten Diosdado Cabello, den viele als den mächtigsten chavistischen Politiker neben Maduro ansehen, verschleiere das Referendum schlicht einen Putschplan der Opposition.
Tatsächlich hatten die Gegner*innen des Chavismus seit jeher ein rein strategisches Verhältnis zu demokratischen Prozessen. Ihnen deswegen ein Referendum zu verweigern, wäre allerdings absurd. Vor dem erfolglosen Versuch, Maduros Vorgänger Hugo Chávez 2004 per Referendum aus dem Amt zu drängen, hatte die Opposition zwei Jahre lang ebenso erfolglos versucht, den damaligen Präsidenten durch einen Putsch und eine Sabotage der Erdölindustrie zu stürzen. Auch damals war es im Vorfeld zu heftigen Diskussionen gekommen. Die Regierung warf der Opposition vor, Datenbanken geplündert zu haben, um auf die nötige Zahl an Unterschriften zu kommen. Die Opposition wiederum hat nicht vergessen, dass ein Abgeordneter der Regierungspartei die Unterschriftenlisten im Internet mit der Begründung veröffentlichte, auf Unregelmäßigkeiten hinzuweisen. Dennoch fand das Referendum letztlich statt – und führte dazu, dass die Opposition auf Jahre hinweg in der politischen Bedeutungslosigkeit versank.
Im Gegensatz zu Chávez wird es Maduro allerdings schwer haben, die Mehrheit der Bevölkerung bei einem möglichen Referendum hinter sich zu bringen. Dass die Regierungsgegner*innen trotz äußerst dürftiger politischer Performance nach anderthalb Jahrzehnten regelmäßiger Wahlniederlagen plötzlich derart an Rückhalt gewinnen konnten, liegt vor allem an den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Seit Chávez‘ Tod im März 2013 hat sich die Lage stetig verschlechtert, ohne dass die Regierung Maduro adäquate Mittel gegen die Krise finden konnte. Sie lastet die dreistelligen Inflationsraten und die Knappheit bestimmter Lebensmittel vor allem einem Wirtschaftskrieg oppositioneller Gruppen und der Privatwirtschaft an. Der verhängte Wirtschaftsnotstand und zaghafte Reformen zeigen keine merklichen Erfolge. Durch den niedrigen Weltmarktpreis des Erdöls, dem zentralen venezolanischen Exportgut, hat die Regierung kaum mehr finanziellen Spielraum. Spätestens nun rächt sich, dass es Chávez trotz ambitionierter Pläne nie gelungen ist, die Abhängigkeit vom Erdöl zu verringern.
Als wäre dies nicht genug, steht die Elektrizitätsversorgung des Landes nach der schlimmsten Dürreperiode seit Jahrzehnten vor dem Kollaps. Der venezolanische Strom wird zu 70 Prozent aus Wasserkraft erzeugt. Der Pegel des Guri-Stausees im südöstlichen Bundesstaat Bolívar liegt seit Wochen nur noch knapp über dem notwendigen Level, um die Turbinen des mit Abstand wichtigsten venezolanischen Kraftwerkes am Laufen zu halten. Die Regierung versucht sich durch Einsparungsmaßnahmen in die beginnende Regenzeit zu retten und hofft auf ergiebige Niederschläge im Süden des Landes. Seit Ende April wird in fast allen Landesteilen der Strom rationiert, was in einigen Städten zu Ausschreitungen und Plünderungen geführt hat. Angestellte des öffentlichen Sektors arbeiten seit dem 27. April bis mindestens Ende Mai zudem nur noch montags und dienstags.
Die politische Krise in Venezuela wird auch international mit Sorge verfolgt. Die Opposition drängt auf eine Aktivierung der Interamerikanischen Demokratiecharta der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), was im äußersten Fall zu einem Ausschluss Venezuelas aus der von den USA dominierten Regionalorganisation führen könnte. Unterstützung erhält sie dabei unter anderem von OAS-Generalsekretär Luis Almagro, der US-Regierung und der neuen argentinischen Regierung von Mauricio Macri. Andere Akteure wie Papst Franziskus oder die Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR) bemühen sich derweil um einen Dialog zwischen Regierung und Opposition. Die Rhetorik in beiden politischen Lagern deutet zurzeit allerdings eher auf eine weitere Eskalation hin.

Schmierige Geschäfte im Yasuní

„Seit den täglichen Explosionen haben sich die großen Tiere zurückgezogen. Wir können keine Wildschweine mehr jagen. Einzig die Fischerei ist uns geblieben, aber auch diese ist immer weniger ergiebig“, sagt Lautaro Echeverría.** Der Mittsechziger setzt sich bereits seit Jahrzehnten gegen die Erdölförderung im Lebensraum seiner Kichwa-Gemeinde ein. Mit begrenztem Erfolg: Heute sieht er sich mit ersten negativen Konsequenzen der Förderung konfrontiert.

Die Entscheidungsgewalt über die Erdölförderung in Ecuador liegt nicht nur beim Staat. Indigene Gemeinden, die seit Jahrhunderten im Yasuní leben, verfügen über Landrechte, in vielen Gebieten kann ohne ihre Zustimmung kein Öl fließen.

Unbestritten ist, dass die Gemeinde Llanchama der Erdölförderung in 11.000 ihres 27.000 Hektar großen Territoriums Ende Mai zustimmte. Einige Gemeindemitglieder berichten, dass diese Konsultationen manipulativ und einseitig waren. Ende Mai kamen sowohl Vertreter_innen der Regierung als auch von Petroamazonas nach Llanchama, um die Gemeindemitglieder von einer umweltverträglichen Erdölförderung zu überzeugen. „Unser Gemeindevorstand zeigte sich schon bald verhandlungsbereit und als Petroamazonas anbot, jeder Familie 3000 US-Dollar für die Zustimmung zur Förderung zu zahlen, dauerte es nur noch wenige Tage bis es eine Mehrheit für die Erdölförderung in unserem Territorium gab“, sagt Yana Piedra**, die einen kleinen Laden im Dorfzentrum besitzt.

Ende Mai 2014 erhielt Petroamazonas vom ecuadorianischen Umweltministerium die sogenannte Umweltlizenz für die Erdölförderung aus zwei der drei ITT-Feldern – Tiputini und Tambococha – im Yasuní Nationalpark.

Die ITT-Quellen – benannt nach den drei bei Probebohrungen entdeckten Lagerstätten Ishpingo, Tambococha und Tiputini –, wurden bereits in den 1950er Jahren entdeckt, ihre Förderung war jedoch aus technischen und infrastrukturellen Gründen lange Zeit unmöglich. Ecuadors lange Zeit instabile politische Lage mit vielen Regierungswechseln, die langfristige Projekte erschwerte, tat ein Übriges.

Unter dem seit 2007 amtierenden Präsidenten Rafael Correa haben sich die Voraussetzungen geändert. Bis 2013 verfolgte die von der Partei Alianza País gestellte Regierung die Yasuní-ITT-Initiative. Diese sah vor, die rund 850 Millionen Barrel Erdöl der ITT-Quellen im UNESCO-Naturschutzreservat Yasuní zum Schutz der Natur und seiner indigenen Völker unangetastet zu lassen. Der Ausstoß von mindestens 410 Millionen Tonnen Kohlendioxid sollte so vermieden werden. Die internationale Staatengemeinschaft sollte sich durch Kompensationszahlungen in Höhe von mindestens der Hälfte der erwarteten Erlöse an dieser Initiative beteiligen. Bis August 2013 kam jedoch nur ein kleiner Bruchteil der Gelder zusammen. Präsident Rafael Correa erklärte daher die Yasuní-ITT-Initiative für gescheitert und machte den Weg für die Erdölförderung frei (siehe LN 471/472).

Seit drei Monaten arbeiten 500 bis 1000 Ingenieure täglich an der Erforschung des Gebiets. Mittels seismischer Messungen wird untersucht, wo und in welcher Größe Erdöllagerstätten vorhanden sind. Bei der angewandten Methode der 3D-Seismik werden im Abstand von 50 bis 100 Metern in 20 bis 30 Meter tiefen Bohrlöchern unterirdische Explosionen durchgeführt. Die Auswertung der Schallwellen dieser Explosionen gibt Aufschluss über die Erdölvorkommen.

Diese explorativen Untersuchungen wirken sich negativ auf die sensible Umwelt aus. Bei einem Sparziergang durch ein geschütztes Waldgebiet der Gemeinde Llanchama erklärt Maicu Hurtado**: „Petroamazonas verstößt schon jetzt gegen die Verträge, die wir unterschrieben haben. Die Explosionen, die sie für ihre seismischen Messungen durchführen, bleiben nicht wie versprochen unterirdisch.“
An vielen Bäumen in diesem Gebiet finden sich Naturschutz-Hinweisschilder. „Überall hier könnt ihr 15 bis 30 Meter offene Löcher sehen. Sie klaffen wie tiefe Wunden aus dem Boden. Zum Teil tritt Öl aus. Außerdem haben die Ingenieure Plastikmüll und Kabel hinterlassen, die sie eigentlich beseitigen müssten“, sagt Maicu Hurtado**, der als Touristenführer arbeitet.

Lautaro Echeverría** erzählt, dass es in den ersten Jahren des Jahrtausends in seiner Gemeinde einen klaren Konsens gegen jegliche Erdölförderung gab. Unter der Regierung Lucio Gutiérrez (2003-2005) wurde damals erstmalig über Konzessionen um Tiputini gehandelt. „Bis letztes Jahr haben wir auf die Regierung Correa vertraut und hatten dank der Yasuní-ITT-Initiative Gewissheit über den Erhalt unseres Lebensraums. Doch seit Correa das Ende der Initiative ausrief, gab es eine Spaltung in der Gemeinde“, so Echeverría**.

Angesichts der negativen Umweltfolgen bekommen Gemeindemitglieder, die sich Jahrzehnte gegen die Erdölförderung engagierten, heute wieder Zuspruch. Die Mittsiebzigerin Silvia Vivimos** ist sich sicher: „Wir müssen den Kampf gegen die Zerstörung des Waldes für die nachfolgenden Generationen jetzt wieder aufnehmen. Ich werde es mir nicht verzeihen, wenn wir diesen Kampf verlieren.“

Die Entscheidung, die ITT-Quellen zu fördern, regt auch im Rest des Landes politischen Widerstand. Mitte September trafen sich 60 Vertreter_innen der YASunidos auf einer nationalen Versammlung um neue Strategien gegen die Erdölförderung im Nationalpark Yasuní herauszuarbeiten.

Das zivilgesellschaftliche Bündnis YASunidos hatte sich unmittelbar nach der Aufkündigung der Yasuní-ITT-Initiative gegründet und bis Anfang 2014 Unterschriften für ein nationales Referendum über die Förderung der ITT-Quellen gesammelt. Durch ein positives Bürger_innen-Votum per Referendum hätte die Entscheidung des Präsidenten Correas aufgehoben werden können.

Der nationale Wahlrat (CNE) erklärte jedoch mehr als die Hälfte der knapp 758.000 eingereichten Unterschriften für ungültig und erkannte nur knapp 359.000 an, womit das Mindestsoll von  knapp 600.000 Unterschriften nicht erreicht wurde (siehe LN 479). „Wir werden die Menschen, die im ganzen Land direkt vom Rohstoff-Abbau betroffen sind, weiterhin unterstützen. Die gesammelten Unterschriften für das Referendum bestätigen, dass es ein großes Bedürfnis nach Mitentscheidung über den Rohstoff-Abbau im Land gibt. Unsere derzeit wichtigste Idee ist daher, unsere Arbeit in den Provinzen auszubauen und ein nationales Referendum über die Förderung der ITT-Quellen unabhängig von unserer Regierung durchzuführen“, sagt Patricio Chávez, ein Sprecher der YASunidos. „Wir werden weiter für unseren Traum einer Post-Erdölgesellschaft kämpfen“, ergänzt  Elena Gálvez, die gerade von der größten Klima-Demonstration aller Zeiten aus den USA zurückgekommen ist. Mitte September versammelten sich in New York rund 300.000 Menschen beim People’s Climate March. Gemeinsam mit zwei weiteren Delegierten der YASunidos setzte sie sich vor der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte für den Schutz der Unterschriftensammler_innen ein, denen derzeit zum Teil Strafverfolgung droht.
Dass die YASunidos auch auf internationale Unterstützung bauen können, zeigt ihre Nominierung für die holländische Menschenrechtstulpe, eine jährliche mit 100.000 Euro dotierte Auszeichnung des holländischen Außenministeriums für couragierte Initiativen, die sich auf innovative Weise für den Schutz von Menschenrechten einsetzen. Ob der Nominierung die Auszeichnung folgt, stand bis Ende des Redaktionsschlusses noch nicht fest.

** Die Namen wurden auf Wunsch der in Llanchama lebenden Personen geändert.

„Wir sind kriegsmüde“

Am 20. Juli feierte die Nationale Befreiungsarmee (ELN) ihr 50-jähriges Bestehen. Im Rahmen dessen feuerte sie zwei explosive Zylinder auf ein Ölfeld in Arauca ab und verletzte 13 Personen. Wie wirkt sich das auf mögliche Verhandlungen mit dieser Guerilla aus?
Grundsätzlich sind mögliche Verhandlungen dadurch nicht betroffen, weil der Regierung klar ist, dass mit den FARC und möglicherweise mit der ELN mitten im Konflikt verhandelt werden muss. Einerseits ist das Militär verfassungsrechtlich verpflichtet, die Guerilla weiter zu bekämpfen, bis diese die Waffen abgegeben hat. Andererseits tun die ELN und die FARC das, was sie seit 50 Jahren tun, nämlich Krieg führen. Ein grundlegender Unterschied zwischen den aktuellen und früheren Friedensverhandlungen ist, dass wir uns zum ersten Mal der Unterzeichnung eines Friedensvertrags nähern. In Kolumbien haben wir aus der Vergangenheit gelernt: Drei verschiedene Präsidenten versuchten bereits Frieden zu schließen. Jedes Mal war der Waffenstillstand eine grundlegende Voraussetzung, die keine Seite einhielt. Unter der Präsidentschaft Pastranas (1998-2002) konnten sich beispielsweise die FARC in eine entmilitarisierte Zone so groß wie die Schweiz zurückziehen; dennoch benutzten sie das Gebiet dazu, alle Arten von Gräueltaten zu begehen und ihre militärische Macht zu festigen. So hätte man sich nie auf ein Abkommen einigen können.

Wovon hängt der Erfolg der laufenden Verhandlungen in Havanna ab?
Dass kein Waffenstillstand vereinbart wurde, ist nur ein Teil der Voraussetzungen. Der Erfolg der laufenden Verhandlungen hängt von der Art und Weise ab, wie die Diskussionen geführt werden, und von der militärischen Lage, in der sich die Guerillas zurzeit befinden. Vor den Verhandlungen, das heißt, während der zwei Amtszeiten Uribes und der ersten Amtszeit Santos’, wurden die FARC schwer getroffen. Als sie einen beträchtlichen Teil ihrer Gründer verloren hatten, wurden ihre militärische Schwäche und das Fehlen eines politischen Motivs offensichtlicher. Der „Dritte Weg“, den Santos als Alternative für Kolumbien entwirft, beinhaltet eigentlich zwei Optionen für die Guerilla: entweder weiterzukämpfen und zu versuchen, die militärische Überlegenheit zurückzugewinnen. Das wäre unter Berücksichtigung des technologischen Fortschritts der kolumbianischen Armee unwahrscheinlich. Oder sich als Guerilla die Frage zu stellen, ob ihre historische Mission bereits erfüllt ist. Das hieße, die Waffen niederzulegen und sich in das politische Leben zu integrieren.

Das Abkommen wird jedoch durch ein Referendum vom Volk bewilligt…
Ja, und deswegen ist die öffentliche Meinung entscheidend, wenn auch klar geteilt. Denken Sie daran, dass die meisten Kolumbianer die Guerillas völlig ablehnen und, nach 50 Jahren Kampf, ein allgemeiner Hass ihnen gegenüber herrscht. Die Diskussion konzentriert sich auf die Art und Weise, wie der Konflikt zu beenden sei. Ein Teil der Bevölkerung fordert die Inhaftierung und Verurteilung der Kämpfer, ohne über die Strafen zu verhandeln. Sie verlangen eine bedingungslose Kapitulation. Bis dies der Fall ist, hat die Regierung die Pflicht, die FARC militärisch weiter zu bekämpfen. Diese Position wird vom Ex-Präsidenten und jetzigen Senator Álvaro Uribe Vélez vertreten. Auf der anderen Seite erkennt die Hälfte der Kolumbianer an, dass die Möglichkeit zu einem baldigen und friedlichen Ende des Konflikts wahrgenommen werden muss. Die Verhandlungen sollen die Grundlagen dafür schaffen, dass die Guerilleros nach ihrer Entwaffnung in die Gesellschaft und in das politische Leben integriert werden.

Was bedeutet die Wiederwahl von Santos für die Friedensverhandlungen?
Mit der Wiederwahl konsolidiert sich der Friedensprozess. Wenn es Santos nicht gelingt, das Friedensabkommen in naher Zukunft zu unterzeichnen, müssen die Kolumbianer wahrscheinlich wieder mehrere Jahre auf eine neue Chance warten. Es ist wichtig zu bedenken, dass Santos im rechten politischen Lager einzuordnen ist und Uribes Verteidigungsminister war. Zwischen 2006 und 2009 führte die Armee eine Reihe von militärischen Schlägen gegen die FARC durch, die sich dadurch strukturell verändern mussten. 2012 distanzierte sich Santos endgültig vom uribismo und beschloss, über den Frieden zu verhandeln. Dies wurde von Uribe als Verrat empfunden und stellt somit einen Aspekt der jetzigen politischen Auseinandersetzungen im Land dar. Ein anderer Punkt ist, dass Santos auf die Unterstützung wirtschaftlicher Kreise zählt. Das ist von grundlegender Bedeutung. Ohne das Stigma eines bewaffneten Konflikts könnte sich das Land ökonomisch entwickeln. Da die Geschäftsleute den Militarismus Uribes überdenken und beginnen ihn abzulehnen, erhöhen sich die Chancen auf erfolgreiche Gespräche in Havanna.

Allerdings gibt es Kritik in Bezug auf den Mangel an Bürgerbeteiligung. Wie sehen Sie das?
In einer Demokratie müssten die Bürger in bestimmte politische Entscheidungen mit einbezogen werden. Aber der Konflikt in Kolumbien ist sowohl wegen seiner Dauer als auch wegen der Vielfalt seiner Akteure sehr komplex geworden. Da die Verhandlungen mitten im Konflikt stattfinden, ist es wichtig, einen Rahmen der Diskretion zu schaffen, der konstruktive Gespräche in Richtung Frieden zulässt. In Kolumbien ist die Möglichkeit latent, dass die Gegner des Friedensabkommens nach dem politischen Interesse ihrer eigenen Gruppen (wie im Fall von Uribe) versuchen, die bereits gemachten Fortschritte zu boykottieren. Erst wenn alle Punkte der Verhandlungen in Havanna abgestimmt sind, werden sie der Bevölkerung als Referendum vorgelegt. Dies ist eine Maßnahme der Regierung, die für notwendig gehalten wird, obwohl sie nicht ideal für die Demokratie ist, sondern nur praktisch.

Welche Rolle spielen die Opfer des Konflikts?
Da die Opfer eine zentrale Rolle in diesem Konflikt spielen, werden sie in Havanna einbezogen. Diejenigen, die nach Kuba gereist sind oder reisen werden, sollen alle Verbrechen rekonstruieren, die im Rahmen des Konflikts begangen worden sind. Dies ist wichtig, weil bei früheren Friedensprozessen die Opfer ausgeschlossen wurden. In diesem Moment werden die direkten Opfer des Konflikts auf fünf Millionen geschätzt. Sie haben ein Recht auf die Aufklärung der Verbrechen der Guerillas, Paramilitärs und der staatlichen Armee: wer die Täter waren, wo die Vermissten sind.

Denken Sie, dass in Kolumbien ein anhaltender Frieden geschaffen werden kann?
Der Frieden in Kolumbien muss auf Basis von „Vergeben und Erinnerung“ geschlossen werden, nicht auf Basis von „Vergeben und Vergessen“. Dieser Prozess ist kompliziert, weil die Kolumbianer sich mit den Traumata von 50 Jahren Gräueltaten auseinandersetzen müssen. Ich denke, dass wir jetzt in der Lage sind, durch Dialog und Wahrheitsfindung die Wunden zu heilen. Wir sind kriegsmüde und wollen Aufklärung. Auf diese Weise kann ein Prozess der Rationalisierung unserer Traumata stattfinden und der Frieden mittels Gedenken, Konfrontierung und Wahrheitsfindung langfristig gefestigt werden.

Infokasten

Carlos Miguel Ortiz
ist Historiker und Politikwissenschaftler. Er lehrt in Bogotá, Paris und Valencia. Er untersucht den kolumbianischen Konflikt, die daraus entstandene Gewalt und deren Folgen für das kollektive Gedächtnis der Kolumbianer_innen.

„Wir können noch gewinnen“

Wie kam es dazu, dass das ecuadorianische Umweltministerium dem staatlichen Konzern Petroamazonas Ende Mai die Genehmigung für die Erdölförderung der Felder Tambococha und Tiputini im Yasuní erteilte?
Spätestens seit unsere Regierung die Yasuní-ITT-Initiative am 15. August 2013 aufgekündigt hat, macht sie sowohl öffentliche als auch geheime Schritte, um die Erdölförderung der Quellen Ishpingo, Tambococha und Tiputini (Kürzel ITT) vorzubereiten. Unsere Regierung geht dabei sehr strategisch vor, um einen riesigen Konflikt zu verhindern. Diesen könnte es aus mehreren Gründen geben. Zum einen haben wir eine Verfassung, die die Rechte der Natur und der Indigenen Völker schützt. Der Yasuní-Nationalpark ist ein hochsensibles Biosphärenreservat und gleichzeitig Territorium von Indigenen, die in freiwilliger Isolation leben. Zum anderen gibt es ein großes gesellschaftliches Bewusstsein für die Bewahrung des Yasuní.

Welchen Entscheidungsspielraum hat das Umweltministerium?
Wichtig zu erwähnen ist, dass das ecuadorianische Umweltministerium seit 2013 nicht mehr unabhängig ist. Seither ist es dem Ministerium für die Koordinierung Strategischer Bereiche untergeordnet. Somit wurde das Umweltministerium zum Anhang eines Ministeriums, bei dem die Produktivität des Landes im Vordergrund steht und hierzu die Förderung von allen Ressourcen geprüft wird. Wir sprechen also von einem Umweltministerium, das immer schwächer wird. Es nimmt jetzt nur noch die Funktion wahr, Umweltlizenzen für Gebiete zu vergeben, in denen laut Verfassung keine Ressourcenförderung stattfinden soll, also in Naturparks und geschützten Gebieten.

Wie ist die Regierung vorgegangen, um die Erdölförderung im Yasuní zu ermöglichen?
Zunächst hat die Regierung das Parlament aufgefordert, das „nationale Interesse“ an der Erdölförderung der ITT-Quellen zu prüfen. Damit hat sie dem Artikel 407 unserer Verfassung entsprochen, der die Erdölförderung in Nationalparks und geschützten Gebieten explizit verbietet, jedoch Ausnahmen von diesem Verbot festlegt, sofern ein „nationales Interesse“ vorliegt. Das Parlament hat dieses „nationale Interesse“ bestätigt. Anschließend hat die Regierung die Schritte eingeleitet, die die Erdölförderung vorbereiten – unter anderem die Ausarbeitung der Umweltlizenz. Die Lizenz konnte jedoch nicht umgehend verabschiedet werden, da das YASunidos-Bündnis ein Volksbegehren initiierte. Dieses Volksbegehren machte der Nationale Wahlrat Anfang Mai unmöglich, indem er die Unterschriften ganz massiv diskreditierte.

Mit welcher Konsequenz?
Nachdem der Nationale Wahlrat öffentlich bekannt gab, dass die eingereichten Unterschriften für ein Referendum nicht ausreichten, dauerte es nur noch ein paar Tage, bis um 22. Mai, bis die Umweltlizenz verabschiedete wurde. Aufgrund der Schnelligkeit, mit der die Lizenz verabschiedet wurde, und ihres Wortlauts wird deutlich, dass schon viel früher daran gearbeitet wurde. Mit der Veröffentlichung wurde lediglich gewartet, bis die Initiative der YASunidos für ein Referendum erstickt werden konnte.

Wie reagierten Sie und die YASunidos auf die offizielle Verabschiedung der Genehmigung?
Wir sind bestürzt, weil diese Genehmigung in vielen Teilen ungenau ist und dadurch allgemeinen Umweltstandards für die Erdölförderung nicht gerecht wird. Es ist unfassbar, dass ein Umweltministerium eine solche Genehmigung verabschiedet hat. Unsere Verfassungsartikel zu den Rechten der Natur und der Völker in freiwilliger Isolation werden noch nicht mal erwähnt. Diese Genehmigung wird ihrem Namen einer „Umweltlizenz“ nicht gerecht, denn eine Umweltlizenz muss den Umweltschutz garantieren.

Warum werfen die YASunidos dem Nationalen Wahlrat Betrug bei der Prüfung der Unterschriften vor?
Aus vielen Gründen. Beispielsweise war die Nichtanerkennung von über 30 Prozent der Unterschriften nicht rechtmäßig, weil diese aus rein formalen Gründen zurückgewiesen wurden. Beispielsweise weil ein Papier fünf Millimeter kleiner als DIN A4 war. Eine unabhängige Kommission von der Politisch-Technischen Universität Quito ist mittlerweile zu dem Ergebnis gekommen, dass die YASunidos rund 680.000 gültige Unterschriften eingereicht haben. Damit hätte das Volksbegehren nicht abgewiesen werden dürfen, denn unsere Verfassung verlangt 584.000 Unterschriften.

Wie wird es nun mit dem Protest gegen die Erdölförderung weitergehen?
Momentan gehen wir rechtlich gegen den Nationalen Wahlrat vor und fechten seine Ergebnisse an. Hierbei machen wir Gebrauch vom habeas data. Dies ist ein individuell einklagbares Recht, von staatlichen Stellen Auskunft über dort gespeicherte persönliche Daten zu erhalten. Im nächsten Schritt kann dann die Berichtigung der Daten gefordert werden.

Haben Sie noch Hoffnung, die Erdölförderung im Yasuní doch noch zu stoppen?
Die Lage ist höchst kompliziert. Unsere Regierung hat uns gezeigt, dass sie die Erdölförderung um jeden Preis durchsetzen. Es gibt einen riesigen Druck auf die Regierung, unsere natürlichen Ressourcen auszubeuten. Dies hat auf der einen Seite mit neuen Mächten zu tun, wie Unternehmen, die vom Rohstoffabbau abhängig sind und Einfluss auf unsere Regierung ausüben. Auf der anderen Seite ist unsere Regierung schon internationale Verpflichtungen eingegangen, die die Ausbeutung der Erdölreserven anheizen. Zum Beispiel hat Ecuador etliche Schulden bei China und hat versprochen, einige davon direkt mit Erdöllieferungen zu bezahlen. Neben diesem Druck, der auf die Regierung ausgeübt wird, gibt es aber einen großen zivilen Rückhalt für die Bewahrung des Yasuní. Deshalb denke ich, dass wir den Kampf noch gewinnen können. Es ist natürlich ein steiniger Weg. Aber wenn wir zurückdenken, ist dieser Weg schon seit sieben Jahren steil und steinig: Damals kämpfte die Zivilgesellschaft für die Bewahrung des Yasuní und die Regierung rief daraufhin die Yasuní-ITT-Initiative aus. Dieser Kampf ist bisher unglaublich erfolgreich verlaufen. Ohne ihn wäre der Yasuní jetzt schon seit Langem ausgebeutet.

Infokasten

Esperanza Martínez ist eine der bekanntesten ecuadorianischen Umweltaktivist_innen. Seit 28 Jahren arbeitet sie für die Nichtregierungsorganisationen Ökologische Aktion und Oil Watch-Ecuador. Aktuell unterstützt sie das Bündnis YASunidos, in dem sich Umweltschutzgruppen, Indigene und Jugendliche zusammengeschlossen haben.

Etappensieg für YASunidos

„Wir haben es geschafft: Sage und schreibe 757.623 Ecuadorianer_innen haben für das Referendum zur Rettung des Yasuní unterschrieben!“, rief Francisco Hurtado von den YASunidos in die tobende Menge auf den Straßen Quitos. Am 12. April 2014 waren tausende Bürger_innen zur offiziellen Übergabe der Unterschriften zum Nationalen Wahlrat gezogen. Mit Trommeln, Umzugswagen und Musik feierten Umweltaktivist_innen, indigene Gruppen und Feministinnen den Erfolg ihrer sechsmonatigen Arbeit. Sie hatten sich im September 2013 zum YASunidos-Bündnis zusammengeschlossen, um einen Volksentscheid über die Erdölförderung im Yasuní-Nationalpark zu initiieren. Dies war die direkte Antwort der Zivilgesellschaft auf die Entscheidung von Präsident Rafael Correa im August desselben Jahres, die Yasuní-ITT-Initiative zu beenden. Deren Vorschlag bestand darin, die rund 850 Millionen Barrel Erdöl in den Ölfeldern Ishpingo, Tambococha und Tiputini (ITT) des Yasuní-Gebiets zum Schutz der Natur und der dort lebenden indigenen Gruppen unangetastet zu lassen. Als Ausgleich sollte die internationale Staatengemeinschaft Kompensationszahlungen in Höhe von 3,6 Milliarden Dollar leisten. Bis Mitte 2013 kam jedoch nur ein Bruchteil der Gelder zusammen. Correa zufolge habe „die Welt“ Ecuador „im Stich gelassen“. Im „nationalen Interesse“ müsse daher nun mit der Ölförderung im Yasuní-ITT begonnen werden (siehe LN 477, 471/472). Dagegen begehrte die YASunidos-Bewegung auf. Sie beruft sich auf die ecuadorianische Verfassung, die als einzige weltweit die Rechte der Natur festschreibt und die Ausbeutung natürlicher Ressourcen in geschützten Gebieten untersagt. 40 Jahre Erdölförderung habe die Armut im Land nicht beseitigt, stattdessen aber Krankheiten und verseuchte Landschaften hinterlassen. „Wir wollen keinen neuen Fall Chevron-Texaco. Unser Ziel ist es, den Traum vom ‚Guten Leben‘, den viele Menschen dieses Landes haben, ohne Öl zu verwirklichen“, meint Patricio Chávez, ein Sprecher des Bündnisses.
Konkret kämpfen die YASunidos für ein Referendum mit der Frage: „Sind Sie damit einverstanden, dass die Regierung das Rohöl im ITT, bekannt als Block 43, auf unbestimmte Zeit im Boden belässt?“ Es wäre das erste Referendum weltweit zur Verteidigung der Rechte der Natur und zum Schutz indigener Völker. Damit die Zivilgesellschaft ein solches einberufen kann, müssen laut Verfassung binnen eines halben Jahres knapp 600.000 Unterschriften gesammelt werden. Das entspricht fünf Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung.
Tausende Freiwillige sammelten in ganz Ecuador in den letzten Monaten tagtäglich Unterschriften. Ein solches von unten, durch die Bürger_innen initiiertes Referendum ist für Ecuador ein Novum. Auch international hat dies Seltenheitswert. Einfach war es nicht, die Unterschriften zusammenzubekommen. Für die Unterschriftensammlung erhielten die YASunidos von staatlicher Seite gerade einmal zwei Exemplare der offiziellen Formulare, auf denen jeweils acht Unterschriften Platz finden. Finanzielle oder logistische Unterstützung für die restlichen Kopien oder weitere Materialien gab es nicht. Im Gegenteil. Umständliche Regeln beim Sammeln der Unterschriften sollten es den freiwilligen Helfer_innen schwer machen.
Darüber hinaus war die Bewegung Schikanen und Repressionen ausgesetzt. Die Regierung ließ beispielsweise eine Mitgliedsorganisation des Bündnisses aus fadenscheinigen Gründen schließen. Sie drohte Studierenden außerdem den Verlust ihrer Stipendien an, sollten sie sich bei den YASunidos engagieren. Aktivist _innen wurden bis nach Hause verfolgt und eingeschüchtert. Ein YASunidos-Mitglied wurde sogar festgenommen, stundenlang verhört und nach seiner Freilassung von Unbekannten verprügelt.
Eine Desinformationskampagne sollte mutmaßlich die Bürger_innen in die Irre führen. Bürgermeister_innen von Correas Regierungspartei Allianza País sammelten ebenfalls Unterschriften zur Initiierung eines Referendums – allerdings für die Ausbeutung des Erdöls im Yasuní-ITT. Vor ein paar Wochen plagiierten sie das Design von Zeitungseinlagen der YASunidos und warben damit für ihr eigenes Referendum. Daneben tauchte eine Gruppierung auf, deren Name dem einer Mitgliedsorganisation der YASunidos zum Verwechseln ähnelt. Auch sie strebt ein Referendum an und sammelte Unterschriften, angeblich gegen jegliche Ausbeutung natürlicher Ressourcen in Ecuador. Nicht nur YASunidos-Aktivist_innen vermuten hinter dieser Initiative staatliche Funktionäre.
Correa selbst beschimpfte die YASunidos in seinen wöchentlichen Fernsehansprachen als „faule Jugend“ oder „Lügner“. Mindestens 30 Prozent ihrer Unterschriften seien aufgrund von formalen Fehlern ohnehin ungültig, behauptete er. Und tatsächlich, wenige Tage nach der Unterschriftenübergabe, verkündete der Nationale Wahlrat, das YASunidos-Bündnis habe zu wenige Ausweiskopien von den Unterschriftensammler_innen eingereicht. Dadurch könnten hunderttausende Unterschriften annulliert werden. Allerdings zeigt ein Video, dass der Nationale Wahlrat gesetzliche Verfahrensregeln brach, als er in Abwesenheit von YASunidos-Delegierten versiegelte Dokumente öffnete. Auch die Überprüfung der Unterschriften begann ohne unabhängige Beobachter_innen.
Der friedliche Protest von YASunidos-Aktivist_innen gegen den Transport der Unterschriften vom Nationalen Wahlrat zu einer abgelegenen Militärbasis endete mit dem Einsatz von Tränengas durch Polizei und Militär. Patricio Chávez von den YASunidos sagte dazu: „Wir verstehen nicht, dass die Unterschriften in ein Militärzentrum gebracht wurden, wo sie während des Überprüfungsprozesses von der Armee bewacht werden. Bisher wurden solche Prozesse immer im Hauptgebäude des Nationalen Wahlrat durchgeführt“.
Seitdem fordern die YASunidos ein transparentes und demokratisches Verfahren zur Überprüfung ihrer Unterschriften. Des Weiteren verlangen sie den Stopp der Unterschriftenzählung hinter verschlossenen Türen. „Eine große Mehrheit der Bürger_innen hat sich in Umfragen für dieses Referendum ausgesprochen. Viele Menschen wollen auch nach dem Ende der Yasuní-ITT-Initiative keine weiteren Erdölbohrungen im Yasuní“, erklärt Antonella Calle von den YASunidos und versichert: „Wir werden jede Unterschrift wie unsere eigenen Kinder verteidigen“.

Putsch innerhalb der Opposition

Ein Jahr nach dem Tod von Hugo Chávez wird auf der Straße Politik gemacht. Allerdings anders, als es sich der langjährige venezolanische Präsident zu Lebzeiten vorgestellt hat. Derzeit erlebt Venezuela die größten politischen Spannungen seit dem missglückten Putsch gegen Chávez im Jahr 2002 und dem Erdölstreik 2002/2003. Seit Wochen protestieren landesweit täglich Tausende gegen, aber auch für die Regierung.
Begonnen hatte alles Anfang Februar mit kleineren Protesten und Ausschreitungen von oppositionellen Studierenden in den westlichen Bundesstaaten Táchira und Mérida. Ursprünglich protestierten sie gegen die schlechte Sicherheitslage. So wie viele gesellschaftliche Gruppen sind in Venezuela auch die Studierenden in Regierungsanhänger_innen und -gegner_innen gespalten. Für den 12. Februar kündigten oppositionelle Studierende eine Großdemonstration in Caracas an, dem Aufruf hatten sich auch Politiker_innen angeschlossen. Längst richteten sich die Proteste nicht mehr nur gegen die hohe Kriminalität, sondern auch gegen die schwierige Wirtschaftslage und Korruption. Vor allem aber forderten immer mehr Protestierende den sofortigen Rücktritt von Präsident Nicolás Maduro. Im Anschluss an die friedliche Demonstration der Opposition attackierten einige Vermummte das Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft im Stadtviertel La Candelaria. In den umliegenden Straßen kam es daraufhin zu Auseinandersetzungen, bei denen ein oppositioneller Student und ein chavistischer Basisaktivist erschossen wurden. Die Regierung beschuldigte Auftragskiller, die Opposition hingegen bewaffnete chavistische Motorradfahrer aus den Armenvierteln, für die Toten verantwortlich zu sein.
Wie die größte Tageszeitung des Landes, Últimas Noticias, anhand von Filmaufnahmen und Fotos vom Unglücksort in La Candelaria aufzeigte, gaben Beamte der Geheimdienstpolizei Sebin die tödlichen Schüsse ab. Die Geheimdienstpolizei hätte an diesem Tag laut Regierungsangaben aber gar nicht auf der Straße sein dürfen. Der Direktor der Sebin ist mittlerweile ausgetauscht, für die Morde sind acht Beamte in Haft. Doch bisher ist unklar, in wessen Auftrag die Beamten am 12. Februar gehandelt haben.
Die Geschehnisse an diesem Tag verliehen den Protesten landesweit Schwung, auch wenn diese sich häufig auf die wohlhabenderen Viertel beschränken. Während die meisten Menschen friedlich demonstrieren, geht von kleineren, organisierten Gruppen immer wieder Gewalt aus. Sie greifen öffentliche Gebäude und Fahrzeuge an, errichten Straßenblockaden und liefern sich Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften, die ihrerseits hart gegen die Protestierenden vorgehen. Bis Anfang März kosteten die Proteste mindestens 18 Menschen das Leben. Regierung und Opposition beschuldigen sich gegenseitig, für die Toten verantwortlich zu sein. Ein einheitliches Bild gibt es nicht. Belegt ist beispielsweise, dass in mehreren Fällen Polizei oder Nationalgarde schossen, aber . auch aus den Reihen der Demonstrierenden wurden offenbar Morde begangen. Zwei Motorradfahrer_innen starben zudem an Barrikaden, weil Protestierende Drähte über die Straße gespannt hatten, während andere Fälle noch ungeklärt sind.
Die Regierung sprach umgehend von einem „faschistischen“ Putschversuch und verglich die Situation mit dem 11. April 2002. Damals hatten Scharfschützen in der Nähe des Präsidentenpalastes auf eine Oppositionsdemonstration gefeuert. Die privaten Fernsehsender erweckten durch zusammengeschnittene Bilder den Anschein, die Regierung lasse Oppositionelle töten. Das Militär intervenierte und schwenkte erst zwei Tage später wieder um, nachdem es zu Massenmobilisierungen gegen den Putsch gekommen war. Ohne dieses Erlebnis ist die Angst der Regierung vor den aktuellen Protesten wohl kaum zu verstehen. Nach dem 12. Februar verwies Maduro drei Mitarbeiter der US-amerikanischen Botschaft des Landes. Er warf ihnen vor, an einer Verschwörung beteiligt gewesen zu sein. Die Nationale Rundfunkbehörde Conatel nahm den kolumbianischen Fernsehsender NTN24 aus dem Kabelnetz, weil dieser zu Gewalt angestachelt habe. Den lokalen Mitarbeiter_innen des US-amerikanischen Nachrichtensenders CNN entzog die Behörde vorübergehend die Arbeitserlaubnis. Dabei gab es im Unterschied zum April 2002 die meisten gezielten Falschinformationen in Sozialen Medien wie Twitter. Mit zahlreichen Fotos, die brutale Polizeirepression in Ländern wie Ägypten, Bulgarien, Chile oder der Ukraine als Proteste in Venezuela darstellten, machten User_innen Stimmung gegen die venezolanische Regierung.
Als am folgenschwersten für die Regierung könnte sich jedoch die Verhaftung des Oppositionspolitikers Leopoldo López entpuppen. Die Generalstaatsanwaltschaft wirft dem rechten Hardliner unter anderem vor, die Gewalt entfacht und zu Straftaten aufgerufen zu haben – und erweckt dabei den Anschein, eher aus politischen denn aus juristischen Gründen zu agieren. Am 18. Februar stellte sich López am Rande einer Oppositionskundgebung freiwillig der „ungerechten und korrupten Justiz“, wie er betonte. „Wenn meine Inhaftierung dazu führt, dass die Bevölkerung erwacht, ist es das wert“, sagte der Vorsitzende der rechten Partei Voluntad Popular (VP) unmittelbar vor seiner Verhaftung. Schon lange gilt López als einer der kompromisslosesten Politiker innerhalb der heterogenen Opposition. Seit Wochen hatte er mit dem Schlagwort la salida (Ausgang, Ausweg, Lösung) aggressiv für den Sturz der Regierung geworben. Unterstützt wird er dabei von anderen prominenten Oppositionspolitiker_innen wie der Abgeordneten María Corina Machado und dem Oberbürgermeister des Großraums Caracas, Antonio Ledesma.
Ob die gewalttätigen Auseinandersetzungen der letzten Wochen nun die Regierung stürzen sollten oder nicht – sie sind zumindest ein Putschversuch innerhalb des Oppositionslagers. Denn mit der Strategie der Straßenproteste stellt sich der radikale Flügel der Opposition offen gegen den bisherigen Oppositionsführer und Gouverneur des nördlichen Bundesstaates Miranda, Henrique Capriles Radonski. Inhaltlich vertritt dieser mittlerweile moderate Positionen und setzt darauf, die Regierung durch Wahlen zu entmachten. Doch nach den Kommunalwahlen im vergangenen Dezember, bei denen die Chavist_innen trotz massiver wirtschaftlicher Probleme einen deutlichen Sieg einfuhren, endete am rechten Rand der Opposition die Geduld. Während Capriles zunehmend den Dialog mit der Regierung suchte, versuchten vor allem López und Machado sich als kämpferische Rebell_innen zu inszenieren. Capriles hingegen wandte sich seit Beginn der jüngsten Proteste gegen einen gewaltsamen Machtwechsel – und verlor gegenüber López an Profil. „Die Bedingungen, um jetzt einen politischen Wandel zu erreichen, liegen nicht vor“, sagte Capriles und betonte, dass ohne die ärmere Bevölkerung in den barrios kein Machtwechsel möglich sei.
Für die Opposition wäre die Schwächung von Capriles heikel. Jahrelang hatten die zahlreichen Parteien gebraucht, um als Parteienbündnis Tisch der demokratischen Einheit (MUD) gemeinsam zur Wahl anzutreten. Dieser Konsens ist nun in Gefahr. Dabei ist die moderate Haltung von Capriles trotz der jüngsten Wahlniederlagen mittelfristig erfolgversprechend. Bei der Parlamentswahl im kommenden Jahr könnte die Opposition durchaus die Mehrheit der Sitze erringen und ab 2016 dann Unterschriften für ein Abwahlreferendum gegen Maduro sammeln, um vorzeitige Neuwahlen zu erzwingen. Aber auch darüber hinaus bietet die fortschrittliche venezolanische Verfassung direktdemokratische Instrumente, um aus der Minderheit heraus Politik zu gestalten. Mit gerade einmal fünf Prozent der eingeschriebenen Wähler_innen ließe sich beispielsweise ein Referendum über die Aufhebung von Präsidialdekreten erzwingen. Da im polarisierten Venezuela jegliche Debatte entlang der Optionen „für oder gegen die Regierung“ verläuft, konnten sich die direktdemokratischen Elemente bisher jedoch kaum entfalten und wurden von der Opposition mangels Erfolgsaussichten nicht für sich genutzt.Auch wenn die Chavist_innen weiterhin die Mehrheit stellen, deuten Ausmaß und Dauer der aktuellen Proteste auf einen politischen Einschnitt für Venezuela hin. Denn sie sind anders als frühere Proteste nicht nur rein ideologisch begründet. Ohne Zweifel gibt es dieses Mal handfeste Gründe, mit der Regierungspolitik unzufrieden zu sein. Die Kriminalität ist weiterhin hoch, die Inflation betrug 2013 ganze 56 Prozent, bei vielen Waren des täglichen Bedarfs gibt es Engpässe, auf dem Schwarzmarkt erzielt der US-Dollar das Zehnfache des offiziell festgelegten Kurses. Die Inflation trifft vor allem die ärmeren Schichten, auch wenn sich deren Situation durch umfangreiche Sozialprogramme und Einkommenssteigerungen in den vergangenen Jahren deutlich verbessert hat. Die legislativen Vollmachten, die das Parlament Maduro im vergangenen Jahr verliehen hat, um gegen Wirtschaftsprobleme und Korruption vorzugehen, zeigen bisher wenig Resultate. Es besteht die reale Gefahr, dass dem Präsidenten die Situation entgleitet und er Chávez‘ Erbe innerhalb kürzester Zeit verspielt. Denn auch der Chavismus ist äußerst heterogen. Chávez konnte die unterschiedlichen Strömungen stets zusammenhalten; der häufig unbeholfen wirkende Maduro wird von der Aura seines Vorgängers jedoch nicht ewig zehren können.
Um die Gewalt in Venezuela zu beenden ist vor allem ein breiter Dialog nötig, der von beiden politischen Lagern ernsthaft akzeptiert wird. Über die Frage, unter welchen Bedingungen dieser stattfinden soll, gehen die Meinungen jedoch auseinander. Für den 26. Februar lud Maduro alle Sektoren des Landes zu einer Friedenskonferenz in den Präsidentenpalast Miraflores ein. Es beteiligten sich einige Gegner_innen der Regierung wie die Katholische Kirche und der Unternehmensverband Fedecamaras. Die rechte Studierendenbewegung erteilte Maduro jedoch ebenso eine Absage wie das Oppositionsbündnis MUD. „Wir geben uns nicht für ein Trugbild von Dialog her, dass in einer Verhöhnung unserer Landsleute mündet“, begründete der Sprecher des MUD, Ramón Guillermo Aveledo, das Fernbleiben.

„Hab keine Angst“

Esteban Romero lebt mit seinen Eltern und seiner Schwester in San Antonio de Belén, einem ehemaligen Dorf im Westen San Josés, das sich längst zu einem Vorort der costa-ricanischen Hauptstadt entwickelt hat. Vor zwanzig Jahren erstanden die Romeros hier ein kleines Haus aus einem staatlichen Häuserbauprogramm. Costa Ricas sozialdemokratische Partei Liberación Nacional (PLN) hatte das Programm ihrerzeit aufgelegt.
Ein eigenes Haus, die Kinder konnten studieren, ein erschwingliches Gesundheitssystem. Dieses Modell Costa Ricas ist eng mit PLN und der christsozialen PUSC verbunden. Im demokratischen Wechsel schufen sie einen fortschrittlichen Sozialstaat. Die Armee wurde aufgelöst, ein öffentliches Gesundheits- und Pensionssystem aufgebaut, Bildung, Strom und Wasser in die entlegensten Winkel des Landes gebracht. Sogar die Banken hatte man nationalisiert, die dann das staatliche Bauprogramm finanzierten, dem die Romeros ihr Haus verdanken. Als eher kirchenferne Familie waren die Romeros seit jeher Stammwähler_innen von Liberación. Bis zu den letzten Wahlen.
Dabei ist Esteban eigentlich ein Gewinner der seit 20 Jahren auch von der PLN getragenen Neoliberalisierung Costa Ricas. Er arbeitet als leitender Angestellter in der Niederlassung eines weltweit operierenden Logistikunternehmens. Esteban gefällt sein Job im internationalen Umfeld, er verdient gut. Doch für ihn ist die PLN als Regierungspartei wie schon die Christsozialen vor ihnen im Korruptionssumpf versunken. Wie mittlerweile jede_r Fünfte glaubt Esteban nicht mehr, dass sich die von der PLN geführte Regierung für die Belange der Bürger_innen interessiert.
Bei den Präsidentschaftswahlen am 2. Februar will Esteban stattdessen die Linkspartei Frente Amplio (Breite Front) und deren Spitzenkandidaten José María Villalta wählen. „Die klaffende Schere zwischen Arm und Reich macht mir Sorge, die öffentliche Gesundheit wird immer bescheidener und die private immer teurer. Das macht mich wütend.“ Vor allem aber ist Esteban schwul und somit Teil einer seit ein paar Jahren immer mutiger und lautstärker werdenden Bewegung, die sich nicht mehr vom Erzbischof oder Politiker_innen diktieren lässt, was sie tun oder lassen soll.
35 Prozent der Costa Ricaner_innen gaben in einer Umfrage unlängst an, ein „nahes, nicht heterosexuelles“ Familienmitglied zu haben. Hier liegt ein Grund für die gestiegenen Zustimmungsraten Villaltas. Er ist der einzige Kandidat, der sich offen für die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften ausgesprochen hat.
„Hab keine Angst“, ruft Villalta auf Wahlkampfveranstaltungen in die Menge oder per Wahlkampf­spots in die Wohnzimmer. Keine Angst davor, dass er die staatliche Gesundheits- und Rentenkasse restaurieren statt privatisieren will. Dass man die Rechte der Beschäftigten stärkt, der Bevölkerung mehr Kontrolle über die Politik gibt. Dass man die Korruption bekämpft und das soziale Costa Rica wieder auferstehen lassen will.
José María Villalta ist ein Phänomen in der costa-ricanischen Politik. Der 36-jährige ist bislang der einzige Abgeordnete der Frente Amplio. Nun liegt er nach unterschiedlichen Meinungsumfragen auf Platz Eins oder Zwei der Gunst der Wähler_innen. Über 20 Prozent Zustimmung für den Kandidaten der linken Kleinstpartei, auf Augenhöhe mit Johnny Araya, dem Kandidaten der PLN. Das ist eine Sensation, denn frühere Umfragen hatten noch einen deutlichen Vorsprung von Araya verzeichnet.
Laut Montserrat Sagot, Soziologieprofessorin an der staatlichen Universität von Costa Rica und Politexpertin, habe es Villalta geschafft, vor allem die junge, urbane Generation für sich zu gewinnen: „Das sind Menschen mit sehr großer Präsenz in sozialen Netzwerken, die die öffentliche Meinung in Costa Rica in Zeiten des Internets entscheidend mitprägen.“
Im Parlament bringt es kaum ein Abgeordneter auf eine ähnlich hohe Anzahl von Gesetzesinitiativen, seit Jahren fehlt Villalta bei keiner wichtigen Demonstration sozialer Bewegungen. Der 24-jährigen Noelia Alfaro, einer beruflich wie politisch engagierten Medienschaffenden, gefällt die äußerst erfolgreiche Kampagne Villaltas in den sozialen Netzwerken sehr, vor allem, dass dort Inhalte transportiert werden, mit denen sich junge Menschen identifizieren können: Umweltschutz, mehr und bessere Jobs, Trennung zwischen Staat und Kirche, Homoehe, ein liberaleres Abtreibungsgesetz.
In Facebook und Twitter hat Villalta mit seiner Seite #ManKannSehrwohlWenWählen doppelt so viele Follower wie Araya. Diesen und den Rest des Polit-Establishments erwähnt Villalta nur als #DieSelbenWieImmer. Er erläutert, was seine Kampagne ausmacht: „Wir verfügen nicht über so massive Spenden wie andere Parteien, um große Werbespots in den Massenmedien schalten zu können. Aber die sozialen Netzwerke sind uns einfach näher, weil wir hier mit den Menschen interagieren und sie zum Mitmachen und Mitgestalten einladen können. Das entspricht einfach auch unserem Politikverständnis.“
Bislang ist der politischen Konkurrenz wenig eingefallen, um Villalta Paroli zu bieten. Man vergleicht ihn mit Chávez und den Castros, stellt ihn als Kommunisten dar. Das war über Jahrzehnte ein todsicheres Mittel, um den politischen Gegner zu erledigen. Doch die linke Programmatik scheine Villalta nicht zu schaden, so Montserrat Sagot, auch weil viele Menschen eingesehen hätten, dass die neoliberalen Konzepte der letzten Regierungen nur die Ungleichheit, die Armut und die Arbeitslosigkeit im Land vergrößert hätten. Villalta hingegen beziehe sich immer wieder auf die mittlerweile ausgehöhlten sozialen Errungenschaften Costa Ricas. Das mache Villaltas Ideologie bis in christsoziale und sozialdemokratische Milieus hinein salonfähig.
Die Politologin Gina Silba weist darauf hin, dass es Villalta gelungen ist, all diejenigen hinter sich zu vereinigen, die massiv gegen das Freihandelsabkommen zwischen Zentralamerika und den USA gestritten hatten. Die PLN hatte zusammen mit der politischen Rechten das Abkommen vorangetrieben. Das einzige je in Costa Rica durchgeführte Referendum ging 2007 knapp mit „Ja“ aus. Der Partei der Bürgeraktion (PAC), seit zehn Jahren die wichtigste Oppositionspartei im Land, war es bei den Wahlen 2010 nicht gelungen, aus den Protesten politisches Kapital zu schlagen, die PLN-Kandidatin Laura Chinchilla gewann deutlich. Villalta hingegen reaktiviert nicht nur die Anti-Freihandels-Koalition, er macht auch dem ländlichen Costa Rica Angebote, wendet sich an Bauern- und Fischerkooperativen, an Plantagenarbeiter_innen und kleine Unternehmen in der Provinz.
Einige halten Villalta hingegen für zu unerfahren, um Präsident werden zu können. Montserrat Sagot weist auch auf die dünne Personaldecke der Frente Amplio hin: „Villalta wird also nach fähigem, progressiven Personal, selbst aus anderen Parteien, Aussicht halten müssen.“ Der Kandidat selbst ist auf diese Zweifel vorbereitet. Natürlich gebe es vor allem in der PAC, aber auch bei der PLN und der PUSC gute und fähige Leute, mit denen zusammen arbeiten wolle, sofern sie sich mit den wesentlichen Programmpunkten der Frente Amplio identifizieren können.
Alarmiert von schlechten Umfragewerten versucht PLN-Kandidat Araya verzweifelt, der Villalta-Kampagne den Wind aus den Segeln zu nehmen. Seit 20 Jahren Bürgermeister von San José, ist er nur bedingt das Gesicht des Neuanfangs, den sich immer mehr Costa-Ricaner_innen wünschen. So verweist er auf die Errungenschaften seiner Partei vor Jahrzehnten und kritisiert offen die letzten beiden Regierungen seiner eigenen Partei. Die Korruptionsaffären hätten das Vertrauen der Bevölkerung in die Demokratie schwer beschädigt – und meint damit das Vertrauen in seine eigene Partei. Costa Rica sei das Land Lateinamerikas, in dem die Schere zwischen Arm und Reich am weitesten auseinander gegangen ist, daher fordert Araya: „Wir brauchen eine Anpassung unseres Entwicklungsmodells, der Reichtum Costa Ricas muss besser verteilt werden!“ Das dürfe aber nicht zur Konsequenz haben, dass man Extremist_innen verfalle, weder linken noch rechten, fügt er fast flehend hinzu.
Denn von Rechts wird seine PLN von den Libertären attackiert. Otto Guevara, Spitzenkandidat der Bewegung, wehrt sich zwar gegen Vorwürfe, die verbliebenen staatlichen Institutionen schnellstmöglich privatisieren zu wollen. Aber sie müssten deutlich effektiver arbeiten und weniger Geld kosten. Dass die Libertären aber gerade von denen unterstützt werden, die sich von einer weiteren Privatisierung von Gesundheitsdienstleistungen oder des Energiesektors üppige Gewinne versprechen, ist kein Geheimnis. Guevara versucht daher, Moralkonservative zu ködern, in dem er Homoehe, Abtreibung und künstliche Befruchtung ablehnt. Das reicht für ein knappes Fünftel in den Wahlumfragen.
Zwei Parteien dürften dagegen mit Wahlniederlagen rechnen: Die PAC kommt mit ihrem Kandidaten, dem Geschichtsprofessor Guillermo Solís, auf gerade nicht einmal zehn Prozent in den Umfragen. Noch vor acht Jahren hatte die PAC mit Parteigründer Ottón Solís nur hauchdünn gegen Oscar Árias der PLN verloren. Doch in den letzten vier Jahren zeigte sich die Fraktion ein ums andere mal gespalten. Zudem war sie von ihrer eigenen Rolle als Oppositionsführerin derart überzeugt, dass sie es nicht für nötig hielt, eine progressive Allianz zu schmieden. Als Guillermo Solís schließlich zum PAC-Kandidaten gewählt wurde, hatte sich Villalta längst als Gallionsfigur des progressiven Lagers etabliert. Zwar hat Solís im letzten Monat aufgeholt, trotzdem ist es unwahrscheinlich, dass er es noch in eine Stichwahl schaffen kann.
Die Christsozialen der PUSC, historische Gegenspieler der PLN, hatten kurzfristig mit dem Quereinsteiger, Dr. Rodolfo Hernández, Chef des nationalen Kinderkrankenhauses in San José, Morgenluft gewittert. Doch Anfang Oktober schmiss Hernández hin: Das korrupte Partei-Establishment der PUSC habe seine Kandidatur mit Intrigen und Verrat torpediert (siehe LN 474). Im Anschluss gelang es dem Ersatzkandidaten Rodolfo Piza nie, über einstellige Umfrageergebnisse hinaus zu kommen.
Drei Kandidaten um die 20 Prozent, damit wäre eine Stichwahl unausweichlich. Denkbar ist momentan sogar, dass es die PLN nicht einmal dorthin schafft. Damit würden erstmalig weder Sozialdemokraten noch Christsoziale die Regierung stellen. Doch soweit ist es noch lange nicht: Montserrat Sagot erinnert daran, dass die PLN über eine äußerst mächtige Wahlkampfmaschinerie verfügt. Man könne davon ausgehen, dass die Partei alle potenziellen Wähler_innen am 2. Februar zu den Wahlurnen karren werde. In den Umfragen sei das ländliche Costa Rica zudem unterrepräsentiert. Und gerade hier wählten die Menschen traditionell die PLN.
Allerdings ist gerade hier die Frustration über die PLN groß, über zurückgefahrene staatliche Programme für Kleinbäuerinnen und -bauern oder über die Vergiftung ganzer Landstriche durch die ungehinderte Ausbreitung der Ananas-Monokulturen. So bleibt das Wahlverhalten auf dem Land die große Unbekannte. Noch zeigt sich in den Umfragen über ein Drittel der Befragten unentschieden. Die Linke in Costa Rica ist allerdings jetzt schon die große Gewinnerin: Die bisherige Ein-Abgeordneten-Partei Frente Amplio ist dank Villalta eine richtig große Bewegung geworden.

Regierung sitzt fest im Sattel

Es war ein erneuter Rückschlag für die venezolanische Opposition. Mit ihrem Versuch, die Kommunalwahlen am 8. Dezember zur Abrechnung mit dem Chávez-Nachfolger Nicolás Maduro zu machen, ist sie klar gescheitert. Nach offiziellen Angaben entfielen auf die Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) und die mit ihr im Großen Patriotischen Pol verbündeten Parteien landesweit knapp 50 Prozent der Stimmen. Die oppositionelle Allianz Tisch der Demokratischen Einheit (MUD) erreichte hingegen nur knapp 43 Prozent; die Wahlbeteiligung lag mit etwa 59 Prozent für Kommunalwahlen vergleichsweise hoch.
Die politische Landkarte Venezuelas bleibt somit mehrheitlich rot eingefärbt. Nach Auzählung von knapp 98 Prozent der Stimmen fielen mindestens 196 der insgesamt 337 Bürgermeister_innenämter an die PSUV und 53 an das oppositionelle Parteienbündnis MUD. Gemäß den Tendenzen wird das Regierungsbündnis nach Auszählung der restlichen Gemeinden wohl 256, die Opposition wird 76 und unabhängige Kandidat_innen werden 5 Bürgermeister_innen stellen.
„Heute haben wir einen großen Sieg eingefahren“, freute sich der venezolanische Präsident Nicolás Maduro. Die venezolanische Bevölkerung habe der Welt gezeigt, dass „die bolivarianische Revolution mit mehr Kraft als jemals zuvor“ fortgesetzt werde. Dem Oppositionsführer Henriqué Capriles Radonski legte er aufgrund der „vierten Niederlage in Folge“ einen Rücktritt nahe. „Hier hast Du Dein Referendum“, rief er ihm nach Bekanntgabe der ersten Ergebnisse zu.
Capriles, der als amtierender Gouverneur selbst nicht zur Wahl stand, hatte im Vorfeld der Kommunalwahlen versucht, landesweite Themen zum Kern der Abstimmung zu machen. „Um einen nationalen Wandel einzuleiten, müssen wir am Sonntag gewinnen”, betonte er kurz vor der Wahl. Am Wahlabend selbst hielt er sich denn auch zurück. Die Ergebnisse zeigten, dass Venezuela „ein geteiltes Land“ sei, das einen Dialog brauche, verkündete Capriles über den Kurznachrichtendienst Twitter.
Die regierenden Sozialist_innen hatten zunächst einen eher kommunalen Wahlkampf geplant, schwenkten aufgrund der Oppositionskampagne jedoch rasch um. Die wichtigste Aufgabe der eigenen Kandidat_innen sei es, „die Leute in Unterstützung von Maduros wirtschaftlichen Maßnahmen und der Sondervollmachten zu mobilisieren“, sagte der Kampagnenchef der PSUV, Franciso Ameliach vor der Wahl. Um gegen Korruption und ökonomische Probleme vorzugehen, hatte Maduro Anfang Oktober Sondervollmachten beantragt, die ihm das Parlament Mitte November verlieh. Die dazu nötige Dreifünftelmehrheit war nur zustande gekommen, indem die chavistische Parlamentsmehrheit einer oppositionellen Abgeordneten wegen Korruptionsvorwürfen die Immunität entzog. Nun kann Maduro ein Jahr lang Dekrete über Wirtschaftsfragen erlassen, die ersten zielen auf eine stärkere Regulierung von Preisen und Devisenhandel ab. Die Opposition und private Unternehmer_innen kritisierten Maduros Vorgehen scharf – und machten die Sondervollmachten zum Thema des Kommunalwahlkampfes. Der Opposition geht es dabei weniger um einzelne Politikentwürfe oder Gesetze, sondern um die Machtverhältnisse im Land. Denn ein Referendum über die Aufhebung der einzelnen Dekrete könnten laut Verfassung bereits fünf Prozent der eingeschriebenen Wähler_innen erzwingen.
Währenddessen durchlebt Venezuela die schwerste ökonomische Krise seit dem Putsch und der Erdölsabotage 2002 und 2003. Die Inflation wird dieses Jahr bei über 50 Prozent liegen – mehr als doppelt so hoch wie 2012. Produkte des täglichen Bedarfs wie Milch oder Toilettenpapier werden immer wieder knapp, der US-Dollar wird auf dem Schwarzmarkt für das Achtfache gehandelt. Die privaten Unternehmensverbände und die Opposition machen die Regierung für die Missstände verantwortlich. Diese wirft den privaten Unternehmen hingegen vor, mit Wucherpreisen und gezielter Warenverknappung einen Wirtschaftskrieg zu entfesseln.
Die Opposition hatte gehofft, aus der angespannten wirtschaftlichen Lage Nutzen zu ziehen, was ihr kaum gelang. Zwar konnte der MUD die 62 von ihm regierten Rathäuser gemäß den Tendenzen auf 76 steigern. Doch gegenüber dem knappen Ergebnis der Präsidentschaftswahl im April dieses Jahres, als Maduro mit weniger als zwei Prozent Vorsprung gewann, wurde der Abstand zur Regierungsallianz wieder größer.
Kleinere symbolische Erfolge konnten indes beide Seiten erzielen. Im zentral gelegenen Bundesstaat Miranda, in dem Capriles Gouverneur ist, gingen 16 von 21 Rathäusern an das Regierungsbündnis. Der MUD konnte sich hingegen in der chavistischen Hochburg Barinas – der Hauptstadt des gleichnamigen Geburtsstaates von Hugo Chávez – und in einigen der bevölkerungsreichsten Städte des Landes durchsetzen. So gewann die Opposition neben den Bürgermeisterämtern in Maracaibo und Valencia erneut das Oberbürgermeisteramt des Hauptstadtdistrikts. Im wichtigsten Teil von Caracas, dem Municipio Libertador, wurde der chavistische Kandidat Jorge Rodríguez hingegen klar wiedergewählt. Und nicht überall waren Chavist_innen auf den Rückhalt der PSUV angewiesen. In 13 Fällen konnten sich alternative chavistische Kandidat_innen durchsetzen, die nicht offiziell von der Regierungspartei unterstützt wurden. Dass die Kandidat_innen des Regierungsbündnisses nicht durch Vorwahlen ermittelt, sondern von oben bestimmt worden waren, hatte innerhalb der eigenen Reihen für Unmut gesorgt.
Aus der ersten landesweiten Abstimmung während seiner Regierungszeit geht Nicolás Maduro letztlich gestärkt hervor. Die Kommunalwahlen verliefen ohne größere Zwischenfälle. Die Sondervollmachten werden von der Bevölkerung offenbar mehrheitlich gut geheißen, auch wenn viele Wähler_innen bei Kommunalwahlen eher aufgrund lokaler Themen als strikt entlang der Parteilinien entscheiden. Im Hinblick auf die Parlamentswahlen Ende 2015 und ein mögliches Abwahlreferendum gegen Maduro 2016 musste die Opposition einen herben Dämpfer einstecken, denn entgegen ihrer Lesart der vergangenen Monate sitzt die Regierung fest im Sattel.
Maduro rief noch am Wahlabend alle gewählten Bügermeister_innen zum Dialog auf und kündigte an, die „ökonomische Offensive“ fortzusetzen. Auch die „Regierung der Straße“, in deren Rahmen Maduro mit seinen Minister_innen überall im Land Orte besucht und Projekte verabschiedet, soll in eine neue Phase gehen.
Ungeachtet des Wahlerfolges steht der Chavismus vor große politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen. Da die nächsten Wahlen erst in knapp zwei Jahren anstehen, gibt es nun eine Verschnaufpause, um die Demokratisierung des politischen Prozesses von unten weiter voranzutreiben.

„Der Frieden ist nicht das Schweigen der Gewehre“

Ein Jahr nach Beginn der Friedensgespräche: Wie nah ist Kolumbien heute dem Frieden?
Die Einigung im zweiten Punkt der Agenda, der “politischen Beteiligung”, war ein wichtiger Schritt Richtung Frieden, für den wir lange verhandelt haben. Der Ausschluss der Menschen aus den politischen Entscheidungsprozessen in Kolumbien ist der Grund, warum dieser Krieg vor fünf Jahrzehnten begonnen hat. Den Kampf für eine Agrarreform mussten wir aufnehmen, weil uns die friedlichen Wege der politischen Teilhabe verschlossen wurden. Die Einigung hat gezeigt, dass die Regierung wirklich willens ist, den Konflikt zu beenden. Aber noch stehen vier Punkte auf der Verhandlungsagenda. Die Einigung in der Frage der ländlichen Entwicklung war partiell, weil die Regierung nicht über das Wirtschaftsmodell diskutieren will. Wir denken, dass diese Themen in einer verfassungsgebenden Versammlung gelöst werden müssen.

Die Regierung hat sich jedoch mehrfach gegen eine verfassungsgebende Versammlung ausgesprochen und will stattdessen die Bevölkerung in einem Referendum abstimmen lassen.
Dieses Thema müssen wir im sechsten Punkt der Agenda, der Abstimmung und Umsetzung der vereinbarten Maßnahmen diskutieren. Die jetzigen Vereinbarungen in der Frage der Landverteilung und der politischen Teilhabe sind jeweils fast 20 Seiten lang. Wir denken, dass diese Themen zu komplex sind, als dass man sie einfach mit einem „Ja“ oder „Nein“ beantworten könnte. Eine Verfassungsversammlung wäre schlicht demokratischer.

Wie werden die FARC als politische Partei Kolumbien verändern?
Wir werden versuchen, Verteidiger der unteren Klassen zu sein. Wenn die materiellen Bedingungen der kolumbianischen Bevölkerung sich verbessern, und nicht nur die einer kleinen Gruppe, kann man mit dem Aufbau einer völlig anderen Gesellschaft beginnen, die auf Brüderlichkeit, Solidarität und wirtschaftlicher Gleichheit basiert. Kostenlose und hochwertige Bildung sind der Schlüssel für eine Gesellschaft mit qualifizierten Menschen, die kritisch, nachdenklich und in der Lage sind, Politik zu gestalten und an der Planung und Organisation der Gesellschaft mitzuwirken.

Wird es Fotos der FARC geben, wie sie ihre Waffen abgeben?
Wir haben immer gesagt, dass wir keine Angst vor diesem Thema haben. In der Vereinbarung zu den Friedensgesprächen ist der Punkt der Niederlegung der Waffen verankert und das hat auch seinen Sinn. Aber Niederlegung der Waffen ist nicht dasselbe wie deren Übergabe. Niederlegung bedeutet, die Waffen nicht mehr zu benutzen. Es gibt viele Möglichkeiten das umzusetzen. Nicht, dass wir dieses Modell vorschlagen, aber beispielsweise hat das “außer Gebrauch setzen” der Waffen der Irish Republican Army (IRA), also die Lagerung der Waffen an vereinbarten Orten, auch funktioniert. Es ist wichtig daran zu erinnern, dass die herrschende Klasse in Kolumbien linke Bewegungen wiederholt mit Versprechungen betrogen hat, wie zuletzt im Falle der Linkspartei Unión Patriótica. Wir als FARC wollen den Frieden, aber wir sind auch keine Dummköpfe.

Der FARC werden schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen, unter anderem die Praxis der Entführungen. Würden Sie aus heutiger Sicht sagen, diese Praxis erst 2012 zu beenden, war ein Fehler?
Ich denke, jeder Guerillero der FARC wäre einverstanden zu sagen, dass wir die Praxis der „geldgebenden Einbehaltung“ von Personen zu lange aufrecht erhalten haben. Deshalb haben wir sie auch im Februar 2012 eingestellt. Etwas anderes ist die Gefangennahme von Soldaten. Das sind Kriegsgefangene. Dennoch denke ich, dass die „geldgebenden Einbehaltungen“ in ihrem Moment notwendig waren. Der kolumbianische Staat fordert von seinen Bürgern auch Steuern ein, um den Krieg zu finanzieren. Also erheben wir auch Steuern auf Vermögen über eine Million Dollar.

Aber der Staat sperrt sie nicht jahrelang im Dschungel hinter Stacheldraht ein.
Naja, wenn man sich als Bürger weigert, seine Steuern zu bezahlen, dann landet man auch im Gefängnis. Also haben auch wir unsere Gefängnisse. Ich kann sagen, dass unsere Gefangenen immer respektvoll behandelt wurden. Sie haben immer dasselbe Essen bekommen, was nicht heißen soll, dass es keine schwierige Situation für diese Leute war, gegen ihren Willen im Dschungel eingesperrt zu sein.

Der nächste Punkt auf der Verhandlungsagenda ist der Drogenhandel. Was schlagen die FARC zur Lösung des Problems des Drogenhandels vor?
Das Thema des illegalen Anbaus muss als soziales Problem verstanden und behandelt werden und nicht als Problem der Bauern, die vom Kokaanbau leben, weil sie nicht wissen, wie sie sonst über die Runden kommen sollen. Wir haben uns immer für Substitutionsprogramme eingesetzt, aber diese müssen von Investitionen im Sozialbereich begleitet werden. Die Besprühung der Pflanzungen mit Glyphosat richten zudem große soziale und ökologische Schäden an. Doch die Verantwortung liegt auch bei den Konsumenten in den USA und Europa. Eine Legalisierung der Drogen wäre sicherlich nicht die schlechteste Idee, um zu verhindern, dass die Kriminellen dieser Welt solche enormen Gewinne damit machen.

Die FARC erheben nach eigenen Angaben Steuern auf Koka-Blätter oder Kokain, das in von ihnen kontrollierten Territorien angebaut bzw. produziert wird. Besteht nicht die Gefahr, dass im Falle einer Demobilisierung ein Machtvakuum entsteht und Kriminelle die Lücke besetzen?
Ihre Frage impliziert, dass die FARC Drogenhändler seien. Das stimmt nicht. Wir sind eine militärisch-politische Organisation die in einem Land existiert, dessen Strukturen komplett vom Drogenhandel durchsetzt sind. Deshalb hat sich die Auffassung durchgesetzt: Wenn die FARC die Waffen niederlegen, dann löst sich auch das Problem des Drogenhandels. Dem ist nicht so. Das Problem des Drogenhandels geht viel weiter darüber hinaus. Wir sind weder die Ursache des Drogenhandels noch diejenigen, die ihn kontrollieren oder vorantreiben.

Wie hoch ist die Gefahr einer Kriminalisierung einzelner Einheiten im Post-Konflikt-Prozess?
Wenn sich die FARC durch eines in ihrer Geschichte ausgezeichnet haben, dann ist es durch das Funktionieren ihrer Kommandostrukturen. Die Welt kann sich nicht vorstellen, wie oft die kolumbianischen Regierungen versucht haben, Keile zwischen uns zu treiben: Sie haben Spione eingeschleust, uns für besiegt erklärt und so weiter. Zum Beispiel hieß es zu Beginn der Friedensgespräche, der Bloque Sur (eine Subdivision der FARC, Anm. d. Red.) sei nicht mit den Friedensverhandlungen einverstanden. Die Kommandanten dieses Bloques mussten sogar eine Erklärung veröffentlichen, dass sie sehr wohl damit einverstanden sind. Allerdings ist diese Erklärung in den Medien kaum beachtet worden. So funktioniert´s. Die Medien sagen das eine, die FARC dementieren, aber im Kopf der Leute bleibt das zurück, was zuerst gesagt wurde.

Was ist, wenn die Verhandlungen scheitern?
Die große Mehrheit der Kolumbianer will einen Frieden mit sozialer Gerechtigkeit. Eine kleine Gruppe der extremen Rechten will ihn nicht, weil sie am Krieg mitverdient. Doch der Krieg kann nicht ewig weitergehen. Das haben schon Alfonso Cano und auch Timochenko gesagt. Aber nichts ist vereinbart, bis alles vereinbart ist. Das ist eine Regel der Friedensverhandlungen. Wir müssen eine finale Einigung erzielen um die Teil-Vereinbarungen umzusetzen. Aber das wichtigste ist, dass wir als FARC die unbeirrbare Entscheidung getroffen haben, uns nicht vom Verhandlungstisch zu erheben, bis ein Frieden mit sozialer Gerechtigkeit erreicht ist.

Gegen Sie liegen in Kolumbien mehrere Haftbefehle vor. Würden Sie – um des Friedens Willen – für Ihre Verbrechen ins Gefängnis gehen?
Dieses Thema werden wir im dritten Punkt der Verhandlungen besprechen. Diese Diskussion wird bis jetzt sehr einseitig geführt. Wenn damit die Probleme der sozialen Ungleichheit in Kolumbien gelöst würden… Aber dem ist nicht so. Man kann nicht erwarten, dass die FARC sich angesichts der Manipulation in diesem Thema und der Korruption der Justiz in Kolumbien einer solchen Strafe unterwerfen. Zu allererst muss eine unabhängige Wahrheitskommission die wirklichen Geschehnisse untersuchen und die Verantwortung klären.

Spüren Sie den Druck der Regierungsseite, Ergebnisse präsentieren zu müssen?
Wenn beide Seiten wollten, könnten wir von uns aus nächste Woche den Friedensvertrag unterzeichnen. Wir haben fast 200 Vorschläge zu allen Themenbereichen vorgelegt. Wenn die Regierung wirklich wollte, könnten wir diese demokratischen Vorschläge umsetzen und unterzeichnen. Aber es sind nun mal zwei gegensätzliche Positionen und manchmal gibt es wirklich heftige Diskussionen. Aber das ist normal nach fast einem halben Jahrhundert des Konfliktes.

Hängt der Erfolg des Prozesses auch von der Wiederwahl von Präsident Santos ab?
Ich würde den Frieden nicht an einer Person festmachen. Das Wichtige ist, dass das kolumbianische Volk in einer Gesellschaft lebt, die sich durch Frieden mit sozialer Gerechtigkeit auszeichnet.

Wird es eine Einigung vor den Präsidentschaftswahlen im Mai geben?
Der Frieden lässt sich nicht innerhalb eines festgelegten Zeitraums machen. Das hat es in keinem Friedensprozess in der Geschichte gegeben. Damit es ein stabiler und dauerhafter Frieden ist, muss eine gewisse Zeit vergehen. Es muss eine Diskussion über die Ursachen des Konflikts stattfinden. Wenn es nicht zu den notwendigen Veränderungen in der kolumbianischen Gesellschaft kommt, um beispielsweise den Wohlstand der Bevölkerung sicherzustellen, wird die Situation sehr günstig dafür sein, dass neue Guerillas oder Bewegungen entstehen. Der Frieden ist nicht das Schweigen der Gewehre. Es muss ein wirklicher Frieden sein.

Yasuní ist Leben, nicht Geld

Ökonomie hat das Primat vor Ökologie. Dieses Grundmuster der kapitalistischen Produktionsweise sollte mit dem Modell Yasuní nach dem Motto „Es geht auch anders“ durchbrochen werden. Ecuadors Regierung hatte angeboten, gegen eine Teilentschädigung der internationalen Gemeinschaft darauf zu verzichten, im Yasuní-Nationalpark Öl zu fördern. Die immense Artenvielfalt des Regenwaldes und die ihn bewohnenden indigenen Völker sollten dafür unangetastet bleiben. Dieses Modell ist fürs Erste gescheitert; es kam nicht genug Geld zusammen. Mitte August verkündete Ecuadors Präsident Correa das Aus. „Die Welt hat uns im Stich gelassen“, erklärte der Staatschef und sprach von einer „der härtesten Entscheidungen meiner Amtszeit“. Seither wird die Entscheidung weltweit diskutiert, vor allem in Ecuador. Der Ball liegt dort nun beim Parlament, denn laut Verfassung ist die Ausbeutung von Ressourcen in geschützten Gebieten wie dem Yasuní-Nationalpark eigentlich ohnehin verboten. Doch mit ihrer Dreiviertelmehrheit im Parlament kann die Regierungspartei Alianza PAÍS jede „Ausnahme“ genehmigen.

Das Parlament könnte auch eine Volksbefragung anordnen. Schließlich zeigen Umfragen in Ecuador, dass eine Mehrheit der Bevölkerung trotz mangelnder internationaler Entschädigung keine Ölausbeutung will. Die fortschrittliche Verfassung gibt für ein Referendum breiten Raum. Präsident Correa hat erklärt, dass er das Ergebnis einer Volksbefragung respektieren würde.

Fast alles spricht für den Königsweg Volksabstimmung. Zigtausende sind gegen die Ölförderung auf die Straße gegangen, sowohl Gegner_innen und Anhänger_innen der Regierung Correa und vor allem Jugendliche. Sie fordern: Das Öl bleibt im Yasuní. Die Biodiversität ist unser Reichtum. Das Öl ist es nicht.

Die Gegner_innen der Ölförderung verweisen auf die Erfahrungen in Ecuador selbst: Der nördliche Amazonaswald ist bereits zerstört worden, viele indigene Gruppen sind bereits vertrieben worden und für immer verschwunden. Alle Gegenden, in denen Öl gefördert wurde, sind bitterarm – bis heute. Statt Wohlstand zu bringen, zerstörte das Öl die Natur und die Gemeinden. Die Protestbewegung fordert, dass dem Nationalpark dieses Schicksal erspart bleibt. Yasuní ist Leben, nicht Geld – ist einer der häufigsten Slogans auf den Demonstrationen.

Doch Präsident Correa spricht sich gegen die Volksabstimmung aus. Er hat in den vergangenen Tagen unmissverständlich klar gemacht, dass er seinen Machtapparat einzusetzen gedenkt, um eine Volksabstimmung zu verhindern und um die Mehrheiten zu drehen. Er setzt darauf, dass er bei einer Polarisierung gewinnt.

In Ecuador steht viel auf dem Spiel: Ecuador ist das einzige Land der Welt, das die Natur in der Verfassung als Subjekt mit eigenen Rechten definiert. Dahinter steht ein Lernprozess, der viel länger zurückreicht als das Modell Yasuní und die Regierung Correa – er geht auf die Indigenenbewegung und Umweltgruppen zurück, die in den letzten 30 Jahren gegen den Neoliberalismus und die Ölförderung gekämpft haben. Sie haben das Bewusstsein für die Rechte der Natur geschaffen.

Es geht bei Yasuní nicht um Vorteile oder um Hilfe für ein armes Land, sondern um eine historische Schuld. Yasuní war eine Chance für Länder wie Deutschland, die seit der industriellen Revolution die Rohstoffe der Welt verbraucht und die Atmosphäre zerstört haben, globale Verantwortung zu übernehmen. Sie haben diese Chance kläglich vergeben, indem sie sich der Teilentschädigung verweigert haben. Das freilich hindert die Ecuadorianer_innen nicht daran, ihre eigenen Lebensgrundlagen weiter zu verteidigen – gegen die Ölfirmen und wenn es sein muss auch gegen die eigene Regierung. Denn Yasuní ist mehr als Geld: Es ist Leben.

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