Zukunft mit Verfallsdatum

© Guillermo Garza / Desvia

„Brasilien, ein Land der Zukunft” lautet ein bekannter, euphorischer Bericht des deutschen Autors Stefan Zweig über seine Reisen durch das größte Land Lateinamerikas. „E sempre será“ (und so wird es immer bleiben) fügen viele Brasilianer*innen häufig ironisch an – wissend, dass die so rosig prophezeite Zukunft bis heute auf sich warten lässt. „O futuro é para todos“ (Die Zukunft ist für alle) lautet die vermutlich nicht unbeabsichtigt ähnlich klingende Losung in Gabriel Mascaros sanfter Dystopie O último azul (Der blaue Pfad), die es in den Wettbewerb der Berlinale 2025 geschafft hat. Doch auch diese Message entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Denn hier hat die Zukunft der Bevölkerung Brasiliens ein Haltbarkeitsdatum: Durch eine Gesetzesänderung werden werden alle Menschen über 75 Jahren dazu verpflichtet, in Senior*innenkolonien zu leben. Selbstbestimmung ist ab diesem Alter nicht mehr möglich, die Vormundschaft für sie geht an ihre Kinder über.

Für Tereza (Denize Weinberg), die in einer Kleinstadt im Amazonasgebiet wohnt und nun das Rentenalter erreicht, kommt diese Nachricht wie ein Schock. Ohnehin hält sie nicht viel vom Ruhestand und würde gerne ihren Job in einer Alligatoren-Zuchtfarm weiterführen. In die Seniorenkolonie will sie schon gar nicht zwangsumgesiedelt werden. Und außerdem hat sie noch einen Traum: Einmal im Leben mit einem Flugzeug fliegen. Also besticht sie mit ihrer Abfindung einen Kapitän und begibt sich per Boot auf die Flucht ins Ungewisse ins Herz des Regenwaldes. Immer dabei die Angst, von der Polizei oder auch ihrer Tochter aufgespürt zu werden, die die Verantwortung für sie nur zu gerne an die Regierung abschieben würde.

Gabriel Mascaro entwirft in O Último Azul ein interessantes dystopisches Szenario in idyllisch anmutender Umgebung. Nicht viel funktioniert in dieser Zukunft: Die meiste Technologie ist veraltet oder kaputt, zu kaufen gibt es kaum etwas. Die Menschen schlagen sich als unzuverlässige Geschäftemacher*innen durch, verlieren ihr weniges Geld beim Glücksspiel und fliehen mittels Alkohol oder Drogen aus der Realität (eine wichtige Rolle spielt dabei der Schleim einer halluzinogenen blauen Schnecke). Bestechung ist genau wie der Glaube an die Religion als rettender Strohhalm allgegenwärtig. Dazu kommt der Überwachungsstaat: Nicht einmal eine Açaí-Bowl (beliebte brasilianische Süßspeise) können alte Menschen ohne Ausweiskontrolle kaufen, das Denunziant*innentum blüht. Kontrastiert wird dieser wenig hoffnungsvolle Ausblick von Guillermo Garzas Kameraarbeit. Die liefert wunderschöne Bilder von Flussfahrten und Sonnenuntergängen auf dem Amazonas sowie dem idyllischen Grün des schier unendlichen Regenwaldes, untermalt von (retro-)futuristischen Elektroklängen.

Der Weg zur Freiheit, das suggeriert O Último Azul deutlich, liegt in der Flucht vor Konsum und Produktion zurück in die Natur. Schade nur, dass fast nicht gezeigt wird, wie die Alternative aussieht. Terezas Widerstände gegen die Senior*innenkolonie werden offensichtlich bei Weitem nicht von allen geteilt, das System scheint gesellschaftlich etabliert zu sein. Die hyperproduktive Ausrichtung der Wirtschaftspolitik des Staates wird zwar in der Filmbeschreibung erwähnt, an den Bildern lässt sie sich nicht erkennen. Und auch die Verfolgung und Kontrolle durch Polizei und Behörden ist mit der Brutalität düsterer Visionen wie George Orwells 1984 nicht ansatzweise zu vergleichen. Vielleicht macht das O Último Azul am Ende ein wenig zu harmonisch, um vor dieser Zukunft wirklich Angst zu verbreiten. Stattdessen erhält der Film die Hoffnung auf Freiheit und Selbstbestimmung aufrecht – was in politisch düsteren Zeiten aber sicher ebenso berechtigt und notwendig ist.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Ein Roadtrip durch den Amazonas

© Archive Jorge Bodanzky IMS

Aus dem Vorspann ertönt das Geräusch eines Bootsmotors. Wir sehen Indigene Menschen, die schweigend einen Amazonasfluss überqueren, bis die Kamera sich auf ein junges Mädchen konzentriert, das aus dem Fenster schaut: Iracema (Edna de Cássia). Wir hören Nachrichten im Lokalradio, während wir beobachten, wie die Menschen auf dem Boot mit den Indigenen Gemeinschaften am Flussufer interagieren. Weiter mit dem Geräusch des Motors. Noch keine Dialoge.

Der Anfang von Iracema, uma transa amazônica (Iracema) ist fotografisch. Er kontextualisiert das Geschehen in der Umgebung und zeigt Iracemas Ankunft in Belém do Pará, im Norden Brasiliens. Erst mit dem Auftauchen von Tião (Paulo Cesar Pereio), einem weißen Mann in den Vierzigern, treten die Dialoge in den Vordergrund.

Tião ist ein Lastwagenfahrer, der illegales Holz aus dem Amazonasgebiet transportiert. Eine Tätigkeit, die mit dem Bau der Transamazônica, einer von der zivil-militärischen Regierung 1964 begonnenen Autobahn, die den Norden des Landes von Paraíba (im Osten) bis Amazonas (im Westen) durchschneidet, bekannt wurde. Die Transamazônica war das Aushängeschild für die entwicklungspolitischen Diskurse, die die Regierung während der Militärzeit mit Schlagwörtern wie „Brasilien kann nur vorwärts gehen“, „Niemand kann dieses Land aufhalten“ und „Brasilien: Liebe es oder verlasse es“ zu betonen suchte.

Iracema wird Prostituierte und lernt Tião auf einer Party kennen. Beeinflusst von einer Kollegin beschließt sie, Tião mitzunehmen, um ihre Reise fortzusetzen. Auf diesem Weg zeigt sich das wahre Gesicht des transamazonischen „Developmentalismus“: das Abbrennen von Wäldern, die Abholzung für den illegalen Verkauf von Holz und auch die wirtschaftliche Ausbeutung der lokalen Bevölkerung, die in Ermangelung anderer Arbeitsalternativen gezwungen ist, sich an diesen Praktiken zu beteiligen, oft auch in Form von Sklavenarbeit.

Ein wichtiges Motiv des Films ist die Verwendung von Brandszenen. Als Übergänge im Roadtrip erklären sie auf eine sehr visuelle und explizite Art, was hinter den Diskursen über die Expansion des Transamazonas und die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen steckt.

Iracema und Tião sind sehr symbolische Figuren des amazonischen „Developmentalismus“. Während Iracema als Indigene Jugendliche die Unschuld, die Natur und den Wald repräsentiert, steht Tião für den Kolonisator, den Mann aus der Stadt, der den Fortschritt durch die „Erforschung“ des Unbekannten sucht. Die auf sexueller Ausbeutung basierende Beziehung zwischen den beiden symbolisiert auch genau diese Ausbeutung der Natur. Der ursprüngliche Name des Films entstammt einem Wortspiel zwischen Transamazônica, der Autobahn, und „einem amazonischen transa“ – transa ist im brasilianischen Portugiesisch ein informeller Begriff für Geschlechtsverkehr –, was auf Iracemas sexuelle Verwicklung mit Tião hinweist.

Obwohl die Figuren im historischen Kontext des Brasiliens der 1970er Jahre spielen, erklärt die Dynamik der kolonialen Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und der indigenen Völker einen wichtigen Teil der Geschichte des Landes seit der portugiesischen Invasion im Jahr 1500.

Der Film zeigt die Kraft der unabhängigen Produktion des Cinema Novo, basierend auf dem Motto „eine Kamera in der Hand und eine Idee im Kopf“ von Glauber Rocha, dem Filmregisseur, der einer ihrer Hauptvertreter war. Die Hauptidee des Cinema Novo bestand darin, die Mittel der künstlerischen Produktion in den Dienst der gesellschaftlichen Veränderung zu stellen. Im Fall von Iracema wurde das Format des Roadtrips verwendet, um die illegale Abholzungsroute und die damit verbundene soziale Ausbeutung – Sklavenarbeit und Prostitution – zu zeigen. Der Film von Jorge Bodanzky und Orlando Senna ist ein Porträt des Amazonasgebiets, das vor 50 Jahren entstanden ist, aber genauso gut heute hätte entstehen können, auch wenn sich der politische Kontext des Landes geändert hat. Nach dem Ende der Militärdiktatur im Jahr 1985 und vier Jahren rechtsextremer Verdrängung des Themas ist das Amazonasgebiet auch mit einer aktuellen Präsidentschaft, die offiziell behauptet, sich um die Umwelt zu kümmern, noch immer mit den Problemen der sozialen Ausbeutung und der illegalen Abholzung und Brandrodung konfrontiert.

Iracema, uma transa amazônica wurde zu Recht noch einmal in das Programm der Berlinale aufgenommen., Das Thema ist bis heute von dringender Aktualität und unterstreicht die Bedeutung des Kinos (und der Kunst), wenn es darum geht, Ungerechtigkeiten aufzudecken, Veränderungen zu bewirken und neue Debatten anzuregen – insbesondere in Zeiten der Klimakrise und der Bedrohung indigener Völker und lokaler Gemeinschaften. Neben der kritischen und anklagenden Botschaft des Films besticht die Erzählung aber auch durch ihre humorvollen Momente und ihre soziale Darstellung. 


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Verdammter Süden

Aliza Abranavel ist tot. Als Fonsecas Protagonist Julio, wie Fonseca selbst Literaturprofessor, davon erfährt, legt er direkt eine neue Liste an. Sein erster Reflex ist, ihren Namen neben all denen der Autor*innen und Künstler*innen zu schreiben, mit denen er ihr Schaffen assoziiert. Austral ist eines dieser Bücher, die einen auch im Stehen gelesen, in einem überfüllten Regionalzug komplett mitreißen und weit wegtragen. In den Süden, um genau zu sein.

Dorthin trägt es auch Julio. Mit der Schriftstellerin Aliza Abranavel hatte er 30 Jahre zuvor ein Verhältnis: Für ihn ein Ausbruch und ein Roadtrip durch das von Diktaturen und Bürgerkriegen gezeichnete Mittelamerika. Jetzt ist Aliza Abranavel tot und beauftragt ihn posthum, sich ihrer unveröffentlichten Manuskripte anzunehmen. Also reist Julio aus dem schneebedeckten winterlichen Ohio in den Sommer der „nuancierten Kargheit“ Humahuacas.

Acht Jahre vor ihren Tod hatte Abranavel eine Hirnblutung erlitten und seit dem eine Sprachstörung. Dies hielt sie jedoch nicht davon ab, in eine nordargentinische Künstler*innenkolonie zu ziehen und ihr Werk zum Abschluss zu bringen. Das Manuskript namens „Die Privatsprache“ webt Fonseca in den Text ein und eröffnet so eine weitere Geschichte. Spätestens hier beginnt sich um Julio wie um den die Leser*in ein Netz zu ziehen, gesponnen aus realen und fiktiven Geschichten, Fotos, Bildern, Theorien und Referenzen. Zum Glück sind diese mit einer Leichtigkeit gewoben, die das intellektuelle Gewicht dahinter nicht zur Last werden lässt. Das Werk im Werk dreht sich zunächst um die Begegnung von Alizas Vater Yitzhak mit dem Anthropologen Karl-Heinz von Mühlfeld.

Von Mühlfeld forschte auf den Spuren Elisabeth Förster-Nietzsches, der Schwester des bekannten Philosophen, die gemeinsam mit ihrem Mann Reinhard Förster an dem wahnwitzigen und zutiefst kolonialistischen, rassistischen und antisemitischen Projekt einer „arischen Kolonie“ in Paraguay namens Nueva Germania scheiterte. Während er all dies liest, verbringt Julio einige Zeit mit den jungen Künstler*innen der Kolonie, in der Aliza lebte und trifft schließlich auf Raúl Sarapura, Indigener Mitarbeiter der verstorbenen Schriftstellerin, der ihm das Lexikon des Verlusts übergibt, ein Werk, bei dessen Erstellung er Aliza unterstützt hat. Dessen mit Fotos, Bildern und Textfragmenten gestalteten Seiten sind nicht nur beschrieben, sondern ebenfalls collageartig nachgebaut im Buch enthalten, wobei Fonseca von Ignacio Acosta unterstützt worden ist. Das Lexikon schließlich führt Julio über diverse Exkurse durch Philosophie und Kunstgeschichte, die ihren Aufhänger in persönlichen Erlebnissen und Erinnerungen von Aliza haben, nach Guatemala.

Dort trifft er auf das „Theater der Erinnerung“, ein Freilufttheater, um „den Überlebenden zu helfen, die unter dem Trauma des Erlebten verschütteten Erinnerungen wiederzufinden“, das Juan de Paz Raymundo auf den längst überwucherten Trümmern des während des guatemaltekischen Bürgerkriegs zerstörten Dorfs errichtet hat. Der Angehörige der K’ich’e ist im Alter von fünf Jahren, als der Roatrip von Aliza und Julio zu Ende ging, Waise geworden. Mit den Aufnahmen der Stimmen der Überlebenden des Genozids versucht er nun, das von den Militärs vernichtete Dorf zu rekonstruieren. Doch in seinem Theater hören nur die Vögel zu, die sich zwischen den leeren Sitzreihen verirrt haben.

So bleibt die vergebliche Suche nach einer Stimme, wenn die Welt oder die Sprache schwindet, unvollendet. Für den Schmerz gibt es keinen Ausdruck und keinen für die Erinnerung. Als Leser*in fühlt man sich in die Geschichten verstrickt, wie Von Mühlfeld in den Tonbändern seiner Feldforschung. Der „Überall-Tourist“ Julio fühlt sich am Ende seiner überhasteten Reisen wie ein von der eigenen Logik in den Hinterhalt gelockter Detektiv. Fonsecas Stil ist wunderschön und bleibt dank der meisterinnenhaften Übersetzungsleistung Sabine Giersbergs auch im Deutschen erhalten. Mit einer Leichtigkeit kreiert Fonseca Bilder, die den Staub der Wüste Humahuacas, die Hitze der paraguayischen Ebene oder die Tiefe des von Krieg und Zeit zerstörten guatemaltekischen Dorfes am Berg nachvollziehbar machen. Das Ganze hat der Verlag Klaus Wagenbach in einer tollen Ausgabe der Reihe Quartbuch veröffentlicht.

Uns bleibt „am Ende der Reise die unermessliche Distanz“ und ein mitreißendes, obwohl manchmal an der Grenze zur Unübersichtlichkeit schlitterndes Leseerlebnis, welches trotz all der aufgeworfenen Themen dennoch das Unbehagen entbehrt, das andere zeitgenössische Autor*innen Lateinamerikas, wie Samantha Schweblin oder Fernanda Melchor auszeichnet.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Unsägliches über Brasilien

“Ein Land mit so erotischen Frauen wie Brasilien..”

Klaus Hart und Luiz Ramalho haben in dem gestandenen linken VSA-Verlag ein politisches Reisebuch “Brasilien” herausgegeben, das mit den Sätzen beginnt: “Ein Land mit so lebendigen, sinnlichen, erlebnishungrigen, begeisterungsfähi­gen Menschen, so erotischen Frauen wie Brasilien – gibt es gleiches, ähnliches noch einmal auf der Welt? Es sind nicht wenige, die das verneinen.”
Natürlich gibt es “den Brasilianer” nicht, wie K. Hart großzügig eingesteht, was für ihn aber eher der Startschuß ist, um über den Carioca (Einwohner von Rio) oder den Baiano zu schwafeln: “Frauen aus Rio schilderten mir Baianos als anschmiegsamer, anhänglicher, anziehender; von ihnen werde man auf eine irgendwie bestechende Weise zum Essen, Trinken und Tanzen eingeladen und hinterher göttlich verführt. Gleiches könnte ich – mit Verlaub – aus eigener Erfah­rung den Baianerinnen vorwerfen.”
Zahllose derartiger Passagen finden sich in den Beiträgen von Klaus Hart, schlimm ist auch das Kapitel über Kriminalität, das lediglich Tips für Touristen aufhäuft, wie man sich vor arglistigen Prostituierten oder betrügerischen Taxi­fahrern schützen kann. Das Buch hat inzwischen zu einer kleinen Polemik geführt (Vgl. Brasilien Nachrichten Nr. 103 und Blätter des IZ3W Nr. 166) und der zweite Herausgeber Luiz Ramalho (Brasilianer und ehemaliger Leiter des ASA-Programms) hat sich inzwischen von der Einleitung distanziert. Bei dem VSA-Buch handelt es sich um einen Sammelband, und so ist es auch dem Verfas­ser dieser Rezension als Autor eines Beitrags über Fußball zugestoßen, in solch unsägliche Auslassungen eingereiht zu werden. Meine Mitautorenschaft verbie­tet es mir nun, den Band insgesamt zu würdigen, aber der Gerechtigkeit wegen sollte doch angemerkt werden, daß viele der Beiträge nichts mit dem von Klaus Hart verzapften Unsinn gemein haben.
Das VSA-Reisebuch war schon in der Peripherie 37 (Dez. 89) verrissen worden, allerdings nicht wegen der manifesten Sexismen, sondern weil es sich um zusammenhanglose Beiträge linker Akademiker handele. “Dies Buch ist eine Qual”, allenfalls geeignet für eine treudoofe VHS-Reisegruppe, lautet das ver­nichtende Urteil des Rezensenten. Nun, der Rezensent Theodor T. Heinze hat selbst an einem Buch über Brasilien mitgeschrieben, dem Band “Brasil, Brasil”, 1988 herausgegeben vom Kulturreferat der Stadt Nürnberg. Nach einem Vorwort von Hermann Glaser (… “das Land einem Brennspiegel gleicht, in dem eine unge­heure und ungeheuerliche Zahl von Problemen focussiert ist.”) geht’s los mit Kurzportraits, zum Beispiel: “Wie unzählige belezas neben ihr angelt sich Sarah Touristen an der Copacabana in Rio. Wenn sie mit der Bezahlung nicht zufrieden ist oder sie nachträglich erhöhen möchte, inszeniert Sarah Szenen mit wechseln­den Varianten. Da tauchen zum Beispiel plötzlich angeblich eifersüchtige Freier auf, die den Zahlungsunwilligen auf die Sprünge helfen. Will der Tourist die Polizei einschalten, läuft er auch da ins Leere…”

“Bataillonen von Mulattinnen mit wohlgeformten Körpern…”

Eine andere Lesefrucht: “Das Aussehen bestimmt in Brasilien das Ansehen. Anders als die deutsche Tiefe: in Brasilien gilt eine Kultur der Oberfläche, der Blicke, der Auftritte, der gelungenen Posen und Szenen.”(S.82) Auch in diesem Buch steht derartiges Geschwafel neben ausgezeichneten Beschreibungen und Reportagen. Es scheint gerade im Falle Brasiliens nicht so leicht zu sein, den Kli­schees zu entrinnen. “Daß die Leidenschaft im Süden zu suchen sei, denken die Deutschen schon seit Jahrhunderten. Von Europa erscheint Brasilien als Land, wo die Liebe besonders viel bedeutet… Brasilien, ohnehin Projektionsraum für Exotiksehnsüchte, wird zum Inbegriff von Wärme, wenn es um die Sinnlichkeit seiner Bewohner geht. Zumindest sehen Europäer das so”, stellt Theo Heinze wohl ganz richtig fest. All die zitierten Passagen sagen weniger über Brasilien und die BrasilianerInnen aus als über europäische Phantasien. Das ist verständ­lich und fatal zugleich. Verständlich ist dieses Denken, wo es Leiden an der eige­nen Kultur thematisiert, fatal, wenn es die anderen zum Spiegel der eigenen Sehnsüchte degradiert, sie damit ihrer Subjektivität beraubt und so die tödliche Dialektik der kolonialen Eroberung perpetuiert.
Selbst in den sonst eher betulich-seriösen Brasilien-Nachrichten versteigt sich Gerbor Meister zu folgenden Ausführungen: “Bataillonen von Mulattinnen mit wohlgeformten Körpern demonstrieren bei Auftritten der Samba-Schulen Striptease-shows und provozieren mit ihren aufreizenden Hintern, die mit ver­schiedenartigen erotisierenden Attributen geziert sind, Tausende von Brasilia­nern. Nach Untersuchungen des Anthropologen Roberto da Mata soll dadurch der Analverkehr bei den sexuellen Praktiken in Brasilien einen immer größeren Anteil gewinnen.”(Brasilien Nachrichten 98, 1988)
Zum Schluß dieses kleinen Streifzuges will ich den geneigten LeserInnen den Gipfel des Unsinns nicht vorenthalten. Thomas Veszelitis heißt der Autor des “Abenteuer Report Brasilien”. Schon der Untertitel “Samba-Urwald-Karneval” läßt Schlimmes ahnen. Der Autor bekennt gleich im Vorwort, daß er sich in einem ständigen Rausch der Sinne befand: “Brasilien ist wie ein Schwamm, es saugt einen auf.” Eines Tages treibt es den Autor, der sich ansonsten eher mit Caipirinha volldröhnt, zu einem Abenteuer eigener Art:
“Doch wer sind die Leute in den Favelas? Ich will es genauer erfahren, auch wenn alle Touristenführer vor Expeditionen in diese Viertel warnen. Als ich dann einmal mit dem Auto zum Strand Sâo Conrado fahre, wage ich es… Ich gebe Gas. Erster Gang, zweiter Gang, der Motor heult auf. Die Steigung ist sehr steil, es geht direkt in den Himmel hinein….

“Mein offener Buggy wird zur Zielscheibe der Aggressionen…”

Der Weg wird immer enger, und ich sehe , wie sich mir viele Gesichter zuwen­den. Grimmige Gesichter von jungen Leuten, fast nur Farbige. Je enger die Gas­sen werden, desto dunkler die Hautfarbe. Plötzlich hört der Weg auf. Ende. Weiter muß man zu Fuß klettern, zu diesen Baracken mit Löchern statt Fenstern. Die Leute sitzen am Boden, lehnen lässig an den Wänden. Sie werfen mir böse Blicke zu. Mein offener Buggy wird zur Zielscheibe der Aggressionen, dann artet sie in direkten Angriff aus. Ich habe es nämlich gewagt, die Leute hier zu stören, habe die Grenzen überschritten – wie ein Kaninchen, das sich in den Leopar­denkäfig verirrt. Die Raubtiere wittern Beute.
Ich versuche umzudrehen. Es ist sehr eng. Da fliegt schon der erste Stein und prallt von der Karosserie ab. Noch spielerisch geworfen von einem pixoten, einem Krauskopf, wie die farbigen Knaben neckisch bezeichnet werden. Sie sind die “Gesetzlosen”, weil sie noch minderjährig sind und nicht bestraft werden können. Sie sind in Rio am gefährlichsten: die Kinder aus den Favelas. Sie rotten sich um mich. Die Spannung wächst…”
Bedauerlicherweise für die LeserInnen und glücklicherweise für den Autor gibt es ein Happy-End; unser Held schafft es schließlich zu wenden und aus der Favela zu fliehen: “Es läuft mir eiskalt über den Rücken. Da habe ich wirklich noch einmal Schwein gehabt.”

Klaus Hart / Luiz Ramalho (Hrsg): Brasilien; VSA-Verlag, Hamburg 1990
Thomas Veszelitis: Abenteuer Report Brasilien; Schneider Verlag, München 1986
Theodor Heinze / Ursula Pfeifer: Brasil Brasil, Nürnberg 1988


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Newsletter abonnieren