UNVERHEILTE WUNDEN

Heldenkult Veteranen in Ushuaia zum 40. Jahrestag des Krieges um die Malvinas (Foto: Jana Bauch)

Die Medaillen hängen schwer an der linken Brusttasche der Veteranen, mit jedem Jahrestag ein bisschen schwerer. Die Medaille zum 40. Jahrestag ist die größte von allen. Ihre schweren Lederjacken können die Männer beiseitelegen, ihre Erinnerungen nicht. „Wenn wir uns zum Asado (Grillen) treffen”, erzählt Eduardo Armua mit ruhiger Stimme, „dann reden wir, machen Scherze. Aber über das Thema sprechen wir nicht.” Mit dem Thema meint er: den Krieg, die Splitter zwischen Wasser und Öl, das eiskalte Meer, die toten Kameraden. Kriegstraumata, über die Veteranen jahrzehntelang geschwiegen haben. „Nicht mal meiner Frau und meinen Kindern habe ich davon erzählt“, sagt Armua. Erst, weil es verboten war, über das Thema zu sprechen. Dann, weil niemand mehr nachfragte.

Eduardo Armua, Sohn einer Familie aus dem ländlichen Tucumán im Norden Argentiniens, war mit 16 zur Marine gegangen. Er war gerade 19 Jahre alt, als seine Kameraden am 2. April 1982 auf den Malvinas landen. Die Malvinas oder auch Falklands, wie sie im Vereinten Königreich heißen, sind seit 1833, und damit 23 Jahre nach der Unabhängigkeit Argentiniens, von Großbritannien besetzt. Sie liegen gut 12.000 Kilometer vom britischen Mutterland und rund 500 Kilometer von der argentinischen Küste entfernt. Nach ergebnislosen Verhandlungen unter dem Dach der UNO seit 1965 will die argentinische Militärdiktatur ihren Souveränitätsanspruch auf die Gebiete 1982 militärisch durchsetzen.

Eduardo Armua hatte seinen Freund nicht erkannt, so verbrannt war er

Zu dem Zeitpunkt stecken sowohl Großbritannien als auch Argentinien in einer schweren Krise: In Großbritannien steht Margaret Thatcher kurz vor den Unterhauswahlen und hat mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. In Argentinien ist die Militärjunta unter General Leopoldo Galtieri wegen ihrer brutalen Repression und der wirtschaftlichen Talfahrt in innenpolitischer Bedrängnis. Als die argentinischen Soldaten in einer Nacht-und-Nebel-Aktion am 2. April die Hauptstadt der Inseln, Port Stanley, einnehmen, ist die Siegeseuphorie in Argentinien groß. Als Großbritannien den Gegenschlag ankündigt, kann sich das argentinische Militär vor Freiwilligen kaum retten.

Am 2. Mai 1982, einen Monat nach Kriegsbeginn, steht der nun 20-jährige Marineunteroffizier Armua auf der Kommandobrücke des Kriegsschiffs General Belgrano und hört einen Knall. „Ich dachte, der Schlag käme vom Wellenbruch und habe nur darauf gewartet, dass Wasser über unser Schiff spritzt.” Doch es kommt kein Wasser. „Dann rief der Kommandant: Ein Torpedo ist eingeschlagen.” Eduardo Armua kann nicht schwimmen. Das machte sonst nichts, sagt er, er habe ja an Deck gedient: „Auf dem Schiff waren wir Gott, unten nichts.”

Der Krieg zwischen Großbritannien und Argentinien gleicht einem Duell zwischen David und Goliath. Auf der einen Seite die ehemalige Imperial- und Seemacht Großbritannien, auf der anderen Seite Argentinien mit einem Heer aus 20-jährigen Männern, viele von ihnen ohne Kampferfahrung. Mit einer riesigen Kampagne werden in Argentinien Spenden gesammelt für die jungen „Helden”, wie die Zeitungen fast täglich skandieren. In Buenos Aires stehen die Menschen Schlange, um ihren Schmuck abzugeben. Andere sammeln Geld auf der Straße oder packen Päckchen für die Front. Eine Bekannte aus Mendoza erinnert sich, wie sie in der Schule saß und aus Lederplatten Schuhsohlen schnitt. Frauen trafen sich und strickten Schals, Kinder schrieben Briefe an unbekannte Empfänger und steckten sie in Schokoladentafeln. Kurz: Das ganze Land schwimmt 1982 auf einer Welle des Patriotismus und wenn es nach den Zeitungen geht, ist der Sieg nur eine Frage der Zeit.

Am 2. Mai 1982 erlebt Argentinien seinen größten Verlust. 323 Soldaten sterben, als das Kriegsschiff General Belgrano außerhalb der Sperrzone von zwei britischen Tornados getroffen wird und sinkt. Eduardo Armua kann sich von der Kommandobrücke auf ein Boot retten. Er sieht einen Mann mit Verbrennungen am ganzen Körper. „Spring!”, ruft Armua. „Ich kann mich nicht bewegen, Negro”, antwortet der Mann. Negro ist Armuas Spitzname. Negro, sagt Armua, nennt ihn nicht jeder. Er stockt und starrt auf den Tisch. Eduardo Armua hatte seinen Freund nicht erkannt, so verbrannt war er. Es sammeln sich Tränen in seinen Augen, als er das erzählt, aber er möchte seine Erinnerungen aussprechen. Auch die an seinen Freund Fabián, der gerade schlief, als der Torpedo im Schlafraum einschlug. Der ihm wenige Tage vorher noch von einem Traum erzählt hatte: „Ein Schlag weckt mich. Ich wache auf und sehe einen Funken auf dem Boden. Irgendetwas schneidet das Metall auf. Ich will raus, aber finde die Leiter nicht. Es kommt Wasser rein und Öl. Ich finde die Leiter nicht und sterbe.”

Am 14. Juni verliert Argentinien den Krieg. Ein paar Monate später überreicht die Marine Eduardo Armua einen Anstecker, zwei mal einen Zentimeter groß. Darauf ein Stern, die argentinische Flagge und zwei Linien in rot und schwarz. Das Rot stehe für das vergossene Blut, Schwarz für die Trauer. Armua steckt ihn sich an sein Hemd. Ein Zeichen, dass er an vorderster Front für den argentinischen Patriotismus gekämpft hat. Doch als er damit vor den oberen Militärs in Ushuaia steht, sagt er, hält kurz inne und wischt sich mit dem Taschentuch über die Augen, steht nur Verachtung in den Augen der Ranghöheren: „So, als wären wir schuld daran, verloren zu haben.” Armua trägt den Anstecker nie wieder.

Der verlorene Krieg um die Malvinas beschleunigte den Übergang zur Demokratie. Die Militärregierung muss bald abtreten. Aus den freien Wahlen 1983 geht Raúl Alfonsín als Sieger hervor. Es beginnt ein Prozess der sogenannten Demalwinisierung: Die Medien schweigen über den vergangenen Krieg, das Militär befiehlt den Soldaten, nicht über ihn zu sprechen. Plötzlich sind die vormaligen Helden die „Verrückten aus dem Krieg”, sagt Armua, man ignoriert sie. Viele ehemalige Soldaten haben Schwierigkeiten, Arbeit zu finden. Wer die Malwinenfrage thematisiert – und sei es abseits der Diktatur als Teil eines antikolonialen Kampfes – wird der Kollaboration mit dem Staatsterrorismus bezichtigt. Die Medaillen, die Pensionen, sie kommen erst zehn Jahre später.

Wer sich in Ushuaia zum 40. Jahrestag auf die Suche nach den Männern macht, die heute wieder als Helden gefeiert werden, findet sie zum Beispiel im Zentrum der Ex-Kämpfer, wo sie um einen Tisch mit Schinken-Käse-Sandwichs zusammensitzen und Orangenlimonade und Cola trinken. Ihre Jacken, schwer wie Einkaufstüten, hängen über Stuhllehnen und an Garderobenständern. Direkt bei der ersten Unterhaltung sprechen sie von „posttraumatischen Belastungsstörungen” und „psychischen Problemen”. Ein Mann sagt: „Wir haben nie eine Psychotherapie gemacht.” Ein anderer erzählt, sie hätten hier alle Diabetes, als Folge der Belastung.

In Ushuaia wird der 2. April 2022 unter dem Motto „40 Jahre Heldentat” (40 años gesta heróica) gefeiert. Die Anzeige auf den öffentlichen Bussen springt immer wieder zu „40 Jahre Malvinas” um. Das Stadtlogo, die menschengroßen leuchtenden Buchstaben von Ushuaia, wurden um einen leuchtenden Umriss der Inseln ergänzt. In keiner anderen Region Argentiniens ist die Malwinenfrage präsenter als auf Feuerland.

„Ich würde niemals wollen, dass er in einen Krieg geht”

Die Stadt Ushuaia organisiert einen Streetartwettbewerb zum Thema Malvinas. Zehn Künstler*innen aus dem ganzen Land und eine Künstlerin aus Uruguay haben sich mit ihren Entwürfen durchgesetzt. Nun setzen sie Wandbilder um, die meisten von ihnen in einem Stadtviertel am Beagle-Kanal, das nach den Inseln benannt ist. Ítala Gordillo, 42, aus Caleta Olivia in der patagonischen Provinz Santa Cruz, sagt, sie habe sich bewusst gegen eine ikonenhafte Heldendarstellung entschieden. „Ich wollte noch mehr die menschliche Seite zeigen, die Gefühle”, sagt sie. Zunächst habe sie nicht damit gerechnet, dass ihr Vorschlag angenommen wird. Er zeigt einen Soldaten, mit einem Hund auf Augenhöhe. „Ich habe mir vorgestellt, dass die Soldaten in diesen Situationen von Einsamkeit, Trauer und der Ungewissheit, ob man den Tag überhaupt überleben wird, einen Zufluchtsort suchten und ihn vielleicht in den Tieren finden konnten.”

Andere Wandbilder zeigen neben klassischen Heldendarstellungen der Soldaten auch Frauen, die Schals stricken oder fünf junge Pflegerinnen. Die Rolle der Frauen in dem Krieg wird erst seit einigen Jahren sichtbarer. Noe Cor, 35, aus Montevideo/Uruguay betont, sie wolle Frauen nicht als Heldinnen zeigen „so als wäre es eine Leistung, dass sie gemeinsam mit den Männern im Krieg waren.” Eine Leistung wäre es, sagt sie, Kriege zu verhindern. Doch sie will mit dem Bild der Pflegerinnen zeigen, dass auch sie einen entscheidenden Beitrag geleistet haben und als Teil der Geschichte im Gedächtnis bleiben müssen.

Die Veteranen des Kriegs 1982 sind nun in ihren 60ern und je öfter einer von ihnen stirbt, desto dringender stellt sich ihnen die Frage: Was bleibt? „Was uns bleibt, sind die Kinder. Sie können den Prozess weiterführen”, sagt Veteran Eduardo Armua. An den Schulen müsse weiter zu dem Warum des Kriegs aufgeklärt werden. Ein anderer sagt: „Das Wichtigste ist es, den Kindern zu zeigen, dass die Inseln friedlich zurückgewonnen werden können.”

In den Zentren der Veteranen treffen sich inzwischen auch deren Kinder, um über ihr Erbe in der ganzen Sache zu sprechen. Viele von ihnen sind längst über 30. Oft kennen sie die Traumata ihrer Väter nicht, da sie ihnen nie erzählt wurden. Zum 40. Jahrestag haben die Kinder der Veteranen in Ushuaia eine Kapsel gebaut, in der sie Briefe gesammelt haben. Die Kapsel wird in einem Denkmal eingeschlossen und soll erst im Jahr 2082 geöffnet werden – oder an dem Tag, an dem die Malvinas offiziell argentinisch sind. Zu dem offiziellen Akt spielt eine junge Band, sie hat den Veteranen ein Lied geschrieben: Ich überreiche mich, ein Geschenk an das Vaterland, so wie an jenem Tag, dem 2. April. Die Veteranen stehen aufgereiht vor ihnen, ihre Mimik bleibt stumm.

Später erzählt ein Veteran, sein Sohn war vor zwei Jahren in dem Alter, in dem er selbst den Krieg musste. 19 Jahre. „Ich würde niemals wollen, dass er in einen Krieg geht”, sagt er, „deswegen braucht unser Land unbedingt eine friedliche Lösung.” Der Sohn betont später, als sein Vater nicht dabei ist, wie stolz er auf diesen sei. Würde er jemals in einen Krieg ziehen, wenn es dazu käme? Er überlegt und sagt dann: „Ja, für meinen Vater”.

DIE HÜGEL ORGANISIEREN SICH WIEDER

Laut und riesig Demonstrationszug vom benachbarten Viña del Mar nach Valparaíso (Foto: Vania Berríos)

„Ich fühle mich wie am Tag nach dem NO, glücklich“, bemerkt ein Nachbar in einem kleinen Laden im Viertel Cerro Bellavista. Der Tag nach der bislang größten Demonstration Chiles mit über sechs Millionen Teilnehmenden im ganzen Land fühlt sich für ihn und viele andere befreiend an. Nach der Aufhebung der Ausgangssperre ist die Stimmung zum ersten Mal lockerer, der Wind weht Musikfetzen durch die Straßen, es herrscht Wochenendtreiben in den Hügeln. Inzwischen macht sich das Gefühl breit, dass die erste Seite eines neuen Kapitels aufgeschlagen wurde. Wie damals vor 31 Jahren, als die Mehrheit der Bevölkerung gegen ein Verbleiben an der Macht des Diktators Augusto Pinochet für weitere acht Jahre stimmte.
Die letzten Wochen waren voller vielseitiger Gefühle. Das Bewusstsein, einen historischen Moment mitzuerleben, ihn mit zu gestalten. Die Mühe, zu verstehen, was gerade geschieht. Die Ungläubigkeit über die Ausmaße der Proteste. Die riesige Hoffnung, wirklich etwas ändern zu können. Aber auch die Wut und der Schrecken angesichts der Toten, der Verschwundenen, der Gefolterten, der sexualisierten Gewalt… es wiederholt sich. Viele Bewohner*innen von Valparaíso sehen Parallelen zu den siebziger Jahren. Auch jetzt singt die Bevölkerung wieder El pueblo, unido, jamás será vencido („Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden“) , die Polizei und das Militär reagieren mit Gewalt und agieren, als gäbe es keine Menschenrechte zu wahren, als ob es 30 Jahre Demokratie nie gegeben hätte.

Zwischen Demonstrationen, Polizeigewalt, Plünderungen und kreisenden Militärhubschraubern versuchen die Menschen, ihr tägliches (Über-)Leben zu sichern

Zwischen Demonstrationen, Polizeigewalt, Plünderungen und kreisenden Militärhubschraubern versuchen die Menschen, ihr tägliches (Über-)Leben zu sichern. Valparaíso hat dabei wie immer zwei Gesichter: Hektik in der Ebene, Ruhe in den Hügeln. In der Ebene, dem Stadtzentrum, gehen tagsüber die Demonstrationen weiter. „Das Volk, das Volk, das Volk, wo ist es? Es ist auf den Straßen und fordert Würde!“, rufen die Protestierenden seit drei Wochen. Genau darum geht es seit Beginn der Proteste: die Würde zurück zu erlangen, die Bedingungen für ein Leben in Würde zu erkämpfen. Vor der Regionalverwaltung und auf den zentralen Plätzen sammeln sich Menschen, halten dort die Stellung oder versuchen, bis zum Kongress zu marschieren. Dabei sind vor allem Studierende und Aktivist*innen sozialer Bewegungen, zunehmend auch Gewerkschafter*innen und Familien. Die Demonstrant*innen schlagen auf ihre Kochtöpfe, die mit anderen Instrumenten zusammen spontane Protestorchester entstehen lassen.
Viele sind demonstrationserprobt, stellen sich Wasserwerfern und Tränengas fröhlich und ohne Angst entgegen. Solidarisch wird allen, die etwas abbekommen haben, eine Lösung aus Wasser und Backpulver ins Gesicht gespritzt. Tanzende Comparsas (Karnevalsgruppen) und Clowns lockern die Stimmung auf. Die Momente, in denen die Polizei mit Gummigeschossen ausrückt, sind gefürchtet, aber die Demonstrierenden lassen nicht locker. Am Rande wird Demozubehör angeboten: Mundschutz für 100 Pesos (umgerechnet 12 Cent) und Zitronen, um den Effekt des Tränengases abzumildern. „Es erstaunt mich immer wieder, wie die Chilenen es selbst unter den widrigsten Bedingungen schaffen, Kleinstunternehmen zu errichten“, bemerkt eine Demonstrantin. Auf dem Weg nach Hause geht sie noch einen Kaffee trinken, auch wenn es schwierig ist, ein offenes Café zu finden.
Denn ein Großteil der Geschäfte ist geschlossen, viele wurden geplündert und in Brand gesteckt. In den ersten drei Tagen herrschte ein reger Verkehr zwischen Stadtzentrum und Hügeln. Menschen schleppten Taschen voller Lebensmittel und Kleidung hoch, Großbildfernseher, später Fahrräder, Zelte und ganze Vitrinen voller Brillen. Autos aller Art, von Klapperkiste bis SUV, fuhren vollgepackt bis ans Dach nach oben. Im Laufe der Protesttage tauchen immer mehr Videos in den sozialen Netzwerken auf, die zeigen, wie den Demonstrant*innen mit erheblicher Gewalt begegnet wird. Bei Plünderungen zeigten sich Polizei und Militär jedoch anfangs völlig überfordert – oder, wie sich in den folgenden Tagen herausstellt, nicht immer willig, diese überhaupt zu stoppen.
So konnte ich beobachten, wie sich die Carabineros von der Plünderung einer Apotheke zurückzogen. Erst als die Apotheke ausgeraubt und in Brand gesteckt worden war, waren sie wieder vor Ort. Videos zeigen außerdem Situationen, in denen Plündernde mit Polizei und Militär verhandeln, um Zugang zu einem Supermarkt zu bekommen. Erfolgreich, denn letztlich dürfen sie den Laden aufbrechen, die Polizei zieht sich zurück und rückt kurz darauf wieder an, um einige Leute festzunehmen.

Ist die Zerstörung der Stadt politisch gewollt?

Ausgehend von Geschehnissen wie diesen, die sich rasant über soziale Netzwerke verbreiten, besteht der Verdacht, die konservative und von der Nationalregierung ernannte Regionalverwaltung ziele darauf ab, die Wirtschaft der Stadt zu zerstören. Bislang wurden 90 Geschäfte geplündert und 15 Gebäude in Brand gesteckt – Grundlage für eine Wirtschaftskrise in der Hafenstadt. Die hiesige Polizei untersteht der Regionalverwaltung, die auf Befehl von Admiral Juan Andrés de la Maza handelt, während des Ausnahmezustands zuständiger Oberbefehlshaber der Region Valparaíso. Die Zerstörung der Stadt könnte politisch gewollt sein, denn nächstes Jahr stehen Kommunalwahlen an. Der bislang erfolgreiche und beliebte linke Bürgermeister Jorge Sharp ist dem konservativen Regionalchef Jorge Martínez schon lange ein Dorn im Auge. Der Verdacht erhärtet sich, als einige Tage später von dem rechten Politiker José Antonio Kast die Twitterkampagne #fuerasharp („Hau ab, Sharp“) angezettelt wird. Die politische Einmischung rechtskonservativer Politiker*innen, die nicht in Valparaíso leben und normalerweise wenig Interesse am lokalen Geschehen zeigen, ist auffällig.
Der Bürgermeister und die Gemeindeverwaltung halten dagegen. „Wir fordern die Bürger auf, sich nicht an den Plünderungen zu beteiligen. Die Zerstörung unserer Stadt ist kein Teil der legitimen sozialen Proteste. Ebenso appellieren wir an die Behörde, der die Sicherheitskräfte unterstehen, keine weiteren Plünderungen zuzulassen. Die Bürger dieser Stadt brauchen Sicherheit“, so das offizielle Statement. Gegen die Zerstörung der Stadt trommelt der Bürgermeister eine Allianz aus Besitzer*innen kleiner Geschäfte, Tourismusbetreibenden, Kleinfischer*innen und Vertreter*innen sozialer Organisationen zusammen. Es gibt öffentliche und live gestreamte Versammlungen, in dem kleinen Fischerhafen Caleta Membrillo und zuletzt im Gymnasium Matilde Brandau de Ross, wo alle zusammen Erfahrungen und Strategien besprechen.
Zunehmend und oft erfolgreich stellen Demonstrant*innen sich den Plünderungen von kleinen Läden entgegen. Selbst bislang unpolitische Leute halten etwa auf der zentralen Plaza Victoria eine Reihe Vermummter davon ab, Parkuhren zu zerstören. „Das zeigt, dass der gesunde Menschenverstand glücklicherweise weiterhin existiert, dass die Leute hier verstehen, worum es bei den Protesten geht“, so Alejandro, ein Demonstrant, der die Szene genau wie ich beobachtet.

Solidarität und Basisorganisation

Eine völlig andere Realität herrscht währenddessen in den Hügeln, wo die Menschen versuchen, ihr Alltagsleben aufrechtzuerhalten. Die öffentlichen Plätze allerdings sehen anders aus als sonst, wenn nur zu bestimmten Zeiten Kinder und Hunde hier toben. Dieser Tage herrscht ein emsiges Treiben. Viele, die nicht an den Demos teilnehmen können oder wollen, treffen sich, analysieren das Geschehen, teilen ihre Anspannung, Ungewissheit, Schrecken und Freude. An einigen Tagen wird gemeinsam gekocht, Musik gemacht, abends werden alle Anwesenden zusammengerufen, um das Tagesgeschehen und weitere Aktivitäten zu besprechen. Pünktlich zum abendlichen Beginn der Ausgangsperre entsteht ein spontanes Konzert, auf Plätzen und aus den Fenstern erklingen Kochtöpfe, Instrumente und in voller Lautstärke El derecho de vivir en paz von Víctor Jara. Über vierzig Jahre neoliberaler Politik haben es nicht vollbracht, die Erinnerungen an Solidarität und Basisorganisation bei den Menschen auszulöschen.
Auf der Plaza Yungay nutzen die Nachbar*innen und Aktivist*innen des Gemeinschaftsgartens den Ansturm für Workshops über Selbstversorgung, städtische Landwirtschaft und Mülltrennung. Ein erstes Beet mit Salat wird angelegt. „Unser Ziel ist es, uns langfristig mit Obst und Gemüse selbst zu versorgen“, so Paola, eine der Aktivist*innen. Die Absicht stößt auf mehr Interesse als sonst, erst einige Tage zuvor hielten die Plünderungen der Supermärkte und die mediale Panikkampagne über drohende Nahrungs­­­mittelengpässe die Bevölkerung in Atem. Dagegen standen die zuverlässigen Versorgungsstrukturen an der Basis, Selbstversorgerprojekte wie dieses, die kleinen Tante-Emma-Läden in den Stadtvierteln und natürlich die Märkte, die problemlos funktionierten. Im Gemeinschafts­garten Yungay ist auch Kompost willkommen, das freut viele, denn die Müllabfuhr kommt schon seit Anfang der Proteste nicht mehr. Die Gemeindeverwaltung schickt allerdings eigene kleine Lastwagen, um den Müllbergen in den Straßen entgegen zu treten und das Chaos ein bisschen zu ordnen. Die öffentlichen Gesundheitszentren und die von der Gemeindeverwaltung betriebenen Apotheken sind geöffnet, ebenso wie teilweise die Schulen, damit die Schüler*innen ihre Mahlzeit bekommen.
Präsident Piñera hat zwar oberflächliche Veränderungen angekündigt, die Protestierenden im ganzen Land wollen jedoch nicht ruhen, ehe er selbst zurücktritt und eine verfassungsgebende Versammlung einberufen wird. Darauf konzentriert sich jetzt auch die politische Basisarbeit in den Hügeln Valparaísos. Unterstützt durch den Aufruf der Gemeindeverwaltung, wird der Schwung der Proteste zur Stärkung der Stadtteilorganisation genutzt. Die Bevölkerung trifft sich in sogenannten cabildos (Bürger*innenversammlungen), diskutiert und erarbeitet Vorschläge für eine neue Verfassung. Denn alle wissen, dass jetzt der entscheidende Moment ist, um damit zu beginnen, diesem System der institutionellen Ungleichheit gemeinsam ein Ende zu setzen.
Einige Tage nach der Megademonstration beendet Präsident Piñera den Ausnahmezustand, Menschenrechtsbeobachter*innen von Amnesty International und den Vereinten Nationen treffen ein, die Regierung setzt auf Normalisierung.
„Aber ist es ‚normal‘, nach dem was geschehen ist und geschieht, zur Normalität zurückzukehren?“, fragt ein Plakat am streikenden Gymnasium Eduardo de la Barra – dort, wo einst Salvador Allende zur Schule ging, bevor er Arzt und später Präsident von Chile wurde. Wie damals gibt es auch heute wieder Hoffnung für tiefgreifende strukturelle Veränderungen. Damit dem Neoliberalismus Grenzen gesetzt werden und ein Leben in Würde wieder möglich wird.

 

MEIN NACHBAR, DER PARAMILITÄR


Erinnerungen und Schnaps Manche Geschichten erzählen die Bewohner*innen nur leise (Foto: Danilo Garcia)

 

Auf den ersten Blick wirkt der kleine Ort idyllisch. Amalfi, 20.000 Einwohner*innen, im Norden des kolumbianischen Departamentos Antioquia gelegen, ist von grünen Bergen umgeben, an deren Hängen Kaffee angebaut wird und hinter deren Silhouetten die Goldminen liegen. Über die vielen kleinen Straßen drängen sich Fahrräder bis sie an den zentralen Platz gelangen, auf dem Bäume, Bänke, Brunnen, Statuen, Kirche, Restaurants, Cafés und Kneipen zum Verweilen einladen. Amalfi ist belebt, freundlich, geschäftig; hinter den offen stehenden Türen lassen sich die großen Innenhöfe erahnen.

Im Park vor der Kirche steht die Statue eines Jaguars. Eine Hommage an jenen Jaguar, der vor vielen Jahren einst ins Dorf kam und für Unruhe sorgte. Als ihn mutige Amalfitanxs erlegten, wurde ihnen zu Ehren ein großes Fest gefeiert und ein Dorfmythos begründet. Diese Geschichte erzählen sie gerne in Amalfi. Andere nicht.

Jene anderen Geschichten lassen sich zwischen Fahrradklingeln und spielenden Kindern heute nicht erahnen. Nur wer sie kennt, sieht das Dorf mit anderen Augen. So wie Daniela*, 25 Jahre alt, Sozialarbeiterin, geboren in Amalfi und hier aufgewachsen. Sie schiebt ihr Fahrrad, immer wieder bleibt sie kurz stehen, um Menschen zu begrüßen. Als sie am luxuriösesten Haus des Ortes vorbeikommt, flüstert sie den Namen des Paramilitärs, der es gebaut hat. Bis heute wohnt seine Familie dort. Daniela kennt sie – natürlich. Eine ganze Reihe von mächtigen Paramilitärs sind in der circa 20.000 Einwohner*innen zählenden Gemeinde geboren. Unter ihnen die drei Castaño-Brüder, die mit den Autodefensas Unidas de Colombia (AUC, Vereinigte Bürgerwehren Kolumbiens) jene Gruppe gründeten, die für die meisten Massaker im kolumbianischen Bürgerkrieg verantwortlich sind. Doch auch die Brüder „Don Mario“ und „El Alemán“, sowie „Monoleche“ und „Arcángel“ kommen von hier. Namen, die in großen Teilen des Landes Schauer über den Rücken laufen lassen und die wie ein Nebel über dem Dorf von Amalfi liegen.

Wie Daniela haben viele Amalfitanxs Teile ihrer Biographien mit den Para-Kommandanten geteilt: „Ich hab damals als Kind mit den Castaños auf der Straße gespielt“, erzählt Leandro*. Damals ahnte er noch nicht, wie sich ihre Wege später noch einmal kreuzen würden. Leandro arbeitete als junger Erwachsener als Polizeiinspekteur. Seine Aufgabe: Jene Leichen protokollieren, die der Paramilitärchef und Kindheitsfreund Carlos Castaño in Auftrag gegeben hat.

Ein erbarmungsloser Krieg gegen alle, die nur in den Verdacht geraten, die Guerilla zu unterstützen

Die Geschichte der berühmt-berüchtigten Castaños beginnt mit den Aktivitäten von Fidel Castaño. Er wird 1951 als Sohn einer Viehzüchterfamilie auf einer Finca in Amalfi geboren und nimmt über den Autohandel bald Kontakt zur organisierten Kriminalität auf. In Medellín lernt er Pablo Escobar kennen, arbeitet mit ihm zusammen. 1979 wird Castaños Vater von der FARC entführt, Fidel ist zu dem Zeitpunkt 28 Jahre alt, sein Bruder Carlos 14. Die Familie bezahlt die Hälfte des Lösegeldes; das reicht der FARC nicht: die Guerillerxs ermorden das Familienoberhaupt. Zu jenem Zeitpunkt ist Entführung eine der Haupteinnahmequellen der Guerilla, viele Familien werden Opfer. Doch die Castaños haben die nötigen Mittel, um sich zu rächen. Schon bald schmieden Carlos und Fidel Pläne für den Aufbau eigener Kampfeinheiten. Mit einer kleinen Privatarmee, den Autodefensas Campesinas de Córdoba y Urabá (ACCU), beginnen sie in Córdoba und im Norden Antioquias ihren Rachefeldzug. Ein erbarmungsloser Krieg gegen die Zivilbevölkerung und jede*n, der*die nur in den Verdacht gerät, die Guerilla zu unterstützen, entbrennt. Damit haben die Castaños Erfolg, gewinnen die Unterstützung von Teilen des Staates und der öffentlichen Sicherheitsapparate, mit denen sie gemeinsam ihre Massaker verüben. Nachdem Fidel 1994 von einer Splittergruppe der EPL-Guerilla umgebracht wird, übernimmt Carlos Castaño das Ruder und vereint mehrere paramilitärische Gruppen zu den Autodefensas Unidas de Colombia (AUC). Allein im Zeitraum zwischen 1980 und 2000 brachten die paramilitärischen Gruppen über 120.000 Menschen um. Carlos Castaño selbst wird später von seinem jüngeren Bruder Vicente ermordet, der fortan den Schrecken weiterführt. Es ließe sich viel über die Castaños und anhand von ihnen über die jüngere Geschichte Kolumbiens erzählen. Auch über die Brüder Rendón Herrera, „El Alemán“ und „Don Mario“, die sich damals mit weiteren Amalfitanos den Castaños anschlossen. „Don Mario“ baute mit den Autodefensas Gaitanistas de Colombia die bis heute stärkste paramilitärische Gruppe auf.

Warum die Paramilitärs weitestgehend unbehelligt massenhaft Menschen ermorden konnten, ist eine Frage, die auch mit der Verflechtung von Zivilbevölkerung und Paramilitärs zu tun hat. Und die zu weiteren Fragen führt: Was bringt eine Viehzüchterfamilie dazu, zu Massenmörder*innen zu werden? Und wie geht und ging die Dorfgemeinschaft von Amalfi mit jenen Söhnen des Dorfes um?

Der Polizist Leandro hätte sich beinahe selbst den Castaños angeschlossen. Damals, als er als einziger Polizist in einem Vorort Amalfis arbeitete, in dem die ELN das Sagen hatte. Auch Leandro war den Befehlen der Guerilla unterworfen, selbst wenn er das so niemals zugeben durfte. „Ich beschränkte mich dann mehr auf Sozialarbeit.“ Eines Tages kam ein alter Freund auf Leandro zu und fragte, ob er nicht mit den Castaños kämpfen wolle; schließlich könne er mit der Waffe umgehen und hätte doch als Polizist Erfahrung darin, Gemeinschaften zu kontrollieren. Sie könnten ihm eine gute Waffe, viel Geld und ein Auto anbieten. Leandro dachte nach. Zwei, drei Tage bespricht er sich mit seinen Eltern. „Ich hab mich an meine Werte erinnert“, sagt er. Er ahnte, was auf ihn zukommen könnte. Als er später die Massaker sieht, ist die Realität noch schlimmer als das Befürchtete. Leandro sagt: „Ich wäre einer von denen gewesen.“ Heute wirkt Leandro mit seinen Falten und dem freundlichen Lächeln wie die Personifizierung des Amalfitanos, der es irgendwie geschafft hat, sich rauszuhalten, obwohl er mittendrin war.


Viel erlebt Maultier und Mensch und die Last der Vergangenheit (Foto: Danilo Garcia)

So handhabt er es auch, als er 1997 zur zentralen Polizei in Amalfi wechselt. Um den Schrecken kommt er nicht herum; seine Aufgabe ist die Registrierung der Toten. Es ist die Zeit, in der die Paramilitärs in das Dorf zurückkehren, bewaffnet und gnadenlos gegen jede*n, der oder die nur im Geringsten in den Verdacht gerät, die Guerilla zu unterstützen. „Teilweise haben wir an drei Tagen 14 Leichen begutachtet.“ Eines Tages rief der Kommandant der Paramilitärs bei Leandro an und kündigte an: „Du, für morgen hab ich zwei Leichen für dich. Kannst dich schon mal drauf vorbereiten.“ Leandro wusste viel und war doch machtlos. Er leitet die Berichte über die Toten an die Staatsanwaltschaft weiter. „Da versackten sie“, sagt Leandro, und fügt ein kolumbianisch-resigniertes „Natürlich.“ an. Er sagt, dass der Staat nicht präsent war. Dass der Staat die Leute im Stich gelassen hat. Und dass der Name paramilitar in Kolumbien zu lesen ist wie para militar – „für das Militär“. Teilweise waren es die gleichen Leute, die an einem Tag die Uniform der kolumbianischen Armee und am nächsten Tag die schwarze Armbinde der Paramilitärs trugen. Sie ist spürbar, die Enttäuschung eines Mannes, der selber an die Gesetze des Staates geglaubt hat. Sich für die Polizei und gegen ein Leben als Paramilitär entschieden hat. Und es ist die Geschichte eines Mannes, die zeigt, dass es viele hätte treffen können. Wäre er damals mitgegangen, nach Córdoba, nach Uraba, auf den Rachefeldzug der Castaños, wäre er zum Mörder geworden. Seine Geschichte ist eben auch jene, die zeigt, dass es doch eine Wahl gab.

„So sind die Paras Teil der Landschaft geworden.“

Dass die Castaños diese auch hatten, wird im Dorf zwar nicht abgestritten, aber auch nicht unbedingt betont. „Du musst dir vorstellen, die Guerilla hat ihren Vater entführt, sie haben zweimal Lösegeld bezahlt, und die haben ihn trotzdem umgebracht“, sagt der Nachtwächter Don Juan zur Rechtfertigung.

Dabei haben sie in Amalfi den Schrecken selbst erlebt. Das zeigt ein vierstündiges Kneipengespräch am Abend, das die alten Zeiten wieder aufleben lässt. Mit dabei zwei gute Seelen des Dorfes: Oscar Mejía, der seit mehreren Jahrzehnten im technischen Bereich der Stadtverwaltung arbeitet, 44 Jahre alt, und Omar Blandón, 48, der im Auftrag der Stadt Landwirtschaftsprojekte durchführt. Sie haben viele Gemeinsamkeiten: ein stets freundliches Lächeln, Gelassenheit. Doch an diesem Abend sprudeln aus ihnen die Erinnerungen aus mehr als drei Jahrzehnten, in denen bewaffnete Gruppen in Amalfi das Sagen hatten. Es sind die beiden Überfälle der ELN-Guerrilla 1991 und 1996, an die sie sich am besten erinnern. Damals stürmte die ELN die Polizeizentrale. Im wieder aufgebauten Gebäude zog eine Außenstelle der Universidad Nacional ein: Bildung gegen die Gewalt. Es sind die ersten kollektiven traumatischen Erinnerungen. Die Kämpfe, die vier bis fünf Stunden andauerten, die toten Zivilist*innen. Mejía erinnert sich, dass er mit Freunden bei einem Sportfest war. Die Schüsse hielten sie erst für Feuerwerk. Als sie in der Ferne Flugzeuge sahen, kam die Panik. Angst, die Armee könnte bombardieren. So kommt es nicht. Als später der Bürgermeister ermordet wird, setzt das Militär für zwei Jahre den ersten „Militärbürgermeister“ Kolumbiens ein.

Doch nichts übertrifft den Schrecken, der mit der Rückkehr der Paramilitärs 1997 beginnt. „Es gab hier nie das ganz große Massaker“, erzählt Mejía. „Aber ein langsames Massaker der Betäubung.“ Tag für Tag gab es Tote. Sich nicht einzumischen war quasi unmöglich. „Am einen Tag kam die Guerilla und fragte dich, ob sie dein Huhn mitnehmen können. Jeder wusste, dass er keine Wahl hatte. Am nächsten Tag kamen die Paras und beschuldigten dich, die Guerilla durch das geschenkte Huhn unterstützt zu haben“, erzählt Mejía. Wer sich in irgendeiner Weise mit einer der Gruppen anlegte – oft ohne es zu wollen -, schaufelte sich sein eigenes Grab. Bei den Opfern der Paramilitärs galt das wörtlich: Nicht wenige zwangen sie vor der Ermordung, das Loch zu buddeln, in das man sie später tot hineinwarf.

Mejía erzählt davon, wie er einst selbst fast in einem der unbenannten Gräber gelandet wäre. Einer Freundin wurde ein Zettelchen unter der Tür durchgeschoben: „Du hast 24 Stunden, um zu gehen.“ Das kam vor, doch in ihrem Fall schien es ungewöhnlich. Mejía machte sich also auf den Weg und fragte den Kommandanten der Paramilitärs: Dieser verneinte, der Zettel sei nicht von ihm. Am selben Tag suchte Mejía den örtlichen Guerillachef auf und erhielt die selbe Antwort.

Später erfuhren sie: Jemand aus dem Dorf wollte die allgemeine Angst ausnutzen und sich auf diesem Weg den Arbeitsplatz der Freundin in der Stadtverwaltung ergattern. Die Freundin blieb, doch am nächsten Tag lud der Para-Kommandant Mejía vor. Seine Konsultationen wurden ihm zum Verhängnis. „Man hätte ihm gesagt, Mejía habe ein Treffen mit der Guerilla gehabt“, sagte der Para-Kommandant verärgert. Mejía erklärte sich. Sie lassen ihn gehen – vorerst. Am selben Abend werden in dem Vorort, in dem Mejía lebt, drei Personen von den Paramilitärs umgebracht. Mejía hatte sich an diesem Abend kurzfristig entschieden, in Amalfi zu bleiben und nicht nach Hause zu fahren. Sonst – und er sagt es heute lachend – hätte es ihn auch erwischt. In dieser Zeit lieferten viele Menschen durch falsche Anschuldigungen an die mordenden Paras aus.
Oscar Mejía überlegt, dann sagt er etwas bemerkenswertes: „Dabei habe ich vor der Guerilla eigentlich nie Angst gehabt. Mit denen konnte man reden.“ Unvergessen bleibt der Schrecken der Paramilitärs, wenn sie ins Dorf kamen. Der Pick-Up in scharfer Erinnerung: „Toyota, dunkelrot, Kennzeichen 619.“ Wen sie auf die Ladefläche zerrten, der betrat den „Weg in den Himmel“. Sie fuhren die Menschen aus dem Dorf, schnitten die Körper in Einzelteile und warfen sie in den nahegelegenen Rio Medellín. Das war eine Anordnung von Carlos Castaño. Nachdem die Menschen in der ersten Zeit noch offen im Dorf umgebracht wurden, wendeten sich mehrere alte Gefährt*innen an den Chef der mordenden Gruppe. „Carlos, kannst du nicht wenigstens dafür sorgen, dass das außerhalb des Dorfes stattfindet?“ Der Kommandant erfüllte diesen Gefallen.


„Wir haben in Amalfi eine besondere Gabe, zu vergessen.“

Das Morden wird zur Alltäglichkeit. Mejía wendet sich an Blandón: „Weißt du noch, als sie Limber, Camilo und die anderen beiden umgebracht haben? Da warfen sie die Leichen auf den Marktplatz und nebendran unterhielten sich die Leute weiter, als ob nichts passiert wäre.“ Auch die Soldaten stehen tatenlos daneben, als sie die Menschen auf die Pick-Ups laden. Mejía und Blandón erinnern sich an Namen, Tage, wie das Wetter war. Bei all dem, was sie den Menschen angetan haben: Wie steht man heute zu den Castaños? „Das waren gute Leute, fleißig, Leute vom Land“, da sind sich Mejía und Blandón einig, so wie die meisten in Amalfi. Es scheint, als hätte man sich stillschweigend darauf geeinigt. Natürlich haben sie schreckliche Sachen gemacht, aber… Und dieses „Aber“ ist groß geschrieben in Amalfi. Da gibt es den Schmerz über den Tod des Vaters. So wie die Macht des Geldes, die die Menschen eben schlechter macht. Und die falschen Freund*innen.

„Viele haben unter den Guerillas gelitten“, sagt Mejía. „Aber manche hatten eben das Geld, um sich zu wehren.“ So wie die Castaños. Für einige sind sie bis heute Helden. Die Capos kamen und luden auf Schnaps ein, 30 bis 40 Leute. „Mit denen konntest du dich gut hinsetzen und ein Bier trinken.“

„So sind die Paras Teil der Landschaft geworden“, sagt Omar Blandón und fügt an: „Die mussten sich hier nie entschuldigen.“ Sie waren eben da und wenn du nicht gehen wolltest, musstest du mit den Familien zusammenleben. Dazu kommt eine Neigung, dem Opfer eine Mitschuld zu geben. Manche wurden umgebracht, weil sie eben mit den falschen Leuten geredet hatte. Oder weil sie den Mund nicht halten konnte. Das nimmt die Täter erstmal aus der Schusslinie. „Die Leute hier sind sehr katholisch und hoffen, dass Gott eines Tages für Gerechtigkeit sorgen wird“, erklärt Mejía über seine Nachbarschaft. Diese Einigkeit unterstreichen die Amalfitanxs durch ein schwarzes Kreuz auf der Stirn. So leiten sie die „Semana Santa“, die heilige Zeit um Ostern, ein.

Ebenso einheitlich ist die Version der Geschichte, die in Amalfi heute laut ausgesprochen wird. „Die Castaños waren eine ehrenwerte Familie unseres Dorfes“, meint Mejía und erwähnt zum Beweis einen der Brüder, der unbehelligt auf seiner Finca lebte und sich aus dem bewaffneten Konflikt stets rausgehalten hatte. Vielleicht ist ein solches Geschichtsverständnis auch eine Notwendigkeit, um weiter die Dorfgemeinschaft aufrecht zu erhalten. Selbst im Krieg. Sonst ist es schwierig zu verstehen, warum heute in Amalfi die Menschen nach wie vor nett und aufgeschlossen wirken und die Türen der Häuser offen stehen. Es ermöglicht auch den Mitgliedern der Mörder*innenfamilien, in Ruhe zu leben. Ein Sohn von Carlos Castaño lebt nach wie vor im Dorf. Das Hostel am zentralen Platz gehört einer Tante. Die Supermärkte und weitere Geschäfte gehören Familienmitgliedern von „Don Mario“ und „El Alemán“. Und mit Federico Gil Jaramillo ist ein Familienmitglied der Castaños der wohl aussichtsreichste Kandidat für die nächsten Bürgermeister*innenwahlen. Ein Thema, über das sich nur mit leiser Stimme unterhalten wird – auch heute noch.

Als in diesen Tagen die in der Gegend präsente ELN einen „bewaffneten Streik“ angekündigt hat und eines Abends die Lichter in Amalfi ausgingen, da erschrak Omar Blandón – so wie einst, als die Lichter ausgeknipst wurden, damit die Menschen im Dunkeln aus ihren Häusern gezogen und auf den Pick-Up geladen wurden. Noch vor wenigen Jahren war die Gefahr real. Es ist um das Jahr 2010, als die verschiedenen paramilitärischen Gruppen sich in Kolumbien, um die verbliebenen Pfründe bekriegen. Auch in Amalfi. Hier ist es heute ruhiger geworden. „Es gibt nicht mehr viel Koka, auch kaum mehr Gold in den Minen“, erklärt Oscar Mejía die Gründe für den überraschenden Frieden. Denn in den Nachbargemeinden ist der Tod nach wie vor Alltag. So leistet sich Amalfi ein seltsames Schweigen. In vielen vom Konflikt betroffenen Dörfern gibt es heute Erinnerungsräume oder zumindest eine Wand mit den Fotos der Opfer, ein Buch, in dem die Erinnerungen festgehalten werden. In Amalfi gibt es von alledem nichts. Als der damalige Präsident Juan Manuel Santos 2016 den Friedensvertrag mit den FARC zur Volksabstimmung stellte, gewann in Amalfi das „Nein“. Bis heute ist es eine Hochburg der Anhänger*innen von Alvaro Uribe, jenem ultrarechten Ex-Präsidenten, der den Paramilitarismus in Kolumbien mit aufgebaut hat. „Wir haben in Amalfi eine besondere Gabe, zu vergessen“, meint Oscar Mejía.

Daniela wollte sich damit nie abfinden: „Ich habe weinend im Park gesessen, als das Nein-Ergebnis aus Amalfi kam“, erzählt sie und sagt trotzdem: „Aber die Guten hier sind in der Überzahl.“ Zumindest arbeitet die Sozialarbeiterin daran – mit einem kommunalen Filmfestival, das jedes Jahr stattfindet und das dabei helfen soll, ein anderes Amalfi zu kreieren.
Es wird noch Jahre dauern.

Nachtrag: Entgegen der Beteuerungen, dass die Zeit der Gewalt vorbei sei, werden zwei Wochen nach dem Besuch des Autors fünf Bergarbeiter in einem Teil Amalfis umgebracht. Die Umstände werden nicht aufgeklärt. Gerüchte sagen, dass die Mörder Mitglieder der paramilitärische Gruppe Clan del Golfo waren.

* Name geändert

 

DER FLUSS FLIESST NICHT

Kein Gold mehr Goldwäscher*innen verloren durch die Flut ihre Lebensgrundlage (Foto: Agencia Prensa Rural , CC BY-NC-ND 2.0)

Puerto Valdivia ist die letzte der vier Stationen unserer Reise. Hier sieht es aus, als hätte der Rio Cauca erst gestern das ganze Dorf überschwemmt und wirklich alle Häuser an der Uferstraße mehr oder weniger verwüstet. Der mitgeführte Sand liegt noch auf den Fußböden der Häuser und bildet Haufen mit zerborstenen Bettgestellen und anderen Möbeln. Kein Mensch lebt mehr hier. Puerto Valdivia gleicht einer tropischen Geisterstadt. „Wir stehen hier im hinteren Teil der Schule,“ erklärt uns Pedro, einer der Vertreter*innen der Vereinigung der traditionellen Goldwäscher*innen (Name von der Red. geändert), der uns durch sein Dorf führt. „Inzwischen sind seit der Überschwemmung sechs Monate vergangen, und die Schulbücher liegen immer noch genau so da.“ Offensichtlich war hier einmal eine kleine Terrasse oder ein Minischulhof. Inzwischen haben alle möglichen Schlingpflanzen die Oberhand gewonnen.

Außer den Aktivist*innen von Movimiento Rios Vivos Antioquia (MRVA) und ausländischen Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen, wie unsere Gruppe, kommt niemand hierher. Wir sind Vertreter*innen von Mitgliedsorganisationen des Netzwerks Zusammenarbeit für den Frieden (ECP). Einige unterstützen bereits seit mehreren Jahren lokale Basisorganisationen in ihrer Kritik an dem Staudammprojekt Hidroituango ca. 170 km nördlich von Medellín. Das Wasserkraftwerk soll eines Tages mit 2.400 Megawatt Stromproduktion 17 Prozent des kolumbianischen Stromverbrauchs liefern. Dazu wird der Cauca, der zweitgrößte Fluss Kolumbiens, auf 76 km Länge aufgestaut. Es ist nur logisch, dass dies mit enormen Auswirkungen auf Flora, Fauna, das lokale Klima und natürlich auch auf die in der Region lebenden Menschen verbunden ist. Nach Schätzungen des renommierten Anwält*innenkollektivs José Alvear Restrepo, das die Betroffenen des Staudammprojekts vertritt, sind ca. 150.000 Menschen direkt davon betroffen. Laut Plan sollte der gesamte Bau Ende 2018 fertiggestellt sein. Doch Ende April 2018 wurde durch einen Erdrutsch einer der Entlastungstunnel an der Staumauer verstopft und am Folgetag durch den Druck des sich aufstauenden Wassers wieder frei gespült. Eine riesige, unkontrollierte Flutwelle entstand und richtete auf ihrem Weg flussabwärts großen Schaden an. Sie riss eine Brücke mit sich, die Hütten der Goldwäscher*innen an beiden Ufern und zerstörte all ihre Habe: Möbel, Haushaltsgegenstände, die Nutzgärten, Boote und Werkzeuge. Auch die Hühner und andere Haustiere ertranken.

Viele Familien lebten im November 2018 noch in provisorischen Unterkünften, die meisten bei Verwandten oder weiter oberhalb auf den angrenzenden Hügeln. 37 Personen saßen immer noch in der Turnhalle von Ituango fest. Ihre Versorgung seitens der Behörden ist prekär. In Eigenarbeit haben sie eine Toilette errichtet und einen kleinen Nutzgarten angelegt, in dem sie Kräuter, Zwiebeln und Tomaten anbauen. Sie fühlen sich von den Behörden im Stich gelassen und sind im Ort mit ihrer Kritik am Staudammprojekt alles andere als wohlgelitten.
Die Zukunft der durch die Flutwelle obdachlos gewordenen Goldwäscher*innen aus Puerto Valdivia ist völlig ungeklärt. Das Betreiberunternehmen, die Stadtwerke von Medellín (EPM), hatte 2008 vor Beginn der Flutung des Stausees einen Zensus der potentiell Betroffenen durchgeführt. Die Kriterien des Zensus haben sie selbst festgelegt und dabei eine ungeklärte Zahl von Einzelpersonen und Familien unberücksichtigt gelassen. Darin liegt eine der aktuellen Schwierigkeiten, denn diese Familien sind jetzt von der Möglichkeit von Entschädigungen durch EPM ausgeschlossen. Die örtlichen Behörden hatten ihrerseits keinen eigenen Zensus über potentiell Betroffene des Staudammprojekts erhoben. Insgesamt sind die Melderegister in Kolumbien auch durch den jahrzehntelangen bewaffneten Konflikt und durch andauernde Vertreibungen lückenhaft und nicht aktualisiert. In Bezug auf das Staudammprojekt fallen nun diese nicht registrierten Personen durch alle Raster.

Der alltägliche Kampf ums Überleben macht die Entwicklung von Zukunftsperspektiven schwierig. Dennoch kristallisieren sich zwei Optionen heraus, die bei genauerem Blick mit ähnlichen Schwierigkeiten verbunden sind: Rückkehr an den ursprünglichen Ort oder Umsiedlung an etwas höher gelegene Orte. Insbesondere die ehemaligen Bewohner*innen von Puerto Valdivia, deren Häuser überflutet wurden, wollen nicht dorthin zurückkehren, sehen sich jedoch durch EPM dazu gedrängt. Mit ein paar Reparaturen an den Häusern wäre der Fall für das Unternehmen erledigt – so scheinen sie zu kalkulieren. Dabei wirken zumindest die Häuser an der Uferstraße nicht so, als würde eine Reparatur helfen, sondern eher, als müssten sie wieder ganz neu aufgebaut werden. Aber davon abgesehen, haben die Menschen Sorge, dass sich eine Flutwelle wie im Mai jederzeit wiederholen könnte – und auch Menschenleben kostet. An allen Häusern der Uferstraße ist ein kleiner Aufkleber zu finden: „KEINE RÜCKKEHR!“

Eine unkontrollierte Flutwelle entstand und richtete flussabwärts großen Schaden an

Die meisten wollen in höher gelegene Orte umgesiedelt werden. Dazu benötigen sie allerdings finanzielle und technische Unterstützung, um Fuß zu fassen und eine kleine Landwirtschaft aufzubauen oder die vorherige zu erweitern, so dass sie den Lebensunterhalt sichert. Andere konzentrieren ihre Forderungen und ihr Engagement auf eine Rückkehr zur vorherigen Situation. Dies beinhaltet notwendigerweise einen Rückbau beziehungsweise Abriss der Staumauer und keine Inbetriebnahme des Kraftwerks. Wie realistisch diese Option auch angesichts der enormen bereits getätigten Investitionen sein kann, ist schwer zu beurteilen. Und selbst wenn es einen Rückbau gäbe, bliebe unklar, ob ähnliche Lebensbedingungen der Flussanrainer*innen wieder hergestellt werden könnten.

Im Stausee wurden Fische ausgesetzt, allerdings schmecken sie nach verfaultem Holz

Viele Generationen lang bestand eine Besonderheit der Lebens- und Wirtschaftskultur der Region darin, dass die Familien über eine diversifizierte Einkommensstruktur verfügten. Das Goldwaschen und Fischen fand direkt am und im Fluss statt. Die meisten Familien etwas weiter oben in den Hügeln verfügen auch über ein Stück Land zur Selbstversorgung und über kleine Kaffeefelder. Mit diesen vier Pfeilern konnten sie ihren Lebensunterhalt ziemlich stabil sichern und Jahre mit schlechteren Ernten oder geringen Fischbeständen wirtschaftlich ausgleichen. Durch das Staudammprojekt wurden alle vier Einkommens- und Versorgungspfeiler gleichzeitig beeinträchtigt oder zunichte gemacht. Während bereits zuvor klar war, dass das Goldwaschen durch die Flutung des Stausees als Einkommensquelle wegfallen würde, war nicht vorherzusehen, dass auch die Subsistenzwirtschaft nicht mehr möglich sein würde. Denn die Flutung des Stausees hat auch eine Veränderung des Mikroklimas hervorgerufen, so dass weder die Kaffeeernte noch die Anpflanzungen zur Selbstversorgung gedeihen. Was den Fischfang betrifft, so wurden zwar im Stausee wieder Fische ausgesetzt, allerdings sind diese nach Angaben der Betroffenen ungenießbar, weil sie nach verfaultem Holz schmecken würden: vor der Flutung wäre die Biomasse nicht vollständig entfernt worden. Kurz- und mittelfristig benötigen die betroffenen Familien Unterstützung bei der Umsiedlung und dem Aufbau von stabilen Einkommensmöglichkeiten. Längerfristig ist aber überhaupt nicht klar, welche dies sein und wo sie entwickelt werden können. Beides hängt von politischen Entscheidungen rund um das Staudammprojekt ab.

Überschwemmtes Haus am Fluss  Zahlreiche Anwohner*innen wurden obdachlos (Foto: Christiane Schwarz)

So zeigt sich am Ende der Reise ein düsteres Bild: Hauptsächlich bleiben die Unsicherheiten und Fragezeichen bestehen. Seriöse Prognosen können nicht abgegeben werden. Wird das Kraftwerk in Betrieb genommen und wenn ja, wann? Kann ausreichende Sicherheit gewährleistet werden, so dass es die Familien wagen, nach Puerto Valdivia und an die Flussufer zurückzukehren? Wie entwickelt sich das Mikroklima in den kommenden Jahren im Bereich des Stausees? Ermöglicht es stabile Ernten für Kaffee und Subsistenzwirtschaft? Natürlich gibt es in der Region auch Menschen, die sich neue wirtschaftliche Möglichkeiten durch den Staudamm und größeren Wohlstand für die schwer zugängliche Region erhoffen. Das Betreiberunternehmen rührt die Werbetrommel in diesem Sinne. Auf den ersten beiden Stationen unserer Reise, Toledo und Sabanalarga, konnten wir uns davon ein Bild machen. Als Sponsor der Dorffeste war EPM dort auf Plakaten, Schirmen und in den Getränkebuden omnipräsent. Das MRVA zeigt Anfeindungen und Bedrohungen ihrer Mitglieder immer wieder bei den Behörden an und macht sie auch international bekannt. Im Jahr 2018 wurden bislang die meisten Bedrohungen verzeichnet. Zwischen Januar und dem 10. Dezember 2018 verzeichnet MRVA 108 Aggressionen gegen Kritiker*innen des Staudammprojekts, darunter Bedrohungen, Stigmatisierungen, physische Verfolgung, illegale Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Die Aussichten für 2019 sind leider nicht besser. Anfang Februar wurden die Schleusentore in der Staumauer geschlossen, so dass kurzfristig der Wasserpegel flussabwärts stark abfiel. In der Folge sind unzählige Fische verendet. Der Kampf der Menschen um ihre Lebensgrundlage, den Cauca Fluss, und gegen das Wasserkraftwerk wird 2019 weitergehen.

 

NICARAGUA IST EIN RIESIGES HAUS

Te quiero mucho Essen für den inhaftierten Ehemann (Foto: Fred Ramos/Elfaro.net)

„Siehst du, Reisender, seine Tür ist offen, das ganze Land ist ein riesiges Haus. Nein, du hast nicht den falschen Flughafen erwischt: Steig einfach ein, du bist in Nicaragua.“
Julio Cortázar, 1980.

Im Haus der Familie Valle steht seit dem 14. Juli ein Stuhl leer. Und es ist nicht immer derselbe. Das Haus der Familie Valle in Managua ist ein Gefängnis, in dem eine Mutter, ihre beiden Töchter und ihr Sohn auf die Polizei warten, die eines Tages die Tür aufbrechen und sie verschleppen könnte, wie sie es bereits mit Hunderten getan hat. Sie wollen nicht weg. Das können sie nicht. Nicht, solange der Vater noch im Gefängnis El Chipote eingesperrt ist. Jemand muss ihm Essen bringen und ihn am Dienstag daran erinnern, dass er nicht allein ist, auch wenn es nur eine halbe Stunde ist. Dass sie immer noch da sind. Gemeinsam im Kampf gegen die Diktatur von Daniel Ortega und Rosario Murillo. Rebeca Montenegro, die Mutter, steht immer zuerst auf. Nachdem sie sich gewaschen und ihren Kaffee getrunken hat, legt sie Holzkohle auf den Herd. Das Rindfleisch wird solange gekocht, bis es schwarz wird, ein wenig hart. Rebeca kocht für ihren Mann, Carlos Valle, der seit mehr als hundert Tagen im Gefängnis sitzt, ohne dass gegen ihn Anklage erhoben worden ist.

Zum Mittagessen bereitet sie das Fleisch, den Reis, die Bohnen und Bananenchips und eine Flasche gefrorenes Wasser zu. Carlos wird etwas Gerste hinzufügen, um daraus Limonade zu machen. Die beiden Durapax-Schalen sind zum Platzen gefüllt. Sie schreibt den Namen ihres Mannes mit einem schwarzen Marker darauf. Unter dem Namen, drei Buchstaben: T.Q.M. – Te quiero mucho, auf Deutsch: Ich liebe dich sehr.
Rebeca ist bereit für ihre tägliche Pilgerreise in das dunkelste Gefängnis des Landes. Mit ihren 44 Jahren ist sie eine markante Erscheinung. Sie ist groß und stark. Aufrechte Haltung. Sie verabschiedet sich von ihrem Sohn David, 22 Jahre alt, bedächtig und langsam, groß und bärtig, und von ihren Töchtern: von der robusten Elsa, 19 Jahre alt und von der 16-jährigen Rebeca, schwarz gekleidet und schweigsam.

Rebeca kocht für ihren Mann, Carlos Valle, der seit mehr als hundert Tagen im Gefängnis sitzt 

Es wäre nicht das erste Mal, dass ihr Mann für eine Weile ohne Essen bleibt. Das bescheidene, aber gut organisierte Haus strahlt Festigkeit und Entschlossenheit aus, aber auch Traurigkeit, Erschöpfung, anhaltende Spannung und beständigen Konsum von Fernsehserien auf dem Sofa. Gerade ist das zehnte Kapitel der fünften Staffel von den Wikingern dran.Das Taxi, klapprig und von mehreren zugleich benutzt, weil es billiger ist. Keiner redet während der Fahrt. Jeder weiß es. Als sie ihren Kopf durch das Fenster schiebt und nach dem Preis fragt, sagt sie, wohin sie fahren wolle. Um nach El Chipote zu gelangen, muss man Luft holen und Mut haben. Das Gefängnis so mancher Diktaturen in Nicaragua wirft seit fast 90 Jahren seinen Schatten auf das an der Loma de Tiscapa gelegene Land, nahe dem Zentrum von Managua. Es befindet sich am Ende eines steilen Abhangs. Durchflutet von einem Wärmestrahl. Ein Dutzend Männer sitzt auf einer kleinen Mauer. In den Händen halten sie Holz- und Metallstangen. Als Rebeca an ihnen vorbeigeht, beladen und erschöpft, schlagen sie mit den Stangen auf den Boden. Klopf, klopf, klopf, klopf. Sie starren sie an – Verfolger. Vor dem Tor, Stille und Unbehagen.

Während des Wartens nähern sich die Frauen nacheinander und klammern sich an Taschen und Ordner voller Papiere. Ohne auf die Gitter und die Polizisten zu blicken, murmeln sie den Namen ihres Familienmitglieds und die Dauer seiner Inhaftierung. Ein Monat, drei Monate, sieben Monate. Diejenigen, die hier in dem Loch der willkürlichen Inhaftierung eingesperrt sind, wissen nicht, wessen sie beschuldigt werden. Es gibt keine Anklage gegen sie, sagen sie, noch wurden sie in vielen Fällen einem Richter vorgeführt. Die Polizei öffnet das Tor. Ohne ein Wort zu wechseln, fast ohne aufzublicken, nennt Rebeca den Namen des Gefangenen, Carlos Valle, übergibt die Taschen, zeigt ihren Ausweis, unterschreibt und muss wieder gehen. Wie alle anderen auch.

Alle drei Kinder waren alle schon in demselben Gefängnis inhaftiert wie ihr Vater

Von innen kommt ein offener Pick-Up mit quietschenden Reifen. Drei vermummte Polizisten, die sich an ihre Waffen klammern, nehmen einen Mann in Handschellen mit. Eine der Frauen erkennt ihre Mutter in der Kabine. Sie wird aufgeregt. Sie weint. Sie ruft: „Mama! Wo bringt ihr sie hin?“ Die anderen antworten. „Lauf, lauf, geh ein Taxi rufen, geh zum Gericht, da kannst du sie sicher sehen.“ Sie läuft allein bergab. Später werden wir erfahren, dass das Treffen mit einem Gefangenen im Gerichtsgebäude dazu führen kann, dass die ganze Familie in El Chipote landet. Auch für Rebecas Leben hat die Inhaftierung ihres Mannes Konsequenzen. Als Anwältin und Notarin wurde sie von ihrem Job in der Verwaltung entlassen, nachdem sie 16 Jahre lang auf dem Gebiet der technischen Ausbildung von Studenten gearbeitet hatte. Sie wurde geschlagen.

Die Familie Valle zahlt so ihr Leidensgeld für die Teilnahme am blau-weißen Aufstand gegen das Regime von Daniel Ortega und Rosario Murillo. Seit Beginn der Rebellion am 18. April 2018 gab es mehr als 300 Tote und mehr als 600 politische Gefangene. Tausende von Menschen sind ins Exil ins Ausland geflohen oder haben sich überall im Land in sicheren Häusern versteckt. Eine Zeitung, Confidencial, und zwei Fernsehsender, Esta Semana und 100% Noticias wurden verboten. Die übrigen kritischen Medien und ihre Journalist*innen sind bereit, den gleichen Weg zu gehen – Gefängnis oder Exil. Fast alle nicaraguanischen Nichtregierungsorganisationen, die gekämpft haben, wurden geschlossen; internationale Menschenrechtsorganisationen, die angeprangert haben, was in Nicaragua geschieht, wurden aus dem Land ausgewiesen. Familie Valle ist ein Opfer dessen, was die von der Organisation Amerikanischer Staaten eingesetzte Gruppe unabhängiger Expert*innen in ihrem Bericht über die Ereignisse in Nicaragua als von der Regierung begangene „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnet hat. Menschen wurden ermordet, verfolgt, willkürlich inhaftiert, beschuldigt, geschlagen, in irgendeiner Weise gefoltert, gedemütigt, bedroht und mit Entlassung von ihren Arbeitsplätzen für ihr politisches Engagement bestraft. Wie fast alle nicaraguanischen Geschichten ist die politische Geschichte von Carlos Valle ein Kreislauf des Kampfes gegen die Diktatur, der sich in sich schließt. Sie beginnt während der Diktatur von Anastasio Somoza in den 1970er Jahren und setzt sich während der Diktatur von Daniel Ortega und Rosario Murillo, fast ein halbes Jahrhundert später, fort. Das Gefängnis El Chipote ist der rote Faden, der Nicaragua während seiner Diktaturen verbindet. Die Zeit vergeht und die Unterdrückung wiederholt sich. In Nicaragua gibt es heute mehr politische Gefangene als am Ende der Somoza-Diktatur.

Nicht vollständig Ein leerer Stuhl am Tisch der Familie Valle (Foto: Fred Ramos, Elfaro.net)
Das Leben ihres Mannes Carlos und die Politik seien eins, sagt Rebeca. Als er 16 Jahre alt war, sei er von zu Hause weggelaufen. Er war Mitglied der sandinistischen Guerilla. Er hat immer noch seinen rechten Arm voller Scharniere. Nach dem Sieg der Revolution arbeitete er im Bereich der Grundnahrungsmittel und der Lebensmittelverteilung. Er sei enttäuscht gewesen, erzählt Rebeca, von der Kluft zwischen dem Sozialismus in Worten und dem in Taten. Irgendwann ging er ins Exil und kehrte als Mitglied der Konstitutionalistischen Liberalen Partei, deren Stadtrat er von 2001 bis 2007 in Managua war, nach Nicaragua zurück. Dann arbeitete er als Baseball-Reporter für den Radiosender Corporación und fuhr sogar Taxi. Das Autowrack liegt noch im Innenhof des Hauses. „Mein Vater hat uns immer beigebracht, für das zu kämpfen, woran wir glauben“, sagt David. „So sind wir mit klarer Entschlossenheit zum Protest gekommen. Das nimmt einem die Angst nicht, aber man fühlt sich dem Kampf verbunden.“ Carlos Valle wurde am 15. September 2018 auf der Straße verhaftet. Er kehrte nach einem Protestmarsch mit seiner Frau, seiner jüngsten Tochter und dem Sohn nach Hause zurück. Sie trugen ein Banner, auf dem sie die Freilassung der 19-jährigen Elsa forderten, der mittleren Tochter. Seit zwei Monaten war sie da schon im Gefängnis.In der Nähe des Marktes Roberto Huembes seien sie von einem Mann auf einem Motorrad angesprochen worden, erzählt Rebeca. „Danke Gott, dass deine Tochter nicht getötet oder in einem Kanal vergewaltigt wurde“, habe der Mann auf dem Motorrad gesagt. „Wir Nicaraguaner haben Blut in den Adern und kein Gelee“, erklärt Rebeca, also versetzte Carlos ihm einen Schlag auf den Helm. Rückblickend glaubt Rebeca, dass es eine Falle war: Jemand sollte Carlos provozieren, um somit einen Grund zur Verhaftung zu schaffen.

Einige Blocks später sei eine Patrouille aufgetaucht: Ein halbes Dutzend Polizist*innen und ein paar Männer in Zivil. Carlos habe das Telefon und die Brieftasche weggeworfen und versucht zu fliehen, erzählt Rebeca, schaffte es aber nicht. Die 16-jährige gleichnamige Tochter Rebeca erzählt, dass sie einzugreifen versuchte. „Ich begann, die Polizisten zu schlagen, und sie schlugen mir gnadenlos ins Gesicht und schoben mich weg“, sagt sie. Mutter und Vater wurden mitgenommen, sie selbst blieb zurück, den Bruder David hatte sie aus den Augen verloren. Carlos wurde auf die Ladefläche des Trucks geworfen. „Ich habe mit den Polizisten gerangelt, bis ich nicht mehr konnte“, sagt Rebeca, die Mutter. „Ich bin hochgestiegen. Ein Polizist, der über meinem Mann war, richtete die AK (Maschinengewehr) auf ihn. ‚Erschieß ihn‘, sage ich, ‚ich werde dich bis in die Ewigkeit verfolgen.‘“ Als sie an der Polizeistation 5 ankamen, wurde Rebeca getreten und weggezerrt. „Der Mund meines Mannes war voller Blut.” Während der Verhaftung, erzählt David, habe er sich eine Nummer auf dem Fahrzeug gemerkt, mit dem seine Eltern weggebracht wurden: Distrikt Fünf. Da sei er hingegangen. Und dann ebenfalls verhaftet worden. Vater und Sohn wurden dann nach El Chipote geschickt. Sie wurden beide auf der Ladefläche eines Lieferwagens abgelegt. Acht Stunden habe ein kollektives Verhör gedauert, erzählt David. Man habe sie beleidigt, Dinge gesagt wie: „Ihr Hunde werdet sterben.“ Am Ende konnte David nichts angelastet werden. Sein Vater, Carlos, blieb in El Chipote.

Die Kinder von Carlos Valle dürfen ihn nicht besuchen

Eine ungeschriebene, aber praktizierte Regel besagt: Niemand, der jemals Gefangene*r in El Chipote war, darf einen Gefangenen in El Chipote besuchen. Alle drei Kinder von Carlos Valle waren bereits in El Chipote. Zuerst Elsa, als Verantwortliche der Lebensmittelversorgung der Studierendenproteste. Sie war beim Mittagessen im Haus einer Freundin. „Die Polizei öffnete gewaltsam das Tor. Wir wurden von den Spitzeln in der Nachbarschaft denunziert, die uns hereinkommen gesehen hatten. Nach einer Fehlgeburt im Gefängnis und einer Inhaftierung unter üblen Bedingungen ist Elsa Ende September schließlich frei gekommen. Im November machen die Schwestern Elsa und Rebeca den Fehler, an ein Gerücht zu glauben. Jemand sagte ihnen, dass ihr Vater vor Gericht kommen würde. Sie zögerten keine Sekunde. Sie nahmen im Gerichtssaal Platz. Allein. Mit einem Plakat. Sie gaben mehrere Interviews, während sie auf das Fahrzeug warteten, das ihren Vater bringen würde. Es kam nie. Stattdessen kamen zwei Patrouillen mit einem Dutzend Polizist*innen darin. Sie nahmen sie fest wegen der Interviews. Die Journalist*innen entfernten sich. Elsa hat darüber nachgedacht, das Land zu verlassen.

Tausende sind nach Costa Rica geflohen. Fast alle ihre Compañerxs aus der UPOLI-Besetzung sind dort. Sie hat es einmal versucht. Sie hatte Angst, heimlich über die Grenze zu gehen. Wieder ins Gefängnis zu kommen, wenn sie verhaftet würde. Sie zieht das Haus vor, auch wenn es irgendwie auch ein Gefängnis ist.„Ich bin zu allem bereit. Wenn du zu den Waffen greifen musst, mach ich das“, sagt die Mutter. David widerspricht ihr. „Wir haben in so kurzer Zeit so viel erreicht, dass wir mit Waffen nicht weiter kommen werden. Du musst standhaft bleiben und warten“, sagt er. Er spielt mit seinem Handy. Auf der Hülle ist eine Pistole abgebildet. „Wenn wir Waffen hätten, würde diese Regierung nicht einmal zwei Wochen weiter bestehen”, sagt die Mutter hartnäckig, und bringt eine Tatsache zur Sprache, auf die David nicht besonders stolz ist. Das Taxi im Innenhof. Das kaputte Taxi. David hat es zertrümmert. Die Spannung, eingeschlossen zu sein. Die Erinnerung an die toten Compañerxs. Der Groll. Der Stress. Die allseits gegenwärtige Gewalt berührt jeden und gibt einem Monster Gestalt, das jeder zähmt und so handhabt, wie er kann.

 

SCHWEIGEN IM CHOCÓ

Paramilitär? Armeesoldat? Wer unter der Uniform steckt, ist oft unklar (Foto: Jonas Ruhs)

Auf der Fahrt in den Chocó, dorthin, wo Krieg herrscht, während die Medien vom Frieden reden. Hier, wo einst die FARC waren, locken illegale Minen und die strategische Lage für den Drogenschmuggel bewaffnete Gruppen an. Holz und Gold rufen internationale Unternehmen auf den Plan. Staatliche Institutionen sind kein Garant für die Sicherheit der Bevölkerung. Vor Ort haben die Bewaffneten ihre Augen und Ohren überall. Für meine Reise gibt es eine Bedingung: Keine Fragen zum Konflikt stellen. Nichts, was nur annähernd auf ein Interesse an den Machtkonstellationen vor Ort schließen lässt.

Es ist Nacht, der Bus fährt Richtung Quibdó, Hauptstadt des Chocó, als die Straßen schlechter werden. Kein Asphalt mehr, stattdessen schlammige Erde, dazu ein Slalom durch große Steinbrocken, die von den Hängen abgebrochen sind. Dann taucht auf der linken Straßenseite ein Baustellenschild auf, auf dem groß „ELN“ geschrieben steht. Eintritt in den Machtbereich der Guerilla.

Die Einschüchterung des freien Denkens, des Hinterfragens, des Politischen.

Wer die einst sozialistische ELN heute ist und was sie will, ist von außen schwer zu sagen, inwieweit aus „der Finanzierung für den bewaffneten Kampf“ zunehmend der „bewaffnete Kampf für die eigene Finanzierung“ wurde. Die ELN lebt von Entführungen, Erpressung, aber wohl auch von Drogenhandel. Wo die ELN ist, hat sie das Sagen. Klaut jemand oder geht seiner Frau fremd, klopft am nächsten Tag schonmal ein „Eleno“ an die Tür und spricht die letzte Warnung aus. Wer sich in irgendeiner Art und Weise verdächtig macht, sich gegen die Guerilla zu stellen, der oder die schwebt in Lebensgefahr. Die soziale Kontrolle des gesellschaftlichen Lebens durch die Angst vor der Waffe ist das Ziel jeglicher bewaffneter Gruppen in Kolumbien. Dadurch wird das Machtmonopol auf kleiner Ebene gesichert.

Der Bus quält sich weiter durch die Nacht. Im Morgengrauen wird sichtbar, wie viele Indigene sich in der Nähe der Landstraße angesiedelt­*­haben.­­ Es sind Embera, die eigentlich weiter im Landesinneren leben und vertrieben wurden. Erst im Oktober 2017 hatte die ELN einen indigenen Anführer umgebracht.

Der Chocó ist eine multiethnische Region, die hauptsächlich von Afrokolumbianer*innen und Indigenen geprägt ist, wobei die Afrokolumbianer*innen in der großen Mehrzahl sind. Überhaupt ließe sich auch abseits des Kriegs viel über den Chocó erzählen. Zum Beispiel dass Indigene und Afrokolumbianer*innen stets friedlich koexistiert haben – und doch weitestgehend separat. Dass die Region eine einzigartige Natur hat: Der Chocó ist von dichtem Regenwald geprägt und es gibt kaum Straßen.

“Wenn du unseren Schutz nicht haben willst, ist das deine Entscheidung.”

Drei große Flüsse, der Rio Baudó, der Rio Atrato und der Rio San Juan, sind die Hauptverkehrsadern, an deren Rändern die Dörfer liegen. Das Departamento, das die Region mit der höchsten Niederschlagsrate weltweit ist, hat gerade einmal 440.000 Einwohner. Die Erde ist reich an Bodenschätzen, unter anderem Gold, begehrt ist auch das Holz des Regenwaldes. Seit den 80er-Jahren ist der Chocó in den Fokus der bewaffneten Gruppen gelangt. Unvergessen bleibt das Massaker von Bojayá, als sich 2002 die FARC eine Schlacht mit den Paramilitärs der AUC (Autodefensas Unidas de Colombia) lieferten und sich die Dorfbewohner*innen in die Kirche flüchteten, darunter viele Schwangere und Kinder. Dann verirrte sich eine Zylinderbombe der FARC und schlug durch das Dach im Altar der Kirche ein und zerriss die Körper von mehr als 100 Menschen. Ihnen ist ein eigener Bereich in einer Kapelle in Quibdó gewidmet. Eine Opferchronik führt Foto, Datum, Ort und Mörder der Opfer des Kriegs seit den 80ern bis 2013 auf.

Wohin führt der Weg im Chocó? Holzhäuser auf Stelzen in einem von Paramilitärs kontrollierten Dorf (Foto: Jonas Ruhs)

Viele Menschen ließen ihr Leben bei Massakern von Paramilitärs, Guerilla und Armee, dazu kommen die vielen Einzelermordungen. Vor allem diese hinterlassen ihre Spuren in den Köpfen der Menschen. Es geht darum, nicht der oder die nächste zu sein – und so mit der Familie so weit wie möglich in Frieden zu leben – mitten im Krieg. Das Mittel: Keine Fragen stellen, wegschauen, weiter eben. Denn der Kampf der bewaffneten Gruppen ist auch ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung. Die Einschüchterung des freien Denkens, des Hinterfragens, des Politischen.

Auch Johns* Mutter, in deren Haus ich unterkomme, sagt: „Rede hier mit niemandem.“ Das Credo einer Frau, die den Krieg in der eigenen Familie erlebt hat. Später erzählt John von einem Cousin, der von der ELN angeworben wurde und sich mit der Waffe in der Hand veränderte. So weit, dass er eine Todesliste erstellte, auf der auch Johns Vater stand, den der Cousin an einem abgelegenen Ort außerhalb des Dorfes umbringen wollte, weil dieser ihm ein Boot nicht geliehen hatte. Noch bevor der Cousin seine Pläne in die Tat umsetzen konnte, bemerkten andere Guerilleros die Pläne des außer Kontrolle geratenen Compañeros und erschossen ihn. Nicht selten geht der Riss des Konflikts durch einzelne Familien.

John fällt es schwer, darüber zu reden, und trotzdem sagt er, solle ich ihm jetzt alle Fragen stellen, bevor ich lieber schweige, denn wir bewegen uns in diesen Tagen im Gebiet der Paramilitärs. Wenn jemand mitbekommt, dass John in Begleitung eines Deutschen ist, der kritische Fragen stellt, könnte das heftige Konsequenzen für John haben. Und du weißt nie, wer mit wem redet.

John sagt, dass einst die FARC die unangefochtene Macht waren. Dann übernahmen die AUC, die Paramilitärs, die in der Folge zwar offiziell entwaffnet wurden, doch unter neuen Namen weiterhin Präsenz zeigten. Verschiedene Splittergruppen der AUC kämpften um die Vorherrschaft im Chocó, letztlich vereinigten sich die letzten rivalisierenden Gruppen zu den Autodefensas Gaitanistas de Colombia (AGC), die sich im Namen verwirrenderweise auf den linksliberalen Politiker Jorge Elicier Gaitan beziehen und seitdem die Vorherrschaft haben.

John erzählt, dass in all den Jahren der schlimmste Kommandant „alias Pinillo“ gewesen sei. Dieser habe ohne Vorwarnung getötet. Gefiel ihm ein Mädchen, musste dieses sich fügen oder wurde erschossen. Wusste man, dass Pinillo nur in der Nähe war, sei den Menschen der Schauer den Rücken hinuntergelaufen. Vor acht Jahren wurde Pinillo dann von eigenen Leuten umgebracht. Diese schnitten ihm Körperteil für Körperteil ab und streuten Salz und Zitronen in die Wunden. Ich frage John, ob er mir den Namen von Pinillo aufschreiben kann. Er zögert, nimmt den Stift erst nicht an, dann schreibt er. In seinen Augen die Angst vor einem Mann, der schon seit acht Jahren tot ist.

Unter ständiger Beobachtung Kindheit und Maschinengewähr (Foto: Jonas Ruhs)

Und von welcher Gruppe war Pinillo? John überlegt: von den FARC. Ein Freund korrigiert ihn: Nein, der war von den AUC (Autodefensas Unidas de Colombia), den Paramilitärs. „Die bewaffneten Gruppen sind alle gleich“, ruft Johns Mutter eine ihrer Konfliktweisheiten.

Dann lerne ich Gloria Luna Rivilla kennen, die keine Angst hat zu reden. Die Aktivistin hat gelockte graue Haare, Ohrringe mit rotem Edelstein und eine breite Brille. Sie war in der linken Studierendenbewegung aktiv, wurde für ihre Aktivitäten von mehreren Unis geworfen und arbeitete schließlich doch als Professorin für Geschichte. Sie erzählt, dass in Quibdó viele Busse nicht mehr fahren, da die Schutzgeldforderungen der bewaffneten Gruppen einfach zu hoch geworden seien. „Besonders Frauen sind von der Gewalt betroffen.“ In der gerade einmal 115.000 Einwohner zählenden Stadt gab es 2017 neun Feminizide.

Mit am Tisch sitzt ein junger Mann, der von einer weiteren Facette des lokalen Konflikts berichten kann. Eines Tages bat ihn das staatliche Militär nach einer Ausweiskontrolle, in einen Transporter zu steigen. Zwei Stunden außerhalb der Stadt wurde ihm eine Uniform in die Hand gedrückt, mit der Forderung, er habe nun zwei Jahre zu dienen. Zwangsrekrutierung von staatlichen Sicherheitskräften.

Dann fahre ich weiter, weg aus der Hauptstadt Quibdó. Auf der Strecke mehren sich die Militärposten und Polizeistationen. Am Eingang jedes größeren Dorfes stehen Sandsatzbunker, in denen sich die Soldaten verschanzen können. Immer wieder passieren wir Polizisten oder Soldaten mit Maschinengewehren. An den Häusern der Dörfer steht groß „AGC“ geschrieben, Reviermarkierungen, die Abkürzung der Gaitanistas, der paramilitärischen Gruppe. Diese wird von der Regierung „Clan del Golfo“ genannt, weil ihr der politische Charakter offiziell aberkannt und sie als reines Drogenkartell eingestuft wird. Nach der Entwaffnung des paramilitärischen Dachverbands AUC 2004 unter Ex-Präsident Alvaro Uribe, der selbst wegen seinen vielfältigen Beziehungen zu Paramilitärs in der Kritik steht, haben sich verschiedenste neue paramilitärische Gruppen mit dem alten Personal gebildet. Im Chocó waren es vor allem die Aguilas Negras und die Rastrojos, die sich Auseinandersetzungen lieferten.

Quelle des Lebens Zwei Kinder wenden ihr Boot (Foto: Jonas Ruhs)

Daniel, der immer wieder in verschiedensten Dörfern gearbeitet hat, erzählt, dass er 2011 ein Jahr nicht mehr in die Dörfer konnte, weil die Kämpfe zu brutal geworden waren. Jeder Mensch, der ein Handy besaß, lief Gefahr, als Informant der anderen Gruppe denunziert und umgebracht zu werden. Später schlossen sich die Gruppen den Gaitanistas an; diese haben ihre Uniformen, Waffen und Schlafplätze in ihren Camps, irgendwo im Dschungel. Sie sind unsichtbarer geworden, es gibt ein politisches Interesse, nicht allzu viel Präsenz zu zeigen. Und doch wissen alle, dass sie da sind.

Auch die Soldaten der kolumbianischen Armee, die ich treffe. Ungefragt plaudert einer: „Wir sind hier im absoluten Kriegsgebiet. Mehrere meiner Kameraden sind ermordet worden, von der Guerilla, das sind die schlimmsten. Mit den Gaitanistas kann man zusammenarbeiten, die lassen die Zivilbevölkerung weitestgehend in Ruhe.“

In den Machtzentren des Landes, wo Medien und Politik sitzen, wird derweil ein Konflikt zwischen AGC und Armee inszeniert. Immer wieder machen die Meldungen von der Ergreifung von Clanchefs die Runde. Nun erklärte die AGC offiziell ihre Bereitschaft, in Friedensverhandlungen zu treten.

Im Chocó kommen Zweifel an dieser Version auf. Die parallele Präsenz von Militär und AGC in den Dörfern ist auffällig. Könnte es sein, dass sich eine Tradition des kolumbianischen Konflikts fortsetzt, dass der Staat die Paramilitärs im Kampf gegen die Guerilla vorschickt und dann, wenn die „Drecksarbeit“ gemacht ist, nachrückt und die Paramilitärs dafür im Anschluss weitestgehend unbehelligt ihren Geschäften nachgehen lässt? Es ist noch schlimmer: „Wenn die Gaitanistas hier jemanden aus dem Dorf holen wollen, dann tun sie das, da kann die Armee nichts gegen machen“, sagt Valentina*, die hier wohnt. Valentinas Vater ist politisch aktiv in der Region, schon mehrfach wurde er von paramilitärischen Gruppen entführt. Valentina ist erstaunlich ruhig, wenn sie vom Krieg erzählt. Trotzdem wird ihre Stimme etwas leiser, als sie beschreibt, wie vor wenigen Monaten die AGC in die Gebiete der ELN vorrückten, es zu Gefechten kam, bei denen die AGC schwere Verluste erlitten und sich wieder in ihre Gebiete zurückzogen.

Am Wasser gebaut Am Tag werden Bananen, abends Drogen verschifft (Foto: Jonas Ruhs)

Selbst wer wegschauen möchte, den holt der Konflikt im Alltag immer wieder ein. So tanze ich am Abend in einer Dorfdisco mit einer Freundin, die daraufhin von einem anderen Mann zum Tanzen aufgefordert wird. Der Mann ist ein Paramilitär. Die bewaffneten Akteure sind Teil des Dorfes: „Menschen, die zum Beispiel keine ande

re Wahl hatten zum Beispiel unter Geldnot litten, als sie sich einer Gruppe anschlossen“, hatte Daniel erklärt. Oft stellen sich Dorfgemeinschaften gegenüber dem Staat sogar schützend vor die Kämpfer.

Man arrangiert sich, soweit es die Angst und der Schmerz zulassen. So entsteht ein Geflecht aus internalisierten Regeln, die einem ein möglichst ruhiges Überleben sichern. Schwierig wird es, wenn Menschen von außerhalb kommen, die diese Regeln nicht kennen. Als ich ein Foto eines Mannes machte, der mir beim Ausladen des Jeeps half, wurde er nervös und drängte, das Foto sofort zu löschen. Später erfahre ich, dass er ein mit Haftbefehl belegter Paramilitär ist. Die Alltäglichkeit des Kriegs begegnet uns auch an einem anderen Abend: Über die meiste Zeit begleitete uns eine Gruppe Soldaten, deren Leutnant mich eines Abends bittet, mich in einem Video bei der Armee zu bedanken. Ich will das nicht. „Wenn du unseren Schutz nicht haben willst, ist das deine Entscheidung“, entgegnet der Leutnant. Ab jenem Moment sehe ich die Soldaten nicht wieder. Staatlicher Schutz nur mit Gegenleistung.

Stattdessen sehe ich am nächsten Morgen schon von weitem, wie mir zwei bewaffnete Männer entgegenkommen – ohne Uniform. Meine Knie werden weicher, ich schaue gerade aus und gehe an ihnen vorbei. Ich erzähle John davon, er wird nervös, sagt, das müssten dann die Gaitanistas gewesen sein. Valentina, die die Männer ebenfalls gesehen hatte, beruhigt uns am Abend: Das waren bloß Marinesoldaten, die sich ihre Uniform noch nicht angelegt hatten.

Während die Waffe mich in diesem Moment nur erschreckt, hat sie Cristians Familie zerstört. Ich lerne Cristian* kennen, als er mir erzählt, dass er zwölf Jahre alt ist und gerne Schnaps trinkt. Schnaps und Frauen, davon redet er gerne. Doch als wir auf einem Holzsteg sitzen und die Beine hinunterbaumeln lassen, erzählt er, dass er vor drei Jahren aus seinem Dorf fliehen musste. Die ELN hatte seinen Vater zerstückelt – vor seinen Augen. Bis heute hat er Alpträume. Er macht nun Gelegenheitsarbeiten, wohnt bei einem Onkel, schlägt sich durch. Menschen mit Geschichten wie Cristian – und ich schäme mich in diesem Moment für diesen Gedanken – sind gefundenes Fressen für die Agitatoren der Paramilitärs, die oft junge Menschen rekrutieren, die sie früh prägen können.

Davon erzählt Esildo Pacheco, 65 Jahre alt, graue Augenbrauen, grauer Oberlippenbart, ein Hemd in verschiedensten Rottönen, dazu seine hervorstehenden großen Augen. Wir sitzen an einem Restauranttisch, von dem er die Eingangstür beobachten kann. Pacheco hat viele Regionen gesehen und viel Geld verdient in den verschie­densten Firmen. Doch das Prägendste seiner Biographie ist sein politischer Kampf – innerhalb eines bewaffneten Konflikts, aber stets ohne Waffen. Pacheco war Teil der afro­kolumbia­nischen Bewegung, die mühsam die Anerkennung der Afrokolumbianer*innen und deren Rechte in der Verfassung von 1991 erkämpfte. Später besuchte er als Berater der afrokolumbianischen Gemeinden in Kolumbien alle Afro-Dörfer des Landes.

Ohne Angst, mit Schutzengel Esildo Pacheco in Quibdó (Foto:Jonas Ruhs)

Im Baudó hat er sich immer eingemischt. Als Teil einer Bürger*innenbewegung wurde er 1997 mit 71 Prozent der Stimmen zum Bürgermeister gewählt. Die paramilitärischen Gruppen ließen sich das nicht gefallen, die Morddrohungen an Pacheco nahmen zu.

Eines Tages saß er in der Kirche in Quibdó, als er erfuhr, dass die Auftragskiller schon auf dem Weg zu ihm waren. Er floh in die Schweiz. Zeit, um durchzuatmen. Pacheco hat mehrere Male eine Pistole an den Kopf gehalten bekommen, einmal sogar in den Mund. Sowohl Chefs der Paramilitärs als auch der Guerilla sagte er bereits „Dann erschieß mich doch“, und jeweils taten sie es nicht, aus Respekt vor dem Mann, den scheinbar ein Schutzengel begleitete. 1986 wurde er für 15 Tage von der Guerilla entführt, dann wieder freigelassen. Pacheco kennt die Männer, die in den vergangenen Jahrzehnten das Sagen in der Region hatten, und er hat sie alle überlebt. Er hört nicht auf, sich einzumischen. Nutzt seine Kontakte nach Bogotá, ist aktiv als Teil der Kommunalvertretung der Region Baudó. Auch heute. Er poltert gegen die ausländischen Investitionen und den Ausverkauf des Chocó. Gegen die Abholzung und den Bergbau, der die Flüsse verseucht. Und obwohl der Chocó riesige Süßwasserreserven hat, herrscht Wassermangel. Selbst in der Hauptstadt Quibdó sammeln die Menschen in den Häusern das Regenwasser, weil das öffentlich bereit gestellte Wasser nur schleppend in Tonnen vorbeigebracht wird.

Esildo Pacheco reist bis heute die Dörfer des Baudó hinauf und hinunter. Mittlerweile wollen sowohl Paramilitärs als auch ELN, dass er sich nochmal zum Bürgermeister aufstellen lässt. Sie hoffen auf mehr Investitionen in der Region durch die guten Kontakte Pachecos. So können die Gruppen mehr Schutzgeld erpressen. Und trotzdem gehen auch die Bedrohungen weiter. „Die kommen wöchentlich“ , sagt Pacheco. „Aber wenn du Angst davor hast, stirbst du innerlich“.

*Name geändert

ZWISCHEN SEEBÄREN UND HUMBOLDTKALMAREN

Fotos: Hannes Conradty

Ein riesiger Kasten versperrt die Sicht. Mitten in der Bucht der Hafenstadt San Antonio steht ein riesiges, mit ordentlich Schmiergeld genehmigtes Einkaufszentrum, welches das Meer vor der Hafenstadt versteckt. Hinter diesem himmelblau angemalten Klotz treffen wir uns am puertecito, dem Hafen der Kleinfischer*innen, mit Miguel Hernández, um über die Fischerei in Chile zu reden. Miguel Hernández ist 57, Fischer und Gewerkschafter, verwaltet das Gewerkschaftsgebäude im Hafen von San Antonio und hat überhaupt mehr Ehrenämter als man aufzählen kann. Kenntnisreich erklärt er sämtlich Probleme der pescadores artesanales, der Kleinfischer*innen in Chile; er kennt jedes noch so kleine administrative Problem, genauso wie die großen Probleme, namentlich das Fischereigesetz, das die Fischerei-Industrie klar bevorteile. „Ich glaube, wir von den sozialen Bewegungen müssen die notwendigen Veränderungen erreichen.“ Ob die Kleinfischerei eine Zukunft habe? „Es wird immer Leute geben, die aufs Meer rausfahren. Was bleibt auch sonst?“ Tatsächlich steckt die Fischerei in Chile nicht erst seit Kurzem in der Krise. Die Bestände fast sämtlicher Speisefische sind so stark überfischt, dass die Kleinfischer*innen kaum über die Runden kommen. Das, was an Fisch übrig ist, erreicht kaum ein reproduktionsfähiges Alter und wird von schwimmenden Fabriken, die mit Schleppnetzen arbeiten, weggefangen. Übrig bleibt wenig bis gar nichts für die über 70.000 Kleinfischer*innen in Chile, die in Küstennähe und mit kleinen, maximal 18 Meter langen Booten fischen. Eigentlich ideal, wollte man nachhaltigen Fischfang. Aber der kapitalistische Fortschritt hat Vorrang vor Nachhaltigkeit.

“Es wird immer Leute geben, die auf’s Meer rausfahren werden. Was bleibt auch sonst?”

Im Flur nebenan hat Cristian Miranda sein Büro. Gäbe es den Begriff Seebär noch nicht, müsste er für ihn erfunden werden. An ein Interview ist nicht zu denken, in seinem Büro ist eine Gruppe älterer Fischer, die lautstark diskutieren. Der Gewerkschafter der Gewerkschaft Montemar, eines der neun untereinander zerstrittenen Fischersyndikate im Hafen von San Antonio, ist dabei der Ruhepol, der zuhört und am Ende seine Meinung abgibt, die viel Gewicht hat. Neben dem Fischereigesetz ist es der Hafenneubau des Frachthafens von San Antonio, der megapuerto, der den Fischer*innen Kopfzerbrechen bereitet. Dieser verseucht die Bucht und zerstört die Brutstätten der Fische. Der Aushub wird in Küstennähe in die Bucht geschüttet und verschlammt das Wasser. Die Fischer*innen hier sind angespannt und wütend ob der Politik, die ihnen Probleme macht. Hoffnung in den parlamentarischen Prozess haben sie nicht. „Sie regen sich auf, wenn hier ein paar Autoreifen brennen, aber ich sag‘s euch, damit sich in diesem Land etwas ändert, muss Blut fließen! Auf die Politiker kann man sich nicht verlassen!“


Wir treffen uns um 18 Uhr mit Kapitän Jorge Ambrosetti, oder Cobre Loa, wie er von allen genannt wird. Ein weiterer Seebär mit mehr als 30 Jahren Erfahrung: „Ich hab schon alles gefischt, Merluza, Congrio, alles außer Wale.“ Mit festem Händedruck begrüßt er uns und stellt uns die Mannschaft vor, mit der wir die nächsten 14 Stunden verbringen werden: Miguel, mit strahlend blauen Augen, und Beto, der seinen Spitznamen auf die Finger der rechten Hand tätowiert hat. Wir werden mit einem kleinen Ruderboot zu einer nicht ganz so kleinen, rund sechs Meter langen Schaluppe gebracht, die dann beladen wird. An das Heck werden zwei Scheinwerfer montiert. „Damit locken wir die jibia an“, sagt Miguel. Jibia ist der chilenische Name für Humboldtkalmare, Kopffüssler, die bis zu einem Meter lang und bis zu 50 Kilo schwer werden können. Kannibalische Tiefseeungeheuer, die sich aber zunehmender kulinarischer Beliebtheit erfreuen und vor allem nach Südkorea exportiert werden. Die Kalmare sind die Beute, die die Kleinfischerei – zumindest in San Antonio – am Leben hält und darüber hinwegtäuscht, dass sämtliche anderen Fischbestände fast kollabiert sind.

Während der Außenborder das Boot aus dem Hafenbecken heraustreibt, ziehen die drei Fischer schichtweise Pullis, Hosen, Mützen und Handschuhe an, bis am Ende das Ölzeug über alles gezogen wird. Auf offenem Meer ist von den sommerlichen Temperaturen wenig zu spüren, nachts umso weniger. Mit jedem Meter, den wir uns vom Hafen entfernen, wird die See unruhiger und die Nussschale, in der wir sitzen, schaukelt auf den Wellen in alle Richtungen. „Ihr müsst aufpassen, dass ihr nicht nass werdet, die jibias spucken Wasser und Tinte“, erzählt Cobre Loa. „Und klebrigen Sabber!“ ruft Beto und bricht in schallendes Gelächter aus.

“Man muss oft rausfahren bis das Meer sagt: Der taugt mir.”


„Werdet ihr seekrank?“, fragt Miguel, während wir die ersten Wellenhügel erklimmen und hinabgleiten und immer weiter hinausfahren. Wir werden zehn Seemeilen, rund 25 Kilometer, auf das Meer fahren, was weit über die fünf Seemeien hinausgeht, in denen die Kleinfischer*innen Fische fangen dürfen. Aber der Bau des Megahafens fordert seinen Tribut. „Wir müssen so weit rausfahren, weil der ganze Aushub vom Hafenbau innerhalb der fünf Meilen abgeladen wird. Die ganzen Schwermetalle und das Öl, das von den Schiffen kommt, vertreiben die Fische.“ Die doppelte Distanz bedeutet auch die doppelte Treibstoffmenge, was einen großen Teil der Kosten der Fischer ausmacht. 60 Liter verbraucht so eine Fahrt.

„Ich habe vier Kinder, aber keins will aufs Meer. Fischen ist eine Arbeit für Grobiane, aber sie gibt einem Freiheit, es gibt keinen Chef, keiner sagt, wann wir rausfahren sollen und wann nicht“, erklärt Cobre Loa, während er an seinem Tee nippt und das Boot steuert. Mittlerweile sind wir sechs Seemeilen von der Küste entfernt, die Wellen werden immer höher und die Küstenlinie verschwindet immer wieder hinter Wasserwänden, nur um danach wieder aufzutauchen.

Gegen 21.30 Uhr kommen wir dort an, wo wir ankommen wollen, mitten im Meer. Wie Kapitän Cobre Loa diesen Flecken Wasser von irgendeinem anderen unterscheiden kann, ist ein Rätsel, GPS oder Ähnliches hat er nicht. Aber um das Boot herum sind weitere Fischerboote zu sehen, die wohl das gleiche Ziel haben. Die Sonne geht unter und mit jedem Wellental, in das das Boot sinkt, sehen wir einen neuen Sonnenuntergang. Die Küste ist längst nicht mehr zu sehen.

Eine halbe Stunde später ist es fast dunkel und die Fischerei beginnt. Mit Widerhaken besetzte fluoreszierende Zylinder, die Tintenfischen nachempfunden sind, werden an stabilen Leinen ins Wasser gelassen und versinken schnell. Sobald sie stillstehen, werden sie nach oben gezogen. In den nächsten zehn Minuten passiert wenig, bis auf einmal vor Beto eine Wasserfontäne nach oben schießt und sich das Wasser kurz dunkel verfärbt. Der erste Humboldtkalmar der Fahrt wird an der Leine bis an die Bordwand hochgezogen, dann schnell mit einem Schüreisen auf das Boot verfrachtet. Das einen Meter lange Tier krächzt, dann wird ihm der Kopf abgeschnitten. Der Körper des Kalmars pulsiert noch kurz in verschiedenen Farben und röchelt erbärmlich. Fast im Minutentakt wird ein anderes Tier nach oben gezogen. Um uns herum haben sich Seevögel versammelt. „Die Seevögel ziehen die Seelöwen an“, erklärt Cobre Loa.

Sobald einer der Fischer einen Kalmar an der Leine hat, ruft er den anderen zu, in welcher Tiefe er ihn erwischt hat: „35!“ „40!“ Miguel erklärt uns, dass das die Anzahl der Armspannen ist. „Verdammter Seelöwe!“, ruft Cobre Loa und zieht einen halben Kalmar ins Boot. Es passiert immer öfter, dass beim Hochziehen der Beute die Seelöwen den Fischern die Kalmare vom Haken fressen. „Die Seelöwen sind faul, die gehen nicht selber jagen, sondern klauen uns die jibias“, empört sich Cobre Loa. Nach einer Stunde sind die Haken so gut wie immer leer und das Boot zieht weiter. Es ist stockduster, das einzige Licht kommt von den Sternen und kleinen biolumineszenten Algen, die kurz aufleuchten, wenn das Wasser vom Boot aufgewirbelt wird. „Am Anfang werden alle seekrank“, meint Miguel, nachdem ich mich zum wiederholten Male über die Bordkante übergeben habe. „Es dauert Jahre, bis man sich daran gewöhnt. Man muss so oft rausfahren, bis das Meer sagt: Der taugt was.“

Am nächsten ausgewählten Ort geht die Routine weiter, Kalmare werden ans Boot gezogen, spritzen Wasser, Tinte und übel riechenden Sabber, röcheln, werden geköpft. Die Seelöwen kommen, um uns herum pechschwarze Nacht. Immer wieder wechseln wir die Stelle, an der die Leinen ins Wasser gelassen werden. Ein Schwarm jurels, sardinenartige Fische, lässt Cobre Loa, Miguel und Beto innehalten und fachsimpeln. Irgendwann gegen sechs Uhr morgens geht die Sonne wieder auf und wir fahren zurück in Richtung San Antonio. Fast zwei Tonnen Kalmar sind an Bord. Die Fischer entspannen sich und nutzen – bis auf Kapitän Cobre Loa – die Zeit, um kurz zu schlafen. Nach zwei Stunden Fahrt erreichen wir den Hafen. Miguel muss gleich weiter zu seinem Tagesjob in einem Supermarkt. Abends geht es aber wieder aufs Meer: „Diese Woche fahren wir noch vier Mal.“ Während die jibias an Land gebracht werden, spielen einige Fischer Dame mit Einsatz, um sich die Zeit zu vertreiben.

Abends treffen wir uns mit Don Jesus Fernández von der Fischereigewerkschaft San Pedro, die nicht im Gewerkschaftshaus sitzt, sondern am anderen Ende des Hafens ein eigenes Gebäude mit eigenem Restaurant besitzt. Don Jesus ist seit mehr als 20 Jahren Präsident der Gewerkschaft. Im dunkel vertäfelten Hinterzimmer erklärt er hinter einem massiven Schreibtisch das Konzept seiner Gewerkschaft. Auch wenn er die Kritik am Megahafen, dem Fischereigesetz und der Schleppnetzfischerei teilt, redet er nicht viel von Kampf und Streik, dafür mehr von den Geschäftsmöglichkeiten und dem Profit, den die Gewerkschaft mit ihrem Restaurant für die Mitglieder abwirft. „Wir betreiben unsere Gewerkschaft wie ein Unternehmen, könnte man sagen. Die anderen machen Versammlungen, sagen, dass man auf die Straße gehen müsse, aber die Mitglieder haben wenig davon. Hier bekommt jeder am Ende des Jahres 500.000 Pesos.“ Das sind rund 650 Euro – ob dieser Betrag ihre Zukunft sichern kann, ist mehr als zweifelhaft. In San Antonio zumindest ist die Resignation von Don Jesus Fernández nur eine der unterschiedlichen Positionen in der Kleinfischerei.

HAUTE CUISINE IM ARMENVIERTEL

Unterricht bei Chefkonditor Marcos Guima Vorbereitungen für den Apfelkuchen (Fotos: Martin Ling)

Die Umgebung ist trist. Streunende Hunde, schlaglochgesäumte Straßen, auf denen Kinder die im Schritttempo vorbeihuschenden Autofahrer um Kleingeld anbetteln. Das ist das Umfeld einer bemerkenswerten Einrichtung in Pachacútec, einem Armenviertel im Nordwesten Limas, in dem rund 150.000 Menschen leben. Mitten in der öden Landschaft befindet sich der Campus del Centro de Estudios y Desarrollo Comunitario (CEDEC) mit seinem Prunkstück: der 2007 eröffneten Kochschule von Gastón Acurio. Ihr Slogan lautet: „Alle können in Peru Koch werden.“ Acurio selbst wurde quasi mit goldenen Löffeln im reichen Stadtteil San Isidro geboren. Dort geboren zu sein, heißt ein vom Glück begünstigtes Kind zu sein, ist seine Überzeugung und ihm Verpflichtung, der Gesellschaft etwas davon zurückzugeben. Das 2004 aus der Taufe gehobene CEDEC kam ihm da gelegen, wird das Zentrum doch von der Stiftung Pachacútec geführt, bei der der Name Programm ist. Pachacútec heißt „Weltveränderer“ und so hieß der berühmteste aller Inkaregenten, der von 1438 bis 1471 als neunter Herrscher das Imperium der Inka anführte. Die Welt verändern will auch Acurio.

Die Lehrlinge kommen aus einkommensschwachen Verhältnissen. „Anfangs war die Ausbildung umsonst“, erzählt der Campus-Direktor Alexis Pancorvo. Inzwischen betrage die Gebühr 120 Soles (rund 30 Euro), als Ansporn und zur Steigerung der Wertschätzung, führt er aus. „Das ist etwa ein Zehntel dessen, was in vergleichbaren Kochakademien verlangt wird, die gewinnorientiert arbeiten.“ Und an den Gebühren ist noch kein Auszubildender gescheitert. „Wir sind flexibel, wenn einer knapp bei Kasse ist, kann er auch in den Ferien arbeiten und dann nachträglich zahlen, keiner fliegt, weil er oder sie mal nicht flüssig ist“, erklärt Pancorvo. Der Campus sei kostensparend organisiert, führt er aus: „Für das Sicherheitspersonal wird Geld ausgegeben, für die Reinigung nicht, das gehört zu den Aufgaben der Schüler und Schülerinnen. Verantwortung zu übernehmen, ist Teil der Ausbildung.“ Die Gebühren deckten 25 bis 30 Prozent der Kosten, der Rest wird über strategische Partner aufgebracht, beschreibt Pancorvo das Konzept. Einer davon ist Gastón Acurio, der die Küchenausstattung geliefert hat und Lehrpersonal kostenlos zur Verfügung stellt, aber auch andere Unternehmen sind beispielsweise mit Lebensmittelspenden für die Lehrküche beteiligt, aus denen die Kochschüler*innen dann leckere Speisen zuzubereiten lernen.

Rosa Dayenú de la Cruz ist im zweiten Lehrjahr. Die 20-Jährige nimmt täglich zwei Stunden Fahrt in Kauf – jeweils für Hin- und Rückfahrt. In dem vom Verkehrsinfarkt geplagten 11-Millionen-Moloch Lima ist das keine Seltenheit. Manche Lehrlinge kommen aus der Nähe, manche haben dreieinhalb Stunden Anfahrt, manche aus der Provinz mieten sich ein kleines Zimmer, um die begehrte Ausbildung zu machen. 500 bis 600 bewerben sich pro Jahr, 90 werden eingeladen, 25 ausgewählt. Geprüft werde fast alles – außer vorhandene Kochkünste: Logik, Rechtschreibung, Mathematik. Ein Eignungsgespräch, ein psychologischer Charaktertest bilde den Abschluss, so Pancorvo.

„Das Auswahlverfahren war hart“, sagt Rosa, „aber in der Ausbildung sind wir eine große Familie.“ Diesen Eindruck kann man in der Lehrküche in der Tat gewinnen. Konzentriert, aber fröhlich machen sich die Kochschüler*innen des zweiten Lehrjahres in Kleingruppen an die Arbeit. In zwei Stunden gilt es unter Anleitung einen Apfelkuchen zu backen. Die Anleitung kommt nicht von irgendwem, sondern von Marcos Guima, Chefkonditor im Acurio-Imperium. Für seine Lehrtätigkeit wird er von seinem Arbeitgeber freigestellt, Kosten für die Berufsschule fallen nicht an. „Das gehört zu den Beiträgen von Gastón Acurio für die Stiftung Pachacútec“, erzählt Dan Sacacco, der als Assistent in der Koordination der Kochschule arbeitet. Das Acurio-Imperium reicht inzwischen vom weltbekannten Edelrestaurant Astrid & Gastón in Lima bis zu Dutzenden Restaurants in und außerhalb Perus – 23 Jahre nachdem Acurio als 27-Jähriger sein erstes Restaurant zusammen mit seiner deutschen Frau Astrid eröffnete. Mit 37 Jahren setzte sich Acurio das Ziel, Perus Küche weltweit bekannt zu machen, inzwischen befinden sich in den einschlägigen Weltranglisten immer mehrere peruanische Restaurants unter den besten 50, Acurios Astrid & Gastón ist nur eines davon und selbst in Peru nicht mehr die Nummer 1. Er kann das verschmerzen, denn er hat sich zu seinem diesjährigen 50. Geburtstag ein neues Vorhaben gesetzt: „Mein Ziel ist es, Teil jener Generation zu sein, die aus Peru ein Land frei von Hunger macht.“ In Peru trifft Spitzengastronomie auf 50 Prozent unterernährte Kinder, und das treibt Acurio um, wie er in einem Interview im Wochenendmagazin „Somos“ der führenden Tageszeitung El Comercio bekannte.

Rosas Traum ist bescheidener: „Ich will mal ein eigenes Restaurant besitzen.“ Das ist noch ein weiter Weg. „Zweieinhalb Jahre dauert die Ausbildung“, sagt sie, bevor sie sich ans Blanchieren der Äpfel in der Pfanne macht, während andere sich um die Teigherstellung kümmern.
Neben der Kochschule offeriert der Campus fünf weitere Ausbildungen: Dreijährige Ausbildungen zur Elektriker*in oder Verwaltungsfachmann oder -frau und einjährige Ausbildungen zur Friseur*in, zur Kellner*in oder Call-Center-Agent*in.

Auf dem schwarzen Brett der Kochschule “Der Schmerz geht vorbei, der Stolz dauert ewig”

Der Campus CEDEC wurde 2003 eingeweiht, die Kochschule kam vier Jahre später dazu und feierte gerade ihr zehnjähriges Jubiläum. Die Zielsetzung von CEDEC ist ambitioniert: Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus extrem armen Verhältnissen Bildung und Ausbildung zu ermöglichen, die sie befähigen sollen, selbstverantwortlich ihr Berufsleben entwickeln zu können. Auch die Privatwirtschaft leistet ihren Beitrag, sponsert Ausrüstungsmaterial oder Ausbildungen. „Kirche, Staat, alle Sektoren sind bei CEDEC eingebunden“, erzählt Pancorvo. Auch eine Grund- und eine weiterführende Schule sowie ein medizinisches Zentrum gehören zum weitläufigen Campus in Pachacútec, der sich über 178 Hektar erstreckt.

„Pachacútec war ein Modell, von dem wir die Idee hatten, dass der Staat es übernehmen werde und ähnliche Ausbildungszentren für Tourismus, Hotellerie und Gastronomie in Cusco, Arequipa, Puno, etc einrichten würde; jedoch ist das nicht geschehen”, zog Acurio zum zehnten Jahrestag der Kochschule ein ernüchterndes Fazit. Dabei regt deren Bilanz durchaus zur Nachahmung an: „Mehr als 300 Jugendliche haben bisher die Kochausbildung beendet. Sie haben nun eine berufliche Laufbahn, sie haben ihr Leben zum Besseren verändert, einige haben es schon zum Chefkoch gebracht und einige von ihnen werden zu den besten Köchen der Welt werden.“

Einige der aktuell berühmtesten Köche der Welt geben sich dank Acurios Kontakten in der Kochschule die Klinke in die Hand. Auf dem schwarzen Brett gibt es eine Spalte mit Motivations­sprüchen à la „der Schmerz geht vorbei, der Stolz dauert ewig“, und dort hängt auch ein Foto von Kataloniens Starkoch Ferran Adrià, dem Picasso der Köche, dessen legendäres Lokal „El Bulli“ an einer malerischen Bucht an der Costa Brava fünfmal hintereinander zum besten Lokal der Welt gekürt wurde – dann machte Adrià es zugunsten einer schöpferischen Pause zu. Vor allem rund um die von Acurio initiierte und alljährlich in Lima stattfindende internationale Gastronomiemesse Mistura trifft sich die Crème de la Crème der Spitzenköche und schaut auf einen Abstecher auch in der Kochschule vorbei. Nicht nur der direkte Kontakt zu den Vorbildern ist motivierend, den vier besten Absolvent*innen des Jahrgangs winkt ein Europaaufenthalt, in der Regel in Spanien dürfen sie dann in der Spitzengastronomie Erfahrungen sammeln. Wer die Kochschule erfolgreich absolviert, hat beste Jobperspektiven. Acurio erhält immer wieder Anfragen aus dem Ausland für seine Köche und Köchinnen, denn die peruanische Küche ist weltweit auf dem Vormarsch, angefangen von den Cevicherias, die Sushi-Bars zunehmend Konkurrenz machen. Der Bedarf nach Acurio-Schüler*innen ist groß. Er selbst benötigt regelmäßig Nachwuchs für sein wachsendes Imperium, das Ausland lockt die größten Talente und auch der Rest wird sicher unterkommen.

„Diese Schule hat vermocht, die Hoffnung wieder zu wecken, den Glauben in das Leben, in die Zukunft, in die Kraft, eine Chance zu haben. Die Obsession einer Gesellschaft wie der unseren sollte sein, dass kein Kind wegen fehlender Chancen auf der Strecke bleibt“, blickt der Meisterkoch in die Zukunft. Da der Staat seiner Idee bisher nicht nacheifert, will Acurio in einem weiteren Armenviertel Limas alsbald eine zweite Kochschule gründen. Dieses Mal im Südosten. „Wir haben es nicht geschafft, den Überfluss des Landes in das Wohlbefinden aller umzusetzen.“ Überfluss wie 800 Mais- und 3.000 Kartoffelsorten, immenser Fischreichtum und eine breite Palette an Früchten. 2021 begeht Peru den 200. Jahrestag seiner Unabhängigkeit. „Wenn ich an Peru 2021 denke, besorgt mich das, es quält mich.“ 2021 finden turnusgemäß die nächsten Präsidentschaftswahlen statt. Acurio, selbst Sohn eines Politikers, wird wie in 2016 und ohne sein Zutun wieder von vielen als Präsidentschaftskandidat gehandelt werden. Der Präsident der Herzen ist er schon.

 

DREI STÜCKE SEIFE FÜR EINEN MINDESTLOHN

Drei Stücke Seife legt Jonathan auf das Kassenband und erklärt: „Das hier, das entspricht einer Woche Mindestlohn.“ Wir stehen in einer der Markthallen von Cecosesola in der Millionenstadt Barquisimeto, im Nordwesten von Venezuela. Trotz der regelmäßigen Anpassungen des Mindestlohns durch die Regierung hat die Hyperinflation die Kaufkraft eines Großteils der Bevölkerung längst geschluckt. 50 Prozent Inflation allein im Oktober. Im Juli soll sie noch bei etwa 35 Prozent gelegen haben. Ein Monat Mindestlohn ist heute in etwa zehn Dollar wert – zu dem Wechselkurs, der auf der Straße herrscht.

„Das hier entspricht einer Woche Mindestlohn.”

Cecosesola, ein Kooperativennetzwerk, das etwa 20.000 Leute in verschiedenen Bundesstaaten umfasst, die in 40 Kooperativen organisiert sind,  wurde im Dezember 2017 50 Jahre alt. Es hat im Lauf der Zeit eine Vielzahl von Commons, von Gemeingütern, rund um die Grundbedürfnisse der Bevölkerung geschaffen: Drei große und mehrere kleinere Wochenmärkte in Barquisimeto, eine Gemeinschaftsklinik und dezentrale ärztliche Versorgung in einigen Stadtteilen, ein Bestattungsinstitut – alles zu fairen Preisen sowohl für Konsument*innen als auch Produzent*innen und Dienstleister*innen. Und was in der aktuellen Krise, die Venezuela durchlebt, besonders wichtig ist: eigene Produktion von Nahrungsmitteln und Grundbedarfsgütern verschiedenster Art, von Gemüse über Nudeln oder Müsli bis hin zu Putzmitteln.

Die Kooperative hat heute eine Schlüsselrolle in Barquisimeto: Am Tag meiner Ankunft kaufen allein in einer der großen Markthallen 15.000 Menschen ein – das macht rund 45.000 in allen drei Hallen, die in verschiedenen Teilen der Stadt liegen. „Das ist nicht überdurchschnittlich für einen Tag, es waren auch schon mal viel mehr“, meint Jonathan. Die Markthallen sind vier Tage pro Woche geöffnet, von Donnerstag bis Sonntag.

Auf Whatsapp wird über Maismehl, Zucker und Nudeln diskutiert.

Vor der Halle schiebt sich eine lange Warteschlange zäh über den weiten Parkplatz bis ins Innere, wo die Kund*innen eine Plastikkarte vorzeigen. 250.000 solcher Ausweise hat Cecosesola bisher ausgegeben, das entspricht jeder sechsten Einwohner*in der Stadt, und es werden wöchentlich mehr. Santiago, der mit mir aus Caracas angereist ist, staunt: „Die Stimmung hier hat mit anderen Schlangen in diesem Land nichts gemein. Soviel Respekt, soviel Ruhe und Freundlichkeit“.

Schlangestehen gehört heute zum Alltag in Venezuela. Ein Großteil der Kommunikation dreht sich um Grundnahrungsmittel: Wo sich plötzlich Bezugsquellen auftun, was wieder um wie viel teurer geworden ist, seit wann das staatlich subventionierte Essenspaket des CLAP, des „lokalen Versorgungs- und Produktionskomitees“, nun schon ausbleibt. Die Nachrichtenapplikation Whatsapp ist ein Schlüsselinstrument der populären Krisenökonomie, wenn irgendwo Maismehl, Zucker oder Nudeln auftauchen. Die Schlangen selbst sind zu Orten der Spekulation und Gewalt geworden: Manche Leute verbringen die ganze Nacht auf den ersten Plätzen vor bestimmten Supermärkten, um dann frühmorgens ihre Vorzugsposition gegen Geld zu verkaufen. Oder aber gegen die Hälfte der Güter, die der Käufer oder die Käuferin dann ergattert, in Naturalien. Denn auch Bargeld ist extrem knapp. Fast alle Transaktionen finden über Kredit- oder Debitkarten statt. 50 Dollar in Bolívars füllen eine mittelgroße Sporttasche, und wer damit von der Polizei auf der Straße erwischt wird, gerät leicht in den Verdacht, mit Bargeld zu spekulieren. Denn viele Leute, so erzählt Santiago, nehmen Kommissionen bis zu 50 Prozent für die Ausgabe von Bargeld. „Am Geldautomaten bekommst du täglich maximal umgerechnet 25 Dollar-Cent“, ergänzt er.

Jonathan erzählt, dass bis vor eineinhalb Jahren auch die Schlangen vor den Märkten von Cecosesola leicht ausarten konnten: „Es hat hier sogar Tote gegeben. Es war ein Alptraum für uns damals.

Viele Regierungsinstitutionen negieren die Krise und tun alles, um den Schein zu wahren.

Nicht nur, dass die Schlange sich um den ganzen Block wand und die Leute mehrere Tage und Nächte pro Woche auf Pappkartons auf dem Gehweg verbringen mussten. Bewaffnete Banden kämpften um die ersten 200 Plätze, um möglichst große Mengen der knappsten Güter zu hamstern und sie dann auf dem Schwarzmarkt weiterzuverkaufen.“ Mit der Einführung der Kundenausweise konnte das Kollektiv von Cecosesola diese Bedrohung eindämmen: Heute gibt es einen Ausweis pro Familie, der zu einem wöchentlichen Einkauf in einem der Märkte berechtigt. Strohmänner sind dadurch schwerer einzusetzen: Die elektronische Registrierung beim Eintritt in die Halle verhindert Mehrfacheinkäufe und erkennt Leute, die gestohlen haben.

Die Wirtschaftskrise trifft nicht alle Menschen in Venezuela gleichermaßen. Ähnlich wie in Kubas Spezialperiode entsteht eine immer tiefere Kluft zwischen denen, die irgendwie an Dollars kommen, und denen, die nur Bolívars zur Verfügung haben. Die müssen sich mindestens zwei oder drei Jobs suchen, allein um die Ernährung zu sichern. Viele Venezolaner*innen kündigen formelle Arbeitsverhältnisse, weil der informelle Markt mehr einbringt. Wer Dollars tauschen kann oder als Händler*in mit der Inflation einfach mithält, hat dagegen keine finanziellen Sorgen.

Der Konsum hat sich nicht nur auf das Allernötigste reduziert, sondern die Marktlage hat auch die Essgewohnheiten verändert. Da Maismehl kaum zu bekommen ist, werden die traditionellen Arepas jetzt aus Yuca hergestellt, oder die Frauen stehen um halb fünf Uhr morgens auf, um mit der Hand den Mais zu mahlen.

Die subventionierten Lebensmittelpakete der CLAPs sind sehr wichtig.

Santiago hat in den vergangenen zwei Jahren acht Kilo abgenommen – das scheint ein weit verbreiteter Effekt der Krise zu sein. Cecilia erzählt, dass es in der Oberschule, die ihre Söhne besuchen, häufig vorkommt, dass Jugendliche vor Hunger ohnmächtig werden.

Viele Regierungsinstitutionen und Chavist*innen negieren die Krise und tun alles, um den Schein zu wahren. Wo das nicht möglich ist, wird der Wirtschaftskrieg des Imperialismus verantwortlich gemacht. Die jüngsten Sanktionen der EU gegen Venezuela bestätigen diese These. Doch viel weist auch darauf hin, dass mafiöse Netzwerke im Staatsapparat selbst die Knappheit mit produzieren. Jonathan behauptet zu wissen, dass der Staat bis zu 70 Prozent der noch existierenden nationalen Grundnahrungsmittelproduktion, beispielsweise Nudeln, direkt vom Fabrikanten abzweigt. „Die Bedingung dafür, der Fabrik subventionierte Dollars für den Import von Hartweizengrieß zu geben, ist, dass 70 Prozent der produzierten Nudeln gleich wieder an den Staat zurückgehen, praktisch umsonst, für das CLAP-System. Die restlichen 30 Prozent müssen dann auf dem freien Markt die gesamten Produktionskosten decken.“

Ein subventionierter Import-Dollar kostet zehn Bolívar, ein informell gehandelter 50.000 Bolívar. Diese gigantische Differenz lädt zur Spekulation mit Import-Dollars oder subventionierten Gütern ein, die unerhörte Bereicherungsmöglichkeiten bietet. Oft sitzen Militärs an wichtigen Schaltstellen, die auch zahlreiche hohe Regierungsämter bekleiden. „Solange die Krise für diese Leute so lukrativ ist, wird sie sich hinziehen“, sagt Santiago. „Sie haben keinerlei Interesse an einem politischen Wechsel.“

Grobe Schätzungen weisen darauf hin, dass etwa zwei Millionen Menschen seit 2015 emigriert sind, so der Soziologe Edgardo Lander. Genaue Zahlen gibt es nicht. Neben den USA leben viele von ihnen in Kolumbien, Ecuador oder Peru und schicken so oft sie können Dollars nach Hause.
Die wichtigste Struktur, die die Regierung als Antwort auf die Krise geschaffen hat, sind die subventionierten Lebensmittelpakete der CLAPs. Auch wenn das P, das in der Abkürzung für Produktion steht, eher symbolisch ist, sind die CLAPs immerhin ein flächendeckender Verteilungsmechanismus, der vor allem nicht verderbliche Lebensmittel wie Mehl, Nudeln, Öl, Zucker, Sardinen oder Thunfisch und manchmal Kaffee in arme Haushalte bringt. Laut Regierung waren es 2016 knapp zwei Millionen Empfänger*innenhaushalte, 2017 sollte diese Zahl auf sechs Millionen steigen.

Das Schlangestehen in der Markthalle wird zum Akt der Solidarität und Gemeinschaft. 

Obwohl das System landesweit funktioniert, ist es alles andere als einheitlich und scheint ein hohes Maß von Willkür zu beinhalten: Manche bekommen die Pakete 14-täglich, manche nur zweimonatlich. Auch was sie enthalten, variiert, je nachdem, wo man wohnt. Verteilt werden sie über Partei- oder parteinahe Strukturen der Regierungspartei. In manchen Vierteln, den sogenannten Barrios, bekommen alle gleichermaßen ihr Paket, in anderen wird politisch konditioniert.

Jonathan erinnert sich: „In meinem Viertel wurde vor den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung im Juli, als die Opposition zum Boykott aufgerufen hatte, offen damit gedroht, dass am Wahllokal die Beteiligung registriert werden würde. Wer nicht wählen geht, bekommt kein Essen mehr.“ Santiago erzählt, in seinem Viertel in Caracas müsse das Geld für das Essenspaket auf das Privatkonto der Frau überwiesen werden, die für die Verteilung zuständig ist. Bei Cecilia wiederum wurde ein Extrakonto eingerichtet.

Während viele der Polarisierung und der Krise müde sind und sich keinem politischen Lager zurechnen, gibt es immer noch eine aktive chavistische Basis. Für sie sind solche Korruptions- und Kontrollstrukturen sekundär. Es überwiegt die Erinnerung an die vielfältigen Sozial- und Wohnungsbauprogramme noch unter Chávez, in deren Genuss die meisten von ihnen gekommen sind, und sie sehen die CLAPs in dieser Kontinuität.

Heute gibt es je Familie einen Ausweis, der zum Einkauf in einem der Märkte berechtigt.

Rechtsstaatlichkeit oder Transparenz im Umgang mit Geld sind bürgerliche Werte, mit denen sie sich nicht unbedingt identifizieren. Wichtig ist der Zusammenhalt im Barrio, und dass sie in genügend informelle Verteilungsstrukturen eingebunden sind. Diese können familiär, aber auch kriminell ausgerichtet sein. Wobei auch hier, wer für „seine Leute“ sorgt, nicht schlecht angesehen ist. So entsteht ein schizophrenes Verhältnis zum bachaqueo – das ist der Begriff, mit dem die Parallelökonomie bezeichnet wird.

In meinem Wohnviertel in Barquisimeto verkauft mindestens jeder zweite Haushalt irgendetwas, von Motoröl über Tomaten bis hin zu kleinen Mengen von Maismehl, Öl oder Zucker. Wer durch Schlangestehen bei einem Supermarkt etwas ergattert, kauft so viel, dass er oder sie nicht nur den Familienbedarf decken, sondern auch noch von zu Hause aus ein kleines Geschäft mit dem Rest machen kann. Man erleidet den bachaqueo, aber man versucht nach Möglichkeit, Nutzen daraus zu ziehen. Deshalb haben die Leute von Cecosesola nicht nur die Frequenz der möglichen Einkäufe, sondern auch die Mengen pro Einkauf reguliert. Für sie sind die Markthallen nicht nur Stätten der Versorgung, sondern auch ein Instrument, über das sie bestimmte verbindende Werte wie Solidarität, Autonomie und Gemeinschaft verteidigen wollen, die die venezolanische Gesellschaft heute dringender braucht denn je.

 

 

 

IN TRÜMMERN

Fotos: Jonathan Treat SURCO, A.C. OAXACA, MÉXICO

„Wann nimmt es denn endlich ein Ende?“, ist von den verzweifelten Menschen in den betroffenen Regionen oft zu hören. Seit dem 7. September bebt die Erde unaufhörlich in Südmexiko: Dem ersten heftigen Erdbeben von Stärke 8.2 auf der Richterskala vor der Küste der Bundesstaaten Chiapas und Oaxaca folgten bis Ende Oktober über 9.000 leichte bis mittelschwere Nachbeben. Ein zweites Beben der Stärke 7.1 erschütterte Zentralmexiko sowie Mexiko-Stadt am 19. September, just am Jahrestag des großen Bebens von 1985 (siehe LN 521). Die Gesamtbilanz ist verheerend: 470 Menschen fanden bislang in den Trümmern den Tod, hundert-tausende Mexikaner*innen sind seither obdachlos, leben auf der Straße vor ihrem zerstörten Hab und Gut, unter Plastikplanen, die sie nur notdürftig gegen Sonne und Regen schützen.

Besonders dramatisch ist die Situation in Oaxaca. Der indigen geprägte südöstliche Bundesstaat ist einer der ärmsten Mexikos. Bei einer Reise Ende September in die Stadt Juchitán und umliegende Dörfer in der Isthmus-Region von Oaxaca zeigt sich die Zerstörung und die Verzweiflung der Menschen. Der ehemals bunte Markt, das Herzstück der zapotekischen Handelsmetropole Juchitán mit ihren 100.000 Einwohner*innen, ist ebenso zerstört wie das Gemeindehaus. Die Händler*innen hatten versucht, ihren Markt provisorisch auf dem Hauptplatz der Stadt einzurichten, doch heftige Nachbeben erschütterten die Stadt, so dass nur ein gespenstisch leeres Gewirr von Holzständen vorzufinden ist. Die wenigen Produkte wie Gemüse sind überteuert, die lokale Ökonomie ist komplett zusammengebrochen. Das Stadtzentrum ist menschenleer, Trümmer überall, und die vielen Polizei- und Militäreinheiten, die schwerbewaffnet patroullieren, tragen das ihre zur bizarren Szenerie bei.

“Willkommen in meinem neuen Wohnzimmer auf der Straße. Hier gibt es keine Klassenunterschiede mehr”

In einem Viertel von Juchitán treffen wir die Journalistin Roselia, sie sitzt unter den Plastikplanen vor dem Haus ihrer Familie, das jederzeit zusammenzubrechen droht. Das Haus der Nachbarin wurde durch ein Nachbeben in der regnerischen Nacht zuvor zerstört, übrig geblieben ist ein zwei Meter hoher Trümmerhaufen. Roselia weist uns ein paar Plastikstühle zu: “Willkommen in meinem neuen Wohnzimmer auf der Straße. Hier gibt es keine Klassenunterschiede mehr”, meint sie halb ironisch, halb im Ernst. Tatsächlich zerstörte das Beben ganze Quartiere, unabhängig von der Einkommensklasse. Auch die Fahrer*innen von Limousinen stehen Schlange vor einem der wenigen Läden, der noch Plastikplanen für die Obdachlosen vorrätig hat. Doch nach der ersten Schockstarre, die alle traf, zeigten sich bald darauf auch wieder die starken Gegensätze in der Region.


Beim Besuch der widerständigen Gemeinde San Dionisio del Mar wird klar, dass auch nach dem Erdbeben die Konflikte weiterschwelen. Diese Gemeinde von Ikoots-Indigenen rebellierte 2012 gegen das größte Windkraftprojekt Lateinamerikas namens Mareña Renovables, das auf einer Landzunge in der Lagune errichtet werden sollte. Der von den europäischen Investor*innen bestochene Gemeindepräsident wurde zum Teufel gejagt, das Gemeindehaus und dessen überdeckter Vorplatz besetzt (siehe LN 473). Die asamblea (institutionalisierte Vollversammlung) der Bewohner*innen von San Dionisio betreibt nach dem Erdbeben in den besetzten Gebäuden eine Herberge für die obdachlos gewordenen Familien sowie eine Gemeinschaftsküche. Beides konnte mit Spenden solidarischer Organisationen aus dem In- und Ausland ausgerüstet werden (siehe Kasten).

Auch die Behörden verteilen Hilfe, jedoch werden die eigenen Parteigänger*innen dabei bevorzugt, wie die asamblea kritisiert. Hinzu kämen Unregelmäßigkeiten bei der Registrierung der zerstörten Häuser, von der abhängt, ob und in welchem Umfang staatliche Nothilfe gewährt wird. Der Lehrer Aquilino, einer der Sprecher der asamblea, erklärt uns vor den Trümmern seines Hauses: „Erst kam eine Behörde und erklärte, das Haus sei unwiderruflich zerstört, müsse abgerissen und neu gebaut werden. Tage später kam eine andere Behörde und markierte das Haus mit einem blauen Punkt. Diese Markierung bedeutet, dass nur ein Teilschaden entstanden sei.” Aquilino sieht dahinter ein politisches Manöver. Da er als Sprecher der Vollversammlung ein Dorn im Auge der Behörden sei, wollten sie ihn persönlich abstrafen. Für die Koordination des Wiederaufbaus von San Dionisio del Mar und den umliegenden Ikoots-Dörfer ist die föderale Behörde für die Entwicklung der Indigenen (CDI) zuständig. Auf einer Pressekonferenz kritisiert die asamblea von San Dionisio ebenfalls den grassierenden Klientelismus bei den staatlichen Hilfeleistungen und nennt die Namen von Personen, die zu Unrecht Hilfe erhalten hätten.


Dem ersten Schock über die Naturgewalt folgte so eine hitzige Diskussion über die Rolle des Staates bei Nothilfe und Wiederaufbau.

Dem ersten Schock über die Naturgewalt folgte so eine hitzige Diskussion über die Rolle des Staates bei Nothilfe und Wiederaufbau. Denn auch zwei Monate nach den ersten Erdbeben sind in vielen Gemeinden auf dem Land die Trümmerberge das dominierende Bild. Tausende Schulen sind weiterhin geschlossen, die Arbeitsbedingungen der Krankenhäuser noch prekärer als vor den Beben, wobei zahlreiche Verletzte zu versorgen sind. Der mexikanische Präsident Enrique Peña Nieto gab am 31. Oktober in Juchitán bekannt, dass erst 1.500 komplett zerstörte Häuser geräumt wurden. 6.000 Familien warten hingegen immer noch darauf, dass die Baumaschi-nen anrücken, und weitere 7.600 zerstörte Häuser wurden von den Behörden als nur teilweise beschädigt eingestuft. Dabei ist die Beseitigung der Trümmer Bedingung für finanzielle Hilfen: „Erst wenn die Grundstücke sauber sind” könne die Unterstützung für den Wiederaufbau beginnen, so Peña Nieto. Diese besteht aus einer Kreditkarte, einlösbar für Baumaterialien bei gewissen Händler*innen und für die Entlohnung von Handwerker*innen. Allerdings sind die die Entschädigungszahlungen viel zu knapp bemessen, für stark beschädigte Häuser belaufen sich diese auf 15.000 bis 30.000 Pesos (670 bis 1340 Euro), für einen Neubau gibt es 120.000 Pesos (5360 Euro). Lokalen Architekt*innen zufolge reicht das knapp für ein unverputztes Zimmer mit Bad, nie und nimmer für ein Haus für eine ganze Familie. Ein Wiederaufbau in Würde ist so nicht machbar.

Auffallend schnell waren auch bestimme Zementhersteller zur Stelle als Präsident Peña Nieto die ersten Kreditkarten für das Wiederaufbaukonto persönlich überreichte. Die Videoaufnahme eines Anwohners von Ixtaltepec zeigt eine Kolonne von Lastwagen und improvisierten Verkaufs-ständen mehrerer Baufirmen, zuvorderst zu sehen: Holcim. Der schweizerisch-französische Multi Holcim-Lafargue ist der größte Zementhersteller weltweit und hat sich bei dem Riesengeschäft des Wiederaufbaus nach den Erdbeben eine Pole-Position gesichert, was in Mexiko kaum ohne gute und gut geschmierte Beziehungen geht. „Que Peña tenga tantita madre”, der Präsident sollte doch angesichts der Katastrophe wenigstens ein klein wenig Anstand haben, empören sich Anwohner*innen im Video und denunzieren das negocio redondo, die offensichtliche Geschäftemacherei zwischen Behörden und Unternehmen.

Die Mischung aus Unfähigkeit und Korruption der Behörden im Umgang mit der Katastrophe dürfte die meisten Menschen in der Region allerdings nicht sonderlich überrascht haben. Wie so oft davor sind es es vor allem die eigenen Basisinitiativen sowie die (internationalen) zivilen Hilfsorganisationen, die den Betroffenen in der Not am tatkräftigsten zur Seite stehen.

 

OASE IN FLAMMEN

Foto: Fabian Grieger

Der Hügel, wo einst mehr als 300 Häuser standen, ist zwei Tage nach dem Feuer komplett von schwarzer Asche bedeckt. Die Ruinen der wenigen Häuser, die aus Backstein gebaut waren, ragen hervor. Die allermeisten Häuser waren aus Holz. Wo sie einmal standen, lässt sich nur noch erahnen. Ein Hund streunt über die verkohlten Reste, wühlt mit der Schnauze in der verbrannten Erde. Ein verbeulter Topf lugt unter den Trümmern hervor. Daneben spielen Kinder, ein paar Jungs raufen vor den gelangweilten Augen der Polizei. Am Freitag zog das Inferno über die Siedlung El Oasis (Die Oase) im Stadtteil Moravia im Herzen von Medellín hinweg. Seitdem haben Militärpolizisten mit Maschinengewehren das Gelände umstellt. Viel zu holen gibt es hier nicht. Niemand soll auf den Hang am Stadthügel zurückkehren oder gar damit beginnen, die Häuser wieder aufzubauen. Das diene der Sicherheit der einstigen Bewohner*innen, erklärt einer der Polizisten.

Etwas weiter unten am Hang steht Cristián, den diese Aufforderung recht wenig interessiert. Der 33-Jährige trägt ein gelbes T-Shirt, Jeans, Turnschuhe und eine Basecap mit dem Schirm nach hinten. Sonst ist ihm auch nichts geblieben. „Dahinten stand mein Haus“, sagt er und deutet auf eine Stelle in den verkohlten Trümmern. Als am 18. August gegen 10 Uhr morgens das Feuer ausbrach, war Cristián gerade in der Universität. Als er von dem Feuer hörte, rannte er zu seinem nur wenige Minuten entfernten Zuhause. Wie war es, als das Feuer ausbrach? Cristían reißt die Arme nach oben und wischt in einer ausholenden Bewegung von rechts nach links und ruft „Wusch.“ Man kann sich vorstellen, wie schnell die Flammen von einem Holzhaus auf das andere übergriffen. „Kennst du ,Fast and Furious’?“, fragt der Student. „Das Wichtigste ist immer die Familie. Das allererste, was zählt. Und so hab ich’s auch gemacht. Ich bin raus und hab allen anderen geholfen. Meine Familie – das sind all diese Leute hier.“

Mit „Mi gente“ (etwa: Meine Leute) drücken Kolumbianer*innen ihre Identifikation zu ihren Mitmenschen aus. Cristiáns Augen leuchten, wenn er davon erzählt, dass er zwar all seinen Besitz verloren, aber seine Gemeinschaft behalten hat. Tatsächlich ist beim Großbrand niemand gestorben. Nach offiziellen Zahlen sind jetzt 323 Familien obdachlos. Die Stadtverwaltung brachte viele Familien in einer Schule unter – vor allem jene, die in den Flammen all ihren Besitz verloren haben. Dort gibt es Verpflegung und Kulturangebote. Sogar eine Theatergruppe hat schon vorbei geschaut. Andere Bewohner*innen, die noch einige Sachen retten konnten und in der Nähe des Hügels El Oasis bleiben wollten, schlafen seitdem unter der Brücke zwischen zwei Hauptstraßen am Fuß des Hügels.

Medellín ist in Viertel aufgeteilt, von denen jedes einen eigenen Mikrokosmos bildet.

So auch Cristían. Er hat einen großen Topf mit Suppe aufgesetzt – für alle, die essen wollen. Auf dem verkohlten Boden glüht ein Feuer, dass den Topf zum Kochen bringt. Es sieht so aus, als steige aus der Asche wieder Rauch auf. „Es geht weiter“, sagt Cristian beim Anblick der Suppe und passend zur Situation seiner Nachbarschaft. Er ist zuversichtlich, dass sie bald wieder als Gemeinschaft ein Dach über dem Kopf haben werden.
Cristían ist einer der líderes sociales (soziale Führungspersönlichkeiten), die sich durch besonderes Engagement hervorgetan haben. Medellín ist in Viertel aufgeteilt, von denen jedes einen eigenen Mikrokosmos bildet. Jedes dieser Viertel – ob arm oder reich – hat seine líderes. Sie fungieren als Scharnier zwischen Stadtverwaltung, Polizei, Militär, Drogenkartellen und den Bewohner*innen. Regelmäßig setzen sie sich zusammen und diskutieren über die Probleme des Viertels. Als líder wird man nicht geboren. Die Gemeinschaft macht einen dazu. Als die Flammen in Moravia um sich griffen, entstanden bei den Rettungsaktionen neue líderes. Jene Menschen, die im Moment der Gefahr Verantwortung übernahmen.

Nun haben sie einen besonders schweren Konflikt zu lösen, der schon seit Jahren schwelt: Die Stadtverwaltung will in einem „Entwicklungsplan“ dem zentral gelegenen Stadtteil Moravia ein neues Gesicht geben. Die informellen, von den Bewohner*innen errichteten Siedlungen, wie das abgebrannte El Oasis, sollen weg. Grüne Park- und Naherholungsflächen sollen dort entstehen. Die Begründung: Die Siedlungen befinden sich in sogenannten „Zonen mit hohem Risiko“. Die Gefahr von Erdrutschen und der vergiftete Boden machten die Flächen unbewohnbar. Die Bewohner*innen des benachbarten Hügels El Morro mussten bereits gehen. Dieser war einst eine der größten Müllkippen der Stadt. Recycler waren die ersten, die sich dort ansiedelten. Wie El Oasis bestand auch El Morro hauptsächlich aus Holzhäusern. Strom und Wasser stellte die staatliche Versorgungsfirma nicht zur Verfügung, also zapften die Bewohner*innen die Leitungen an. Auch in El Morro hat es regelmäßig gebrannt. Mittlerweile ist der einst dicht bebaute Hügel frei von Häusern und mit grünen Feldern bedeckt. Auf der Spitze steht eine Skulptur. Die Bewohner*innen wurden umgesiedelt. Einige willigten bei der Aussicht auf eine legale Wohnung in einem der Außenbezirke Medellíns ein. Die anderen wurden schließlich durch die Polizei zwangsumgesiedelt. Die neuen Hochhauswohnungen boten zwar Legalität und modernere Ausstattung, das Heimatviertel, die Nachbarschaft und Familie waren aber weit weg. Einige kamen zurück und bauten wieder am Rande des neu gestalteten Gartens auf dem alten Hügel, andere siedelten sich am benachbarten Hügel El Oasis an.

Nach Entwürfen, die die staatliche Universidad Nacional de Colombia im Auftrag der Stadtverwaltung entwickelt hat, sollen große Teile Moravias verändert werden. Wo die höchsten Häuser derzeit drei Stockwerke haben, sind auf den Entwürfen Hochhäuser eingezeichnet – Teil eines geplanten „Distrikt Innovation“. Die Häuser sollen mit dickem Zementfundament gegen die Giftstoffe auf der ehemaligen Müllhalde gesichert sein. Der Hügel El Oasis soll ein weiterer Park und die Menschen umgesiedelt werden.

Es wäre ein weiterer Schritt der großen Runderneuerung, die sich die ehemalige Drogenhauptstadt Medellín auf die Fahnen schreibt. 2012 wurde sie vom Wall Street Journal in einem oft bemühten Ranking zur innovativsten Stadt der Welt ernannt. Seit dem Tod des Kokainkönigs Pablo Escobar und den Friedensprozessen mit der linken Guerillaorganisation FARC sowie den rechten Paramilitärs ist die Mordrate drastisch gesunken. Stattdessen hat Medellín heute eines der besten Nahverkehrssysteme Lateinamerikas, das das Zentrum mit der Peripherie verbindet. In den letzten Jahren wurden in großem Stile öffentliche Sport- und Kulturangebote gefördert. Die Dichte von Sozialprojekten ist beeindruckend. In vielen Kreisen gilt Medellín als Vorzeigemetropole Lateinamerikas.

„Leute, die bezahlen, kommen. Leute, die nicht bezahlen, gehen“

Carlos, Einwohner von Moravia, 60 Jahre, zerzauste Haare unter einer Adidas-Mütze, Falten im Gesicht, auf eine Krücke gelehnt, gehört nicht zu diesen Kreisen. „Leute, die bezahlen, kommen. Leute, die nicht bezahlen, gehen“ , so beschreibt Carlos diesen Prozess. Auch er ist líder social, fühlt sich verantwortlich für die Bedürfnisse der Nachbarschaft. An diesen gehe die Planung der Stadt aber vorbei, beklagt Carlos. „Ein Zuhause mit Würde baut man mit der Hand und ohne Erlaubnis“, sagt Carlos. Dieser Satz steht auch auf einem Plakat, dass die Bewohner*innen über den verbrannten Trümmern aufgehängt haben. Moravia hat sich seinen Ruf als widerständiges Viertel über Jahrzehnte erkämpft. Carlos sitzt auf einem Sessel vor einem der Zelte, in dem viele Menschen nun übernachten, während er die Geschichte seines Viertels erzählt. Ständig kommen Leute und fragen Carlos, bitten ihn um Hilfe. Manche bleiben stehen, nicken und stimmen ihm zu. „Moravia haben Menschen gegründet, die vor den bewaffneten Konflikten im Land geflohen sind.“ Später flohen auch Menschen aus anderen Teilen Medellíns an den Rand der ehemaligen Müllkippe.

Moravia entwickelte sich zu einem der dichtbesiedeltsten Viertel Lateinamerikas. Es dauerte nicht lange, bis der bewaffnete Konflikt auch nach Moravia kam. Zunächst kontrollierten Guerillas die Viertel: ELN und M-19 hinterließen ihre Spuren – auch im Revolutionsbewusstsein der Bewohner*innen. Dann kamen die Drogenbanden Pablo Escobars. Der Patron stattete als Teil seines Wahlkampfs in den 80ern den Fußballplatz des Viertels mit Flutlichtmasten aus, baute kostenlos Häuser für die Bewohner*innen. Noch heute tragen auffällig viele Menschen in Moravia ein T-Shirt mit dem Konterfei des Drogenbosses. Auf Escobar folgte die FARC, darauf die rechten Paramilitärs – und ihre Säuberungsaktionen im Viertel mit dem Ruf des Widerstands. Carlos zeigt auf seinen verletzten Fuß: „Das waren die Paramilitärs.“ Ein Mädchen kommt vorbei, setzt sich auf die Sesselkante, auf der Carlos sitzt. Stolz sagt er: „Schau, sie hat eine Nähmaschine zu Hause und verdient damit ihr Geld. Wir können uns selber helfen.“ In all den Jahrzehnten hielt der Staat Distanz zu Moravia. Heute ist es das Drogenkartell Oficina de Envigado, das nach Aussage von Carlos auf der Straße das Sagen hat.

Auch der 18-jährige Esteban misstraut dem plötzlichen Engagement des Staates. Er ist Teil einer Gruppe von Studierenden, die sich um die gesundheitliche Versorgung der Feueropfer kümmert. Den Brand hat Esteban von seinem Haus aus gesehen. „Wir haben uns hier schon immer gegenseitig geholfen.“ Zwei Tage später steht er bei den Menschen unter der Brücke. Sein gebügeltes, in die Hose gestecktes Hend, verrät, dass er nicht von hier ist.

Bereits 2007 hatte es auf dem Hügel El Oasis gebrannt. Doch die Bewohner*innen waren zurückgekehrt. Dieses Mal dürfte dies schwieriger werden.

In dieser Zeit konnten auch Sozialprojekte das Vertrauen in die Stadtverwaltung nicht zurückgewinnen. Mittlerweile ist Federico Gutiérrez von der rechts-neoliberalen Regierungspartei Partei der Nationalen Einheit Bürgermeister. Als Teil des Entwicklungsplans wurde der kolumbianische Stararchitekt Rogelio Salmona damit beauftragt, ein Kulturzentrum im Herzen des Viertels zu bauen. Neben kostenlosen Bildungs- und Kulturangeboten für die Nachbarschaft gibt es auch Konzerte und Veranstaltungen bekannter Künstler. Diese ziehen Menschen aus ganz Medellín an. Das Kulturzentrum und der ebenso schicke neu gebaute Kindergarten nebenan hätten die Mietpreise in der Umgebung in die Höhe getrieben, meint Carlos – staatlich vorangetriebene Gentrifizierung. So droht Vertriebenen ein weiteres Kapitel Vertreibungsgeschichte.

Eine Woche nach dem Brand harren die Menschen mit ihren geretteten Gütern noch immer unter der Brücke aus. Die Stadtverwaltung bietet an, für drei Monate eine Wohnung für alle Brandgeschädigten zu mieten. Sollte es bis dahin keine langfristige Lösung geben, werde die Übergangsmiete um neun Monate verlängert.

Eine langfristige Lösung kann für die Bewohner*innen allerdings nur eine neue Unterkunft im Viertel sein. Die Stadtverwaltung sieht dafür keinen Platz. „Ein Turm für die ganze Gemeinschaft, hier in der Nähe. Das wäre in Ordnung“, sagt Cristian schmunzelnd. „Ich trage die Revolution im Herzen“ , sagt Carlos, kampfbereit, um den Hügel El Oasis zu verteidigen und dem Ruf des Viertels alle Ehre zu machen.
Und trotzdem: Es sieht so aus, als habe das Feuer den Umstrukturierungsprozess von Moravia beschleunigt.

ALTERNATIVE LANDWIRTSCHAFT

Foto: Grettel V. Navas, Albas Sud Fotografía (CC BY-NC-ND 2.0)

Landwirtschaftliche Erzeugnisse aus Costa Rica: Europa denkt da vor allem an Bananen und Ananas, tropische Früchte eben. Aber das kleine zentralamerikanische Land produziert alles, was man sich vorstellen kann. Auf den Wochenmärkten liegen Äpfel neben Mangos, Maniok neben Kartoffeln, Brombeeren neben Brotfrüchten, Kochbananen neben Karotten. Die unterschiedlichen Klimazonen machen diese Vielfalt möglich. Doch während die Ananas-, Orangen- und Bananenplantagen im Tiefland von Exportrekord zu Exportrekord rasen, haben Costa Ricas Bauernfamilien im Hochland zu kämpfen. Seit den Finanz- und Wirtschaftskrisen der 80er und 90er Jahre hat der Staat seine Unterstützung für die kleinbäuerliche Landwirtschaft weitgehend eingestellt. Viele Bauernfamilien leben heute, mit Einnahmen unter 1000 US$, am oder unter dem costa-ricanischen Existenzminimum. Doch es gibt Alternativen.

„Bei uns ist alles biologisch und zertifiziert“, preist der 24 Jahre junge Ökobauer Jonathan Castro Granados auf dem Wochenmarkt seine Produkte an. Sieben Familien haben sich vor Jahren zu einer Kooperative zusammengeschlossen und können heute eine lange Liste von 85 Erzeugnissen anbieten. Vorher hatte ihnen die konventionelle Landwirtschaft die Böden ausgelaugt und gesundheitliche Probleme gebracht. Heute produziere man gesunde Produkte, die aber auch wirtschaftlich Sinn machen: „Bio ist sicherlich teurer wegen des Arbeitseinsatzes und der Zertifizierungskosten. Dafür bringen unsere Erzeugnisse mehr ein. Wir verkaufen auch Warenkörbe, die wir direkt zu den Kund*innen bringen, die Kund*innen wissen, wann sie was bekommen – und wir können besser planen.“

Emilce Fuentes stapft in hohen Lederstiefeln über ihre sechs Hektar große Finca, die auf 600m Höhe tief unter dem Turrialba Vulkan liegt. Lange Kleidung und ein breiter Bast-Sombrero schützen sie vor der Sonne, scharfen Blättern und Getier. Emilce ist pensionierte Lehrerin und betreibt ihre Finca teils als Nebenerwerb, teils als traditionsbewusstes Hobby. Die Ausläufer des Turrialba werden seit Generationen von Kleinbäuer*innen kultiviert, die dort, wie Emilce, Kaffee, Kakao und Bananen anbauen. Oder eben Zuckerrohr. Doch die weltweiten Zuckerpreise sind seit Jahren derart im Keller, dass es im teuren Costa Rica fast unmöglich ist, kostendeckend für den konventionellen Weltmarkt zu produzieren.

Aber auch hier gibt es eine Nische: Und die liegt ausgerechnet in der Zusammenarbeit von Kleinbäuer*innen mit einem familieneigenen Großbetrieb „ASSSUKKAR“, dem größten Zuckerproduzenten in der Region. Der hatte schon vor Jahren auf Biozucker umgestellt, den Bioläden in aller Welt gerne ins Sortiment nehmen und der deutlich bessere Preise bringt. Noch lukrativer ist Bio und Fairtrade zertifizierter Zucker. Das Problem: Betriebe von Assukkars Größe entsprechen nicht den Fairtrade-Kriterien, die ja gerade die kleinbäuerliche Wirtschaft fördern wollen. Aber meistens haben Kleinbäuer*innen weder eine eigene Zuckerrohrsiederei noch Zugang zum internationalen Markt. Deswegen darf fair gehandelter Bio-Vollrohrzucker bis zu 49 Prozent Mengenanteil von größeren Betrieben wie Assukkar enthalten.

“Als Kleinbäuerin, vor allem in der Biolandwirtschaft,, braucht Du einfach eine Organisation, auf die Du Dich stützen kannst.“

Assukkars Partner*innen sind nicht Kleinbäuer*innen wie Emilce, sondern die von ihr und 50 Nachbar*innen gegründete “Vereinigung biologisch und umweltverträglich anbauender Produzenten” auf spanisch abgekürzt APOYA. Die Erlöse für das Bio-Fairtrade-Zuckerrohr lassen sich mit über 3000 Euro pro Jahr und Hektar sehen – mehr als doppelt so viel wie bei konventionellem Anbau, sagt Emilce. Hinzu kommt die Fairtrade-Prämie, die auf den Vollrohrzuckerpreis aufgeschlagen und an Apoya, den Kleinbauern-Verein, gezahlt wird. Das Geld ist für die Weiterentwicklung der Kooperative gedacht, für Schulungen, für gemeinschaftliche Anschaffungen und Marketinginitiativen. Für Emilce sind Fairtrade und Kooperativenwirtschaft ein Segen: „Ohne Apoya hätte ich keinen Markt. Als Kleinbäuerin, vor allem in der Biolandwirtschaft,, braucht Du einfach eine Organisation, auf die Du Dich stützen kannst.“

Das Dorf Santa Maria de Dota ist eines der Zentren des costa-ricanischen Kaffeeanbaus. Um das Dorf herum und die Hügel hinauf leuchtet das Dunkelgrün der Kaffeebüsche, dazwischen Bananenstauden oder Mangobäume, darüber Wald. Anfang des Jahrtausends brachen die Kaffeepreise dramatisch ein und Costa Rica mit seinen hohen Lebenshaltungs- und Produktionskosten war plötzlich nicht mehr konkurrenzfähig – zahllose Kaffeebäuer*innen mussten aufgeben. In Santa Maria de Dota hat der Kaffee überlebt – und gedeiht mittlerweile wieder prächtig.

COOPEDOTA, die Kooperative der Kaffeeproduzenten von Santa Maria de Dota und Umgebung, liegt am Ortseingang. Silos, Mühlen und Trockenanlagen dominieren schon optisch das Stadtbild. 1960 wurde Coopedota gegründet, weil die Bäuer*innen damals keine Möglichkeiten hatten, für Ernte einen guten Preis zu erzielen. Heute hat die Kooperative 900 Mitglieder. Manager Roberto Mata Naranjo sitzt in seinem Büro direkt hinter dem Labor der Qualitätskontrolle, ein acht bis zehn Stundentag bei Kaffeeduft: „Anderswo sind die Kaffeebäuer*innen komplett den Händler*innen, den Transnationalen ausgesetzt. Obwohl sie sehr guten Kaffee haben, erzielen sie miese Preise – und die Großhändler*innen freuen sich diebisch.“ COOPEDOTA hat dagegen den gesamten Prozess in der Hand: „Wir waschen und trocknen die Kaffeebohnen und bereiten sie für den Export auf. Wir mahlen und rösten den Kaffee für den nationalen Markt. Dadurch erzielen wir fast den doppelten Preis.“

Foto: WhatsAllThisThen (CC BY-NC-ND 2.0)

Die Kooperative exportiert von der Rainforest Alliance zertifizierten Kaffee, also Kaffee, der nachhaltig Regenwald schonend produziert ist. Ein zweites Zertifikat weist COOPEDOTA als CO2 neutral aus. Fast 90 Prozent der Wälder um Santa Maria de Dota sind geschützt, die meisten davon noch Primärwälder. Wie beim fair gehandelten Rohrzucker sind auch beim umwelt- und klimaschonend produzierten Kaffee viele Verbraucher*innen auf der Welt bereit, einen höheren Preis zu zahlen. Den Bäuer*innen von Coopedota bringt das nach Angaben des Managers ein Extra von mindestens 25 US-Dollar pro Zentner Kaffee.

Costa Ricas Landwirtschaftsminister Luis Felipe Araus redet gerne über die zwei Säulen costa-ricanischer Landwirtschaftspolitik: Den Export von Agrarprodukten, der Devisen bringt und den Erhalt der heimischen Landwirtschaft durch die Förderung lokaler Märkte. Ein bisschen Ernährungssouveränität will der Minister also erhalten – trotz des Ananasbooms und des großen Einflusses der Großgrundbesitzer*innen und transnationaler Agrounternehmen auf die Politik: „Wenn wir wollen, dass die Landwirtschaft auch weiterhin produziert, was wir essen, dann müssen die jungen Menschen Liebe zur Landwirtschaft entwickeln und in der Produktion eine Perspektive sehen.“ Das könne durch Forschung geschehen, durch Hilfe bei der Vermarktung oder durch die Weiterverarbeitung landwirtschaftlicher Produkte. Ziel dabei sei immer, die Produktivität zu steigern und Mehrwert zu schaffen. Hört sich super an, nur in der Praxis sagen viele Landwirt*innen: Da tue sich wenig. Förderungen für umweltschonende Landwirtschaft gebe es, sie seien aber mickrig und mit viel Bürokratie verbunden.

Auf der anderen Seite lasse die Politik zu, dass immer mehr landwirtschaftliche Flächen zu giftigen Monokulturen werden.

Auf der anderen Seite lasse die Politik zu, dass immer mehr landwirtschaftliche Flächen zu giftigen Monokulturen werden. In wenigen Jahren hätte sich die Anbaufläche für Ananas verdoppelt, schimpft Mauricio Álvarez, Vorsitzender der costa-ricanischen Umweltschutzföderation Fecon. Die Ananas ist Costa Ricas Exportschlager, der alles andere untergeordnet wird: Der exorbitante Pestizid- und Herbizideinsatz auf den Feldern, der den Anliegergemeinden das Grund- und Oberflächenwasser vergiftet – die Opferung von Kulturlandschaften und Waldrodung kommen hinzu. Gerade erst hat das costa-ricanische Umweltministerium eine 500 Hektar große Ananas-Monokultur des Fruchtkonzerns Pindeco-Del Monte genehmigt, die laut Álvarez das Risiko birgt, eines der größten Mangroven-Gebiete Zentralamerikas zu zerstören.

Die Karibikküste Costa Ricas ist seit einem guten Jahrhundert Bananenland. Kilometerweit ziehen sich die Plantagen die Hauptstraße entlang. In den letzten zwanzig Jahren sind Ölpalmenmonokulturen dazu gekommen, etwas weiter im Landesinneren dehnt sich die Ananas bis zum Horizont aus. In der Karibikebene Costa Ricas ist vom tropischen Regenwald in der Nähe von Hauptstraßen kaum noch etwas zu sehen. Ein paar Kilometer landeinwärts von der Ansiedlung Hone Creek am südlichen Karibikabschnitt führt der Deutsche Manuel Tobias Mittelhammer Naturliebhaber*innen stundenlang durch sein 130 Hektar großes Regenwaldreservat. Gestresste Bänker*innen, die mal ohne Strom, Internet und Handyempfang abschalten wollen, sind ebenso zu Gast wie Studierende oder Yoga-Begeisterte.

Foto: Tim Vo (CC BY-NC-ND 2.0)

Aber Wald kann noch viel mehr, als nur optisch oder akustisch zu beeindrucken. Er kann, zum Beispiel im Rahmen von Permakultursystemen, sogar eine Alternative zur giftigen Monokulturwirtschaft sein, sagt der diplomierte Forstingenieur, der seit zehn Jahren in Costa Rica lebt: „Tropischer Wald besitzt ein unglaubliches Potenzial.“ Es können Bananen geerntet werden, dann Maniok, Wasserbrotwurzeln, Ñame (Yamswurzeln), mexikanischer Baumspinat, Süßkartoffeln, Kokosnuss, Avocados, Wasserapfel, Mangos. Dazu sei der Wald eine Apotheke, in dem Heilpflanzen gegen Wehwehchen, aber auch gegen schlimmere Krankheiten wachsen. „Diese Systeme sind eigentlich rentabler, gerade als die großen Monokulturen. Denn bei denen ist natürlich das Problem, dass die Böden immer mehr auslaugen und dann immer mehr Pestizide und künstliche Dünger eingesetzt werden müssen, was dann einen großen Teil vom Ertrag auch wieder zunichte macht.

Die sozialen, Umwelt- und Klimafolgen der globalisierten Monokultur-Landwirtschaft haben neues Interesse für eine regionale, ökologische, tropische Landwirtschaft geweckt. Auch wenn keine Ökobäuer*innen, keine Fairtrade-Produzierenden, keine Genossenschaftler*innen auf ihrem Land reich werden dürften. Aber solange die Hauptstadtregion San José Jobs bietet, die zwar bei den hohen Lebenshaltungskosten dort auch kaum zum Leben reichen, ist man vielleicht auf seinem kleinen Bauernhof besser aufgehoben. Diejenigen zumindest, die neue Wege gehen.

AUTONOM DURCH DIE KRISE

An meinem ersten Markttag auf der Feria del Centro war mir zum Heulen zumute, als ich die tausenden Menschen gesehen habe, die wegen der knappen Lebensmittel wie Zucker und Nudeln anstehen – und nicht etwa weil sie die Produkte geschenkt bekommen, sondern zu Preisen erhalten, die sich die meisten nur knapp leisten können. Dass eine solidarische und offene Bewegung wie Cecosesola massive Kontrollmaßnahmen ergreifen muss, um die Schlangen in ruhige Bahnen zu lenken, fand ich besonders traurig. Dabei ist die Situation allen Berichten zufolge viel entspannter als noch vor einem halben Jahr.

Schlange stehen für das Nötigste. Knappheit führt zu endlosen Menschenschlangen. Foto: Phillip Bauer

Mitte 2016 eskalierte die Situation in den Schlangen bei allen ferias (Wochenmärkten) mehr und mehr. Am gefragtesten war und ist das Maismehl für das Grundnahrungsmittel Arepas, aber auch Zucker, Nudeln, Toilettenpapier, Zahnpasta waren und sind selten und zu überhöhten Preisen zu bekommen. Bei Cecosesola wurden diese Dinge, wenn es sie gab, recht preiswert verkauft. Die Leute fingen an, sich schon Tage und Nächte vor dem Markttag Plätze in der Schlange zu reservieren. Die Schlangen reichten einmal um den Block herum, bis zu einem Kilometer. Gewiefte reservierten einen ganzen Bereich schon Tage vorher, um die Warteplätze zu verkaufen. Andere versuchten sich mit Gewalt, teils mit Waffen, vordere Plätze zu sichern. Bei der Feria Ruiz Pineda wurden insgesamt drei Menschen bei solchen Auseinandersetzungen umgebracht. Die Kooperative musste Polizei und Armee zu Hilfe rufen, die ihrerseits gewaltsam versuchten für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

Die Situation wurde so unerträglich, dass etwas geändert werden musste. Das Maismehl wurde ganz aus dem Sortiment genommen. Ein umstrittener Punkt, weil gerade die kleineren Kooperativen gerne wenigstens für die Mitglieder weiter Maismehl gehabt hätten. Aber die Prinzipien „Alles im Dienst der community“ und „Keine Privilegien für die Mitglieder“ waren ausschlaggebend. Bei Treffen und zwischendrin werden, wie im ganzen Land, regelmäßig neue Rezepte für Arepas ganz ohne Maismehl ausgetauscht. Zucker wird lieber nur noch jedes zweite Wochenende verkauft.

Die kleine ländlichen Kooperative 8 de Marzo begann als erste, einen Tag im Voraus Nummern zu vergeben. Dafür wurden und werden die etwa 200 Personalausweise der Einkaufswilligen in eine Kiste geworfen, geschüttelt und in der Reihenfolge gezogen, in der am nächsten Tag eingekauft werden kann. Die Verlosung dauert eine Dreiviertelstunde und am nächsten Tag verkürzt sich das Warten vor dem Laden deutlich, weil die Nummer eine Orientierung gibt. Noel erzählt mir, wie die mittelgroße Kooperative El Triunfo das auch so versucht hat, mit etwa 4000 Menschen, die einkaufen wollten. Obwohl sie die Leute in drei Gruppen aufteilten (vor dem Markt, auf dem Sportplatz, an einer Straßenecke) war es eine Katastrophe. Die Ausgabe von je knapp 1500 Ausweisen dauerte bis tief in die Nacht. Leute wollten verzweifelt ihren Ausweis wiederhaben, aber der war ja nicht so schnell wieder rauszufischen.

Noel und andere findige cooperativistas haben deshalb ein Computerprogramm für alle ferias entwickelt, das die Nummern nach Zufallsprinzip vergibt. Die Einkaufswilligen müssen an einem der Tage vorher mit ihrem Ausweis kommen und bekommen einen Nummernzettel. Seit März gibt es statt Zettel eine personengebundene Chipkarte und an den Eingängen Computer, die anzeigen, ob die Person tatsächlich an der Reihe ist.

An den Eingängen ordnen Menschen von Cecosesola die Schlangen. Zum Teil helfen Freiwillige von den kommunalen Räten dabei (consejos comunales, ein basisdemokratisches Element des venezolanischen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“). Bei den großen ferias sind Armee und Polizei beteiligt.

An meinem erwähnten ersten Markttag wurden die Leute vor dem Tor sortiert, von jeweils hundert Menschen die Ausweise eingesammelt (zum Beispiel die Nummern 7300 bis 7399), ein Soldat mit dem Ausweisbündel in der Hand begleitete dieses Hundert dann auf den Hof zur eigentlichen Schlange, wo den Menschen in genau der Reihenfolge die Ausweise wieder ausgehändigt wurden. Durch ein kleines Labyrinth von Gittern (die Vordrängeln erschweren sollen) gelangten die Menschen zu einer weiteren Überprüfung ihres Nummernzettels und waren endlich drin in der Halle mit den Trockenwaren – um sich später wiederum an der Kasse anzustellen.

Die Vielfalt der Tricks und Kniffe der Menschen aus der community, um schneller oder überhaupt einkaufen zu können, ist enorm

Die Vielfalt der Tricks und Kniffe der Menschen aus der community, um schneller oder überhaupt einkaufen zu können, ist enorm: Leute leihen sich Ausweise von anderen, um mehrmals am Wochenende einkaufen zu können, wollen mit den Ausweisen ihrer Kinder rein, drucken sich die Nummernzettel selbst oder kopieren sie. Es gibt die bevorzugte Schlange der Senior*innen und körperlich Beeinträchtigten, die sich teilweise dafür bezahlen lassen, dass jemand sie begleitet, „um ihnen zu helfen“ und dabei selbst einzukaufen. Die Verlockung, Produkte „mitgehen“ zu lassen, ist verständlicherweise groß, wenn der Wochenlohn nicht fürs Nötigste reicht.
In der Hinsicht sind die cooperativistas nicht gerade nachsichtig. Die Senior*innen dürfen nur noch ohne Begleitung einkaufen. Essen innerhalb des Marktes ist verboten, auch für die Arbeitenden. An den Ausgängen sitzen compañeras und compañeros, die sich von allen Einkaufenden den Kassenbon und den Tascheninhalt zeigen lassen und den Bon dann ungültig machen.

Wer trickst, wird für drei Monate „blockiert“, das heißt bekommt keine Nummer mehr fürs Trockensortiment. Wer beim Klauen erwischt wird, für immer und für alle Märkte von Cecosesola.

Begründet wird das damit, dass das System der Nummernvergabe per Zufallsprinzip nur akzeptiert wird, wenn es klare für alle gleichermaßen geltenden Regeln gibt, die auch eingehalten werden. Die Befürchtung ist, dass sich an jedem erfolgreichen Tricksen andere ein Beispiel nehmen und das ganze mühsam eingerichtete System ad absurdum führen.

Das Klauen wird so schwer genommen, weil es eine Verabredung gibt, dass ein Verlust von ein Prozent der Produkte toleriert wird (das ist nicht viel mehr als das, was zum Beispiel kaputt geht und im Müll landet oder wo sich Leute bei der Inventur verzählen). Ist der Verlust höher, wird das auf den kollektiven Verdienst umgerechnet, das heißt, alle bekommen etwas weniger. Diese Verabredung erhöht die Motivation, sehr genau buchzuführen über die Ein- und Ausgänge von Waren, setzt aber auch unter Druck.

Ich durfte miterleben, wie allen „Blockierten“ die Gelegenheit gegeben wurde, zur Feria zu kommen und zu reden. Wir saßen mit vier bis fünf Menschen von Cecosesola und der „blockierten“ Person im Kreis, haben uns vorgestellt und uns die jeweilige Geschichte angehört. Die meisten hatten einen starken Wunsch, so schnell wie möglich wieder einkaufen zu können, und entschuldigten sich wortreich. Die Fragen der compañeros waren freundlich und daran interessiert, etwas über den sozialen und familiären Hintergrund der Person zu erfahren. Ein anderes Thema war, was die Person über die Kooperative weiß. Es wurde versucht darzustellen, was das Besondere an Cecosesola ist und warum Transparenz, Ehrlichkeit und Solidarität hier so wichtig genommen werden. „Wir nutzen die Gelegenheit für einen Bildungsprozess, damit die community uns besser kennenlernt“, beschreibt cooperativista Ender das Vorgehen.

Allen, die auf die eine oder andere Art geschummelt hatten, wurden nach den Gesprächen die Blockierungen aufgehoben. Einem, der geklaut und danach einen rührenden Entschuldigungsbrief geschrieben hatte, wurde die Blockade aufgehoben unter der Bedingung, dass er am nächsten Markttag einige Stunden selbst bei den Taschenkontrollen helfen sollte.

Die Wirtschaftskrise bringt noch etliche weitere Probleme mit sich, die Cecosesola vor verschiedene Herausforderungen stellen. Das Einkaufsteam braucht viel mehr Leute und hat viel mehr Arbeit und trotzdem gibt es manchmal kaum was zu verkaufen. Die Arbeiter*innen von Cecosesola dürfen zwar einen Tag vorher abends ohne Nummer einkaufen, aber auch für sie gilt die gleiche Knappheit. An den Eingängen sind viel mehr Leute nötig als vorher, ein privater Wachschutz wird zusätzlich bezahlt. Mindestens drei Autos wurden in den letzten Monaten geklaut, Geld aus den Kassen ist verschwunden. In einigen Fällen müssen es Mitglieder von Cecosesola gewesen sein. Zudem sind die Arbeitszeiten explodiert: Freitags, Samstags geht es um 5.30 Uhr los und während früher um 17 Uhr Schluss war, geht es mittlerweile oft bis 21 oder 22 Uhr. Abgesehen von Schlafmangel und Überarbeitung ist das auch ein Problem wegen der Unsicherheit in den Straßen. Bei einer solchen Gelegenheit wurde ein Auto der Kooperative, das Menschen nach Hause brachte, von einer bewaffneten Bande überfallen. Eduardo, der Fahrer, wurde mitgenommen und in einem anderen Stadtteil aus dem Auto geworfen.

Als weitaus größte Herausforderung in den Krisenzeiten sieht Jorge, bei all den konkreten Problemen nicht den persönlichen und kollektiven Transformationsprozess aus den Augen zu verlieren – der ja aus Sicht von Cecosesola Grundlage und wichtigster Zweck aller Aktivitäten ist.

Es sind schwere Zeiten für Solidarität in einer Gesellschaft, die sich immer mehr zum Überleben auf Kosten anderer entwickelt. Umso bewundernswerter, dass Cecosesola an dem Prinzip festhält, dass für die community und nicht nur für die Mitglieder gearbeitet wird. Andererseits zeigt sich auch die Krisenfestigkeit der aufgebauten Strukturen. Viele hierarchische Betriebe ähnlicher Größe sind schon pleite gegangen. Mit ihrem „Vorschuss“, Krankenversicherung, Mittagessen und Zugang zu günstigen Lebensmitteln haben die Arbeiter*innen von Cecosesola immer noch etwa dreimal so viel wie der Großteil der Venezolaner*innen. Das zeigt doch, dass es Sinn macht, solidarische Strukturen aufzubauen. An der persönlichen und kollektiven Transformation weiterzuarbeiten ist vielleicht eine der größten Herausforderungen in diesen Zeiten. Dass das Zeit braucht und Dranbleiben und Weiterentwickeln dafür wichtig sind – das zeigen die 50 Jahre von Cecosesola eindrücklich.

„WILLKOMMEN ZU HAUSE, BRÜDER UND SCHWESTERN!“

Elva Cutz erinnert sich noch gut an die kühle, vorletzte Nacht des Jahres 1996. „Meine Mutter und ich gingen zur Plaza de la Constitución im Zentrum von Guatemala-Stadt und sahen da Teile der Friedensverkündung. Aber ich habe das damals gar nicht verstanden. Ich sah nur Menschen, die weinten, Menschen, die sich vor Glück umarmten, und die vielen Parolen des Friedens dort auf dem riesigen Platz.“ Zwanzig Jahre sind vergangen seit jener Nacht. Auf der Plaza de la Constitución, dem Platz der Verfassung, dem wichtigsten Platz Guatemalas, hatten sich tausende Menschen versammelt. Sie jubeln, als der damalige Präsident Álvaro Arzú verkündet, dass über 35 Jahre Krieg zu Ende seien. Elva war damals noch zu klein, um zu begreifen, was dort passierte und welche Bedeutung dieser Tag für Ihr weiteres Leben haben sollte. Die Erwachsenen hatten es geschafft, für sie, wie für viele Kinder Guatemalas, eine Welt fern der schlimmen Erlebnisse zu schaffen, die sie selbst geprägt hatten. „Ich habe als Kind viele Geschichten gelesen“, erzählt die indigene Aktivistin Andrea Ixchiú. „Eine dieser Geschichten hieß Blutbad im Wald, von Ricardo Falla, einem jesuitischen Priester. Ich wollte wissen, warum die Geschichten der Erwachsenen so traurig und schrecklich sind. Ich erinnere mich, dass mein Vater sich zu mir gesetzt hat und sagte: Das sind keine Märchen, das ist wirklich passiert in Guatemala. Dass es einen Krieg gab, in dem schlimme Sachen passiert seien, aber dass das Land dann begonnen habe, Frieden zu schließen.“

Die, die damals schon älter waren, erinnern sich sehr wohl. Rafael Herrarte, Jahrgang 1959, stammt aus einfachen Verhältnissen. Sein Vater war Straßenarbeiter, seine Mutter besaß ein kleines Geschäft. Als Jugendlicher war Rafael Mitglied einer Kirchengruppe, später dann Gewerkschafter. „Meine Generation ist gezeichnet durch die Morde an Intellektuellen in den 1970er Jahren. 1980 dann stürmte die Polizei eine nationale Arbeiterversammlung und verschleppte 39 Gewerkschafter – Menschen, für die ich größten Respekt empfinde und die ich nie wieder gesehen habe. Das hat in mir den endgültigen Bruch mit dem ausgelöst.“

Community-Radios im Hochland: Radioaktivist Tino in Aktion (Fotos: Voces Nuestras)

1944 hatten die Guatemalteken den letzten einer langen Reihe von Diktatoren gestürzt. Bis dahin war Guatemala ein Feudalstaat gewesen, in dem Bäuerinnen und Bauern zur Arbeit auf den Kaffee- und Bananenplantagen gezwungen wurden und Arbeiter*innen kaum Rechte hatten. Die folgenden zehn Jahre der beginnenden Demokratie gelten bis heute als der „guatemaltekische Frühling“, eine Zeit des Aufbruchs, der Modernisierung. Nicht nur die Frauen erhielten das Wahlrecht, auch Analphabet*innen und damit ein Großteil des ländlichen und indigenen Guatemalas. Die demokratischen Regierungen machten sich an die Arbeit: Über den Ausbau der Universitäten, den Aufbau eines Gesundheitssystems, durch Bildungsreformen und Infrastrukturprojekte sollte Guatemala in das 20. Jahrhundert katapultiert werden.

Die Pläne für eine Landreform berührten jedoch direkt die Interessen der Großgrundbesitzer und des US-amerikanischen Bananenkonzerns United Fruit, bekannt vor allem durch seine Marke Chiquita. United Fruit kontrollierte damals riesige Ländereien in Guatemala und hatte beste Verbindungen zur US-Regierung des damaligen Präsidenten Dwight D. Eisenhower und zur CIA. Der Putsch gegen den gewählten Präsidenten Jacobo Árbenz kam schließlich im Juni 1954.

Die Militärs ergriffen mit US-Unterstützung für Jahrzehnte die Macht und gingen gegen Widerstand zunehmend brutal vor. In den 1970er Jahren vernichteten politische Morde einen Großteil der intellektuellen Klasse von Guatemalas, in den 1980er Jahren wurde das Land Schauplatz des schlimmsten Völkermordes der westlichen Hemisphäre seit dem Zweiten Weltkrieg – mit über Hunderttausend Toten, Verschwundenen, Vertriebenen.

Gerade auf die indigene Beteiligung am Aufstand reagierte die Militärdiktatur mit brutalster Gewalt. Ilom, Chel, Chisis, Acul, Río Negro, Sacuchum Dolores, San José und San Antonio Sinaché: es sind heute nicht nur Namen von indigenen Dörfern, sie stehen auch für die Massaker, die Guatemalas Armee und Todesschwadronen an der indigenen Bevölkerung begangen haben. Vor allem ein Name steht für die Gräueltaten der jahrzehntelangen Militärdiktatur: Efraín Ríos Montt. Als Junta-Chef von 1982 bis 1983 soll er mindestens elf Massaker an indigenen Dorfgemeinschaften befohlen haben.

Die guatemaltekische Politik hat jedoch bis heute kaum ein Interesse, die Konfliktursachen anzugehen, geschweige denn Verantwortung für die vom Staat begangenen Verbrechen zu übernehmen. Doch ein Staat, der seine Kriegsverantwortung nicht anerkennt, kann kaum den Frieden gestalten. Rafael Herrarte, dessen Jugend durch die Morde der Militärs geprägt war, ist heute Chef des Forensischen Institutes CAFCA. CAFCA hat nach dem Friedensschluss vor 20 Jahren, auch mit europäischer Unterstützung, Dutzende Massengräber aufgespürt und untersucht. Die meisten Massaker hatte die Armee angerichtet, in den Gräbern liegen die Skelette vieler Kinder. Viele Frauen waren vor ihrer Ermordung vergewaltigt worden. Wunden, die nur schwer verheilen.

In den 1990er Jahren änderte sich die Lage. Guatemala war aufgrund der Schreckensmeldungen international zunehmend isoliert. Dies ging der dominierenden Unternehmer- und Großgrundbesitzerkaste, den ehemals großen Unterstützern der Militärdiktatur, zunehmend ans Geld. Um wieder Geschäfte machen zu dürfen, musste der Staat auf internationalem Parkett wieder eine gewisse Legitimität zurückgegeben werden. Dazu musste man den Frieden schließen.

Während die einen zurück zu internationalen Märkten wollten, wollten Hunderttausende andere zurück auf ihr Land, zurück nach Hause, zurück zu ihren Familien. Frieden war in den 1990er Jahren die Antwort für alle. 1991 endlich begann Guatemalas Regierung unter Aufsicht der Vereinten Nationen in Mexiko und Skandinavien mit der URNG-Guerrilla zu verhandeln. Im Dezember 1996 wurden schließlich zwölf Friedensabkommen unterzeichnet. Auch César Saloj kann sich noch gut an jenen Tag erinnern. „Wir wohnten damals an der Interamericana, auf der tausende Flüchtlinge in unzähligen Bussen aus dem mexikanischen Exil zurückkehrten. Wir haben Transparente gemalt, wo drauf stand: ‚Willkommen zu Hause, Brüder und Schwestern!’. Wir haben Mandelmilch und Sandwichs verteilt. Mein Vater war sehr bewegt, er ging stundenlang von Bus zu Bus und hieß alle Willkommen. Aber wir Kleinen wussten nicht mal, warum all diese Menschen weggegangen waren.“

„Das sind keine Märchen, das ist wirklich passiert in Guatemala.“


Die zwölf Friedensabkommen handeln von Menschenrechten, von demokratischen Verfassungsreformen, von der Rückführung der Flüchtlinge und der Wiedereingliederung der Guerillakämpfer in die Gesellschaft. Sie versprechen Landreformen, ländliche Entwicklung und indigene Rechte, um die Ursachen des Konfliktes anzugehen. Eine Wahrheitskommission sollte die im Bürgerkrieg von allen Seiten begangenen Verbrechen aufklären. Unter dem Vorsitz des deutschen Völkerrechtlers Christian Tomuschat kam die Kommission 1999 zu dem Ergebnis, dass 93 Prozent der Gräueltaten von der Armee begangen worden und 83 Prozent der Opfer Indigene waren.

Alberto Ramirez, genannt Tino, stammt aus einer Maya-Familie. Als Tinos Vater Anfang der 1980er Jahre von der Armee verschleppt und ermordet wurde, flohen Mutter und Tino zu der Guerilla in die Berge. Aus dem heranwachsenden Tino wurde ein Guerillero – und kämpfte gegen Rassismus und ungleiche Besitzverhältnisse. Aber Tinos Waffen waren weder Gewehr noch Dynamit, sondern ein Mikrofon und ein Fahrrad. Anfang der 1980er war der Guerilla klar geworden, dass sie ein eigenes Medium brauchte – um aufzuklären, anzuklagen, zu mobilisieren. „Mich hat man über die Grenze nach Mexiko geschickt“, erzählt Tino. „Von dort aus habe ich produziert und die Tonkassetten mit dem Fahrrad nach Guatemala geschmuggelt, die wir dann vom Vulkan gesendet haben“. Neun Jahre lang sendete La Voz Popular von den Hängen des Vulkans Tajumulco. Für Tino war das Guerilla-Radio ein Sprachrohr der Stimmlosen, das von den Mächtigen als Bedrohung empfunden wurde. Mehrere Militäroffensiven am Vulkan waren die Folge. Doch der Friedensschluss 1996 bedeutete das Ende von La Voz Popular. Heute lebt der mittlerweile 50-jährige Tino in der Nähe von Quetzaltenango, der zweitgrößten Stadt Guatemalas. Radio macht er weiterhin. Nach dem Friedensschluss gründete Tino zusammen mit anderen ehemaligen Guerillafunker*innen die NGO Mujb’ab’l Yol. Hier produzieren Jugendliche kulturelle, bildungsorientierte und politische Programme. Dem Senderverbund Mujb’ab’l Yol gehören mittlerweile 26 Community-Radios im Hochland an.

„Es kann keine Demokratie ohne freie Meinungsäußerung geben und ohne freie Medien keine freie Meinungsäußerung“, sagt Tino und fügt hinzu: „Aber Sprachrohre der Stimmlosen, die sind auch in sogenannten Demokratien für die Mächtigen eine Bedrohung.“ In Guatemala gebe es eine herrschende Klasse, die nicht wolle, dass Indígenas ihre eigene Entwicklung gestalten. Community-Radios würden aber einen Beitrag zur lokalen Entwicklung, zur Kultur, zur Bildung, auch zur Mobilisierung der Menschen leisten. Vielleicht auch deshalb haben Guatemalas Regierungen nach Friedensschluss die Legalisierung von indigenen Radios verhindert und sie stattdessen kriminalisiert.

„Gestern, heute und immer“: Wandbild im Senderverbund Mujb abl yol

Die Provinz Zacapa liegt zwar im trockenen, heißen Osten des Landes, aber durch zwei große Flüsse ist Zacapa gleichzeitig wasserreich. In Flussnähe werden Bananen, Ananas, sogar Weintrauben angebaut, dazu Tomaten, Paprika und Maniok, die Viehwirtschaft hat große Bedeutung. Die Flüsse speisen sich aus den Bergen in der Umgebung von Zacapa. In  diesen Bergen arbeitet Pfarrer José Pilar Álvarez Cabrera. Die Gemeinde des 54-jährigen zählt 350 Einwohner*innen, fast alle sind Maya Chort’i, Indígenas aus den Bergdörfern.

Die Bergwälder sind bedroht, durch den Bevölkerungszuwachs, vor allem aber durch die Großgrundbesitzer, die hier seit Jahrzehnten abholzen. Heute sind nur noch 20 Prozent intakt. Das Wasser ist spürbar weniger geworden. Es waren die Chort’i-Gemeinden, die sich als erste gegen die Abholzung organisiert und dann mit der katholischen und der lutherischen Kirche eine „Ökumenische und soziale Koordination zur Verteidigung des Lebens” gegründet haben.

Die Bergwälder sollen endlich unter wirksamen Schutz gestellt werden – zum Nutzen aller. Doch was so einleuchtend erscheint, hat eine Welle von Gewalt ausgelöst, gegen die indigenen Gemeinden, in Form von Morddrohungen auch gegen Pfarrer José Pilar selbst. Profite aus illegalem Holzeinschlag scheinen wichtiger als Wasser für alle. Frieden in Guatemala sehe anders aus, meint José Pilar: „Die Friedensabkommen sollten ja die Ursachen des Konfliktes beseitigen – Diskriminierung, den Rassismus, die äußerst ungleiche Besitzverteilung. Aber das hat man schnell beiseite gelegt und die Regierung hat stattdessen einen neoliberalen Kurs eingeschlagen.“ Heute gebe es mehr gewaltsame Todesfälle als während des Krieges, fügt er hinzu.

„Alle haben ganz bewusst Gewalt gegen Frauen als Machtmittel eingesetzt.“


Die Berglandschaft im Osten Guatemalas ist auch die Region, aus der Lorena Cabnal stammt. Sie ist Xinca-Indígena und Feministin. Schon in vorkolumbianischer Zeit habe sich der Machismo der Vorfahren gegen die Frau gerichtet, urteilt sie. Dann kamen Kolonialisierung und Kirche, später Diktaturen und die Aufstandsbekämpfungspolitik während des Bürgerkriegs. Aus Lorenas Sicht „haben sie alle ganz bewusst Gewalt gegen Frauen als Machtmittel eingesetzt. Der Neoliberalismus nach Kriegsende hat diese Situation sogar noch verschärft.“

Heute zählt Guatemala zu den Ländern mit den meisten Fallen von Femiziden auf der Welt: Fast 1.000 Frauen sind allein im letzten Jahr ermordet worden. Auch Lorena hat mehrfach Todesdrohungen erhalten. Die Friedensverträge haben den Frauen in Guatemala also nicht unbedingt etwas gebracht. Oder, vielleicht doch. Lorena verweist auf die heranwachsende, junge Generation, eine Generation, die wortwörtlich die Schnauze voll habe: „Es gibt neue Formen des Protests und neue künstlerischen Ausdrucksformen, Gesichter eines vielfältigen Widerstandes – und zwar sowohl in den Städten wie auf dem Land, in mestizischen wie indigenen Gemeinschaften. Diese neue Generation hat das Potenzial, in Guatemala tatsächlich etwas zu bewegen.“ Und auch Rafael Herrarte, der Chef des Forensischen Institutes CAFCA, sieht deutlich positive Entwicklungen: Die Wiederherstellung der Meinungsfreiheit, dass es heute viel mehr Raum gebe, sich zu organisieren, und etwas zu bewegen. Er verweist auf die Justiz, die in den letzten Jahren einige Militärangehörige zur Verantwortung gezogen hat.

Aber es ist größtenteils der Zivilgesellschaft zu verdanken, wenn sich in den 20 Jahren nach Friedensschluss etwas bewegt hat. Dazu gehören auch die massiven Proteste gegen die Korruption, die im letzten Jahr den Präsidenten Otto Pérez Molina und seine Vizepräsidentin zuerst aus ihrem Amtssitz und schließlich ins Gefängnis beförderten. Aber wesentlich sozialer und gerechter, weniger rassistisch und sexistisch ist Guatemala bis heute nicht. Sechs von zehn Menschen leben in Armut, vier von zehn Kindern sind unterernährt. Menschen wandern in Scharen in die USA aus, zunächst wegen Armut und Perspektivlosigkeit, mittlerweile aufgrund der Gewalt. Heute sterben in Guatemala mehr Menschen eines gewaltsamen Todes als zu Zeiten des Bürgerkrieges. Vielleicht wäre alles anders gekommen, so denken viele Guatemaltek*innen, hätten die USA nicht den guatemaltekischen Frühling weggeputscht, damals, vor über 70 Jahren.

Newsletter abonnieren