
Durch das Fenster und die Tür des schmalen Raums im Erdgeschoss des Gemeindezentrums Lxs Invisibles („Die Unsichtbaren“) dringt nur wenig Licht. Gedrängt sitzen wir um einen Tisch, auf dem selbstgemachtes Gebäck und Tee stehen, und lauschen, wie Jenny von ihrer Arbeit im Viertel berichtet. Wir, eine neunköpfige Delegation aus Deutschland bestehend aus Mitgliedern und Menschen aus dem Umfeld des Bloque LatinoamericanoBerlin,sind nach Argentinien gekommen, um von der Frente de Organizaciones en Lucha (FOL) zu lernen. Wir wollen verstehen, wie sie es schafft, direkte Hilfe mit politischer Arbeit so zu verbinden, dass beides sich gegenseitig stärkt und zu einem größeren gesellschaftlichen Wandel beiträgt.
Die FOL ist eine landesweit aktive soziale Organisation, die sich als antikapitalistisch, antipatriarchal, antiimperialistisch, antibürokratisch sowie als für den Ökosozialismus, Feminismus und eine Welt ohne Unterdrückung und Ausbeutung kämpfend definiert. Sie ging 2006 aus dem Zusammenschluss verschiedener Gruppierungen hervor, die ihre Wurzeln in der Arbeitslosenbewegung haben, welche in den 1990er Jahre im Zuge des neoliberalen Staatsumbaus entstand. Mit wenigen tausend Mitgliedern ist die FOL eine der kleineren sozialen Organisationen Argentiniens, die mit den vom formellen Arbeitsmarkt ausgeschlossenen Menschen arbeiten – einer Bevölkerungsgruppe, die über 60 Prozent der Lohnabhängigen ausmacht. Ein Großteil der Arbeit der FOL dreht sich unmittelbar darum, die grundlegenden Bedürfnisse dieser Menschen zu erfüllen und die meisten Mitglieder der FOL schließen sich ihr aus diesem Grund an. Ihre organisatorische Struktur beruht auf Asambleas, also Versammlungen, in denen die Mitglieder Alltagsfragen diskutieren und ihre Arbeit und politischen Kämpfe koordinieren. Ausgehend von diesen Versammlungen gibt es eine Delegiertenstruktur, die diese auf regionaler und landesweiter Ebene verbindet.
Die konkrete Arbeit der FOL richtet sich nach den Bedürfnissen der Menschen, die sich in ihr organisieren. Heutzutage organisieren die Mitglieder der FOL Nachbarschaftsküchen, Kindergärten, Erwachsenenschulen, Straßenreinigung und Recycling, Gesundheitszentren, begleiten Frauen und Queers nach Gewalterfahrungen, unterstützen bei Trennungen, klären sie über ihre Rechte, über Verhütung und Abtreibungen auf, besetzen Land und fordern dessen Legalisierung ein, bauen ganze Viertel mit Sozialwohnungen neu und die gedrängt-chaotischen marginalisierten Viertel so um, dass sie lebenswerter werden. Sie betreiben Sportvereine und machen Jugendarbeit, produzieren Gemüse und stellen Biotope wieder her, und sie schaffen sich über diese Projekte bezahlte Arbeit, indem sie deren Anerkennung und Entlohnung vom Staat einfordern und erkämpfen.
Zwei Wochen lang besuchen wir mit den compas („Genoss*innen“) der FOL verschiedene Projekte und erhalten politische und historische Bildung. Unsere erste Station ist Buenos Aires, wo wir gleich am ersten Tag von der Mesa de Delegadxs, dem Delegiertengremium der Versammlungen der Stadt, feierlich in Empfang genommen werden. Reihum stellen sich die Delegierten, die die Asambleas vertreten, vor. „Wir sind hier, weil die FOL uns geholfen hat und wir mit ihr gelernt haben, für unsere Rechte zu kämpfen; für die Rechte, die jedem Menschen zustehen“, erklärt eine Delegierte, als sie an der Reihe ist. Der weit größte Teil der Anwesenden sowie generell der Mitglieder der FOL sind Frauen. Die meisten kommen aus Bolivien, Peru und Paraguay und sind auf der Suche nach einem besseren Leben nach Argentinien migriert.
In verschiedenen villas (marginalisierten Vierteln, Anm. d. Red.) der Stadt lernen wir die dort in den Asambleas organisierten compas kennen, darunter auch Jenny. Sie ist das am längsten aktive Mitglied des Gemeindezentrums Lxs Invisibles. Seit 2003 existiert das Zentrum, das in einem schmalen, durch andere Gebäude eingeschlossenen Haus in der Villa 31 im Zentrum von Buenos Aires liegt. Jenny erzählt uns davon, wie sie sich 2014 mit ihrer Kiezversammlung der FOL anschließen wollten. Einige ihrer compas waren damals dagegen, denn Teil der FOL zu sein, bedeutet eine politische Ausrichtung inklusive der Teilnahme an Demonstrationen und anderen Aktionen. Stattdessen wollten sie eine eigene Kooperative gründen. Der Streit eskalierte und als sich Jennys Fraktion in Lxs Invisibles mit Vertreter*innen der FOL trafen, wurden sie von bewaffneten Mitgliedern der Drogenbanden der Villa angegriffen. Sie mussten sich verschanzen, bis die Polizei nach langer Zeit endlich auftauchte. Später stellte sich heraus, dass die Angreifer von den compas gerufen worden waren, die sich der FOL nicht anschließen wollten.
Solche und ähnliche Geschichten hören wir immer wieder bei unseren Besuchen in den verschiedenen villas von Buenos Aires. Überall ringen die Mitglieder der FOL mit lokalen Machthaber*innen und Drogenbanden um Einfluss. „Jetzt, wo Milei uns die Mittel gestrichen hat, bleibt vielen nichts anderes übrig, als anderswo nach einem Auskommen zu suchen“, erklärt uns Ana bei unserem Besuch in einem Bachillerato Popular (Bachi) im Bezirk Bajo Flores. „Wir können unsere Strukturen teilweise nicht mehr aufrechterhalten.“ Die Bachis sind selbstverwaltete Schulen, in denen Erwachsene ihren Schulabschluss nachholen und so ihre Chancen, eine formelle Arbeit zu finden, erhöhen können. Bis vor Kurzem wurden die Gehälter der Lehrenden aus staatlichen Geldern gedeckt, doch auch diese wurden jetzt drastisch gekürzt. „Wir retten hier Leben“, erklärt uns Ana. „Ohne die Möglichkeit, hier Bildung zu erhalten, werden insbesondere viele der jungen Männer in die Hände der Drogenbanden getrieben, weil sie anders nicht über die Runden kommen.“
Seit Mileis Amtsantritt im Dezember 2023 vollzieht dieser einen Frontalangriff auf die sozialen Organisationen, die zu den lautesten Akteur*innen im Widerstand gegen seine rücksichtslose Sparpolitik gehören. Die Methoden dieses Angriffs reichen von medialen Schmutzkampagnen über juristische und polizeiliche Angriffe bis hin zum Entzug der staatlichen Mittel für die Organisationen. Die Folge ist ein dramatischer Mitgliederverlust der sozialen Organisationen, die teilweise weit über die Hälfte ihrer Mitglieder verloren haben. Viele von ihnen können ihren Lebensunterhalt nun nicht mehr mittels der sozialen Organisationen bestreiten und sind gezwungen, andernorts nach Einkommen zu suchen – zum Beispiel bei der organisierten Kriminalität. Denn es ist die Not, die die Menschen in den villas bewegt; es fehlt an Arbeitsplätzen und somit Einkommen, um sich und die Familie zu ernähren, an bezahlbarem Wohnraum und dem Zugang zu Bildung und öffentlichen Dienstleistungen. Solange die sozialen Organisationen eine starke Präsenz haben, sind sie eine Alternative zu den Drogenbanden und lokalen Machthaber*innen. So war es auch im Fall von Jenny und dem Gemeindezentrum Lxs Invisibles. Letztlich schlossen sich die compas, die die bewaffneten Bandenmitglieder auf Jenny und die anderen gehetzt hatten, der FOL an. Alleine hatten sie es nicht geschafft, die staatliche Anerkennung ihrer Kooperative zu erstreiten.
Generell hat die FOL es geschafft, größere Anteile ihrer Mitgliederschaft zu halten, da sie in ihrer Arbeit mehr Wert auf Politisierungsprozesse legt als andere soziale Organisationen. Sie bietet Bildungskurse an, legt Wert auf offene Diskussionen sowie darauf, ihre Mitglieder zu befähigen, sich eigene Meinungen zu bilden und Verantwortung in der Organisation zu übernehmen. Hierdurch wird die Bindung der Mitglieder, die sich der FOL aus der Not heraus anschließen, gestärkt: Sie entwickeln die Überzeugung, dass der Ausweg aus der eigenen Misere nur kollektiv und im Widerstreit mit den herrschenden Verhältnissen gelingen kann.
In La Plata, der Hauptstadt der Provinz Buenos Aires, mit dem Zug etwa anderthalb Stunden von der Stadt Buenos Aires entfernt, sind die Asambleas der FOL anders organisiert. Sie liegen in den Außenbezirken La Platas, wo mehr Platz ist als im urbanen Zentrum von Buenos Aires. Die Häuser stehen weniger gedrängt, haben nur ein oder zwei Stockwerke, dafür aber einen eigenen Garten vor oder hinter dem Haus. Generell scheint im Vergleich zur argentinischen Hauptstadt alles entzerrt, entschleunigt.
“Wir retten hier Leben”
Besonders fällt bei unseren Besuchen die Beziehung der Arbeit zum Wissen ins Auge. Aus sogenannten yuyos – Kräutern, deren Heilwirkung die zum Großteil aus Paraguay stammenden compas im Alltag nutzen – stellen sie Produkte in Form von Salben, Ölen und mehr her und verkaufen diese, um etwas Geld zu verdienen. Gleichzeitig tragen compas, die an Universitäten arbeiten, Wissen aus diesem Bereich, zu dem die Menschen aus diesen Vierteln sonst keinen Zugang hätten, in die Asambleas. Während wir im Garten hinter dem Gemeinschaftshaus stehen, wird uns erzählt, wie ein compa namens Ramiro damit begann, sein Wissen über die Nutzung von Kompost anzuwenden, um die brachliegenden Böden fruchtbar zu machen. Das Gemüse wird vor allem für den eigenen Konsum und den lokalen Handel im Viertel genutzt. Inzwischen ist das Wissen um Kompost sogar von Nachbar*innen übernommen worden, die nicht Teil der FOL sind.
Ramiro ist Biologe und arbeitet nun am Bau von Wasserfiltern, rein aus lokal verfügbaren Materialien. Das Wissen für den Wasserfilter kommt aus der Universität und ist dringend gebraucht. Denn die Viertel und La Plata generell sind auf ehemaligen Feuchtgebieten errichtet und von regelmäßigen Überschwemmungen betroffen. Dabei verunreinigen die unzureichenden Abwassersysteme immer wieder das Trinkwasser. Das stellt die Bewohner*innen der Viertel vor die Wahl, Unsummen für abgefülltes Wasser in Flaschen auszugeben oder sich den Krankheitserregern und Parasiten im Wasser auszusetzen – wobei die prekäre finanzielle Situation vielen nicht mal diese Wahl lässt.
Auch in Formosa im Norden Argentiniens an der Grenze zu Paraguay, der letzten Station des Austauschs, herrschen spezielle Bedingungen. Hier, in der ärmsten Provinz Argentiniens, ist die FOL noch relativ jung. Die Strukturen kamen erst vor wenigen Jahren im Zuge der Ausweitungen staatlicher Programme zustande, die der FOL die nötigen Ressourcen gaben, um sich auch in den Provinzen zu etablieren. Die compas in Formosa bewirtschaften Gärten und Felder in Hand- und tierischer Arbeit. Schon vor Sonnenaufgang stehen sie auf und beginnen ihr Tagwerk, denn ab dem Mittag macht die beißende Sonne die Arbeit in der immer schwülen Hitze Formosas unmöglich. Als wir ihnen für kurze Zeit zur Hand gehen, verstehen wir schnell, was der fehlende Zugang zu Maschinen und großem Gerät bedeutet und weshalb sich die Arbeit der FOL hier darauf konzentriert, diese zu beschaffen und Zugang zu Märkten für den Verkauf der produzierten Güter herzustellen.
Der Abschied nach den zwei Wochen ist einer der Momente des Austauschs, in dem offensichtlich wird, wie zentral die menschlichen Beziehungen sind, die durch den Besuch entstehen. Sie sind unverzichtbarer Teil für den Aufbau eines Internationalismus, der auf tiefgreifender Verbindung, der ehrlichen Erkenntnis und dem Wunsch beruht, einen gemeinsamen Kampf zu führen, und sich nicht mit wirkungslosen Solidaritätsbekundungen aus der Ferne zufriedengibt. Es bewegt uns, erneut zu hören, was die Organisation für die compas bedeutet, wie sehr sie ihre Leben und sie als Personen verändert hat und wie dankbar und stolz sie darauf sind. Auch wenn sie in einem völlig anderen Kontext leben, erkennen wir uns in ihren Gefühlen wieder; in der Hoffnung auf und der Gewissheit der Möglichkeit einer ganz anderen Welt und der tiefen Verbindung zu den compas und Genoss*innen, die wir an unserer Seite wissen.