HAUPTSACHE NICHT PIÑERA

In Santiago Wahlhelferin erklärt einem Wähler den Wahlzettel (Fotos: David Rojas Kienzle)

Die Überraschung war perfekt. Beatriz Sánchez von der Frente Amplio (FA) konnte im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen in Chile am 19. November 20,3 Prozent der Wähler*innen für sich gewinnen. Überraschend war dies vor allem, da ihr in den letzten Wahlumfragen 8,5 Prozent der Stimmen vorausgesagt wurden. Der konservative Kandidat Sebastian Piñera, der bereits von 2010 bis 2014 Präsident war, musste eine herbe Schlappe hinnehmen, hatten er und sein Team doch damit gerechnet schon im ersten Wahlgang mehr als 50 Prozent der Stimmen zu bekommen. Am Ende waren es aber landesweit „nur“ 36,6 Prozent, womit ein zweiter Wahlgang notwendig wird. Alejandro Guillier, vom linksliberalen Bündnis Fuerza Nueva Mayoría, dem auch die amtierende Präsidentin Michelle Bachelet angehört, konnte Beatriz Sánchez nur knapp hinter sich lassen und erreichte 22,7 Prozent, womit er und Sebastián Piñera sich im zweiten Wahlgang am 17. Dezember gegenüberstehen.

Auch bei den Parlamentswahlen konnte die FA Erfolge verbuchen. 20 der 155 Sitze im Kongress sind nun mit Abgeordneten des im Januar 2017 gegründeten Parteienbündnisses besetzt. Das konservative Bündnis Chile Vamos kommt auf 72 Sitze, hat damit aber keine Mehrheit. Die aktuelle linksliberale Regierungskoalition kam auf 43. Nach den Wahlen entbrannte eine intensive Debatte um die Qualität der Wahlumfragen. Noch am Wahlabend erklärte die Kandidatin der FA: „Ich frage mich, ob wir bei realistischen Umfragen im zweiten Wahlgang gelandet wären.“ In diesem zweiten Wahlgang wird die entscheidende Frage sein, ob Guillier die Wähler*innen des FA dazu bewegen kann für ihn bzw. vor allem gegen Piñera zu stimmen. Guillier steht für eine Fortführung der Politik Michelle Bachelets, die in ihrer sich dem Ende zuneigenden Amtszeit kleine Reformen in den zentralen Fragen der chilenischen Politik gemacht hat. Die Bilanz der amtierenden Präsidentin ist aber dennoch durchwachsen und ihre Zustimmungswerte befanden sich in den vergangenen Monaten konstant niedrig bei um die 30 Prozent. Antreten durfte sie nach zwei Amtszeiten aus Verfassungsgründen ohnehin nicht mehr.

“Ich gehe nicht wählen, ich will mich nicht zum Komplizen dieses Systems machen.”

Vielen Chilen*innen, vor allem den in sozialen Bewegungen organisierten, gingen die Reformen der vergangenen Jahre nicht weit genug: Die Regierung hat es nicht geschafft, die in Chile extrem teure universitäre Bildung kostenlos zu machen oder auch nur breiteren Schichten zugänglicher, Abtreibungen sind nur im Falle von Vergewaltigungen, Lebensgefahr der Mutter oder wenn der Fötus nicht überleben würde legal und das fondsbasierte Rentensystem AFP, das für viele Chilen*innen zu Altersarmut führt, ist unverändert. „Wir wollen keine Reformen der AFP, wir wollen es komplett ändern. Das Rentensystem, das wir heute haben, ist ein Scherz, ein Geschäft,“ so Vilma Álvarez vom Komitee La Granja No + AFP. Auch der Caso Caval genannte Korruptionsskandal um Bachelets Sohn Sebastián Dávalos hat für erhebliche Vertrauensverluste gesorgt, auch in die schon lange angeschlagene Regierungskoalition. „Politisch gesehen war die Präsidentschaft Michelle Bachelet sehr schlecht“, meint auch der Buchhändler Ernesto Córdova, 54.

Die Wahlbeteiligung lag erwartet niedrig bei 46,7 Prozent. Die Gründe dafür sind vielfältig, teilweise politisches Desinteresse, teilweise aber auch Ablehnung des politischen Systems, das auf der von der Militärdiktatur 1981 verabschiedeten Verfassung beruht. „Ich gehe nicht wählen, ich will mich nicht zum Komplizen dieses Systems machen. Ich will, dass sich die Unzufriedenheit in Chile zeigt“, meint Roberto Gómez Ponce, 60, der einen Schlüsseldienst auf der Alameda, der Santiago de Chile durchkreuzenden Hauptstraße, betreibt. „Egal wer am Ende gewinnt, ändern wird sich innerhalb dieses Systems nichts“« Auch die Frustration mit der aktuellen Regierungskoalition, die mit einer Unterbrechung zwischen 2010 bis 2014 seit dem Ende der Militärdiktatur ununterbrochen die Regierung stellte, dürfte nicht dazu beitragen, Alejandro Guillier viele Stimmen zu bringen.
Unter anderem wegen der gefühlten Stagnation der Parteienpolitik mit dem Duopol von konservativen und linksliberalen Kräften hatte sich Anfang 2017 die FA als Bündnis 14 linker und liberaler Parteien und Organisationen gegründet. Federführend waren dabei Anführer*innen der Studierendenbewegung von 2011. Für den zweiten Wahlgang hat sich die FA dazu entschieden, keine Wahlempfehlung für Alejandro Guillier abzugeben, betont aber, dass Piñera ein Rückschritt sei (siehe Interview in dieser Ausgabe).

“Egal wer am Ende gewinnt, ändern wird sich innerhalb dieses Systems nichts.”

Eine der stärksten Kräfte innerhalb des Bündnisses, die Izquierda Autónoma, hat ihre Unterstützung an eine Reihe von Bedingungen geknüpft, u.a.: Schaffung einer kostenlosen öffentlichen Bildung, Abschaffung des fondsbasierten Rentensystems, die Schaffung von Branchengewerkschaften und eines echten Streikrechts, die Schaffung einer öffentlichen Krankenversicherung, Einführung eines Rechts auf Abtreibung sowie die Anerkennung von Trans*Personen. Auch Revolución Democratica, eine weitere starke Kraft innerhalb des Bündnisses entschloss sich dazu, die Unterstützung an diese Bedingungen zu knüpfen. Zweifel bleiben dennoch bestehen. Gabriel Boric, einer der Anführer der Studierendenbewegung von 2011 und eine der prominentesten Figuren der FA, stellte öffentlich die Frage, ob Guillier ein Fortschritt sei. Guillier entgegnet dieser Kritik: „Man macht nicht immer was man möchte, man macht was man kann und die Fortschritte, die in Chile gemacht wurden, sind bemerkenswert“ und sagt über den FA: „Sie sollten weder ihr Land noch die Anstrengungen ihrer Eltern geringschätzen.“

Dennoch scheint der Druck von links auf die Nueva Mayoría langsam Erfolge zu zeigen.
„Wir werden das CAE (Studienkredite mit Staatsbürgschaft, Anm. d. A.) abschaffen. Wir werden aber auch den verschuldeten Familien helfen, die die Kredite nicht zurückzahlen können und für die die CAE-Schulden ein Alptraum sind. Wir werden auch das Monopol der AFP beenden“, so erklärte Guillier auf einer Versammlung vor Anhänger*innen in Santiago. Mit diesem Reformankündigungen bleibt er allerdings weit hinter den Forderungen aus den sozialen Bewegungen und der FA zurück.

Polizist*innen vor einem Wahlbüro in Peñalolen, Santiago de Chile

Der Kandidat der Konservativen, Sebastián Piñera, hingegen macht im Wahlkampf vor allem damit von sich reden, dass er sich in eine Opferrolle begibt und im Stile europäischer Rechtspopulist*innen provoziert, um dann wieder zurückzurudern. So beklagt er, dass Teile der Regierung sich in den Wahlkampf einmischen würden und dass sein Gegenkandidat sich „aggressiv, sehr gewalttätig und diskreditierend“ verhalte. Gleichzeitig wird von konservativer Seite herbeigeschworen, dass mit Guillier Zustände „wie in Venezuela“ Einkehr halten würden. Die absurdeste Spitze war, als Piñera am 3. Dezember öffentlich erklärte, dass es im ersten Wahlgang für Guillier und Sánchez vormarkierte Wahlzettel gegeben habe. Nachdem er diese Behauptung weder belegen konnte noch justiziabel machen wollte, ruderte er mit seinen Anschuldigungen zurück und relativierte sie, genauso, wie bei den Anschuldigungen an die Regierung und dem Venezuela-Vergleich. Inhaltlich bewegt sich Piñera, einer der reichsten Chilenen, der sein Vermögen noch in der Militärdiktatur angehäuft hat, dahin wo der Wind weht. Kündigte er noch vor dem ersten Wahlgang an, mit ihm werde es keine kostenlose Bildung geben, da er nicht Politik für diejenigen mache, die am lautesten schreien, hat er sich nun bereit erklärt, die kostenlose Bildung auszubauen.
Auch wenn er sich mit politischen Inhalten zurückhält, bleibt bei vielen Chilen*innen die Sorge, dass Piñera die kleinen Fortschritte der Regierung Michelle Bachelets zurückdrehen wird. Unter anderem deswegen richten sich viele Organisationen vor allem gegen den Ex-Präsidenten. „Wir glauben, dass (Sebastián Piñera) ein unverschämter Kandidat ist, der seit Jahren gegen das Recht auf Bildung ist und sagt, dass Bildung ein Konsumgut sei“, so Daniel Andrade, Präsident der einflussreichen Föderation der Studierenden der Universidad de Chile FeCh. Auch deswegen hat der Studierendendachverband Confech dazu aufgerufen, „Piñera am 17. Dezember zu besiegen“. Ob dies gelingen wird, ist noch völlig offen. Umfragen sehen einen Vorsprung von zwei Prozent bei Piñera. Angesichts der Diskrepanz zwischen Wahlvorhersage und Wahlentscheidung im ersten Wahlgang twitterte Beatriz Sánchez allerdings: „Ich glaube ihnen weder heute … noch werde ich das morgen tun.“

 

VERPASSTE CHANCE

Es war eine historisch einzigartige Konstellation, die Lateinamerika vor gut zehn Jahren erlebte. In einem Land nach dem anderen gewannen linksgerichtete Kräfte demokratische Wahlen. Nach der Schuldenkrise der 1980er Jahre und den Jahren neoliberaler Strukturanpassung schien es möglich, dass ein ganzer Kontinent aus dem Mainstream des Primats von Finanz und Profit ausscheren könnte. Ein neuer Prozess regionaler Integration wurde eingeleitet, der ganz andere Ziele verfolgte als die von der US-Regierung gewünschte und ein Jahr zuvor von Lateinamerika abgelehnte gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA. In vielen Ländern, darunter Ecuador, hatten soziale Bewegungen nicht nur Regierungen unblutig zu stürzen vermocht, sondern auch Visionen einer anderen Gesellschaft entwickelt. Seit den späten 1960er Jahren hatte soziale Emanzipation nicht einen solchen Aufwind erlebt.

In den ersten Jahren atmete Ecuador Demokartie von unten.

In dieser Konjunktur kam der Ökonom Rafael Correa in Ecuador an die Macht. Er begann seinen Wahlkampf als Außenseiter, doch gelang es ihm und seiner Bewegung Alianza País, die Forderungen der sozialen Bewegungen auf die wahlpolitische Ebene zu übersetzen. Das Land sollte am besten neu gegründet werden – eine neue Verfassung musste her. Der neue Präsident regierte in den ersten Monaten hauptsächlich mit Ausnahmedekreten, um das alte Establishment in Schach zu halten und das Parlament zu umschiffen. Dennoch atmete Ecuador in diesen ersten Jahren Demokratie von unten.

Student*innen, Indigene, die Frauenbewegung, Gewerkschaften – alle machten sich daran, ihre Vorstellungen von einer gerechteren Gesellschaft, vom Ende des Patriarchats, von kostenloser allgemeiner höherer Bildung, von wahrhaft interkulturellen Institutionen auszuformulieren: Institutionen, die nicht nur Indigene und Schwarze und Frauen per Quote beteiligen, sondern sich auch anderen Logiken als den herrschenden westlichen, patriarchalpaternalistischen und rassistischen öffnen sollten, was Vorstellungen von Gerechtigkeit und Rechtssprechung, von Gesundheit, ja vom Funktionieren des Staates selbst anbelangte. Das war die Vision eines entkolonialisierten, plurinationalen Staats, in dem die Ureinwohner*innen nicht nur am Funktionieren eines vorgegebenen, liberalen Räderwerks beteiligt werden sollten. Ihre eigene Erfahrung von Gemeinschaft, von Entscheidungsfindung und Konfliktlösung sollte dieses Räderwerk vielmehr selbst von Grund auf umbauen.

Zehn Jahre später ist diese Aufbruchstimmung in ihr Gegenteil umgeschlagen. Nach der Annahme der Verfassung per Volksabstimmung im Jahr 2009 ersetzten die Dynamiken der Realpolitik bald die Konjunktur der Visionen. Zum einen aufgrund der Wirkungsmacht der staatlichen Institutionen selbst. Die Correa-Regierung hat sie nach neoliberalen Managementkriterien modernisiert und auf Effizienz getrimmt. Wobei ihr interkultureller und emanzipatorischer Umbau, der nur als behutsamer, experimenteller Prozess möglich gewesen wäre, zwangsläufig auf der Strecke blieb.

Hinzu kam zum anderen die durch die außerordentlich hohen internationalen Rohstoffpreise attraktiv gewordene Vertiefung des Extraktivismus. Zwar sollte mit den Einnahmen aus dem Rohölexport die wirtschaftliche Diversifizierung und Abkehr von der strukturellen Abhängigkeit finanziert werden – doch blieb der vielbeschworene Cambio de la Matriz Productiva, also die strukturelle Veränderung der Produktionsmatrix, ein Papiertiger. Ecuador ist heute abhängiger von Rohstoffexporten denn je, und im amazonischen Nationalpark Yasuní, bis 2013 internationales Symbol für effektive Klimapolitik unter dem Motto „lasst das Öl im Boden“, entstehen die ersten von 600 geplanten Bohrlöchern. Die ecuadorianische Unternehmenslandschaft weist in vielen Bereichen einen hohen Konzentrationsgrad auf, den die Correa- Regierung nicht antastete. Während rhetorisch oft gegen die wirtschaftlichen Eliten gewettert wurde, erzielten diese unter der Bürgerrevolution historische Gewinnmargen.

Die Correa-Regierung nutzte, wie auch ‚linke‘ Regierungen andernorts, ihre hohe Legitimität, um Maßnahmen durchzusetzen, die unter einer rechten Regierung am Widerstand der organisierten Bevölkerung gescheitert wären. Ein Beispiel ist das zum 1. Januar 2017 in Kraft getretene Freihandelsabkommen mit der EU. Auch mit der Ausweitung des Extraktivismus – der Erschließung neuer Ölvorkommen im Amazonasbecken und der Einführung des transnationalen Megabergbaus in dem biodiversen Land – nahm die Regierung strukturelle Weichenstellungen vor, die nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Auswirkungen haben: Die für die Verteilung der Rente zuständige staatliche Zentralmacht wird gestärkt, die Kontrollinstanzen werden geschwächt. Dies begünstigt Korruption, und dass Ecuador hierbei keine Ausnahme darstellt, zeigen die zahlreichen Korruptionsskandale rund um das staatliche Ölunternehmen Petroecuador und die brasilianische Baufirma Odebrecht im Vorfeld der Wahlen. Diese warfen auch lange Schatten auf Jorge Glas, der für Alianza País erneut als Vizepräsident kandidiert. Dass sich diese Skandale nicht nennenswert auf die Wahlprognosen ausgewirkt haben, liegt unter anderem an der politischen Erlahmung der Bevölkerung angesichts eines Staates, der sich als einzig legitimer Akteur sozialen Wandels versteht. Aber auch an der Dominanz der Regierungssicht in der ecuadorianischen Medienlandschaft und der in den vergangenen Jahren aufgrund der Petrodollars intensivierten Konsumkultur.

Die hohe Konzentration der Unternehmen hat die Regierung nicht angetastet.

Die nach dem Neoliberalismus populäre Forderung nach der „Rückkehr des Staates“ ist in einem disziplinierenden Etatismus gemündet, der einige Steuerungsinstrumente des Realsozialismus des 20. Jahrhunderts mit dem Erbe der zutiefst kolonial geprägten, autoritär-populistischen und strukturell korrupten politischen Kultur Lateinamerikas verbindet: enge Verstrickung zwischen Staat und Partei, Personenkult und faktische Aufhebung der Gewaltenteilung, Koppelung von Vergünstigungen und Sozialleistungen an politische Loyalität, und schließlich eine Polarisierungslogik, in der Kritik und Debatte auch in den eigenen Reihen von vornherein unterbunden ist. So hat sich Alianza País 2014 einen Ethikcode gegeben, der zum Beispiel der eigenen Parlamentsfraktion das Öffentlichmachen von Dissidenz unter Androhung des Mandatsverlustes verbietet.

Die Bürgerrevolution hat dem Land eine lang ersehnte politische Stabilität und eine neue Infrastruktur beschert. Während sie darauf bedacht war, im Ausland ihr revolutionäres Bild zu pflegen und beispielsweise Julian Assange politisches Asyl zu gewähren, baute sie im Inland im Zuge der Digitalisierung staatlicher Dienstleistungen auch die staatliche Überwachung der Bürger*innen aus. Vor allem aber betrachtete sie jegliche Form autonomer sozialer Organisierung als Bedrohung der eigenen Macht und bekämpft sie – mit einigem Erfolg. Die Indigenen- und Studierendenbewegung sowie die Gewerkschaften sind heute nur noch ein Schatten ihrer selbst. Andauernde Diffamierung in der Öffentlichkeit, die Gründung von regierungstreuen Parallelorganisationen, aber auch Repression und Militarisierung, wie sie das im lateinamerikanischen Kontext außerordentlich friedliche kleine Land am Äquator nicht kannte, haben schließlich gefruchtet. Über 400 Gerichtsverfahren gegen Aktivist*innen sind derzeit anhängig. Im Süden des Landes, wo die indigenen Shuar-Gemeinden gegen die Konzessionierung ihrer angestammten Gebiete an eine chinesische Bergbaufirma protestieren, herrschen seit Monaten die Armee und der Ausnahmezustand.

Über 400 Gerichtsverfahren gegen Aktivist*innen sind derzeit anhängig.

Als Erfolg der Correa-Regierung gilt vor allem die Reduzierung von Armut und Ungleichheit – in deren Namen der Extraktivismus stets gerechtfertigt wurde. Zwischen 2007 und 2015 war die Armut nach offiziellen Angaben um 13,4 Prozentpunkte gesunken. Aufgrund des Zusammenbruchs der Ölpreise auf dem Weltmarkt seit der zweiten Jahreshälfte 2014 ist sie jedoch seitdem wieder gestiegen – was zeigt, wie wenig nachhaltig die von der Correa-Regierung ergriffenen Maßnahmen waren. Ein offener Brief der Shuar-Indigenen macht außerdem deutlich, wie monodimensional der produktivistische Armutsbegriff der Regierung ist: „Kommen Sie uns nicht damit, dass Sie Bergbau betreiben, um uns aus der Armut zu holen. Denn wir fühlen uns mit unserer Lebensweise nicht arm. Sagen Sie uns lieber, wie Sie uns als Volk und unsere Kultur schützen werden.“

Wer die bevorstehende Stichwahl gewinnt, tritt ein problematisches Erbe an. Er oder sie erbt ein Land, das sich auf Jahrzehnte verschuldet und obendrein überteuerte Kredite mit Zinssätzen von teils über zehn Prozent aufgenommen hat. Selbst die produktivsten, zuvor staatlichen Ölfelder wurden vor kurzem gegen schnelles Geld an transnationale Konzerne wie Schlumberger und die chinesische CERGG verscherbelt – ganz im Gegensatz zur Politik der frühen Jahre, die den Anteil der Staatseinnahmen aus der Ölförderung erweitert hatte.

Hinzu kommt, dass ein beträchtlicher Teil der an sich schon eher bescheidenen Ölreserven bereits im Voraus an China verkauft wurde und die Einnahmen hieraus längst ausgegeben sind – ebenso wie auch die erwarteten Lizenzgebühren aus dem erst beginnenden Bergbau bereits zu einem Großteil kassiert wurden und in Schulneubauten und Ähnliches geflossen sind. Da bleibt in Zukunft nicht viel finanzieller Spielraum für staatliche Politik. Vielmehr wurden die natürliche Vielfalt des Landes und die Optionen künftiger Generationen im Rahmen kurzfristigen politischen Kalküls verpfändet.

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