Götterdämmerung in Zentralamerika

10 Jahre Nicaragua Libre Ausschnit aus einem LN-Cover von 1989

Als im Juli 1979 die revolutionäre Sandinistische Nationale Befreiungsfront (FSLN) in Nicaragua nach mehr als einem Jahrzehnt bewaffnetem Kampf den Sieg über die Somoza-Diktatur errang, hatte dieses Ereignis das rasche Anwachsen der bundesdeutschen Nicaragua-Solidarität zur Folge. Bis dahin hatte die Bewegung in der Öffentlichkeit erfolgreich zu vermitteln vermocht, dass es sich bei den Sandinist*innen nicht um eine isolierte revolutionäre Guerilla-Vorhut handelte, die den Aufstand probte, sondern der Widerstand gegen den Diktator deutlich und sichtbar vom Volk getragen wurde. Nach dem Sieg der Sandinist*innen begann im westlichen Teil Deutschlands eine unüberblickbare Zahl von Solidaritätskomitees die politische Topografie zu verändern. Selbst in kleinsten Gemeinden gründeten sich Solidaritätskomitees. Vor allem junge Leute fühlten sich von der Revolution angezogen, insbesondere nachdem die USA durch die von ihnen bewaffnete und trainierte Contra-Guerilla die Niederschlagung der Revolution durch Terror gegen die Zivilbevölkerung anstrebten. Menschen unterschiedlichster politischer Gesinnung, einzeln oder organisiert in linken Zusammenhängen, kirchliche Gruppen bis hin zu Grünen-, SPD- und Gewerkschaftsgruppen folgten dem Ruf der Revolution und machten sich in ein bis dahin unbekanntes Land auf, um medizinische Versorgung zu leisten, zu unterrichten, Schulen und Siedlungen zu bauen oder bei der Kaffeeernte zu helfen.

In El Salvador, wo die Oppositionsbewegung mit dem Sieg der Sandinist*innen ungeheuren Auftrieb erhielt, standen sich Anfang der 80er Jahre eine starke Guerilla und eine von den USA hochgerüstete Armee gegenüber und auch in Guatemala schienen sich mit dem Zusammenschluss der vier Guerillaorganisationen die Voraussetzungen für eine Volkserhebung abzuzeichnen. Die Solidaritätsbewegung in Deutschland weitete dementsprechend ihre Praxis auf ganz Mittelamerika aus.

Im Editorial vom Februar 1995 beschäftigten wir uns mit dem Scherbenhaufen, vor dem die Solidaritätsbewegung nach dem Ende der revolutionären Hoffnungen stand: Nach fast 10 Jahren Krieg waren die Nicaraguaner*innen kriegsmüde und nach 50.000 Toten vom Terror der Contra-Guerilla zermürbt. 1990 verlor die FSLN die Wahlen und stand damit an einem Scheideweg: Auf ihrem Parteikongress 1994 spaltete sich die Partei, wobei der Flügel, der die Demokratisierung anstrebte, unterlag. Der von Daniel Ortega angeführte Mehrheitsflügel bestätigte dagegen seinen Führungsanspruch. Als Ortega 2007 erneut Präsident wurde, trugen sein autoritärer Führungsstil, sowie der in der Partei verankerte Vertikalismus bereits den Keim für die Errichtung der heutigen Diktatur in sich: Eine Familiendynastie, die an der Spitze von strategisch wichtigen Unternehmen, Geschäften und Kommunikationsmedien steht und der jedes Mittel recht ist, um sich an der Macht zu halten.

Für die Solidaritätsbewegung hatte dieser Prozess schon früh demobilisierenden Charakter, viele Gruppen lösten sich auf oder zogen sich auf die Unterstützung jener Projekte zurück, die sie einst mitinitiiert hatten und für deren Überleben sie sorgen wollten. Andere übernahmen das Narrativ der Ortega-Anhänger*innen, wonach − frei von jeglicher Selbstkritik und trotz offensichtlicher Verfehlungen − allein der von den USA geführte Contra-Krieg für die Wahlniederlage verantwortlich gemacht wurde.

Elisabeth Erdtmann ist seit 2018 Redaktionsmitglied mit dem Schwerpunkt Nicaragua
Lya Cuéllar koordiniert den Runden Tisch Zentralamerika und ist Redaktionsmitglied bei LN

ZU WENIG ERNST GENOMMEN

 

© Watchmen Productions, MPM Film

„Ein Risiko gibt‘s immer“, sagt Nardjes Asli. Dann zuckt die junge Algerierin mit den Schultern und
macht sich trotz möglicher Repressionen bereit zur Demo. Sie ist die Protagonistin und Namensgeberin
des Dokumentarfilms Nardjes A. des Brasilianers Karim Aïnouz. Aïnouz, der selbst Wurzeln in dem
nordafrikanischen Land hat, hielt sich im Februar 2019 eigentlich wegen eines anderen Filmprojekts in
Algerien auf, wurde dann aber von den Massendemonstrationen gegen die Regierung überrascht und
beschloss, sie mit der Kamera seines Handys zu dokumentieren. Herausgekommen ist ein Film, der die
Wucht und Energie der Proteste zwar in beeindruckender Weise einfängt – vor allem angesichts der
begrenzten technischen Möglichkeiten -, bei ihrer Einordnung jedoch leider nur an der Oberfläche kratzt.
Anfang des Jahres 2019 herrschte in Algerien jeden Freitag Ausnahmezustand auf den Straßen. Der
korrupte Präsident des Landes, Abd al-Aziz Bouteflika, hatte im Februar verlauten lassen, für eine fünfte
Amtszeit zu kandidieren – und das, obwohl der 82-jährige nach drei Schlaganfällen kaum noch sprechen
kann und jahrelang nicht in der Öffentlichkeit zu sehen war. Die brodelnde Unzufriedenheit vor allem der
jüngeren Generation Algeriens brachte das Fass schließlich zum Überlaufen. Hunderttausende gingen
zwischen Januar und März 2019 auf die Straßen. Schließlich gab das Regime nach, sah von einer erneuten
Kandidatur Bouteflikas ab und die Wahlen wurden verschoben.
Im Film bleibt Aïnouz mit seiner Handy-Kamera immer sehr nah an seiner Protagonistin. Er begleitet sie
einen ganzen Tag lang vor, während und nach einer Freitagsdemonstration. Dabei liegt der Schwerpunkt
auf ihren Aktivitäten in dem riesigen Protestzug: Nardjes pfeift, singt, lacht und tanzt dort, was das Zeug
hält, getrieben von schier unermüdlicher Energie und guter Laune. Dabei trifft sie manchmal auf
Freund*innen und Bekannte, meist jedoch interagiert sie mit wildfremden Menschen. Nach der Demo
trifft sie sich mit Freund*innen in einem Café und geht abends in einem Club tanzen.
Beim Zusehen ist Nardjes Asli ihren Spaß an dem “feiernden, tanzenden Protest” anzimerken, der als
“Revolution des Lächelns” bekannt wurde. In Off-Kommentaren erklärt sie, wie stolz sie auf die Jugend
ist, wie sehr sie Algerien liebt und an ihre Generation glaubt. Asli kann man ihre jugendliche
Begeisterung kaum zum Vorwurf machen. Leider nimmt der Film sie aber irgendwann nicht mehr ernst.
Ihr Enthusiasmus, der zu Beginn sehr sympathisch wirkt, verliert durch häufige Wiederholung ählicher
oder sogar wortgleicher Parolen schnell an Wirkungskraft und wirkt klischeehaft. Aïnouz verpasst es
zudem, durch den Verzicht auf Reflexion oder Rückfragen Nardjes’ Persönlichkeit Tiefe zu verleihen.
Mit fortlaufender Dauer verliert die Dokumentation so die Richtung. Der durchaus interessante politische
Background der Protagonistin (Eltern und Großeltern waren in der kommunistischen Partei und zum Teil
schwerster Verfolgung ausgesetzt) ist nach kurzer Erklärung zu Beginn kaum noch Thema. Nardjes Aslis
Lebenssituation, ihre politischen Vorstellungen, ihre persönlichen Ambitionen – über all das darf sie im
Film nicht mehr erzählen. Dabei hätte es viele interessante Fragen gegeben: Etwa zu ihrer Begeisterung
für den algerischen Nationalismus, der ja schon nach dem gewonnenen Unabhängigkeitskrieg gegen die
französische Kolonialmacht nicht zu einer gerechten Gesellschaft geführt hat. Ainouz hätte sie auch nach
der Gefahr einer Unterwanderung der Proteste durch radikale Islamist*innen fragen können, die ihren
liberalen Lebensstil als offene und selbstbewusste Frau bedrohen könnten.
Die mangelnde Kontextualisierung macht das filmische Profil der jungen Aktivistin und
Theaterschauspielerin immer unschärfer, je länger die Dokumentation dauert. Am Schluss erscheint
Nardjes Asli fast nur noch wie eine unkritische Party- und Jubeldemonstrantin – was ihr sehr
wahrscheinlich nicht gerecht wird. Noch schlimmer wird es gegen Ende des Films: Wenn die Kamera
minutenlang Bilder der tanzenden Nardjes im Club zeigt und dabei zumeist auf Nahaufnahmen ihres
Gesichts fokussiert, fragt man sich, was Karim Aïnouz eigentlich damit bezwecken will. Wie ein
politisches Subjekt wirkt Asli da jedenfalls nicht mehr, vielmehr macht sich der ungute Verdacht breit,
dass dem Publikum hier ein “hübsches Gesicht” der Revolution präsentiert werden soll. Dazu passt, dass
auch die Einordnung in den politischen Kontext im Film nicht durch seine Protagonistin erfolgt – das
macht Aïnouz durch längere Texteinblendungen zu Beginn und Ende des Films selbst.
Nardjes A. verpasst die Chance, neben der Dokumentation der Proteste in Algerien auch ein differenzierteres Porträt einer interessanten Frau zu zeichnen, die nicht nur für eine neue Regierung,
sondern auch für ihte eigene Zukunft kämpft. So bleibt vor allem Demo-Folklore und am Ende sogar ein
Entlangschrammen an filmischem Voyeurismus hängen. Schade.

NEUE VERFASSUNG FÜR 60-JÄHRIGE REVOLUTION

Renovierung Neue Verfassung erhielt signifikant viele Nein-Stimmen (Foto: Jaques Lebleu, Flickr CC-BY-NC 2.0)

 

„Ich fühle einen immensen Stolz, Teil unseres heroischen, tapferen und standhaften Volkes zu sein”, kommentierte Kubas Präsident Miguel Díaz-Canel mit viel Pathos das Ergebnis des Referendums auf Twitter.

Laut amtlichem Wahlergebnis votierten 86,9 Prozent der Wahlbeteiligten am 24. Februar mit „Ja”. Auf die „Nein”-Stimmen entfielen neun Prozent. Leere oder ungültige Wahlzettel machten 4,1 Prozent der abgegebenen Stimmen aus. Die Wahlbeteiligung lag bei offiziell 90,1 Prozent. In absoluten Zahlen bedeutet dies: Insgesamt 78,3 Prozent der 8,7 Millionen Wahlberechtigten haben ihr Kreuz hinter das „Ja” gesetzt. Mehr als ein Fünftel der Abstimmungsberechtigten blieben entweder der Wahl fern oder stimmten dagegen.

Vor der Abstimmung hatte es eine massive staatliche „Ja”-Kampagne gegeben – auf Straßenplakaten, an Bussen und in den staatlichen Medien. Ein gewaltiges Banner am Platz der Revolution warb für Zustimmung zu dem neuen Verfassungstext. Die Gegner*innen mussten ihren Kampf für ein „Nein” vor allem auf die sozialen Netzwerke beschränken. Dass es überhaupt eine nennenswerte „Nein”-Kampagne gab, war schon bemerkenswert.

Die Präsidentin der Nationalen Wahlkommission (CEN), Alina Balseiro Gutiérrez, wollte die „Nein”-Stimmen auf Nachfrage nicht interpretieren. Die Wahlkommission sei für den ordnungsgemäßen Ablauf der Abstimmung verantwortlich, ihr obliege aber keine politische Beurteilung der Ergebnisse, sagte sie auf einer Pressekonferenz.

Die neue Verfassung – die bisher gültige Magna Charta stammt aus dem Jahr 1976 – soll die veränderten kubanischen Realitäten besser widerspiegeln und die Wirtschafts- und Sozialreformen der vergangenen Jahre rechtlich verankern. Nach der landesweiten öffentlichen Debatte in Tausenden Nachbarschafts- und Betriebsversammlungen 2018 waren rund 60 Prozent der Artikel vom Parlament modifiziert worden (siehe LN 531/532). Über diese wurde in dem Referendum abgestimmt. Einige der Vorschläge aus der Bevölkerung schlugen sich in kleinen Wendungen im Text nieder. Andere eröffneten heftige Debatten, wie um jenen Artikel, der gleichgeschlechtliche Ehen ermöglicht hätte. Nach Widerstand der Kirchen und aus der Bevölkerung wurde er jedoch wieder gestrichen. Die umstrittene Frage der Einführung der „Ehe für alle” soll in den kommenden zwei bis drei Jahren in einem neuen Familiengesetzbuch geregelt werden.

Der Verfassungstext bekräftigt den sozialistischen Charakter Kubas und die Führungsrolle der Kommunistischen Partei (PCC) in Staat und Gesellschaft. Planwirtschaft und Staatseigentum bleiben fundamental für Kubas Wirtschaft. Gleichzeitig wird die Rolle des Marktes, ausländischer Investitionen und neuer privater Eigentumsformen anerkannt. Neben dem Staatspräsidenten wird der Posten eines Ministerpräsidenten neu geschaffen. Unter anderem werden Amtszeitbeschränkungen von zweimal fünf Jahren für wichtige Staatsämter eingeführt. Die lokale Ebene soll gestärkt werden.

Innerhalb von sechs Monaten nach Inkrafttreten der neuen Verfassung muss ein neues Wahlgesetz verabschiedet werden, das den geänderten Strukturen Rechnung trägt. Bedeutend werden zudem die vom Parlament zu verabschiedenden nachgeordneten Gesetze sein, in denen die Verfassungsprinzipien in neues Recht umgesetzt werden.

In einem Land wie Kuba mit traditionell sehr hohen Zustimmungsraten birgt eine nennenswerte Anzahl von „Nein“-Stimmen bzw. Enthaltungen Stoff für Diskussionen und Interpretationsversuche. Bei der Abstimmung über die Verfassung 1976 hatte die Wahlbeteiligung noch bei 99 Prozent gelegen, die Zustimmung bei 98 Prozent. Gerade einmal 54.000 Menschen sprachen sich damals gegen die Verfassung aus. Dass diesmal fast zwei Millionen Menschen ihr Kreuz beim „Nein“ gesetzt haben, ungültige Stimmzettel abgegeben haben oder der Abstimmung ferngeblieben waren, bedeutet ein Gegengewicht, das „die Regierung nicht ignorieren kann“, so der frühere kubanische Diplomat und unabhängige Analyst, Carlos Alzugaray.

Vor diesem Hintergrund verweist Eduardo Sánchez, Computerwissenschaftler der Universität Havanna, darauf, dass die PCC weiterhin die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung habe, „aber weniger als zu früheren Zeiten. Gerade einmal 73 Prozent (nach Zahlen des vorläufigen Wahlergebnisses, das am 25. Februar bekannt gegeben worden war, Anm. d. Red.) unterstützen explizit die neue Verfassung, trotz der intensiven Debatte in den offiziellen Medien.“ Die „demographische Minderheit“ (der „Nein“-Stimmen) sei in der Nationalversammlung (ANPP) nicht abgebildet. „In der ANPP müsste es 161 Abgeordnete geben, die das Verfassungsprojekt nicht unterstützen.“ Der Verfassungsentwurf war im Dezember von der ANPP einstimmig verabschiedet worden. „In Kuba gibt es heute fast 2,5 Millionen Kubaner*innen, die in den Vorschlägen der Regierung nicht die Lösung ihrer Probleme und Nöte sehen“, so Sánchez. Diese müssten in Rechnung gestellt werden.

Der kubanische Soziologe und Politikwissenschaftler Juan Valdés Paz sieht die Hauptherausforderung der Regierung darin, die Zustimmung der Bevölkerung zur Revolution aufrecht zu erhalten. Dafür sei das Thema Wirtschaft entscheidend. „Im Verlauf der vergangenen 60 Jahre hat diese Zustimmung, die einmal bei 97 Prozent lag, augenscheinlich abgenommen, laut einigen Studien liegt sie noch bei 70 Prozent”, so Valdés. Das entspricht in etwa dem Wahlergebnis.

Rafael Hernández, Direktor der Zeitschrift Temas, lobt die Regierung. Das eingegangene Risiko einer demokratischen Abstimmung, die die Abweichung, die Diskrepanz, die Ablehnung sichtbar macht, verdiene Anerkennung. „Diejenigen, die aus einem staatsbürgerlichen Bewusstsein heraus mit „Nein“ stimmen, verdienen speziellen Respekt, denn sie repräsentieren eine aktive Bürgerschaft, die ihr durch den Verfassungsprozess anerkanntes Recht ausübt“, so Hernández. Er verwiest darauf, dass schon 60-65 Prozent eine „formidable“ Zustimmungsrate wären. Der Brexit in Großbritannien hatte knapp 52 Prozent.

 

“ICH BIN BRASILIANER”

Marighella Eine Mischung aus historischem Drama und Actionkino // Foto: O2 Filmes

Wer während einer Diktatur geboren und aufgewachsen ist, ganz gleich auf welchem Fleck dieser Erde, trägt das ganze Leben eine besondere Last mit sich herum: Die Last der Unfähigkeit zu verstehen, was passiert ist. Oder vielmehr die der Unfähigkeit zu verstehen, was passiert ist und nach dem Warum zu fragen.
„Auge um Auge, wir werden nicht aufgeben”, das ist der Satz, der ständig wiederholt wird und der im kollektiven Unterbewusstsein verbleibt, nachdem man Marighella gesehen hat. Der Film von Wagner Moura erzählt vom Leben und Kampf des brasilianischen Revolutionärs Carlos Marighella von 1964 bis zu seinem Tod 1969. Im Jahr 1911 geboren, erlebt er die Zeit der großen Revolutionen in Lateinamerika und der Karibik und wird von diesen geprägt. Er wird anerkanntes Mitglied der Brasilianischen Kommunistischen Partei (PCdoB) und leitet später die bewaffnete Gruppe Nationale Befreiungsaktion (ALN).
Marighella ist eine Mischung aus historischem Drama und Actionkino, in dem wir sein strategisches Handeln mit der ALN und die Meilensteine seiner Biografie wie die Veröffentlichung seines Buches Kleines Handbuch der Stadtguerrilla verfolgen können. Zu den einschneidendsten Momenten im Leben des Revolutionärs gehören sicherlich auch die Entführung des US-Botschafters Charles Elbrick und jeder einzelne der Versuche Marighella selbst umzubringen, etwa im Hinterhalt vom November 1969 durch die faschistische Geheimpolizei DOPS unter Sergio Paranhos Fleury. Gelungene Verfolgungsszenen, gefilmt mit der Handkamera geben den Zuschauer*innen das Gefühl, selbst unter denen zu sein, die in den 60er Jahren von der Polizei verfolgt wurden. Die Spannung und das Adrenalin übertragen sich derart, dass man sich in einigen Momenten am liebsten die Augen zuhalten möchte, aber das unangenehme Schicksal und die geschichtliche Verantwortung verbieten es.
Selbstverständlich ist der Film nicht frei von Gewalt- und Folterszenen. Glücklicherweise wird die Grausamkeit derer, die der Film zeigt, in visueller Hinsicht nicht allzu exzessiv. Sowohl Masken- als auch Szenenbild leisten ganze Arbeit. Trotzdem nehmen diese Szenen einen am meisten mit, überwältigen, weil man weiß, dass es tatsächlich so geschehen ist. Genau dieses Verhältnis macht Marighella zu einem Spielfilm, der sinnbildlich für alle in lateinamerikanischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts begangenen Grausamkeiten stehen könnte.
Die Leistungen von Regie und Schauspieler*innen sind einwandfrei, eine einzelne Nahaufnahme des Gesichts von Seu Jorge – der Carlos Marighella darstellt – oder der anderen Darsteller*innen ist schon allein so viel wert wie die Gesamtheit aller Szenen. Der gezeigte tiefe Schmerz und die unnachgiebige Überzeugung der Revolutionär*innen lassen immer wieder die Frage aufkommen, warum dieser Film zwar im Wettbewerb, jedoch außer Konkurrenz lief. Bleibt so ein dreistündiger Film unbemerkt, weil er schlicht und ergreifend zu lang ist? Oder geht ein Werk, das die Unterdrückung der Menschen in Lateinamerika und auf der ganzen Welt auf so heftige Weise kritisiert, der ehrbaren Jury dieser 69. Berlinale gegen den Strich?
Wagner Moura hebt in Marighella auch den Kampf der Revolution gegen die Zensur hervor, ebenso wie das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Freiheit und Unabhängigkeit der Medien. In einem Interview sagte er der Zeitung Brasil de Fato: ,,Dieser Film ist Teil des Kampfes gegen die brasilianische Rechte und das Regime Bolsonaros.” Auf diese Aussage hin folgten Drohungen von faschistischen Gruppen gegen ihn und sein Team, das Filmset zu überfallen und alles zu verwüsten. ,,Ich bin auf Prügel vorbereitet”, erwiderte Moura als Antwort auf diese moderne Form der Zensur. Es scheint, als käme nichts aus der Mode. Leider.

 

HASTA SIEMPRE, CHE

Ob Zu- oder Abneigung, zu den Superlativen, die Ernesto Che Guevara von Anhänger*innen und Gegner*innen zugeschrieben wurde, passt das wohl historisch gesehen berühmteste Foto einer Person, das 1960 der Fotograf Alberto Korda schoss: Che, der Attraktive, Che, der aussah, wie man sich Jesus vorstellt. Verstärkt wurde der Jesus-Vergleich noch durch die Fotos, die vom toten Che Guevara angefertigt worden waren, nachdem er am 9. Oktober 1967 in La Higuera von Militärs erschossen worden war. Geboren am 14. Juni 1928 in Rosario wurde Ernesto Che Guevara nur 39 Jahre alt.

Um ihm gerecht zu werden, müssen wir uns in die Mitte des 20. Jahrhunderts zurückversetzen. Es war eine Zeit des internationalen Auf- und Umbruchs, was sich in Lateinamerika in Revolutionen, US-Interventionen und Militärputschs äußerte. Die kubanische Revolution und später Vietnam zeigten, dass man dem Großen Bruder USA die Stirn bieten konnte. Verstaatlichung ausländischer Konzerne und Agrarreformen standen selbst im Parteiprogramm der Christ­demokraten Chiles. Paulo Freire machte sich mit seiner „Pädagogik der Befreiung“ einen Namen. Die sogenannten Abhängigkeitsansätze („Dependencia“), entworfen von lateinamerikanischen Soziolog*innen, wurden international rezipiert und den sogenannten Rückständigkeits- und Modernisierungstheorien entgegengestellt. Selbst in der Katholischen Kirche kam die neue Zeit an.

Vor diesem Hintergrund schwebte Che Guevara die Schaffung eines „neuen Menschen“ vor, der nicht angetrieben durch materielle Anreize, sondern orientiert an Idealen solidarisch, mit starker Willenskraft die gerechte Gesellschaft aufbaut, sich den USA entgegenstemmt. Guevara stellte sich in die Tradition eines José Martí und Simón Bolivar. Das vereinte unabhängige freie sozialistische Lateinamerika als Ziel. Auf eine Vielzahl lateinamerikanischer Guerillabewegungen übte Che große Strahlkraft aus.

Che Guevara steht aber auch für ein personifiziertes Scheitern, sieht man einmal von seiner erfolgreichen Mitwirkung bei der kubanischen Revolution ab: Gescheitert bei der Schaffung des neuen Menschen, überfordert angesichts der US-Blockade als Industrieminister und Nationalbankchef, glücklos als Guerilla-Führer im Kongo. Und schließlich in Bolivien das klägliche Aus.

Che war von seiner Fokus-Theorie überzeugt. Motiviert und angeführt durch eine Handvoll Freiheitskämpfer würde die verarmte Landbevölkerung zu den Waffen greifen, um ihr jahrhundertealtes Joch abzuwerfen, meinte er. Die Quechuas an den Osthängen der Anden bei Vallegrande aber blieben distanziert gegenüber diesem gringo aus Argentinien und seinen compañeros, darunter die Deutsch-Argentinierin Tamara Bunke. Auch von der KP Boliviens wurde Che nicht unterstützt. Schließlich stand seine zweigeteilte Gruppe einer militärischen Übermacht gegenüber, beraten durch US-green berets mit Vietnamerfahrung. Während die kubanische Bevölkerung mit Fidel und seinen Getreuen sympathisiert hatte und deren Einzug in Havanna 1959 jubelnd begrüßte, blieb die Unterstützung in Bolivien durch die campesinos aus.

Im sozialistischen Lager wurde Che mit zunehmendem Argwohn ob seines Voluntarismus betrachtet. Vom Kampfgenossen Fidel, der angesichts der Bedrohung durch die USA zum Realo wurde und die Unterstützung der Sowjetunion suchte, setzte sich der Fundi-Radikale Che ab. Ihm ging alles zu langsam, er hielt nichts von friedlicher Ko-Existenz, wollte die Revolution der Peripherie („Dörfer“) gegen die Metropolen („Städte“) jetzt!
Che liebäugelte mit Peking und fiel mit seiner Kritik an Moskau in Ungnade, was ihn schließlich von Fidel trennte und auf den Weg in den Kongo und später nach Bolivien brachte. Aus der Sicht der UdSSR und der DDR war klar, weshalb er scheitern musste: Er hatte nicht auf die Einschätzung der kommunistischen Partei Boliviens gehört. Tatsächlich hatte er seine Erfolgschancen bei weitem überschätzt.

„Jesus Christus mit der Knarre – so führt dein Bild uns zur Attacke“

Genau seine Unbotmäßigkeit half wohl mit, warum Che Guevara zum Idol der aufmüpfigen 68er-Generation wurde und auch in der DDR so manche regimekritische Anhänger*in fand. Che war eben nicht der Apparatschik oder Bonze, sondern der Unbequeme, der selbst unter linken Christ*innen seine Fans fand. „Jesus Christus mit der Knarre – so führt dein Bild uns zur Attacke“, sang Wolf Biermann. Che, eine attraktive Kombination besonders für Revolu­tions­romantisierende. Ches Slogan „Schafft zwei-drei-viele Vietnams!“ fand Eingang in die Rhetorik der deutschen Student*innenbewegung – und endete dann in letzter Konsequenz im RAF-Desaster.

Nach seiner Ermordung fehlte der Ruf „Hoch die internationale Solidarität“, kombiniert mit seinem Konterfei, bei keiner studentischen Demo in Westberlin und Westdeutschland. Durch die nicaraguanische Revolution (1979) und deutschen Städtepartnerschaften gewann die Person Che mit seinem Spruch „Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“ eine besondere Nuance und Bekanntheit.

Die Militärputsche in Lateinamerika waren die Antwort der traditionell herrschenden Klassen im Verein mit der Imperialmacht USA. Sie brachten in den 1960er/70er Jahren mit ihrem Staatsterrorismus ein brutales Erwachen. Auch wenn heute etwa in Brasilien wieder Stimmung für ein Eingreifen der Militärs gemacht wird: So unzeitgemäß derzeit militärische Machtergreifungen erscheinen, so sehr auch der bewaffnete Kampf, siehe FARC und ELN. Zum Glück.

Darf man sich kritisch mit einer Revolutionsikone auseinandersetzen? Man darf. Nicht verschwiegen werden soll Che Guevaras Verant-wortung für die Hinrichtung sogenannter Kriegsverbrecher gleich 1959, was nicht so richtig zum Bild vom Vorkämpfer für Menschenrechte passt. Che hatte verschiedene Seiten, war widersprüchlich, was bis heute die Identifikation unterschiedlichster Strömungen mit ihm erlaubt: Er war risikobereit und konsequent in seinem Verhalten, er trug messianische, aufopferungsvolle, preußisch-disziplinierte, aber auch gewaltverherrlichende Züge. Zum Mythos wurde Che weniger wegen seiner Taten, siehe sein Scheitern, als für das, was er wollte: eine bessere Welt. Und so lohnt es noch immer, sich mit Che und seinem Anliegen zu befassen: die Überwindung von Abhängigkeit und Unterdrückung, Ausbeutung und Armut, und der in Lateinamerika herrschenden riesigen Einkommensunterschiede.

Che vive, Che lebt. Manche meinen, Che habe mit Evo Morales‘ Wahlsieg 2005 dann doch noch gewonnen. Für linke Regierungen Lateinamerikas von Bolivien bis Nicaragua einschließlich Zapatistas in Süd-Mexiko ist Che bis heute unverzichtbare Referenz. Ob zurecht, steht auf einem anderen Blatt. Kuba und Bolivien richteten im Oktober 2017 zur Erinnerung an die Ermordung große Staatsfeiern mit internationalen Gästen aus.
Eine Fernsehdoku übertitelte ein Portrait zu ihm mit den Worten „Der Tod war sein größter Sieg.“ Mag sein, richtig ist auf alle Fälle, dass Ernesto Che Guevara auch heute noch vielerorts fasziniert und verehrt wird, dass er in Kunst, Kultur und Kommerz seinen Platz hat und im 50. Jahr seiner Ermordung auch und noch immer in den Medien.

„Hasta siempre, comandante“? Besser „hasta siempre, Che“, der gute Mensch von Rosario.

KUNST UND KULTURELLE REVOLUTION IN LATEINAMERIKA

Im kolumbianischen Medellín fand 1981 die „Erste Lateinamerikanische Konferenz Nicht-Objekthafter Kunst“ statt. Im Museo de Arte Moderno (Museum für moderne Kunst) hatten sich Künstler*innen und Kunsttheoretiker*innen aus vielen Ländern Lateinamerikas versammelt, um über Theorie und Praxis zeitgenössischer Kunst zu diskutieren. Es ging um die soziale Relevanz von Kunstpraktiken nach dem Modernismus, jenseits von Wandmalerei im Stil des sozialistischen Realismus auf der einen und Abstraktion auf der anderen Seite.

Wichtigster Protagonist dieser Veranstaltung war der Kunsttheoretiker Juan Acha. In Peru geboren und aufgewachsen, hatte Acha in Deutschland Chemie studiert und war in den 1950er und 1960er Jahren als Kunstkritiker in Lima tätig. Von 1972 bis zu seinem Tod lebte und arbeitete er in Mexiko. Er gilt als einer der wichtigsten spanischsprachigen Kunsttheoretiker des 20. Jahrhunderts. Im deutschsprachigen Raum ist sein mehr als 20 Bücher und zahlreiche Artikel umfassendes Werk so gut wie unbekannt. Dabei würde es sich lohnen, seine Arbeiten wiederzuentdecken. Das gilt keineswegs nur für die Kunstsoziologie, sondern für seine Beschäftigung mit Fragen kulturellen Wandels überhaupt. Künstler*innen, schreibt etwa der Kurator und Theoretiker Joaquín Barriendos, waren für Acha nicht nur als Akteur*innen innerhalb des Kunstsystems interessant. Sie waren es auch und gerade deshalb, weil sie „auf dem Terrain mentaler und sinnlicher Veränderungen arbeiteten.“ Barriendos hatte im Frühjahr diesen Jahres eine Ausstellung zu Werk und Wirken Achas organisiert. Sie lief unter dem Titel „Despertar revolucionario“ („Revolutionäres Erwachen“) im Museo Universitario Arte Contemporáneo (Universitätsmuseum für zeitgenössische Kunst) in Mexiko-Stadt.

In Medellín hatte Acha 1981 sein wohl wirkmächtigstes Konzept vorgestellt: den no-objetualismo.

In Medellín hatte Acha 1981 sein wohl wirkmächtigstes Konzept vorgestellt: den no-objetualismo. Fast unmöglich zu übersetzen, geht es dabei um künstlerische Praktiken, die nicht an Objekte gebunden sind. In seinem Vortrag stellte Acha den no-objetualismo als Bruch mit der westlichen Kunstauffassung seit der Renaissance dar, die sich mit der Abgrenzung vom Handwerk etabliert hatte: Entscheidend für diese Auffassung von Kunst war bis ins 20. Jahrhundert hinein das individuelle Schöpfertum und das objekthafte Werk. Von Marcel Duchamps readymades (künstlerisch verwertete Alltagsgegenstände, Anm. d. Red.) über die konzeptuelle, auf Ideen basierende Kunst der 1960er und 1970er Jahre, zeichnet Acha die Entwicklung nicht-objekthafter Kunst in seinem 1979 veröffentlichten Buch Arte y Sociedad: Latinoamérica. El producto artístico y su estructura (Kunst und Gesellschaft: Lateinamerika. Das künstlerische Produkt und seine Struktur) nach. Der Begriff no-objetualismo umfasst dabei mehr als den Konzeptualismus oder der Konzeptkunst. Er richtet sich einerseits gegen die Fetischisierung von Objekten. Kunst braucht demnach keine Leinwände und Skulpturen, entscheidend sind die konzeptuellen Entwürfe und ihre Wirkung auf ein Publikum: Wie das Pissoir, das Duchamp 1917 in eine Ausstellung stellen ließ, gemacht ist und wie es aussieht, ist völlig egal. Interessant ist, wieso es als Kunstwerk angesehen wird. Andererseits zielt der Begriff no-objetualismo aber trotzdem auf den Umgang mit Materialien – Duchamps readymades waren schließlich auch Gegenstände –, mit dem Bildhaften und verschiedenen Wahrnehmungsformen.

Quer zu etablierten Kategorien wie Figuration, Abstraktion und Konzeptualismus kategorisiert Acha so die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts neu. Und zwar nicht nur diejenige Lateinamerikas. Während er einerseits alle wichtigen Personen und Stationen der nordamerikanisch-westeuropäisch geprägten Kunstverhältnisse reflektiert, weiß er – im Unterschied zu vielen seiner westlichen Kolleg*innen – zugleich um die eingeschränkte, eurozentrische Perspektive dieser Vorgehensweise. Schon die Unterscheidung in bildende Kunst, angewandte Kunst und Kunsthandwerk sei ein Effekt der kapitalistischen Entwicklung des Westens gewesen. Und die „bürgerliche Überbewertung der [bildenden] Kunst“, schreibt er in La apreciación artística y sus efectos („Die Kunstbewertung und ihre Effekte“) 1988, gründet demnach „auf der ideologischen Macht der westlichen Kultur.“ Diese werde abgesichert und reproduziert durch „institutionelle Kunstapparate“ wie Museen, Galerien, aber auch Kunstakademien und Kunstmessen.

Acha verknüpft in seinen kunst- und kulturtheoretischen Arbeiten marxistische Grundannahmen mit (post-)strukturalistischer Theorie.

Acha verknüpft in seinen kunst- und kulturtheoretischen Arbeiten marxistische Grundannahmen mit (post-)strukturalistischer Theorie. So geht er von einer ökonomischen Hegemonie aus, die auch Werte und Einstellungsmuster prägt. Zugleich zeichnet er aber auch die strukturellen Besonderheiten der Entwicklungen innerhalb der Kunst nach. Er untersuchte sowohl die Frage, auf welchen ideellen und materiellen Grundlagen ihre Produktion gründet, als auch die nach ihren kognitiven, sensorischen und gefühlsmäßigen Rezeptionsweisen. Schließlich ist es durchaus grundsätzlich erklärungsbedürftig, warum bestimmte Objekte als Kunst behandelt und konsumiert werden und andere nicht. Der Konsum stellt für Acha ohnehin einen zentralen und unterschätzten Bereich der Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur dar. Um den Prozess des Kunstkonsums und seine Effekte zu verstehen, bedürfe es also soziologischer, nicht nur philosophischer Instrumente. Es könne nicht nur um die Wahrnehmung der Betrachtenden allein gehen, schreibt er in Crítica del Arte („Kunstkritik“) im Jahr 1992. Man müsse auch ihre Erwartungen und Befähigungen mit einbeziehen, die, wie die künstlerischen Arbeiten selbst auch, nicht von dem sozialen Kontext zu lösen seien, in dem sie entstehen. Bei all dem geht er extrem systematisch vor, kaum eines seiner Bücher kommt ohne Schaubilder und Diagramme aus, die diese Systematik verdeutlichen sollen.

Acha war aber nicht nur Kunstexperte, sondern auch ein maßgeblicher linker Intellektueller. Die zeitgenössische Kunst nahm er häufig zum Anlass, um Fragen der „Unterentwicklung“ und der Folgen des Kolonialismus zu thematisieren. Dass ökonomische Herrschaft durch Wertvorstellungen abgesichert und vertieft wird, war eine seiner zentralen Thesen. Daher legte er auch so viel Wert auf kulturelle Veränderung: Kultur verstand er als Terrain, auf dem Sinn und Bedeutung hergestellt und verkörperlicht werden, sozusagen in Fleisch und Blut übergehen. Nach den Revolten von 1968 setzte er große Hoffnungen auf eine „kulturelle Revolution“, zu der auch Kunstschaffende beitragen sollten. Er begriff sie als „kulturelle Guerilla“ und verstand die oftmals aktivistische Kunst der 1970er Jahre als Teil eines sozio-politischen Transformationsprojektes.

Der große Einfluss seiner Thesen und Konzepte auf die zeitgenössische Kunst und die lateinamerikanische Linke der 1970er und 1980er Jahre ist unbestritten. Als sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre diverse Künstler*innen-Kollektive zur Bewegung Los Grupos („Die Gruppen“) zusammenfanden, war Acha einer ihrer wichtigsten Mentoren. Das betont etwa auch die feministische Performancekünstlerin Maris Bustamante. In den späten 1970er Jahren Mitglied des künstlerischen Kollektivs No Grupo („Keine Gruppe“), war Bustamante 1981 auch in Medellín dabei. 1983 war sie Mitbegründerin der feministischen Performancekunst-Gruppe Polvo de Gallina Negra („Pulver der Schwarzen Henne“). Im Rückblick hält sie Acha – neben dem marxistischen Kulturtheoretiker und Aktivisten Alberto Híjar Serrano – für den wichtigsten Vermittler marxistischer Ideen im kulturellen Feld Mexikos nach 1968 überhaupt.

In letzter Instanz, beschrieb Acha seine eigene Arbeit als Kunstkritiker, ginge es darum, ein „unabhängiges visuelles Denken“ zu ermöglichen. Die Forderung nach Unabhängigkeit war hier sowohl als Abgrenzung von einer elitistischen Kunstbetrachtung gedacht, als auch als Abkehr von einem Denken, das als Effekt der sozio-ökonomischen Abhängigkeit der Länder Lateinamerikas betrachtet wurde. Die Forderung ließe sich aber auch verallgemeinern als eine, die gegen Blickregime und Sehgewohnheiten aller Art gerichtet ist.

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