VERBRECHEN UNTER DEUTSCHER SCHIRMHERRSCHAFT

Cover: transcript Verlag

Seit Jahrzehnten wird die Colonia Dignidad in der bundesdeutschen wie in der chilenischen Presse vor allem als die Geschichte einer deutschen Sekte unter Führung der sinistren Figur des Paul Schäfer erzählt, eines pädophilen Laienpredigers. Jan Stehle hat die Geschichte dieser Vereinigung minutiös rekonstruiert. Wir erfahren sehr viel über die Colonia Dignidad, die mit Würde wenig zu tun hatte, und über den wohl sehr charismatischen Paul Schäfer. Doch dieses Buch leistet deutlich mehr. Wir haben es mit einer überaus soliden Studie über den „Umgang bundesdeutscher Außenpolitik und Justiz mit Menschenrechtsverletzungen 1961-2020“ zu tun, wie es der Untertitel ankündigt. Der Autor hat dazu auch den Umgang der chilenischen Politik mit dieser eigentümlichen kriminellen Vereinigung ausgiebig beleuchtet. Schließlich gewährt uns der Band einen aufschlussreichen Einblick in die bikulturelle Zwischenwelt zwischen Deutschland und Chile − eine Zwischenwelt, in der Stereotypen eine folgenreiche Rolle spielen konnten.

Die Qualität dieser Arbeit hat viel damit zu tun, dass sie auf eine Doktorarbeit zurückgeht, die 2020 am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der FU Berlin erfolgreich verteidigt wurde. Dies kommt dem interessierten Publikum sehr zugute, denn Jan Stehle hat weit über das Niveau herkömmlicher Fachbücher hinaus intensiv recherchiert und alle Angaben akribisch mit Quellen belegt. Auch der stringente, klare Aufbau und die vorsichtige Art, aus Zusammenhängen Schlüsse zu ziehen, zeichnen die Arbeit aus. Die Kehrseite der akademischen Strenge ist der Umfang des Werks, das beinahe 650 Seiten umfasst. Der transcript-Verlag hat ein lesefreundliches Layout geliefert.

Recherchiert hat Jan Stehle bereits die Zeit ab 1946, als Paul Schäfer anfing, im rheinischen Troisdorf evangelische Jugendgruppen anzuleiten. Anfang der 1950er Jahre wurde er schon wegen sexuellen Missbrauchs von Jungen entlassen. Stehle identifiziert die freikirchliche Gruppe, die 1956 gegründet wurde und die Schäfer ganz ergeben war, als Blaupause für die Colonia Dignidad: Ein abgeriegeltes Gelände mit sozialpolitischer Fassade, brutalen Methoden und systematischer sexueller Gewalt. Als die deutsche Justiz gegen Schäfer wegen Päderastie Ermittlungen einleitete, fand er in Chile Zuflucht für einen Neuanfang. So entstand ab 1961 im mittleren Süden Chiles die Colonia Dignidad, die Züge einer Mustersiedlung trug: Pflege hilfebedürftiger, zumeist deutscher Kinder; ein Krankenhaus, das auch die benachbarte Bevölkerung aufnahm; eine leistungsfähige Landwirtschaft und eine technische Ausrüstung nach dem neuesten deutschen Stand. Selbst ein zünftiges Restaurant – Spezialität Eisbein und Sauerkraut – wurde später eröffnet. Zum positiven Bild der Siedlung trugen der konsequente Aufbau eines befreundeten Netzwerkes unter den örtlichen Honoratioren und eine nicht minder ausgeklügelte Lobby-Arbeit bei der Deutschen Botschaft in Santiago bei.

Fortlaufender und massiver sexueller Missbrauch von Kindern, finanzielle Ausbeutung der deutschen Bewohner*innen der Siedlung und der sonstigen Beschäftigten, totale Kontrolle des Alltaglebens durch Nutzung sektentypischer Mechanismen und Insassen, die durch Arzneimittel systematisch in Abhängigkeit gehalten wurden, waren die grausame Realität. Zur Zeit der Regierung Allendes haben die Anführer der Siedlung rechten Terrororganisationen und den putschbereiten Militärs zugearbeitet, nach dem 11. September 1973 haben sie eng mit der Militärdiktatur und ihrem Geheimdienst kooperiert, auch indem sie „Verschwundene“ gefangen hielten und sich an deren massenhafter Ermordung beteiligten.

Die Existenz und die Verbrechen der Anführer der Siedlung wären ohne die Unterstützung privater Kreise aus der Bundesrepublik und vor allem aus der CSU kaum möglich gewesen – dies, obwohl die deutsche Justiz und das Auswärtige Amt von vornherein über die kriminelle Energie von Paul Schäfer Bescheid wussten; obwohl seit den 1970er Jahren etwa das FDCL und die LN, Amnesty International und engagierte Anwält*innen immer wieder die Verbrechen bekannt machten; obwohl sogar Spiegel und Stern den Verbrechen der Colonia Dignidad ihre Titelseiten und ausführliche Berichte widmeten. Die Untätigkeit der Bundesregierungen und der Justiz mögen eine Teilerklärung darin finden, dass die Verbrechen in Chile stattfanden, außerhalb der Zuständigkeit bundesdeutschen Rechts. Aber Jan Stehle arbeitet heraus, dass die zuständigen Gerichte die Tragweite der Kriminalität durch die Führung der Siedlung jahrzehntelang ignorierten und dabei systematisch auf Eingriffsmöglichkeiten verzichtet haben. Schlimmer dürfte die Verantwortung der Deutschen Botschaft in Chile wiegen. Sehr viele der Botschafter in der untersuchten Periode und auch viele ihrer damit befassten Angehörigen haben Schäfer und seine Leute aktiv unterstützt. Wenige Monate nach dem Putsch schrieb Militärattaché Weidhofer in einem Vermerk an seinen Diensthern, die Colonia sei „deutsches Interessengebiet“. Was im deutschen Spielfilm Colonia Dignidad (2016) als eine dramaturgische Zuspitzung verstanden werden mochte, geschah immer wieder: Deutschen Insassen gelang die Flucht aus der Siedlung und die 400 km lange Fahrt nach Santiago, um sich in den Schutz der Botschaft zu begeben – aber aus der Botschaft wurden die Freunde in der Colonia angerufen, so dass sie die Geflüchteten zurück bringen konnten und so weit traktierten, dass sie im Nachhinein erklärten, sie hätten sich geirrt und gar nicht flüchten wollen. Hier tritt die andere Seite des herausragenden Beitrags von Jan Stehle hervor: Die Fakten, die er nüchtern darlegt, haben zumindest beim Rezensenten eine solche Wut, eine solche Trauer hervorgerufen, dass er die Lektüre immer wieder unterbrechen musste.

Erst 2016 sollte ein deutscher Außenminister – Frank-Walter Steinmeier – die Verantwortung der Bundesrepublik bekennen. Die meisten Verbrechen bleiben ungesühnt.

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