Über meine Asche reden

Als Rebeca eines Tages unerwartet von ihrer Großtante Peggy angerufen wird, die sie bittet ihre Asche in den Ruinen einer längst verlassenen Salpetersiedlung zu verstreuen, öffnet sich ein Fenster in eine andere Zeit: Zwischen knappen Kapiteln, die immer wieder zwischen Gegenwart und Vergangenheit springen, entfaltet sich die Geschichte einer Siedlerfamilie im Chile von vor 100 Jahren. Dazu kommen Peggys regelmäßige Briefe an eine verlorene, doch sehr vermisste Kindheitsfreundin.

Durch Rebecas Augen lernen wir ihre Großtante kennen. Peggy, auf deren Besuch sie früher jedes Jahr wartete; Peggy, die so unabhängig und einsam ist; Peggy, die immer wieder zu den gleichen Erinnerungen zurückkehrt. Durch Peggys Briefe wiederum wird ein verschwommenes Bild der Salpeterindustrie der 1920er Jahre in der Pampa der Atacamawüste gezeichnet. Als Tochter eines Verwalters der Oficina Aurora erlebt Peggy eine glänzende, scheinbar glückliche Kindheit, die von Silberbesteck, Pariser Modezeitschriften und Fahrten nach Iquique geprägt ist, aber auch vom Zerfall der Oficina, dem Bankrott der Familie bis zur unvermeidlichen Rückkehr nach England.

Obwohl Identitätsfragen der jungen Siedlergeneration oder Machtdifferenzen zwischen chilenischen Arbeiter*innen und englischen Verwaltern angeschnitten werden, bleibt die Perspektive ganz und gar bei Peggy, die die Oficina bis zum Ende hin romantisiert. Auf kritische Nachfragen von Rebeca reagiert sie mit Trotz und der gleichen Hartnäckigkeit, mit der sie durchs Leben geht.

Trotz detailreich ausgeschmückter Erinnerungen und intimster Gedanken schwebt über der Familie ein großes Schweigen, das mal bewusst, mal unbewusst scheint. So wird die Stille zwischen Rebeca und ihrem Vater zwar mit der Zeit durchbrochen, doch die unsichtbare Wand, die zwischen ihnen steht, wandert mit.

Carolina Brown schreibt, als würde sie ihre eigene Familiengeschichte erzählen, malt die Charaktere in all ihren Fehlern und Eigenartigkeiten, legt ihnen Fragen in den Mund, auf die sie selbst die Antwort nicht zu wissen scheint. Telefonate und vertraute Gespräche zwischen Personen, die meinen, sich zu kennen, tragen die Authentizität einer undurchsichtigen, durchbrochenen Familie.

Während sich die Handlung anfangs langsam, fast unbemerkt aufbaut, abgelenkt von so viel Vergangenheit, geht am Ende alles sehr schnell und kommt doch nur auf den ersten Blick zu einem Punkt. Innere Konflikte bleiben, Fragen werden nicht klarer, sondern scheinen immer mehr zu verschwimmen. Vielleicht wird gerade hier aufgezeigt, wie Erinnerung auch mit dem Vergessen Hand in Hand geht und wie wenig Kontrolle wir doch über die Wahrheiten unseres Lebens haben. Aber so wie Briefe an Personen geschrieben werden, die nicht mehr da sind, müssen auch Erinnerungen die Sehnsüchte nach verlorenen Orten und Zeiten halten.


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Ganz allein

Javier ist erst neun, als er seine Reise antritt, solito. Im April 1999 verlässt er sein Zuhause im salvadorianischen La Herradura, um seinen Eltern, die vor dem Bürgerkrieg geflohen sind, in die USA zu folgen. Zurück bleiben seine Tante Mali, Oma Neli, Freunde und vielleicht auch seine Kindheit. Der gleiche Coyote (Schlepper), der Jahre zuvor seine Mutter in die USA gebracht hat, soll nun ihn und fünf andere Menschen sicher über die Grenze schmuggeln. Sein Opa begleitet ihn noch im Bus ins guatemaltekische Tecún, danach ist er allein.

Was die Flucht für ein Kind in dem Alter bedeutet, beschreibt Javier Zamora, der lange nicht über das Erlebte sprechen konnte, eindrücklich. Er schildert Details wie die Hilflosigkeit dabei, sich die Schuhe zuzubinden oder auf die Toilette zu gehen, bis hin zum Schauspiel, um als Mexikaner durchzugehen.

Sein Weg mit Transporter, Bus und Boot wirkt an manchen Stellen wie eine Abenteuerreise, wenn er von Witzeleien mit seinen Reisegefährten erzählt, von Sonnenaufgängen in der Sonora-Wüste schwärmt oder darauf vertraut, dass sein cadejo ihn beschützen wird. Dennoch ist die brutale Realität allgegenwärtig und entfaltet sich auf besondere Weise durch die Perspektive eines Kindes, das vieles nicht benennen, aber intensiv fühlen kann.

Trotz all dieser körperlichen und seelischen Strapazen, der anhaltenden Anspannung und ewiger Zweifel gelingt es Javier, die Komplexität seiner Gefühle nachvollziehbar zu machen und auf seine Außenwelt zu übertragen. Fremde Menschen werden zur Familie – manche nur für einen sehr kurzen Moment, andere bis zum Ende – so eng, dass es beim Lesen schmerzt, wenn sie wieder auseinandergerissen werden.

Die Übersetzung von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann schafft es mit den zahlreichen umgangssprachlichen Ausdrücken, die direkt aus dem spanischen Original übernommen wurden, Javiercitos Reise auf sprachlicher Ebene verständlich zu machen. Denn der hat nicht nur mit den Unterschieden von mexikanischem und salvadorianischem Slang zu kämpfen, sondern auch mit den tortillas, die so anders sind als zu Hause, und mit der immer wiederkehrenden Frage nach seiner Hautfarbe. „Ich weiß nur, dass ich ein indio bin“.

Seine Flucht über tausende von Kilometern ist eine von unzähligen und zugleich einzigartigen Migrationsgeschichten, die im Kopf und im Herzen bleibt. Alle Emotionen werden aneinandergereiht, wieder durcheinandergeworfen und dennoch – oder gerade deshalb – bleibt Javiers Stimme so klar und unverhüllt. Viele Fragen bleiben offen: Was wird aus den Reisegefährt*innen, der zurückgelassenen Familie? Wie sehen die Geschichten anderer aus, die immer wieder ihr Leben riskieren, um die Grenze zu überqueren? Wohin mit all diesen erschütternden Erinnerungen, die viel zu groß für einen kleinen Jungen sind? Púchica, cipotillo.


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Lose Fäden

Oft werden wir von zahlreichen Gedanken überwältigt, die unsere Aufmerksamkeit einfordern. Die Sätze werden dann kürzer und oft bleiben ihre Enden unvollständig. Es ist, als würden zahlreiche lose Fäden im Kopf zusammenkommen und sich allmählich zu einem Sinngefüge verbinden, von dem man hofft, dass es zu einer bedeutenden Erkenntnis führen wird.

Dieses Gefühl der Erwartung auf eine tiefergreifen­de Einsicht ergreift einen, wenn man Gabriel García Márquez’ Roman Wir sehen uns im August liest. Erzählt wird die Geschichte von Ana Magdalena Bach, einer Frau mittleren Alters, die ein scheinbar perfektes normales Leben in einer durchschnittlichen Ehe mit Kindern führt. Jedes Jahr reist sie zum Todestag ihrer Mutter auf eine Insel, wo diese begraben liegt. Sie fährt mit dem Taxi zum Friedhof, kauft dort bei der immer selben Dame Gladiolen und legt den Strauß auf das Grab. Anschließend genießt sie ihr traditionelles Käse-Schinken-Sand­wich in einem alten Hotel.
Doch bei einem ihrer jährlichen Besuche ändert sich alles: Sie hat eine Affäre mit einem anderen Mann. Nach ihrer gemeinsamen Nacht entdeckt sie einen 20-Dollar-Schein in ihrem Buch. Obwohl sie darüber empört ist, setzt sie ihre nächtlichen Begegnungen mit verschiedenen Männern in den folgenden Jahren fort.

Die Lesenden erwarten gespannt den Moment der Enthüllung, der erklären könnte, warum sie so handelt. Doch dieser Moment bleibt aus. Die losen Fäden werden nicht zu einem strukturierten Geflecht verknüpft, wie es uns vertraut ist. Und manche Charaktere scheinen sehr oberflächlich und undurchdringlich. Auch wenn dies zunächst ein leichtes Unbehagen hervorrufen mag, bietet sich hier doch die Möglichkeit, faszinierende Parallelen zum realen Leben zu ziehen. Oft können wir das Verhalten anderer Menschen, ob Freund*innen oder Fremde, nicht nachvollziehen. Manchmal fällt es uns sogar schwer, unsere eigenen Handlungen zu verstehen oder ihre Gründe zu erklären. Das Buch lässt einen aufgrund dieser offenen Fragen nicht los.

Allerdings erfordert das Verständnis von García Márquez’ Roman Wir sehen uns im August eine Kontextualisierung, da es unter besonderen Umständen entstanden ist. Die fortschreitende Demenz des Autors machte es ihm zunehmend schwer, auf seine Erinnerungen zuzugreifen, die er als Grundlage seines Schreibens betrachtete. Diese Herausforderung zeigt sich auch in seinem Werk. Tatsächlich wollte García Márquez den Roman selbst nicht veröffentlichen. Die Veröffentlichung wurde Jahre nach seinem Tod von seinen Kindern in Auftrag gegeben. Die Frage, warum sie die Erzählung gegen seinen Willen veröffentlichten, beantworteten sie damit, dass sie den Roman letztendlich für nicht so schlecht hielten. Eine Entscheidung, die ein seltsames Licht auf das Verhältnis zwischen dem Autor und seinen Erben sowie auf die Einschätzung der künstlerischen Qualität seines literarischen Schaffens wirft


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Bolero-Fantasie und Rebellion

Der chilenische Autor Pedro Lemebel ist eine Ikone der lateinamerikanischen und der queeren Literatur. Passend zum Jahr des Gedenkens an den Beginn der Militärdiktatur Augusto Pinochets wurde nun Lemebels einziger Roman Tengo miedo, torero in der Übersetzung von Matthias Strobel neu verlegt. Lemebel gab vor allem durch Chroniken Einblicke in das Leben auf den Straßen der chilenischen Klassengesellschaft. In diesem Werk, das 2001 auf Spanisch veröffentlicht wurde, nimmt er uns mit in die Welt „der Tunte von der Front“ (Original: „la loca del frente“), die im Jahre 1986 in einem heruntergekommenen, aber immer sauberen und mit bestickten Tischdecken dekorierten Haus in Santiago lebt. Mit jenen hübschen Deckchen werden auch die Revolutionsmaterialien des jungen Carlos und seiner Mitkämpfer*innen der patriotischen Front Manuel Rodríguez bedeckt, die die Protagonistin aus Verliebtheit in ihrem Haus versteckt. Dort trällert sie kitschige Boleros und gibt sich ihren Liebes­fantasien hin, während sie auf Carlos´ nächsten Besuch wartet. Der ist allerdings vor allem damit beschäftigt, mit seiner Gruppe ein Attentat auf den Diktator zu planen – eine wahre Begebenheit, um die herum sich die Geschichte der Romanfiguren entspinnt. Über die meist kurzen Begegnungen hinaus entwickelt sich die Beziehung zwischen Carlos und der Protagonistin vor allem in deren Traumwelt weiter. Obwohl sich mit der Zeit eine intimer und uneindeutiger werdende Freundschaft zwischen beiden aufbaut, bleibt Carlos in der begehrten Form doch unerreichbar. Einsamkeit und unerfüllte Hoffnungen der „Tunte von der Front“ schimmern immer wieder durch. Lemebel schafft es, die Lesenden mit ausgeschmückten sprachlichen Wendungen und extravaganten Formulierungen mit in die schmachten­den Fantasien der Hauptfigur zu nehmen und das melancholische Ziehen queerer Sehnsucht nach der Romanze der Boleros zu vermitteln.

Parallel zur Liebesgeschichte entwickeln sich die politischen Ereignisse sowie die politische Haltung der Protagonistin selbst weiter. Während diese zu Beginn des Romans noch nichts von den Aktivitäten der Studierenden wissen möchte, fühlt sie mit der Zeit immer mehr Verbindung zu deren Kampf und beginnt in kleinen alltäglichen Akten der Rebellion selbst Haltung anzunehmen. Aus ihrer Perspektive auf die Revolutionär*innen spricht dabei jedoch auch Lemebels zu Lebzeiten immer wieder angebrachte Kritik am freudlosen, maskulinistischen Aufopferungskult und Macho-Gehabe in kommunistischen Gruppen. Dem entgegen setzt der Autor den aufmüpfigen Ton der „Tunte von der Front“. Auch Szenen der frustrierten Ehe des Diktators und seiner Gedankenwelt werden in einer parallel verlaufenden Erzähllinie immer wieder eingeflochten und münden als Höhe­punkt im Aufeinandertreffen der beiden Linien am Tag des Attentats.

Lemebel nutzt Sprache und Genrekombinationen auf seine eigene Weise, verknüpft kitschige Ausdrücke mit pornografischen Szenen, Liebesgeschichte mit Politdrama. Wer die spanische Version kennt, muss sich zunächst an den ungewöhnlichen Sprachgebrauch, der nicht leicht ins Deutsche zu übertragen ist, jedoch gut von Strobel übersetzt wurde, gewöhnen. Es lohnt sich – Torero, ich hab Angst wird ganz zu Recht als Meisterwerk bezeichnet.


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WAS GUTE LITERATUR KANN

Poetische Diagramme „Wenn sich zwei Menschen ein Geheimnis erzählen, sieht das ungefähr so aus“ (Illustrationen: Verónica Gerber Bicecci / MaroVerlag)

„Da es in der Literatur schwierig ist, sich der hegemonialen Macht des geschriebenen Wortes zu entziehen, habe ich die bildende Kunst und die Wissenschaft zu Hilfe genommen“, schreibt Veró-nica Gerber Bicecci im Nachwort zu Leere Menge. Gerber Bicecci, 1981 als Tochter argentinischer Exilierter in Mexiko-Stadt geboren, nennt sich selbst eine „bildende Künstlerin, die schreibt“.

Ihr jüngstes Werk Leere Menge, im Herbst 2022 im MaroVerlag erschienen, lässt sich daher kaum als einfachen Roman beschreiben, sondern eher als Literaturstück, Kunstwerk und wissenschaftliche Beobachtung in einem. Und so erklärt auch die Autorin in einem Interview mit Words Without Borders, das Buch sei wie jedes andere ihrer Kunstprojekte – bei diesem gehe man nur nicht in eine Ausstellung, sondern müsse es eben lesen.

Dieses Lesen gestaltet sich anspruchsvoll: Die Handlung verläuft nicht chronologisch, sondern in miteinander verschlungenen Ebenen. Kurze Kapitel, Briefe und Einschübe werden immer wieder von Protokollen und Zeichnungen unterbrochen und ergänzt. So werden Leser*innen herausgefordert, ihr Zusammenspiel zu entschlüsseln, sich durch die Handlung zu arbeiten, hinter ihre Rätsel zu steigen. Dabei liest man mal schnell, mal langsam, brütet über dieser Zeichnung oder jener Formulierung – eine Abwechslung, die nur wenige Romane mit sich bringen.

Ähnlich herausfordernd muss auch die Entstehung des Buchs gewesen sein, wie Gerber Biceccis Erzählungen vermuten lassen: „Ich bin zwischen meinem Computer und meinem Zeichentisch hin- und hergelaufen, um zu sehen, wie die Texte und Zeichnungen zueinanderpassen. Es war ein gemischter Entstehungsprozess von Hand und Computer“, erzählt sie bei Words Without Borders.

Was verwirrend klingen mag, geht im Leseprozess in beeindruckender Weise auf. Denn die Zeichnungen, Protokolle und Texte bilden ein in sich stimmiges Gesamtwerk, eine tiefdringende Reflexion über Einsamkeit, Exil, Verschwinden und Vergessen mit autobiografischen Zügen. Wie die Autorin selbst ist auch Verónica, die gleichnamige Protagonistin von Leere Menge, Tochter exilierter Argentinier*innen. So werden immer wieder Bezüge zur argentinischen Militärdiktatur (1976-83) deutlich – zum Exil, zum Verschwindenlassen, zur Erinnerung (siehe Artikel auf Seite 18). „[D]er Tod verursacht, glaube ich, auf einen Schlag eine tiefe (sehr tiefe) Wunde, die dann langsam heilt. Das Verschwinden hingegen verursacht eine kleine, kaum spürbare Wunde, die aber jeden Tag etwas weiter aufreißt“, heißt es da etwa.

Verónica versucht, ihre zwischenmenschlichen Beziehungen, ihren Verlust und ihr Verschwinden formelhaft zu verbildlichen. Die so entstehenden Zeichnungen und Diagramme sind nicht nur sehr künstlerisch, sondern basieren auf naturwissenschaftlichen Prinzipien, auf physikalischen Zusammenhängen, auf natürlichen Formen wie den Ringen auf Baumstämmen. An vielen Stellen ergänzen die Zeichnungen den Text um das, was mit Wörtern schwer zu erzählen ist. „Ich muss zugeben, dass ich die Zeichnungen genutzt habe, um es zu vermeiden, Szenen zu schreiben, die sonst kitschig klingen würden“, entgegnet die Autorin etwa angesprochen auf die Frage, wieso eine Sexszene halb geschrieben, halb gezeichnet dargestellt wird.

Unterhaltsame Szenen wie diese lockern die tiefgründigen Fragen, denen Verónica nachgeht, auf. Gleiches gilt für die zahlreichen Wort-, Buchstaben- und Silbenspiele, die das Buch durchziehen. Es ist erfreulich, dass es der Übersetzerin Birgit Weilguny gelungen ist, diese ins Deutsche zu übertragen, ohne sie ins Lächerliche zu ziehen. Das gilt auch für Gerber Biceccis ebenso einfache wie liebevolle Sprache.

Leere Menge bietet damit ein besonderes Erlebnis, das über gewohnte Leseerfahrungen hinausgeht – ganz egal, wie vielen der Rätsel Leser*innen auf die Sprünge kommen. Eines der größten Rätsel ist da etwa das seltsame Verschwinden von Verónicas Mutter. Einige Geheimnisse klärt Gerber Bicecci im sehr aufschlussreichen Nachwort, das der deutschen Übersetzung angehängt ist, auf. Andere bleiben vielleicht für immer ein Rätsel oder lösen sich bei nochmaligem Lesen.

Eine tiefe Behandlung persönlicher und zwischenmenschlicher Fragen zeichnet das Buch in jedem Fall aus und lässt sicher viele Leser*innen nachdenklich zurück. Das gilt für Fragen nach der Bedeutung des Exils für nachkommende Generationen ebenso wie für das Thema Einsamkeit: „Einsamkeit sieht man nicht, man erlebt sie, ohne sie bewusst zu bemerken. […] Sie ist eine Art leere Menge, die sich im Körper, in der Sprache einrichtet, bis einen niemand mehr versteht.“

Zeichnungen ergänzen den Text „Zwei Universen (U) […] Oder besser gesagt zwei Länder: Argentinien (L1) Mexiko (L2) und Mama (M)“ (Illustrationen: Verónica Gerber Bicecci / MaroVerlag)


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ZWISCHEN FIKTION UND WIRKLICHKEIT

„Wer auch immer an einem schlechten Tag die Hölle erfunden hat, muss im Kopf eine genaue Vorstellung von Poso Wells gehabt haben“. So wird der Schauplatz des gleichnamigen Romans der ecuadorianischen Autorin Gabriela Alemán in dessen erstem Kapitel beschrieben. Poso Wells ist ein fiktiver Stadtteil der ecuadorianischen Hafenstadt Guayaquil.

Eine entsprechend düstere Stimmung zieht sich durch den Roman. Gleich zu Beginn kommt der verheißungsvollste Kandidat der anstehenden Präsidentschaftswahlen auf groteske Art und Weise ums Leben. Während einer Podiumsveranstaltung kann der Politiker seinen Harndrang nicht zurückhalten und da sein Mikrofonkabel mit einem Starkstrommast verbunden ist, kommt es zu einem Kurzschluss, und er und einige seiner Parteikollegen erliegen einem Stromschlag. Der einzige potenzielle Nachfolger verschwindet spurlos.

Der Journalist Gonzalo Varas nimmt sich des Falles an, doch schnell geht es um weit mehr als um den verschwundenen Kandidaten. Varas unterhält sich mit den Menschen im Stadtteil und findet heraus, dass seit Jahren immer wieder Frauen verschwinden, ohne dass irgendjemand Genaueres darüber zu wissen scheint. Schnell stellt er Verbindungen zum Verschwinden des Präsidentschaftskandidaten her und beschließt, eine Weile in Poso Wells zu bleiben. Doch die Geschichte wird nicht nur aus Varas’ Sicht erzählt.

Korruption, geschlechtsspezifische Gewalt, illegaler Raubbau an der Natur, all diese Thematiken verstricken sich in Gabriela Alemáns Roman ineinander. Es passiert viel in kurzer Zeit. Und so absurd der Roman doch an einigen Stellen anmuten lässt, so realistisch wirkt er auch an anderen. Während einige Charaktere – so wie der besagte Präsidentschaftskandidat oder der kanadische Investor Holmes, der auf der Jagd nach neuen Bergbauberechtigungen nach Ecuador gekommen ist – überspitzt, satirisch und unsympathisch dargestellt werden, so nahbar wiederum wirken zum Beispiel Varas und sein Freund Benito. Und so hoffnungslos und düster Poso Wells auch anmutet, so finden nicht nur die Figuren des Buches auch Schönheit darin.

Realität und Fantasie vermischen sich im Laufe des Romans besonders durch die eingebundenen Elemente aus der Erzählung Das Land der Blinden des Science-Fiction Autors H.G. Wells, dessen Name der Autorin wiederum zur Schöpfung des Romantitels diente.

Gabriela Alemán war 2007 Teil von Bogotá 39, einer Gruppe von 39 bedeutenden lateinamerikanischen Autor*innen unter 39 Jahren. Der Roman, der in Ecuador bereits 2006 erschien, ist das erste Werk der Autorin, das ins Deutsche übersetzt wurde. Der Maro-Verlag wurde für die Übersetzung mit der „Verlagsprämie 2021 des Freistaats Bayern“ ausgezeichnet. Wie die Autorin selbst im Nachwort zur deutschen Ausgabe schildert, ist der Roman inspiriert von politischen Entwicklungen rund um die Präsidentschaftswahlen 2006.

15 Jahre sind seit Erscheinen der Originalversion vergangen, dennoch lassen sich nach wie vor erschreckend viele Parallelen zum lateinamerikanischen Gegenwartsgeschehen ziehen.


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CHILENISCHE DICHTER

Foto: © Suhrkamp Verlag

Ein kleiner Junge steht auf einem Parkplatz mit einem großen Bündel Luftballons in seiner Hand. Hinter ihm spiegeln sich Strahlen der untergehenden Sonne in den Fenstern der Autos. Schön nostalgisch, wären da nicht die Augen des Jungen. Fast ein Vater heißt der Roman des Chilenen Alejandro Zambra, von dessen Cover uns dieser Junge etwas verloren anschaut. Aber wo ist sein Vater?

Zu Beginn des Romans geht es um den Dichter und Dozenten Gonzalo, der seine Jugendliebe Carla wiedertrifft. Sie hat bereits ein Kind und bald formen die drei eine kleine Familie. Obwohl sich seine Beziehung zu ihrem Sohn Vicente vertieft, hadert Gonzalo immer wieder mit seiner (Stief-)Vaterrolle. Und auch in der eigenen Familie kann er sich nicht auf Vorbilder stützen: in einer – sehr unterhaltsam geschriebenen – Szene, besucht Gonzalo auf ausdrücklichen Wunsch seiner Mutter den Geburtstag seines Großvaters, den dessen zahlreiche Töchter und Söhne organisierten. Bei keiner seiner vielen Frauen ist der alte Patriarch lange geblieben. Gonzalo begegnet dem selbstherrlichen Großvater voller Verachtung. Doch wird es ihm selbst gelingen, ein besserer Vater für seinen Stiefsohn Vicente zu sein?

Im dritten Teil des Buches ist der nun erwachsene Vicente die Hauptperson. Gerade mit der Schule fertig geworden, will er Dichter werden, obwohl ihn sein biologischer Vater immer wieder dazu drängt, zur Uni zu gehen. Doch dann verliebt sich Vicente in die schöne US-amerikanische Journalistin Pru. Sie ist durch einen Zufall in der falschen Stadt gelandet und ebenso zufällig findet sie zu ihrem neuen Reportage-Thema: Die chilenische Dichterwelt. Dafür trifft sie sich, feiert und trinkt mit vielversprechenden jungen Poet*innen sowie etablierten Dichter*innen des Landes. Seine Perspektive von außen erlaubt es dem Autor, ein paar Witzeleien über die Szene einzufügen: Zum Beispiel beobachtet Pru, dass die von ihr Befragten Mundgeruch hätten und alle, auch die Frauen, versuchten, mit ihr zu flirten. Auch unter den Freigeistern finden sich verkrustete Männlichkeitsbilder. Der spanischsprachige Titel des Buches Poeta chileno ruft dabei noch mehr die Assoziationen zu Chiles vergangenen Dichtergrößen wie Pablo Neruda hervor, der nicht eben als guter Vater bekannt war.

Zambra begegnet dem chilenischen Dichter*innendasein mit viel Witz, wirft jedoch besonders in Bezug auf Vaterschaft einen gesellschaftskritischen Blick darüber hinaus: Warum geben viele Väter nach einer Trennung den Kontakt zu ihren Kindern auf? Warum kämpfen sie nicht energischer, dieses besondere Band nicht zu verlieren? Und was bedeutet eigentlich eine stille Geburt für einen Vater? Fragen wie diese umkreist der Autor elegant mit seinen vielschichtigen Figuren, ohne dabei in zu einfache Erklärungen abzurutschen. Zambra, der bisher vor allem für schmale Romane bekannt war, ist auch mit diesem, mit mehr als 400 Seiten, ein mitreißendes und dazu sehr aktuelles Werk gelungen.


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DIE WILDEN SIEBZIGERJAHRE

Zonästhetisch, eidoi, Inkuben, puella bondinis? Solcherlei Wörter sind keine extravaganten Seltenheiten in der mit Fremdworten und erotischen Anspielungen überladenen, technisch-akademischen Sprache Pola Oloixaracs in Wilde Theorien. Matthias Strobel ist es nun erstaunlich gut gelungen, die „mysteriöse Syntax“, wie es im Buch heißt, für die deutsche Ausgabe zu übersetzen.

Dieser latente Größenwahnsinn spiegelt sich auch in den Charakteren des Buches. Zuerst wäre da die sehr unterhaltsame Geschichte des holländischen Anthropologen Johan van Vliet, der 1917 bei einer Forschungsreise im heutigen Benin, am Rande des Wahnsinns, die „Egomanische Theorie“ entwickelt: Die Erzählung der Menschheitsgeschichte dürfe nicht mit den jagenden und sammelnden Gemeinschaften beginnen, denn der Teil, der bis heute all unsere Motivationen und Triebe präge, sei die kaum beachtete Zeit davor. Die Zeit, in der unsere Spezies noch in der ständigen Angst leben musste, Beute für andere Tiere zu werden. Verstreut im Buch erscheinen daher immer wieder kurze Kapitel mit Ritualen aus aller Welt, bei denen Jugendliche in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen werden. Dabei hallt besagte Beute-Vergangenheit deutlich nach: Tierverkleidungen, Jagdspiele, Geisterrituale, Verletzungen, Überleben im Wald …

In der Welt der eigentlichen Hauptcharaktere des Buches scheint dieser Initiationsritus aus „sexuellen Rangeleien“, Partys, Drogen, vornehmlich jedoch aus einem intellektuellen Kräftemessen zu bestehen: Die zwei jungen Nerds Kamtchowsky und Pablo, alias Pabst, bewegen sich Anfang der 2000er Jahre durch die „urbanen Stämme“, wie Kamtchowsky es einmal bezeichnenderweise nennt. Das heißt, die Kunst- und (Sub-)Kulturszene von Buenos Aires. Dass die beiden das waren, „was man politisch inkorrekt nennt“, wie es im Buch heißt, wird schnell offensichtlich: Boshaft lästern und bloggen sie über die Szene und entwickeln einige wilde Theorien zu Sex, Masturbation und sozialen Hierarchien, die manchmal an den Sexualfrust in Houellebecq-Romanen denken lassen. Genial sind Einfälle wie ihr selbst-entwickeltes Spiel Dirty War 1976, das die zeitgeschichtlichen Konflikte Argentiniens, das im selben Jahr in eine Militärdiktatur (1976-1983) überging, in ein Computer-Rollenspiel verwandelt.

Ein weiterer Erzählstrang – oder Initiationsritus – des Romans ist eine bildhübsche und wie alle Charaktere etwas überhebliche Ich-Erzählerin. Sie ist, ebenfalls Anfang der Nullerjahre, Studentin bei einem verstaubten Philosophieprofessor, der van Vliets „Egomanische Theorie“ wieder ausgegraben hat und diese nun groß herausbringen will. Die junge Überfliegerin ist ihrem Professor jedoch schon einen Schritt voraus. Sie sucht den Ex-Guerillero Collazo auf, nun ebenfalls Professor und gefeierter Schriftsteller, um van Vliets Theorie an ihm in die Praxis umzusetzen: Sie provoziert „dunkle Triebe“ bei dem Mann, den sie heimlich ihr „Opfer“ nennt, um ihn dann jedoch genüsslich immer wieder auflaufen und abblitzen zu lassen. Hier beginnt der sicherlich umstrittenste Teil von Oloixaracs Werk. Mit der Figur des Ex-Guerilleros Collazo als einem eingebildeten, ungepflegten und notgeilen Macho, der der Ich-Erzählerin stolz von seiner kämpferischen Vergangenheit berichtet und alte Kampfeslieder anstimmt, wird nicht nur linker Machismo, sondern auch eine Verklärung der 1970er Jahre in Teilen der argentinischen Linken bloßgestellt.

Diese Kritik zieht sich auch durch die Geschichte Kamtchowskys, die selbst aus einem linken Umfeld stammt: Sie liest das Tagebuch ihrer in den Siebzigerjahren gewaltsam verschwundengelassenen Guerillera-Tante, das ihre begeisterte Mutter unbedingt zu einem Verlag bringen möchte. Das Tagebuch, dessen Einträge an Mao Tse-tung – nur liebevoll „Moo“ genannt – adressiert sind, liest sich wie die schlechten Herzschmerzgeschichten eines Teenagers. Dies könnte auch als bewusster Seitenhieb Oloixaracs auf die nach den Militärdiktaturen vor allem in südamerikanischen Ländern populäre testimonio-Literatur gelesen werden. Es offenbaren sich in diesem Tagebuch jedoch nicht nur Jugend und Naivität, sondern auch einige Widersprüchlichkeiten der vermeintlich sexuell-befreiten, für klare Ideale einstehenden Kämpfer*innen der Guerilla-Bewegungen der 1970er Jahre, vor allem beim Stichwort Machismo.

International erntete Oloixarac für Wilde Theorien viel Lob. Doch in Argentinien, wo der Roman schon 2008 erschien, wurde er in Feuilletons kaum positiv besprochen und die Autorin zum Teil sogar als „verkappte Faschistin“ diffamiert. Auch wenn diese Reaktionen etwas überzogen erscheinen, sind einzelne Ausschnitte – allerdings abseits der wilden Siebziger – mindestens ärgerlich. Hierzu gehört die Darstellung Miguels, einem Liebhaber Kamtchowskys mit Trisomie 21, der von ihr ständig abgewertet und als natürlicherweise triebgesteuert beschrieben wird, was bestehende Vorurteile zementiert. Oloixarac scheinen einzelne ihrer vielen Provokationen entglitten zu sein. Trotzdem ist der Roman insgesamt sehr lesenswert, humorvoll und sprachlich originell. Er demaskiert den allgegenwärtigen Machismo und die Tendenz zur Verklärung der Vergangenheit – was nicht nur für eine linke Selbstkritik sicherlich von Bedeutung ist.


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EIN ORT AUS VIELEN

Ein leer stehender Turm, errichtet auf einer Mülldeponie in der fiktiven Stadt Favelada: Habe-nichtse aus den nahe gelegenen Armenvierteln besetzen das niemals fertiggestellte Gebäude, trotzen Unwettern, wilden Tieren und Plagen. Sie sind gekommen, um zu bleiben, beschaffen sich Strom und Wasser, gründen Schulen und eine Kirche, eröffnen Läden. Die Gemeinschaft ist nach Stockwerken basisdemokratisch organisiert, als strategischer Planer fungiert der hinkende Lehrer und Übersetzer Nacho Morales.

Damnificados heißt der großartige Debütroman von JJ Amaworo Wilson. Der in Deutschland geborene und in den USA lebende Autor nigerianisch-britischer Abstammung erzählt darin vom Überlebenskampf der marginalisierten Unterschichten in einem System, in dem für gewöhnlich Geld und das Recht des Stärkeren triumphieren.

Auch für den Turm deutet sich ein derartiges Schicksal an. Eines Tages taucht ein Sprössling der Familie Torres auf, die das Gebäude einst erbaut hat und es offiziell noch immer besitzt. In Begleitung zweier Soldaten fordert er sein Eigentum mit einer unmissverständlichen Drohung zurück. „Ich schlage Ihnen einen Handel vor“, sagt er in Richtung Nacho. „Sie haben eine Woche Zeit, um friedlich abzuziehen. Danach werden Sie und Ihre Bewohner massakriert, wenn Sie immer noch hier sind.“ Er beabsichtige, sich für ein politisches Amt aufstellen zu lassen, erklärt Torres, „und wie Sie wissen, macht den Wähler nichts glücklicher als eine Machtdemonstration“.

Als das Militär schließlich angreift, erhalten die Damnificados Hilfe von unerwarteter Seite, Torres flüchtet vor der Schmach in eine weit entfernte, unwirtliche Region. Erstmals scheinen Frieden und Wohlstand für die Bewohner*innen des Turms in greifbarer Nähe zu sein. Doch die Familie Torres ist groß und so steht schon bald der nächste auf der Matte. Der prophetische Nacho ahnt, dass der Frieden nicht von Dauer sein wird. „Torres wird sich den Turm holen. Er hält dies für sein angeborenes Recht.“

Inspiriert wurde Wilson durch den „Torre de David“ in der venezolanischen Hauptstadt Caracas. Anfang der 1990er Jahre als Bankengebäude geplant, kam dieser nie über den Rohbau hinaus und wurde wegen des Wohnungsmangels ab 2007 nach und nach besetzt. Ganz ähnlich wie im Roman richteten sich dort mehrere tausend Personen häuslich ein. In der Wirklichkeit tolerierte die linke Regierung unter Hugo Chávez die Besetzung jahrelang. Erst ab 2014 kam es zur Umsiedlung der Bewohner*innen in neu erbaute staatliche Wohnungen.

JJ Amaworo Wilson macht daraus eine universelle Geschichte der Marginalisierten, in der nicht mehr viel konkret an Venezuela erinnert. Tatsächlich spielt sie an einem Ort, der aus vielen Orten, Kulturen, Religionen und Sprachen zusammengesetzt ist und fast überall im Globalen Süden angesiedelt sein könnte.


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DAS LEBEN IM FLUSS

Bild: Klak Verlag

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Manche Bücher ziehen uns durch Erzählungen von einer unbekannten Welt in den Bann. Nie derselbe Horizont, das Romandebüt von Bettina Bremme, zieht dagegen seinen Reiz auch daraus, dass trotz einer Vielzahl an Perspektiven so viel Vertrautes in den hier erzählten neun Monaten aus dem Leben zweier Menschen steckt.

Die deutsche Fotoreporterin Andrea, lateinamerikabegeisterte Tochter aus wohlbehütetem Haus, ist der Enge der elterlichen Provinz bei erster Gelegenheit entflohen und irgendwann in Berlins linksalternativer und polyglotter Szene gelandet, in Kreisen, in denen „man sich meistens entweder mit dem Fahrrad oder mit dem Flugzeug fortbewegt“ und sich immer irgend jemand im Bekanntenkreis gerade nach Übersee aufmacht – für die neue Beziehung, für ein Projekt, zum Reisen.

Der argentinische Psychologe Daniel, im Buenos Aires der Militärdiktatur mit schwierigen familiären, finanziellen und politischen Verhältnissen aufgewachsen, ist für eine verflossene Beziehung nach Berlin gekommen, was für ihn bedeutete, quasi bei Null anzufangen.

In Nie derselbe Horizont erzählt Bremme die Liebesgeschichte der beiden entlang der Frage: Wo wollen wir zusammen leben? In Berlin, wo zwar die ganze Welt zuhause ist, Daniel aber das Winterwetter und mitunter sprachliche Hindernisse zu schaffen machen? Oder im krisengeschüttelten Buenos Aires (die Handlung spielt während der Finanzkrise von 2001)? Das Buch beginnt mit der Idee, ein Kompromiss sei vielleicht das Beste: Barcelona, die mediterrane Metropole am Meer.

Die Handlung wechselt – oft in Rückblenden – zwischen allen drei Städten hin und her, die Suche nach dem richtigen Ort steht dabei symbolhaft auch für weitere Aspekte der Suche nach einer gemeinsamen Zukunft in einer in mehrfacher Hinsicht interkulturellen Beziehung: Frau und Mann, Deutschland und Argentinien, gehobene und krisengeschüttelte Mittelschicht. Hier treffen verschiedene Sozialisationen, Kommunikationsstile und Temperamente aufeinander. Was einerseits einen großen Reiz ausmacht, kann auch herausfordernd sein bei Fragen, die es in jeder Beziehung zu klären gibt wie: Wie stark kommt man den Bedürfnissen des anderen entgegen? Zu welchen Abstrichen ist man bereit, wenn das Geld knapp wird? Wie bedingungslos hilft man, wenn die (Schwieger-)mutter in Not ist?

Es fällt einem kaum auf, dass sich in manchen Aspekten der Figuren auch das eine oder andere Klischee spiegelt. Vielmehr vermittelt sich mit großer Lebendigkeit und Leichtigkeit ein Lebensgefühl in den drei Metropolen. Das hat vielleicht auch mit autobiografischen Aspekten des Buches zu tun: Bettina Bremme zog selbst Anfang des Jahrtausends – und in ähnlichem Alter wie im Buch Andrea – von Berlin nach Barcelona. Ob optische und atmosphärische Details der Schauplätze, ob Gedanken, Seelennöte oder Lebensfreuden Andreas und Daniels sowie einer ganzen Reihe ihrer für verschiedenste Lebens- und Beziehungsentwürfe stehenden Bezugspersonen – die Autorin, Freund*innen lateinamerikanischer Filme durch ihre Sachbücher zum Thema bekannt, erweist sich stets als unterhaltsame und gleichzeitig feinfühlige, genaue Beobachterin und Erzählerin.


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DAMALS WIRD HEUTE

Die Rache der Mercedes Lima ist ein Roman, der in die Abgründe von Guatemalas Vergangenheit und Gegenwart blicken lässt. Bis 1996 tobte ein 36 Jahre dauernder Bürgerkrieg. Anhand einer Familiengeschichte beschreibt Arnoldo Gálvez Suárez den Versuch der nächsten Generation die traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten.

Die Geschichte beginnt, als Alberto im Supermarkt eine Frau aus seiner Kindheit trifft. Er erkennt sie sofort: Es ist Mercedes Lima, eine ehemalige Studentin seines ermordeten Vaters. Von dem Moment an, in dem er sie anspricht, entwickelt er eine Obsession für sie. Er stellt ihr nach, weil er sie zu den Umständen des Mordes an seinem Vater Daniel Rodríguez Mena befragen will. Alberto ist sich sicher, dass sie etwas darüber weiß, denn kurz nachdem sie damals, vor 25 Jahren, auftauchte, wurde sein Vater auf offener Straße erschossen. Als wollte der Autor beweisen, dass Geschichte sich auch im Kleinen wiederholen kann, stellt sich heraus, dass auch der Vater Daniel ein zwanghaftes Verhalten gegenüber Mercedes Lima entwickelt hatte. Der Geschichtsprofessor war ein gebrochener Mann, er unterrichtete während des Bürgerkriegs an der Universität und beteiligte sich anfangs noch an studentischen Protesten, bis nach und nach alle führenden Köpfe verschwanden und umgebracht wurden. Daniel resigniert, mäandert durch die Gefahren, welchen Intellektuelle in Guatemala damals ausgesetzt waren. Als dann eine seiner Studentinnen verschwindet, mit der er eben noch geschlafen hat, macht sich eine Stimme in seinem Kopf breit: „Tun sie was, Professor!“ Doch er ist unfähig, seiner Ohnmacht etwas entgegenzusetzen oder die Stimme zum Schweigen zu bringen. Stattdessen hält er sich an der Routine fest, bis er eine Studentin kennen lernt, der er endlich einmal helfen kann, es ist Mercedes Lima.

Der Roman erzählt eine fiktive Geschichte innerhalb der harten Realität Guatemalas. Angesichts absurder Gewalterfahrungen scheinen manche Anekdoten wie Übertreibungen im Stil von Quentin Tarantino. Doch sie sind nicht übertrieben. Eine emotionale Distanz fällt deshalb schwer, weil die Schilderungen realistisch sind. Die Personen in dem Roman zu verstehen, „verlangt, eine Lupe auf den Gebrauch und die Mechanismen von Gewalt zu legen“, wie Arnoldo Gálvez Suárez in einem Interview erläuterte.

Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen miteinander. Kapitelweise springt die Erzählung zwischen den Protagonisten Vater und Sohn hin und her. Der Autor lässt die beiden durch ihre inneren Stimmen zu Wort kommen, wodurch wir ihre intimen Gedanken kennenlernen und manchmal auch aushalten müssen. Zuweilen irritiert der Roman mit emotionslosen Erzählungen von Sex, für deren Sinn in der Geschichte Fragezeichen bleiben. Doch Arnoldo Gálvez Suárez versteht es auf außerordentliche Weise, in der Abwechslung von Szenen und Zeitebenen Spannung aufzubauen und macht den Roman durch zahlreiche historische Hintergründe zusätzlich lehrreich.

 


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„IN PERMANENTEM BANKROTT“

Foto: Fischer Verlag

Als Adelaida ihre Mutter beerdigt, bleibt die 38-Jährige einsam zurück. In Caracas hat sie keine Familie mehr, die Tanten wohnen abgelegen an der Karibikküste. Versorgungsmängel, Inflation und Gewalt prägen den Alltag in der venezolanischen Hauptstadt. Nachdem einige Regierungsanhänger*innen auch noch ihre Wohnung besetzen, steht Adelaida plötzlich vor dem Nichts, bis sie hinter der nicht abgeschlossenen Tür nebenan den leblosen Körper ihrer Nachbarin findet. Kurzerhand beschließt Adelaida, die Identität der Toten anzunehmen, deren spanischer Reisepass nur noch verlängert werden muss. Zwischendurch erinnert sie sich an Zeiten, in denen europäische Migrant*innen in Venezuela ein besseres Leben suchten.
Nacht in Caracas ist der Debütroman der venezolanischen Journalistin Karina Sainz Borgo, die seit mehr als zwölf Jahren in Spanien lebt. Bereits vor Erscheinen verkaufte sich das Buch in 22 Länder, das mediale Interesse ist groß. Nach der Lektüre bleibt jedoch vor allem eine Frage zurück: Warum eigentlich?
Jenseits einzelner gelungener Szenen wirkt der Plot um Adelaidas als ambivalent beschriebenen Ausweg aus der Krise arg inszeniert. Die Metaphern und Allegorien versuchen krampfhaft, das Bild einer totalitären Gesellschaft zu zeichnen, in der die Protagonistin im Laufe der Geschichte alles verliert und doch gewinnt. Aus strikt oppositioneller Sicht thematisiert Sainz Borgo allgegenwärtige Themen des polarisierten Landes wie Korruption, Klientelismus, Medikamentenmangel oder staatliche Willkür. Tatsächlich aber offenbart Adelaidas Perspektive jenen Klassismus und Rassismus, den Teile der venezolanischen Mittel- und Oberschicht gegenüber den marginalisierten Teilen der Bevölkerung seit jeher kultivieren. Nun kann ein literarisches Werk seine Kraft auch genau daraus ziehen, kompromisslos aus einer individuellen Position heraus zu erzählen. Doch geht es der Autorin offensichtlich um eine – nur ganz leicht verfremdete – Zustandsbeschreibung des heutigen Venezuelas. Zu keinem Zeitpunkt lässt Sainz Borgo dabei den Verdacht aufkommen, dass es auch andere legitime Sichtweisen als jene ihrer Hauptfigur geben könnte.

Die Anhänger*innen der Regierung werden als ungebildete, fettsüchtige und ungewaschene Horden dargestellt


Jegliche Unterstützung der Regierung basiert laut der Erzählerin auf Zwang, Gewalt oder Privilegien. Die Empfänger*innen staatlicher Lebensmittelkisten müssen in Adelaidas Worten „brav zu jeder regierungsfreundlichen Veranstaltung und Demonstration gehen oder einfache Dienste leisten, wie etwa Nachbarn anzeigen.“ Zwar weist die Lebensmittelverteilung in ihrer heutigen Form in Venezuela durchaus klientelistische Züge auf und Veruntreuung findet auf allen Ebenen statt. Doch wie überlebensnotwendig die subventionierten Lebensmittel angesichts der Hyperinflation für sechs Millionen Familien sind, die dafür keineswegs Spitzeldienste verrichten müssen, erwähnt die Autorin von Nacht in Caracas nicht. Möglicherweise mangelte es an Kontakten in die barrios (ärmere Stadtviertel). Ebenso wenig scheint ihr bewusst, dass der Chavismus als politische Identität weit über die Regierung hinausgeht und auch jenseits materieller Zuwendungen existiert. Das heißt nicht, dass die Erzählerin nicht sensibel gegenüber der Armut um sie herum wäre. „Mit Geld ging alles einfach und schnell“, stellt Adelaida fest, als sie dem Ziel des Identitätsklaus dank wiederholter Bestechung immer näher kommt, „sehr viel schlimmer war, keines zu haben. So lebte die Mehrheit. In permanentem Bankrott.“ Banaler geht es kaum.
Noch ärgerlicher sind die Beschreibungen der Regierungsanhänger*innen selbst. Diese werden zu „Bastarden der Revolution“ und ausschließlich als ungebildete, fettsüchtige und ungewaschene Horden dargestellt. Aus purer Lust und gegen Bezahlung prügeln sie auf Oppositionelle ein, um deren „Köpfe aufplatzen zu lassen wie Melonen.“ Da heben die „engen Jeans“ der korrupten Hausbesetzerinnen „ihre feisten Beine hervor, die in elefantiastische Füße ausliefen, die in Plastiktüten steckten. Sie hatten dunkle Haut und struppiges Haar, das zu einem steifen Stummel gebunden war.“ Selbstredend schwitzten die Frauen „wie die Fernfahrer“ mit einem Geruch, „säuerlich und ekelerregend.“
Die Schilderungen sind oft derart von Hass geprägt, dass sie in Rachefantasien gipfeln. „Niemandem zitterte mehr die Hand, wenn es darum ging, jemandem vom Regime aufzulauern und ihn zu lynchen.“
Dabei werden in der deutschen Übersetzung nicht einmal alle rassistischen Untertöne deutlich. Als Adelaida etwa inmitten gewalttätiger Übergriffe seitens regierungsnaher Schlägertrupps die Leiche ihrer Nachbarin verschwinden lässt, sieht sie sich im spanischsprachigen Original einer merienda de negros gegenüber. Der kolonialrassistische Begriff bezieht sich ursprünglich auf afrikanische Sklav*innen, die während ihrer seltenen Pausen eine Zwischenmahlzeit einnahmen. Im Spanischen hält er sich bis heute als Synonym für unruhige, chaotische Situationen. In der deutschen Übersetzung wurde daraus schlicht „Hexenkessel“.
Und so liegen die eigentlichen Stärken des Buches weder im Plot noch in den Allegorien auf Venezuela. In ihrem Versuch, eine universell gültige Geschichte zu schreiben, zeigt die Autorin vielmehr unfreiwillig deutlich auf, wie problematisch weit verbreitete Denkmuster der rechten Opposition in Venezuela sind.

 


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VOM ENDE DER UTOPIE

Foto: Antje Kunstmann

Olinka, die Utopie einer Stadt, in der Künstler*innen, Intellektuelle und Wissenschaftler*innen zusammenleben. Entworfen hat sie in den fünfziger Jahren der mexikanische Künstler Doctor Atl. In seinem neuen Roman Die Verschwundenen – der im Original Olinka heißt – bezieht sich Antonio Ortuño auf genau diese Vision. Bei ihm ist Olinka ein fiktiver Vorort Guadalajaras, in dem eine nie fertig gebaute Luxuswohnanlage langsam verfällt.
Fünfzehn Jahre lang saß Aurelio Blanco im Gefängnis. Jetzt, nach der Entlassung, ist Olinka sein Ziel: Dort wohnt nicht nur seine Ex-Frau Alicia, die sich während der Haft von ihm scheiden ließ und von der er insgeheim hofft, sie zurückgewinnen zu können, sondern auch ihr Vater Carlos Flores, Bauherr von Olinka. Vor Jahrzehnten hatte Flores alle Strippen gezogen und das Grundstück, auf dem er sein eigenes Olinka errichten wollte, dank Bestechung und Geldwäsche bekommen. Diese Schuld hatte Blanco als Gefallen und auf falsche Versprechungen hin auf sich genommen. Im Luxusviertel Olinka, das niemals zu seiner Glanzzeit fand, trifft Blanco nicht nur auf ihn, sein einstiges Idol und Widersacher zugleich, und auf Alicia, auch die entfremdete Tochter ist während der Semesterferien zu Besuch. Blanco hat die Gelegenheit, endlich mit allen Lügen aufzuräumen.
Als Grundkonzept mit den Themen Politik, Korruption, Immobilienblase und deren Auswirkungen auf eine Familie sehr spannend angelegt, ist Die Verschwundenen in seiner Ausführung leider eine Enttäuschung. Aurelio Blanco ist eindimensional und (selbst nach dieser langen Haftzeit) dermaßen naiv und passiv, dass man ihn am liebsten schütteln würde. Die anderen Figuren wirken wie eine Staffage, allein Alicia Flores ist vielschichtiger. Vor allem ihr Vater Carlos aber bleibt unglaubwürdig. Zu diesem verträumten Trottel will so gar nicht passen, dass er einst in der Lage war, Morde an den resistenten Bauern in Auftrag zu geben, die vor Olinka auf diesem Land lebten und die er nicht vertreiben konnte. Er ließ sie also schlichtweg „verschwinden“, worauf der Titel des Romans anspielt. Nicht passen wollen auch viele Szenen, so die Dialoge, Reaktionen und überzogenen Emotionen der Protagonist*innen. Ortuño benutzt bei diesen Schilderungen viele Adjektive und detaillierte Beschreibungen, die aber alles andere als hilfreich sind, um die Szenen authentischer zu machen.
Nach den starken Romanen Madrid, Mexiko (siehe LN 516) und vor allem Die Verbrannten (LN 499), sein erstes auf Deutsch veröffentlichtes Buch, das auf eindringliche Weise die mexikanische Politik, Polizei und Gesellschaft kritisiert, ist Die Verschwundenen erstaunlich seicht. Was fast schon wieder zur Grundkonstruktion passt: Antonio Ortuño gelingt genauso wenig, das Potential seines Romans auszuschöpfen, wie es im Text Carlos Flores gelingt, seiner Luxuswohnanlage Leben einzuhauchen. Und auch Doctor Atl starb, ohne seine Utopie Olinka jemals verwirklichen zu können.

*Éin Interview mit dem Autor Antonio Ortuño gibt es hier in der Ausgabe LN 509.

 


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ILLEGALER CHAMPION

Seit Monaten himmelt er die Nachbarin, die er „Chica” nennt, von Weitem an, auf eine pathosbeladene Weise, die dem jungen Werther in nichts nachsteht. Als er sieht, dass sie belästigt wird, schlägt der junge Ich-Erzähler in Aura Xilonens Debütroman Gringo Champ die Täter zusammen und setzt dadurch eine Kette von Ereignissen in Gang, mit der er nie gerechnet hätte: Die Buchhandlung, in der er arbeitet, wird verwüstet und er muss untertauchen – der Protagonist lebt illegal in dieser namen- und gesichtslosen US-amerikanischen Grenzstadt. Dem Protagonisten eines modernen Schelmenromans gleich vagabundiert er durch die Straßen und begegnet dabei (und prügelt sich mit) allerlei merkwürdigen Gestalten.

Seine „Chica“, die er endlich kennenlernt, ist eine der ersten Figuren im Roman, die bei ihrem Namen – Aireen – genannt wird. Die anderen werden, wie er selbst, meist mit Beleidigungen oder ihrer Funktion betitelt, denn: „Auf der Straße ist alles unspezifisch … weil alles sich gleicht, scheiß globalisierte Namen.“ Doch jetzt tut sich etwas im Leben des bis dato namenlosen Protagonisten, nicht nur durch Aireen, sondern auch dank anderer Menschen, die ihm unverhoffte Chancen geben. Je mehr es ihm gelingt, sich in die Gesellschaft zu integrieren, je mehr er wahrgenommen wird und Freunde findet, desto mehr wird er zu Liborio.

Eine wichtige Rolle spielt auch Liborios Vergangenheit: In Rückblenden wird von seinem Leben in Mexiko erzählt, das voller Gewalt und Demütigungen war. Elternlos und von der Patentante verstoßen lebte er auf der Straße, bis er beschloss, sich auf die gefährliche Flucht über den Río Bravo zu machen.Während weder Figuren noch Handlung von Gringo Champ aufsehenerregend sind – der Plot ist recht konventionell und hat, vor allem gegen Ende, einige Längen – so ist es Aura Xilonens Sprache umso mehr. Da trifft starke Umgangssprache auf bildungssprachliches Register, Liborios Straßenslang auf Begriffe, die er durch seine Lektüre von Autoren wie Borges, Homer und Cervantes aufgesogen hat, Englisch auf mexikanisches Spanisch. Das Ganze ist gespickt mit ungewöhnlichen Bildern, die die Leser*innen aus eingefahrenen Lesegewohnheiten herausreißen. All dies hat Susanne Lange virtuos ins Deutsche übertragen, allein die vielen englischen Begriffe, die im Deutschen künstlicher wirken als im spanischen Original, stören ein wenig. Davon abgesehen beweist die kongeniale Übersetzung das fast schon unheimliche, brillante Können von Aura Xilonen, Sprache zu formen und den Worten damit neue Ebenen zu verleihen, vergleichbar mit Werken der Weltliteratur wie Clockwork Orange. Das Überraschendste aber ist Xilonens Alter: Als Gringo Champ 2015 im Original veröffentlicht wurde, war sie gerade einmal 19 Jahre alt.

Im selben Jahr wurde die Autorin und Filmemacherin die erste Preisträgerin des Premio Mauricio Achar, den man ins Leben gerufen hatte, um junge mexikanische Stimmen zu fördern. Auch wenn Gringo Champ nicht perfekt ist, so hat Xilonen alle Aussichten, eine der bedeutenden literarischen Stimmen Lateinamerikas der nächsten Jahrzehnte zu werden.

 

Aura Xilonen // Gringo Champ // Hanser Literaturverlage // 2019 // 23 Euro // 352 Seiten // Übersetzung von Susanne Lange


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EXILIERTE GEDANKEN

Faschismus in Europa, ein autoritäres Regime in Brasilien, Widerstand, Flucht und wechselndes Exil – der Roman „Das Vermächtnis der Seidenraupen“ des brasilianischen Autors Rafael Cardoso ist brandaktuell, obwohl er sich einem historischen Thema widmet. Als Cardoso 23 Jahre alt war, starben im Abstand von nur einem Monat sein Vater und seine Großtante. Der junge Student der Kunstgeschichte räumt daraufhin das Haus seiner Großeltern in São Paulo aus und findet einen „wahren Schatz an Fotografien, Briefen und anderen historischen Dokumenten”. Denn Cardosos Urgroßvater war Hugo Simon, der „rote Bankier“, 1918 für kurze Zeit Finanzminister im Preußischen Revolutionskabinett und einer der wenigen Unterstützer der Friedensbewegung während des ersten Weltkrieges. In seiner Berliner Zeit ist Simon nicht nur ein bedeutender Sammler und Mäzen moderner Kunst und Literatur, in seinem Haus treffen sich auch die fortschrittlichen Geister der Weimarer Zeit, darunter Albert Einstein, Alfred Döblin, Georg Grosz und Renée Sintenis. Neben politischen Aktivitäten betreibt er auch ein landwirtschaftliches Mustergut in Seelow als Versuch einer gelebten Utopie – eine Erfahrung, die für ihn im Exil in Brasilien besonders nützlich sein wird. Cardosos Roman ist somit sowohl persönliche Familiengeschichte als auch historisches Dokument.

Er zeichnet nach, wie Simon, der sich als aufgeklärter, deutscher Intellektueller versteht und seine Religion nicht praktiziert, von den Nationalsozialisten gemäß der „Ariergesetzgebung“ ausgebürgert und sein gesamter Besitz konfisziert wird. Im März 1933, gerade noch rechtzeitig vor dem Einzug ihrer Pässe, begeben er, seine Frau, seine beiden Töchter und sein Schwiegersohn sich ins Exil nach Frankreich. Acht Jahre später fliehen sie, mangels anderer Alternativen, nach Brasilien unter Präsident Getúlio Vargas; Hugo Simon und seine Frau Gertrud mit gefälschten tschechischen Papieren, der Rest der Familie mit einer französischen Identität, die ihnen die Résistance verschafft hat. Das hat schwerwiegende Folgen: Die „noms de guerre“ und das jahrelange Versteckspiel vor nationalsozialistischen Spitzeln und brasilianischen Sympathisanten der Faschisten, belegt die deutsch-jüdische Herkunft mit einem Tabu. Rafael Cardoso selbst erfährt erst mit sechzehn Jahren – nach dem Tod seines Großvaters – von seiner Herkunft. Über die Vergangenheit wird in der Familie nicht gesprochen, die Rückgewinnung der deutschen Identität ist schwierig und Hugo Simon stirbt 1950 im Exil, ohne nach Europa zurückgekehrt zu sein.

Vielleicht auch deshalb wartet Cardoso viele Jahre, bevor er den 1987 entdeckten Familienschatz hebt. Doch nachdem er diese Schwelle schließlich überschritten hatte, muss sich Cardoso lange in diesem (Zeit-)Raum aufgehalten haben. Zu den großen Qualitäten des Romans gehören die vielen, gut recherchierten Einzelheiten des Zeitgeschehens zwischen 1933 und 1945. Der Autor erzählt die Familiengeschichte aus stetig wechselnden Perspektiven der einzelnen Familienmitglieder in Kapiteln, zwischen denen jeweils ein Jahr liegt. Auch wenn vor allem Hugo Simon zu Wort kommt, werden wichtige Ereignisse ebenso von der minderjährigen Tochter Annette erzählt, wie von dem Künstler und Schwiegersohn Wolf Demeter. So setzt sich aus vielen Schlaglichtern ein ganzes Panorama dessen zusammen, was Exil persönlich, künstlerisch und politisch bedeuten kann. Das macht das „Vermächtnis der Seidenraupen“ nicht nur historisch, sondern auch literarisch spannend. Nicht zuletzt erinnert der Roman an die – aus der öffentlichen Diskussion zunehmend ausgeblendete – Notwendigkeit der Flucht aus Europa vor nur zwei Generationen. Eine Notwendigkeit, die angesichts der aktuellen Entwicklungen in Brasilien auch dort bald wieder aktuell sein könnte.

 


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