„Chan“ Santokhi in Not

Die Proteste in Surinam ebben auf und ab, versiegen tun sie nicht. Am 24. März gingen erneut Hunderte Surinamer*innen in der Hauptstadt Paramaribo auf die Straßen, um den Rücktritt des Präsidenten des karibischen Landes zu fordern, das im Nordosten des südamerikanischen Subkontinents liegt. Anlass dieses Protestes war der Vorwurf an die Regierung von Präsident „Chan“ Santokhi, sie versuche, die 2025 turnusmäßig anstehenden Parlamentswahlen zu verschieben. Sie können erst stattfinden, wenn der Gesetzgeber das Wahlgesetz geändert hat, wie es ein Gerichtsurteil aus dem Jahr 2022 vorschreibt. Das neue Wahlgesetz soll ein gerechteres Wahlsystem schaffen.

Die Regierungskoalition von Santokhi lässt sich dabei allerdings Zeit. Am 21. März setzte die Regierung immerhin einen Ausschuss ein, der zwei Vorschläge zur Änderung des Wahlgesetzes vorlegte. Laut Santokhi sollen sie innerhalb von zwei Monaten den Abgeordneten vorgelegt werden. Das reicht nicht allen. Die Demonstrant*innen fordern, dass das Gesetz innerhalb einer Woche verabschiedet wird. Die Aktivistin Maisha Neus sagte, sie werde weitere Proteste organisieren, falls es zu einer Verzögerung komme: „Wir werden sie dort treffen, wo es weh tut. Wirtschaftlich.”

Weit mehr als die Proteste zum Wahlgesetz machten die Proteste im Februar weltweit Schlagzeilen. Der 17. Februar sorgte in den USA, in Europa und in der ehemaligen Kolonialmacht Niederlande für beträchtliches Aufsehen. Dutzende von Demonstrant*innen drangen in das surinamische Parlament ein, bis sie von Sicherheitskräften zurückgedrängt werden konnten. Zuvor hatten Hunderte von ihnen in der Hauptstadt Paramaribo randaliert. Es kam zu chaotischen Situationen und gewalttätigen Zusammenstößen mit der Polizei. Mindestens 126 Personen wurde festgenommen. Die Regierung von Präsident „Chan“ Santokhi verurteilte die Gewalt und erklärte, sie habe eine Sondereinheit eingerichtet, um die Verantwortlichen für den Angriff auf das Parlament zu finden. „Wir werden energisch gegen die Personen vorgehen, die diese Angriffe angeordnet, ausgeführt und Zerstörungen verursacht haben“, hieß es in einer Erklärung. Laut mehreren Berichten auf Twitter sollen in Surinam kurz nach den Protesten im Februar soziale Netzwerke und Messenger-Dienste wie Facebook und WhatsApp unzugänglich gewesen sein. Der Telekommunikationsanbieter Telesur ist im Besitz der Regierung.

Beamt*innen errichten Barrikaden gegen die Bevölkerung

Am 24. März lief es gesitteter ab, weil die Polizei den Demonstrant*innen zahlenmäßig weit überlegen war. Dieses Mal errichteten die Beamt*innen Barrikaden, um das Präsidialamt und das Parlament vor unerwünschtem Zulauf zu schützen. „Ist das Demokratie, wenn man sein Volk hinter einem Zaun festhält?“, rief ein Demonstrant laut der Nachrichtenagentur AP. Die Proteste kommen nicht von ungefähr. Santokhis Kabinett ist gerade dabei, die vom IWF angeordneten Sparmaßnahmen umzusetzen. Der IWF fordert, die Subventionen für Strom, Wasser und Treibstoff abzubauen, um das Staatsdefizit in den Griff zu bekommen. Den Preis dafür zahlen die Bürger*innen, die ohnehin schon unter einer hohen Inflationsrate von 58 Prozent zu leiden haben. Der Anstieg der Lebenshaltungskosten hat viele in Surinam schwer getroffen – die Ärmsten wie immer am stärksten. Der IWF hatte sich zwar bereit erklärt, Surinam im Dezember 2021 ein Darlehen in Höhe von 690 Millionen Dollar zu gewähren, bisher wurden aber nur 100 Millionen Dollar ausgezahlt. Da die Regierung die auferlegten Ziele nicht erfüllte, wurden die Auszahlungen gestoppt.

Vor seiner Wahl zum Präsidenten vor fast drei Jahren rief „Chan“ Santokhi das Parlament zur Einigkeit der verschiedenen ethnischen Gruppen auf. In Surinam leben Menschen indonesischer, indischer, chinesischer, afrikanischer und europäischer Herkunft. Knapp die Hälfte der gut 600.000 Surinamer*innen wohnt in der Hauptstadt Paramaribo, die restlichen Einwohner*innen leben verstreut an der Küste oder im tiefen Urwald.

„Wir werden sie dort treffen, wo es weh tut.“

Mit seiner Prognose zum Amtsantritt hatte Santokhi im Juli 2020 durchaus Recht: „Wir stehen kurz vor dem finanziellen Abgrund“, sagte der frühere Polizeichef. Diese Krise übertreffe die schlimmsten Erwartungen. Bereits im April 2020 war das Land von einzelnen Ratingagenturen in seiner Kreditwürdigkeit herabgestuft worden. Je niedriger die Stufe, desto teurer wird der Zugang zu frischem Kapital, wenn sich überhaupt noch Kreditgeber*innen finden. Unter dem Druck der Corona-Pandemie wurde Surinam wenige Monate nach Santokhis Amtsantritt zahlungsunfähig. Im November 2020 musste das Land mangels Devisenreserven Zahlungen an seine Anleihegläubiger*innen teilweise einstellen. Seitdem laufen zähe Umschuldungsverhandlungen, die einen Neuanfang ermöglichen sollen. Bisher stellen sich die Gläubiger*innen gegen die Vorschläge Surinams.

Surinam war nach Sambia das zweite Land weltweit, das im Zusammenhang mit der Pandemie seinen Schuldendienst teilweise nicht mehr leisten konnte. Durch die coronabedingte Rezession brach die vom Tourismus und einigen wenigen Exportgütern wie Gold, Öl und Holz abhängige Wirtschaft um knapp 16 Prozent ein. Der Wachstumseinbruch, durch den die Staats- und Exporteinnahmen deutlich sanken, traf zudem auf ein Jahr mit besonders hohen Schuldendienstverpflichtungen: Mehr als 40 Prozent der Staatseinnahmen sollten 2020 in fällige Zins- und Tilgungszahlungen fließen. Entsprechend verschlechterte sich die Tragfähigkeit der Verschuldung: Das Verhältnis zwischen Staatsschulden und Wirtschaftsleistung stieg laut dem Schuldenreport 2022 von bereits hohen 85 Prozent im Jahr 2019 auf 148 Prozent im Jahr 2020. Der Schuldenreport 2023, der am 30. März 2023 veröffentlicht wurde, führt Surinam weiter als zahlungsunfähig und mit einer nur leicht gesunkenen Verschuldungsrate von 125,7 Prozent. Die Schuldensituation war bereits vor der Pandemie kritisch: Der Schuldendienst vervierfachte sich ab 2016.

Als Mitteleinkommensland ist Surinam von Schuldenerlassinitiativen für die ärmsten Länder ausgeschlossen, sowohl auf Ebene der G20-Staaten als auch direkt beim IWF. Wegen der schleppenden Umschuldungsverhandlungen mit seinen Gläubiger*innen beantragte Surinam ein IWF-Hilfsprogramm für die Jahre 2021 bis 2024. Der IWF ist dazu grundsätzlich bereit, aber wie immer nur zu seinen neoliberalen Bedingungen. Andererseits ist Surinam eines der wenigen kritisch verschuldeten Länder, bei denen sich der IWF seit Beginn der Pandemie für eine deutliche Umschuldungsempfehlung ausspricht und sowohl öffentliche als auch private Gläubiger*innen zum Forderungsverzicht aufruft. Denn nur so habe das Land eine Chance, wieder auf die Beine zu kommen. In Sicht ist das so wenig wie ein Ende der Proteste.

SCHULDENDEAL SPALTET ARGENTINIENS REGIERUNG

 

Der Termin steht: Am 21. März werden 2,8 Milliarden Dollar an argentinischen Zins- und Tilgungszahlungen beim Internationalen Währungs-
fonds (IWF) fällig. Insgesamt stehen 2022 sogar 19 Milliarden Dollar an Schuldendienst beim IWF an. Die erneute Zahlungsunfähigkeit Argentiniens war damit programmiert, denn die schwindenden Devisenreserven geben eine solche Belastung nicht her. Der Ausweg: Umschuldung mit dem IWF. Das hat Argentiniens Regierung geschafft. Mehr als ein erster, wichtiger Schritt ist es nicht.

Bis zum 21. März hat die argentinische Regierung noch alle Hände voll zu tun. Das technische Abkommen mit dem IWF muss in seinen Details festgezurrt werden und vor allem bedarf es parlamentarischer Mehrheiten im Abgeordnetenhaus und im Senat, die nicht sicher sind. „Ich bin mäßig optimistisch. Ich denke, wir werden die erforderliche Mehrheit erreichen”, ließ Fernando „Chino“ Navarro verlauten, der als Sekretär für parlamentarische Beziehungen im Kabinettsbüro arbeitet und dort Mehrheiten im Regierungslager der Frente de Todos (Bündnis von allen, FdT) organisieren soll. Dass das im Abgeordnetenhaus nicht einfach wird, zeigte sich nach der Einigung mit dem IWF am 28. Januar 2022 auf einen Grundsatzdeal schnell.

Bereits am 31. Januar verkündete Máximo Kirchner seinen Rücktritt. Ausgerechnet der FdT-Fraktionsvorsitzende trat zurück und dies explizit unter Berufung auf das Abkommen mit dem IWF. Er teile weder „die Verhandlungsstrategie” mit dem IWF noch ihre Ergebnisse, erklärte der 44-Jährige in einem Kommuniqué. Máximo Kirchner ist Sohn des verstorbenen früheren Präsidenten Néstor Kirchner (2003-2007) und Ex-Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner (2007-2015), die derzeit Vizepräsidentin ist und dem Senat vorsteht.

In viereinhalb Jahren soll mit der Rückzahlung begonnen werden

Máximo Kirchner ist Mitgründer und Anführer der innerparteilichen Gruppe La Cámpora, der weitere 16 Abgeordnete der Regierungsfraktion angehören. Schon mit La Cámpora verfügt die FdT nur über 118 Stimmen im Parlament – mindestens 119 Stimmen werden aber für die Billigung des Abkommens mit dem IWF benötigt. Die entscheidenden Stimmen könnten vom wichtigsten Oppo-
sitionsbündnis um Ex-Präsident Mauricio Macri (2015-2019) kommen, der diesen Rekordkredit von 57 Milliarden US-Dollar 2018 unter dubiosen Umständen aufgenommen hatte, um seine Wiederwahl 2019 zu begünstigen, was bekanntlich misslang. Sein Bündnis Juntos por el Cambio (Gemeinsam für den Wandel) bezeichnete die Einigung mit dem IWF als positiv und „ersten Schritt, um nicht weiterhin Unsicherheit zu erzeugen”. Juntos por el Cambio wollte aber keinen Blankoscheck für die Zustimmung ausstellen, sondern die Einzelheiten der endgültigen Vereinbarung mit Blick auf die Parlamentsdebatte abwarten.

In Argentinien wird gespannt erwartet, wie Präsident Alberto Fernández am 1. März persönlich dem Parlament versuchen wird, das Abkommen mit dem IWF zu verkaufen. Mit ihm wurden Schulden in Höhe von 44 Milliarden Dollar umgeschuldet. Auf die Auszahlung der letzten Kredittranche hatte die Regierung Fernández nach Regierungsübernahme im Dezember 2019 sofort verzichtet, um das geerbte Schuldenproblem nicht noch weiter zu verschärfen. Bekannt ist, dass Argentinien mehr Zeit für die Rückzahlung eingeräumt wird und dadurch mit der Streckung der Zahlungen die jährliche Belastung gesenkt werden würde. Das Prinzip ist ein Altbekanntes: Mit neuen IWF-Krediten werden die Zins- und Tilgungsraten des alten bedient. Das Problem: Am Ende des Programms wird Argentinien immer noch die 44 Milliarden Dollar schulden, die Macri 2018 erhalten hat. In viereinhalb Jahren soll dann mit der Rückzahlung dieser Schulden real begonnen werden. Bis dahin ist es ein Nullsummenspiel, das Zeit bringt in der Hoffnung, dass Argentiniens Wirtschaft bis dahin Rezession und Corona-Pandemie überwunden hat.

Inzwischen leben 42 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze

Argentinien muss auch sein Haushaltsdefizit bis 2024 reduzieren und die Inflation senken. Außerdem verpflichtet es sich dazu, die staatlichen Energiesubventionen abzubauen. Letzteres könnte die privaten Haushalte besonders treffen.

Die Inflation, die durch die hohen, nicht durch Rücklagen gedeckten Staatsausgaben angeheizt wurde, stieg 2021 wieder in Richtung 50 Prozent, nachdem der Wirtschaftseinbruch infolge der Corona-Pandemie sie 2020 auf 36 Prozent gedrückt hatte − begleitet von steigender Arbeitslosigkeit und Armut. Inzwischen leben 42 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze. Vor allem die steigenden Lebensmittel- und Kraftstoffpreise drücken auf das Realeinkommen und die Kaufkraft vor allem derjenigen, die einen Großteil ihres Einkommens für Essen und Transport ausgeben müssen. Es sind nicht nur Menschen aus dem informellen Sektor, die betroffen sind, sondern mehr als in vergangenen Krisen kommt es zu einer Verarmung von Beschäftigten in regulären Arbeitsverhältnissen, die unter anderem wegen Kurzarbeit nicht mehr ihren Lebensunterhalt über der Armutsschwelle sichern können. Die Zeiten, in denen die Armutsrate stark zurückging, als sie unter den Mitte-links Regierungen von Néstor Kirchner (2003-2007) und Cristina Kirchner (2007-2015) unter 30 Prozent gedrückt werden konnte, sind lange vorbei.

Was Cristina Kirchner vom Vorpreschen ihres Sohnes Máximo denkt, ist öffentlich nicht bekannt. Die Regierung von Alberto Fernández geht davon aus, dass Cristina Kirchner das Abkommen mitträgt. Der Minister für Öffentliche Arbeiten, Gabriel Katopodis, ist der Ansicht, dass „das Abkommen die Unterstützung von Cristina, eines großen Teils der Abgeordneten der Frente de Todos und sicherlich auch eines wichtigen Teils der Opposition haben wird”. Im März wird sich herausstellen, ob es sich bei seiner Einschätzung um begründeten Optimismus gehandelt hat. Wird das Abkommen mit dem IWF scheitern, steht die Regierung Fernández vor der Zahlungsunfähigkeit und dem politischen Offenbarungseid. Doch auch wenn sie das Abkommen durch den Kongress bekommt, werden die meisten Argentinier*innen weiterhin in Armut leben.

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