Zwischen Ängsten und Erwartungen

Pépe Mujica beim Einwurf seines Wahlstimmzettels
Unterstützung für den Kandidaten des Frente Amplio Expräsident Pepe Mujica bei der Abgabe seines Stimmzettels (Foto: Diego Vila)

Ende Oktober fanden in Uruguay Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Es wird allerdings noch bis zum 24. November dauern, bis der neue Präsident feststeht: Yamandú Orsi von der progressiven Frente Amplio erhielt 44 Prozent der Stimmen, muss sich jedoch in der zweiten Runde gegen Álvaro Delgado von der rechtskonservativen Nationalen Partei durchsetzen. Letzterer war in der ersten Wahlrunde mit 27 Prozent der Stimmen auf dem zweiten Platz gelandet. Seine Partei stellt Uruguays aktuellen Präsidenten, Luis Lacalle Pou.

Der Geschichtsprofessor und Frente-Amplio-Politiker Orsi regierte von 2015 bis März 2024 Canelones, das nach Montevideo zweitwichtigste Departamento Uruguays. Dort befindet sich der größte Teil der Agrarproduktion zur Versorgung des Landes und für den Export. Orsis Kandidatur wurde auch vom Movimiento de Participación Popular, der linken Partei unter Führung von Ex-Präsident José „Pepe“ Mujica, unterstützt.

Orsis Kontrahent Álvaro Delgado zählt in der Stichwahl wie schon der amtierende Präsident Lacalle Pou auf die Stimmen der Mitte sowie der rechten Parteien. Delgado war bis 2023 Sekretär von Luis Lacalle Pou, vergleichbar mit der Position eines Kabinettschefs in anderen Ländern. Eine prominente Rolle hatte der Rechtskonservative während der COVID-19-Pandemie eingenommen, als er in Pressekonferenzen Maßnah­men nach dem Paradigma der „verantwortlichen Freiheit“ ankündigte.

Nach Bekanntwerden der Ergebnisse der ersten Wahlrunde kündigte Delgado in seiner Rede auf der Plaza Varela in Montevideo an, von nun an nicht mehr „eine Partei zu vertreten“, sondern „ein Projekt politischer Mehrheiten“. Die Mehrheit der Uruguayer*innen habe seiner Koalition „die Verantwortung gegeben, Uruguay weiter zu regieren“. Damit bezieht er sich auf die Republikanische Koalition, die nach der Wahl im Oktober 2019 gebildet wurde. Damals hatte Lacalle Pou als Konkurrent des Frente-Amplio-Kandidaten Daniel Martínez die übrigen Oppositionsparteien dazu aufgerufen, sich einem Bündnis seiner zweitplatzierten Nationalen Partei anzuschließen. Gleiches auch jetzt: Delgado betonte, die Koalition ziele wie 2019 darauf ab, „die Frente Amplio zu schlagen, die Realität zu verändern und Uruguay zu regieren“.

Stünden alle Stimmen der Republikanischen Koalition hinter Delgado, könnte er in der Stichwahl am 24. November 47 Prozent der Stimmen erreichen – mehr als die Frente Amplio im ersten Wahlgang. Diese lineare Lesart würde jedoch zwei Dinge voraussetzen: Erstens, dass die Frente Amplio weder Stimmen der zehn Prozent Nichtwähler*innen, ungültige Stimmen oder Stimmen anderer Parteien gewinnen würde. Zweitens, dass alle Wähler*innen der übrigen Mitte- und Rechtsparteien für Delgado stimmen würden. Es drängt sich die Frage auf, warum sich die Republikanische Koalition nicht bereits im ersten Wahlgang als solche präsentiert hat, wenn sie seit 2019 doch die Regierung stellt. Aus Angst, als Koalition nicht den gleichen Stimmenanteil zu erhalten wie die Einzelparteien?

Emotionale Botschaften statt inhaltlichem Wahlkampf

Laut Patricia González, Vorsitzende der Abteilung für Gender und Feminismus der Frente Amplio, sei ein gemeinsames Regierungsprogramm der Koalition im Wahlkampf nicht zu erkennen gewesen: „Die Menschen haben im Oktober für eine Partei gestimmt, mit Vorschlägen, Programmen, Personen. Nun müssen sie diese Stimme nicht nur auf eine andere Partei übertragen, und zwar auf andere bekannte Personen, aber unbekannte Vorschläge. Wo ist das Gemeinsame?“

Linkskandidat Yamandú Orsi gab sich nach der ersten Wahlrunde gelassen. Er rief die Wahlkampf-Aktivist*innen dazu auf, sich noch einen Monat mehr anzustrengen, um die fehlenden Stimmen zu sammeln, damit die Frente Amplio in die Regierung zurückkehren könne. Mit den Präsidentschaften von Tabaré Vázquez und Pepe Mujica hatte die Partei von 2005 bis 2020 ununterbrochen regiert. Orsi fasste zusammen, was das Land nun brauche: „Gleichheit, Gerechtigkeit, Wohlstand, Wachstum, mehr Produktion und viel mehr Fürsorge für unser Volk. Niemand darf zurückgelassen werden!“

Politikwissenschaftler*innen sehen derweil einen „harten und ausgeglichenen“ Wahlkampf voraus. Für Marcela Schenck, feministische Politikwissenschaftlerin und Mitglied des Beratungs- und Meinungsforschungsinstituts Usina de Percepción Ciudadana, werden sich die Botschaften des Wahlkampfs weiterhin an der aktuellen Grundstimmung orientieren. Das bedeute, dass es an „inhaltlichen Diskussionen und Vorschlägen mangeln könnte. Nicht, weil es keine gibt, sondern weil sich die Diskussion stattdessen auf eher affektive und emotionale Botschaften konzentriert“, so Schenk.

Hoffung und Bangen Anhänger*innen der linken Frente Amplio beim Wahlkampfabschluss in Montevideo (Foto: Diego Vila)

Parallel zu den Präsidentschaftswahlen wurde auch das uruguayische Parlament neugewählt. Die aktuelle rechte Regierungskoalition kann nun keine Parlamentsmehrheit mehr auf sich vereinen – eine Neuheit in der uruguayischen Politik. Mit 16 Sitzen verfügt die Frente Amplio zukünftig über die Mehrheit im Senat, die Nationale Partei gewann neun Sitze, die traditionell liberale Colorado-Partei fünf. Der linke Präsidentschafts­andidat Orsi bekräftigte, die Mehrheit im Senat könne ihm „Regierungsfähigkeit garantieren“, um Gesetze zu verabschieden.

Im Abgeordnetenhaus hat jedoch keine Partei eine Mehrheit erreicht. „Es wird ein Experiment“, schätzt Patricia González die Lage den LN gegenüber ein. „Keiner von uns kennt dieses Szenario, in dem viel mehr verhandelt werden muss. Ich halte es für vernünftig, neue Methoden des Politikmachens zu entwickeln.“

Außerdem ist mit der Identidad Soberana, angeführt vom Rechtsanwalt Gustavo Salle, eine neue Partei im Abgeordnetenhaus vertreten: Sie vertritt eine nationalistische Anti-Establishment-Haltung und steht für die Abschaffung bestimmter Rechte, etwa die von trans Personen, und anderer Errungenschaften feministischer Bewegungen. Der Politikerin González zufolge fange Salle „die Stimmen der Leute ab, die von den Politikern genervt sind“. Die Identidad Soberana erhielt bei der Wahl zwei Prozent der Stimmen und sicherte sich damit zwei von 99 Sitzen im Abgeordnetenhaus.

Für die Politikwissenschaftlerin Schenck ist Salles zukünftige Position „ein großes Fragezeichen”. Er könne jedoch „den Stillstand der Blockdiskussionen durchbrechen“. Die Gewerkschafterin Tamara García beschreibt den Politiker gegenüber LN als diskursiv gewalttätigen Mann. „Ich glaube nicht, dass er einen großen Beitrag zur parlamentarischen Politik leisten wird. Seine Reden, die in einen vermeintlichen Umweltschutz verpackt sind, sind stets von brutaler Gewalt gegen Frauen und die LGBTIQ+-Bevölkerung geprägt. Das steht bei ihm auf der Tagesordnung.” Salle hatte bei der Volkszählung 2023 die Frage nach der Geschlechtsidentität streichen wollen und schlägt vor, das Gesetz gegen geschlechtsspezifische Gewalt und das Gesetz, das seit 2012 die Abtreibung in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft entkriminalisiert, aufzuheben.

Korruptions- und Missbrauchsfälle in der Regierung ohne Folgen

Der Ausgang der Wahlen in Uruguay wird richtungsweisend sein: Es geht um das Projekt für ein Land, in dem die Zunahme der Kinderarmut umgekehrt werden soll. Aktuell sind ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen von Armut betroffen – doppelt so viele wie Menschen aus der Gesamtbevölkerung. In den vergangenen vier Jahren der Regierung unter Lacalle Pou ist auch die Zahl der Obdachlosen in Montevideo um 25 Prozent gestiegen. Gleichzeitig ist die Zahl der Inhaftierten auf Rekordniveau: 16.000 Menschen sitzen in Uruguay im Gefängnis – bei weniger als drei Millionen Einwohner*innen. Morde, organisierte Kriminalität und die Präsenz von Drogenkartellen in gefährdeten Vierteln und an den Grenzen zu Brasilien und Argentinien haben zugenommen. Das Wirtschaftswachstum legte nach der Stagnation 2023 dieses Jahr mit über drei Prozent wieder zu, weil der Agrarsektor die Folgen der Dürre des Vorjahres überwunden hat.

In der Regierung Lacalle Pou gab es zudem mehrere Korruptionsfälle, in die der ehemalige Leiter des Präsidialamtes, Alejandro Astesiano, durch kriminelle Vereinigung und Einflussnahme verwickelt war. Das Außenministerium wurde angeprangert, weil es dem Drogenhändler Sebastián Marset einen Expressreisepass ausgestellt hatte. Einer der führenden Senatoren der Nationalen Partei, Gustavo Penadés, sitzt im Gefängnis und muss sich vor Gericht wegen 22 Sexualverbrechen an Kindern verantworten. Außerdem soll er das staatliche Überwachungssystem genutzt haben, um Betroffene, die ihn angezeigt hatten, zu verfolgen und erpressen. Trotz dieser Vorgeschichte hat sich die positive Meinung über Präsident Lacalle Pou nicht wesentlich verändert.

Am 27. Oktober wurden neben Präsidentschafts- und Parlamentswahlen auch zwei Referenden durchgeführt, die abgelehnt wurden: Sowohl die Frage nach Genehmigungen für das nächtliche Eindringen der Polizei in Privatwohnungen als auch der Vorschlag des Gewerkschaftsbundes, sozialer Organisationen und einiger Frente-Amplio-Politiker*innen, die Reform der sozialen Sicherheit aufzuheben, die unter anderem das Rentenalter auf 65 Jahre erhöht.

Für die Gewerkschafterin García stehen die wichtigsten Aufgaben für die nächsten Jahre fest: „Wir brauchen eine Arbeitsmarktpolitik, die prekäre Arbeitsplätze nicht noch prekärer macht. Für diejenigen, die in den vergangenen Jahren reich wurden, ist eine Steuerreform dringend erforderlich. Wir brauchen eine Umverteilung des Reichtums, Investitionen in die Pflege und im Zugang zur Justiz.” Es sei viel Arbeit auf der Straße geleistet worden, um die Wahlen und das Referendum zu gewinnen: „Das Referendum über die soziale Sicherheit war eine Chance, aber nicht die einzige. Es wird ein November mit vielen Ängsten und Erwartungen: Fünf Jahre Regierung stehen auf dem Spiel – aber viele weitere, in denen es um den Zugang zu Menschenrechten geht.“


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„Wir brauchen mehr lateinamerikanische Integration“

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Wenn die Angst regiert

Ecuadorianische Regierung Verteidigungs- und Außenminister bei einer Pressekonferenz am 17. Januar (Foto: Iván Matute / Asamblea Nacional via Flickr, CC BY-SA 2.0 Deed)

Militarisierung gegen die ausufernde Bandengewalt, so lautet das Rezept der noch jungen ecuadorianischen Regierung. Nachdem Anfang Januar die Flucht des Anführers der Gruppe Los Choneros, José Adolfo Macías Villamar alias Fito, aus einem Gefängnis in der Hafenstadt Guayaquil bekanntgeworden war, kam es in mehreren Haftanstalten zu Revolten. Im ganzen Land griffen Bandenmitglieder auch zivile Ziele an. Insbesondere die live übertragenen Bilder aus einem Studio des Senders TC Televisión, in das bewaffnete Jugendliche eingedrungen waren, machten Eindruck auf die verschreckte Bevölkerung.

Noboa, zu dem Zeitpunkt noch keine drei Monate im Amt, erklärte einen 60-tägigen Ausnahmezustand. Neben dem verstärkten Einsatz von Polizei und Militär sieht dieser eine nächtliche Ausgangssperre vor. Tags darauf, am 8. Januar, erließ der Präsident zudem ein Dekret, das noch weiter geht. Demnach herrsche in Ecuador ein „interner bewaffneter Konflikt“, insgesamt 22 Gangs erklärt das Dekret zu „Terroristen und nichtstaatlichen Kriegsakteuren“. Auf der Plattform X schrieb Noboa: „Ich habe die Streitkräfte angewiesen, militärische Operationen auszuführen, um diese Gruppen zu neutralisieren.“ Sein Land befinde sich im „Krieg“.

Seitdem gehen die Einsatzkräfte gegen mutmaßliche und vermeintliche Mitglieder von Drogenbanden vor. Laut offizieller Lesart mit Erfolg. Am 22. Januar, also zwei Wochen nach der Ausrufung des Ausnahmezustands, zeigte sich Noboa siegesgewiss. „Alles stand gegen uns, aber wir gewinnen diesen Kampf“, erklärte er bei der Übergabe neuer Ausrüstung an die Nationalpolizei nördlich der Hauptstadt Quito. Bis zu dem Zeitpunkt waren offiziellen Angaben zufolge mehr als 3.000 Personen verhaftet worden, davon 158 wegen „Terrorismus“. Fünf Bandenmitglieder seien getötet worden, ebenso wie zwei Polizist*innen. Auch wurden Waffen, Sprengstoff und Drogen beschlagnahmt.

Dass die Gewalt in Ecuador in den vergangenen Jahren zugenommen hat, ist kein Geheimnis. Seitdem mit Expräsident Lenín Moreno 2017 eine neoliberale Phase eingeleitet wurde, steigt die Zahl der Tötungsdelikte rapide an. Im vergangenen Jahr wurden je 100.000 Einwohner*innen 42,6 Personen ermordet. Das entspricht einem Anstieg der Mordrate um 64,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahr 2022. Seit 2016 stieg die Rate um ganze 850 Prozent an. Damals konnte der Indikator unter Präsident Rafael Correa (2007-2017) auf einen Tiefstand von sechs pro 100.000 Einwohner*innen gesenkt werden.

Ecuador ist heute eines der gefährlichsten Länder ganz Lateinamerikas

Während Ecuador noch vor kurzem als besonders sicher galt, ist es heute eines der gefährlichsten Länder ganz Lateinamerikas – noch vor Mexiko, Kolumbien oder Brasilien. Das liegt vor allem daran, dass in den Handel mit illegalen Drogen verstrickte Gruppen in den letzten Jahren Fuß fassen konnten. Es wird geschätzt, dass sie heute 20.000 bis 50.000 Mitglieder haben. Die größte Bande, Los Choneros, hat ihre Ursprünge in der Küstenprovinz Manabí. Ihr werden Kontakte zum mexikanischen Sinaloa-Kartell nachgesagt, für das sie als Zwischenhändlerin agiert. Die zweitgrößte Gruppe, Los Lobos, die sich nach dem Mord am früheren Choneros-Chef, Jorge Luis Zambrano alias Rasquiña, Ende 2020 eigenständig machte, gilt als mit dem Kartell Jalisco Nueva Generación verbunden.

Heute ist Ecuador Drehscheibe des weltweiten Kokainhandels, wobei dem Land die Rolle des Zwischenhändlers zukommt. In den beiden wichtigsten Anbauländern Kolumbien und Peru produziertes Kokain wird über Ecuador in die Welt und insbesondere in die USA und nach (West-)Europa verfrachtet. Mittlerweile geht der Großteil der Droge, laut Zahlen der Polizei, über den Hafen von Guayaquil.

Laut dem Global Cocaine Report 2023 des UN-Büros für Drogen und Kriminalität (UNODC) geht der Großteil des Kokains, das über Ecuador weitertransportiert wird, heute nach Europa. Waren noch 2019 nur neun Prozent des von den ecuadorianischen Behörden beschlagnahmten Kokains für Europa bestimmt, handelte es sich 2022 bereits um mehr als die Hälfte. Gut möglich, dass der Anstieg auch mit der verstärkten Präsenz europäischer Akteure im Drogengeschäft zu tun hat. Dazu gehören die italienische ‘Ndrangheta und die albanische Mafia, die in den letzten Jahren in Ecuador Fuß fassen konnten.

Es ist aber nicht nur die geographische Lage, die Ecuador zu einem Hotspot des Kokainhandels gemacht hat. Auch die Politik trägt Verantwortung. Eine ideale Voraussetzung für die Ausbreitung der Drogengangs stellt die dollarisierte Wirtschaft dar. Seit 2000 fungiert der US-Dollar als offizielle Landeswährung. Das ermöglicht es den Zwischenhändler*innen nicht nur, ihre internationalen Geschäfte besonders unkompliziert abzuwickeln. Vor allem das Waschen von Geld wird so enorm erleichtert, was umso mehr für ein hochgradig korruptes Land wie Ecuador gilt.

Expert*innen wie der ecuadorianische Kriminologe Jorge Paladines sehen noch weitere Gründe für die tiefe Sicherheitskrise im Land. So sei die systematische Gewalt das Ergebnis eines „Prozesses der bewussten Demontage der Rechtsstaatlichkeit durch die letzten Regierungen“, wird Paladines in Nuestro País aus Costa Rica vom 14. Januar zitiert. Im Gespräch mit dem spanischen Onlineportal ctxt.es vom 18. Januar spricht er gar von „geplanter Verelendung“.

Sowohl die Regierung unter Correas Nachfolger Moreno (2017-2021) als auch die darauf folgende von Guillermo Lasso (2021-2023) setzten auf eine radikale Kürzung der Sozialausgaben. Die Folgen für einen großen Teil der Bevölkerung waren katastrophal. Hinzu kam die Coronapandemie, die in Ecuador heftig wütete. Unter ihr litten Tausende Jugendliche, die in die Erwerbslosigkeit und ins Elend gestürzt wurden. 2022 galten offiziell 26 Prozent der Bevölkerung als arm. Die Perspektivlosigkeit der Jugendlichen und der in vielen Regionen und Stadtvierteln völlig abwesende Staat stellten für die Drogenbanden perfekte Bedingungen dar, Mitglieder zu rekrutieren und sich territorial zu verankern.

Wichtig für das Verständnis des Phänomens, betont Paladines, sei es, die Gefängnisse als „Epizentren der Gewalt“ nicht aus dem Blick zu verlieren. Besonders in Folge der Kämpfe um die Nachfolge von Drogenboss Rasquiña ab Ende 2020 eskalierte die Gewalt in den Haftanstalten des Landes. Untereinander verfeindete Banden zettelten Revolten an, auf oftmals bestialische Weise massakrierten sie Inhaftierte, die einer anderen Gruppe zugeordnet wurden. Der Staat unternahm wenig bis nichts, um die Kontrolle über die Gefängnisse wiederzuerlangen. So entwickelten sich diese zu rechtsfreien Räumen, die von den Banden als Ausbildungs-, Operations- und Rekrutierungszentren genutzt werden. Von ihnen ausgehend konnte sich die extreme Gewalt erst auf die Gesamtgesellschaft ausdehnen.

Lasso setzte als Präsident offiziell auf einen „harten Kurs“ gegen das organisierte Verbrechen. Ganze 20 Mal rief er den Ausnahmezustand aus. Enthüllungen über seinen Schwager und Vertrauten, Danilo Carrera, von Anfang 2023 lassen allerdings daran zweifeln, ob dieser allen Drogenbanden gleichermaßen galt. Demnach soll Carrera über Verbindungen zur albanischen Mafia verfügen und Einfluss auf Zollbehörden und Ministerien genommen haben, um Geldwäsche sowie Waffen- und Drogenhandel zu erleichtern. Im Mai wurde die Luft für Lasso schließlich zu dünn: Um einem Amtsenthebungsverfahren zu entgehen, löste er das Parlament auf und rief Neuwahlen aus.

Aus diesen ging Noboa als Sieger hervor. Bereits im Wahlkampf hatte der Sohn eines Bananen-Tycoons, der das Präsidentenamt am 23. November antrat, mit harten Maßnahmen gegen das organisierte Verbrechen geworben. So plant er im Rahmen eines „Phönix-Plans“ vor allem, Staat und Einsatzkräfte aufzurüsten. Zudem möchte er zwei neue Hochsicherheitsgefängnisse – eins an der Küste und eins im Amazonasgebiet – bauen, in denen insgesamt 736 Bandenmitglieder weggesperrt werden können. Kritiker*innen sehen vermehrt Parallelen zwischen Noboa und Nayib Bukele, seinem Amtskollegen aus El Salvador. Dessen autoritäres Regime setzt im Kampf gegen die Bandengewalt auf Masseninhaftierungen und die Einschränkung demokratischer Rechte. Auch wenn Noboa derlei Vergleiche bisher kategorisch von sich weist: Die jüngsten Ereignisse in Ecuador können durchaus als Teil einer autoritären Welle in der Region gesehen werden.

Die jüngsten Ereignisse können als Teil einer autoritären Welle in der Region gesehen werden

Bei seinem Militarisierungskurs setzt Noboa außerdem verstärkt auf die Unterstützung der USA. In einem Interview mit CNN erklärte er am 16. Januar, er wolle im Kampf gegen die Drogenkriminalität mit Washington zusammenarbeiten. „Wir brauchen Ausrüstung, wir brauchen Waffen, wir brauchen Aufklärung. Wir brauchen Hilfe“, so der Staatschef.

Am 22. Januar trafen unter anderem Christopher Dodd, Berater von Joe Biden, und Laura Richardson, die Kommandeurin des Südkommandos der US-Streitkräfte (Southcom), in Quito ein. Wie die US-Botschaft im Vorhinein erklärt hatte, gehe es darum, „darüber nachzudenken, wie die bilaterale Zusammenarbeit im Bereich Sicherheit verstärkt werden könnte“. Auch sollten „Ansätze“ für die Bekämpfung „transnationaler verbrecherischer Banden“ analysiert werden.

Dabei ist es keineswegs so, dass Ecuador bisher nicht mit Washington zusammenarbeitete. Im Gegenteil: Kein Staat der Region erhält mehr US-Militärhilfe. Laut einer Studie des Lateiname­rikanischen Strategischen Zentrums für Geopolitik (CELAG) lag diese in den Jahren 2021 und 2022 bei 172 Millionen Dollar. Zudem unterzeichnete Expräsident Lasso noch kurz vor der Amtsübergabe zwei Abkommen mit der Biden-Regierung, mit denen die Zusammenarbeit zwischen den Staaten vertieft werden soll. Geplant sind gemeinsame Militäroperationen auf See, „Ausbildungstätigkeiten“ durch US-Militärs in Ecuador sowie das Recht für Flugzeuge, Schiffe und Fahrzeuge der US-Armee, sich frei auf ecuadorianischem Staatsgebiet zu bewegen. Kritisiert wird unter anderem, dass Angehörigen des US-Militär und -Verteidigungsministeriums Immunität garantiert werden soll.


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Wenn die Angst regieren will

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Zwei Personen aus Ecuador warten in Frankfurt auf einen Zug. Als Migrant*innen teilen sie ihre Geschichten miteinander und unterhalten sich über das, was sie an ihrem Heimatland vermissen: bestimme Gerichte, bestimmte Orte. Nach einer Weile wird die Ruhe des Gesprächs von ihren Sorgen gestört. Es scheint unvermeidbar, dass sie sich auch darüber unterhalten. Die Zärtlichkeit ihrer Erinnerungen verschwindet und wird von der Angst verdrängt, die aus dunklen Ecken kriecht. Eine Angst, die durch die Medien verbreitet wird, eine lähmende Angst in Anbetracht der Situation, die ihre Angehörigen in Ecuador aktuell durchleben.

Seit einigen Monaten gehört diese Angst zum täglichen Leben dazu: Der Staat ist abwesend, kriminelle Banden eignen sich gewaltsam Territorien an. Privatpersonen und kleinere Betriebe werden gegen Schutzgelder erpresst. All das soll vermitteln: „Für deine Sicherheit musst du bezahlen.“ Leichen werden an öffentlichen Orten präsentiert, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Auf offener Straße oder in Tankstellen gibt es Attentate, Menschen werden auf grausame Art und Weise ermordet. Die totale Entmenschlichung rückt Gewalt und Tod in den Vordergrund und versucht, sie zum Zentrum des nachbarschaftlichen Lebens zu machen.

In demagogischer Manier kündigte der konservative Präsident Guillermo Lasso vor einigen Wochen den Erlass eines Dekrets an, das es der Bevölkerung erleichtern soll, sich zu bewaffnen. Das Ganze passierte inmitten von Korruptionsvorwürfen gegen den Präsidenten, der durch das Dekret auch versucht, an Beliebtheit zu gewinnen. Diejenigen, die Schusswaffen fordern, handeln aus der Verzweiflung heraus, die sich in einer Gesellschaft ausbreitet, die von Unsicherheit und zunehmender Gewalt geprägt ist. Doch statt das Leben der Bürger*innen sicherer zu machen, werden Schusswaffen im Besitz der Zivilbevölkerung lediglich zu einer weiteren Ursache für die Zunahme der Gewalt.

Mehr Waffen werden das Gewaltproblem nicht lösen

Waffen sind ebensolche Heilmittel, die schlimmer sind als die Krankheit selbst. Als Migrant*innen sind wir überzeugt: Mehr Waffen werden das Problem der Gewalt nicht lösen.

Wir müssen über eine Politik der Entwaffnung sprechen und zwar nicht nur auf der normativen Ebene, sondern im Rahmen praktischer Ansätze und gemeinsam mit der Zivilgesellschaft. Diese Politik muss eng mit dem Streben nach sozialer Gerechtigkeit und der Abschaffung von Strukturen sozialer Ungleichheit verbunden sein. Denn die kritische Situation, in der wir uns befinden, hat soziale und wirtschaftliche Wurzeln, die nicht mit Waffen zu lösen sind.

Ecuador galt im Vergleich zu seinen Nachbarländern lange als „Insel des Friedens“. Wie konnte es dazu kommen, dass die Gewalt im Land zu einer Art Währung geworden ist? Eine Gruppe ecuadorianischer Migrant*innen begibt sich auf die Suche nach Antworten. In Ecuador, so vermuten sie, regieren die Drogenhändler*innen. Sie sind es, die über Leben und Tod entscheiden. Sie entscheiden auch über die Sicherheit in den Städten und darüber, was in den Gefängnissen und Häfen geschieht.

Aber in Ecuador sind auch die Machthaber*innen in den Drogenhandel verwickelt. Ein Beispiel: Ruben Cherres, der mit der albanischen Mafia in Verbindung steht und in der Vergangenheit wegen Drogenhandels verurteilt wurde, hat direkten Einfluss auf die Ernennung von Staatsminister*innen. Und zwar auf genau diejenigen, die für die territoriale Kontrolle und die Sicherheit der Häfen des Landes zuständig sind. Über einen seiner Freunde, Danilo Carrera, Schwager von Guillermo Lasso, hatte Cherres eine direkte Verbindung zum Präsidenten. Auf mysteriöse Weise wurde Cherres, Zeuge und Schlüsselakteur zwischen der Mafia und der ecuadorianischen Regierung, Anfang April ermordet, kurz bevor Präsident Lasso in der Nationalversammlung wegen Korruptionsvorwürfen angeklagt wurde. Natürlich gibt es zu viele von diesen „Zufällen”. Ist der Präsident nur ein weiterer Drogenhändler? Wer solche Gedanken abwegig findet, sollte sich folgende Fragen stellen: Wo wird das Narco-Geld gewaschen? Auf welchem Weg kehrt dieses blutbeschmierte Geld in die Wirtschaft zurück? Die Banken sind, so der berechtigte Verdacht, riesige Geldwäschemaschinen. Und noch etwas: Präsident Guillermo Lasso, ist – das sollte so oft wie nötig betont werden – selbst Banker. Seine Bank und die oligarchischen Banken des Landes haben während seiner Amtszeit exorbitante Gewinne gemacht.

In Ecuador will die Angst regieren: Entfesselte Gewalt bestimmt über unsere Körper, reguliert unsere Bewegungsfreiheit. Diese Angst kommt in Gestalt von Personen daher, die die Interessen der Reichsten vertreten. Sie sind es, die die wichtigsten Positionen in der Regierung besetzt halten. Doch die Menschen wehren sich dagegen, dass die Angst regiert. Der tägliche Widerstand findet zum Beispiel im Netzwerk von Nachbar*innen statt, die sich gegenseitig zuhören und aufeinander aufpassen. Außerdem leisten wir Widerstand, indem wir uns nicht von unserer Angst blenden lassen: Wir wissen, dass die Gewalt nicht einfach durch die Aufhebung eines Dekrets verschwinden wird und dass sie auch nach einem Regierungswechsel nicht sofort nachlässt.

Wir müssen Alternativen zum neoliberalen Imperium der Angst finden

Gewalt und Angst sind Teil der wirtschaftlichen Ungleichheit, die durch das kapitalistische System, das Patriarchat und strukturellen Rassismus, die Korruption der politischen Systeme und die vom internationalen Markt aufgezwungene Arbeitsteilung geprägt ist. Uns sowohl hier in der Fremde als auch in unserem Herkunftsland in sozialen Strukturen zu organisieren und unseren Gemeinschaftssinn zu stärken, wird uns dabei helfen, Alternativen zum neoliberalen Imperium der Angst zu finden. Um dies zu erreichen, müssen wir uns die Bedeutung der Politik zurückholen und sie vor den jetzigen politischen Vertreter*innen retten. Wir müssen darüber nachdenken, dass Politik wie eine Pflanze ist, die von unten nach oben wächst, die von den Wurzeln genährt wird und die gefüttert werden muss. Die politische Debatte kann eine großartige Nahrungsquelle sein.

Wir müssen eine nicht moralisierende Debatte darüber anstoßen, was wir unter Sicherheit, (Il)Legalität und sozialer Rehabilitation verstehen und uns dabei nicht nur auf Bestrafung beschränken. Wir müssen anfangen, über Tabuthemen wie Drogen, die damit verbundene Kriminalität und die Produktion im Globalen Süden, den Konsum im Globalen Norden und die außerordentlichen Profite, die diese Waren abwerfen, zu sprechen. Wir müssen unseren gesunden Menschenverstand einsetzen, im Alltäglichen, in Angesicht von Leben und Tod. Und wie könnten wir das besser tun, als uns zu organisieren, ebendort, wo wir wohnen?


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// ABGEMEIERTE SICHERHEIT

Von der deutschsprachigen Öffentlichkeit kaum bemerkt, haben die Leaks des Hackerkollektivs Guacamaya im Laufe des vergangenen Monats mehrere lateinamerikanische Länder erschüttert. Zu den sechs Terabyte geleakten Daten gehören unter anderem sensible Militärinformationen aus Mexiko, Chile, El Salvador, Peru und Kolumbien. Sie geben Aufschluss über operative und nachrichtendienstliche Militäraktivitäten der vergangenen zehn Jahre. Das Guacamaya-Kollektiv behauptet, die Sicherheitslücke habe ganze elf Monate lang existiert.

Politiker*innen wie der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) haben den Hack als Risiko für die nationale Sicherheit bezeichnet. Doch die Leaks zeigen: Dieses Sicherheitsrisiko ist nicht akut, sondern vielmehr strukturell. Während die Entschlüsselung der Dokumente noch läuft, sehen Kritiker*innen bereits jetzt bestätigt, was sie schon lange vermuten – nämlich weit verbreitete Militärspionage gegen vermeintliche innere Feind*innen.

So interessierte sich der Nachrichtendienst des chilenischen Militärs (DINE) brennend für die Privatgespräche einiger Ex-Militärs, die Korruption im Apparat denunziert hatten. Das mexikanische Militär, das auch in das Verschwinden der 43 Studenten in Ayotzinapa verwickelt ist (siehe Seite 21), beobachtete unter anderem die Sängerin Mon Laferte – wohl wegen ihrer feministischen Liedtexte. Auch die Europareise der zapatistischen Delegation im vergangenen Jahr wurde untersucht, wie Dokumente der mexikanischen Botschaft in der Schweiz zeigen. Sogar die LN haben es mit einem Post zum Tren Maya, dem Infrastrukturprojekt mit Unterstützung der Deutschen Bahn, in den Bericht geschafft.

In den Militärapparaten lebt das Feindbild des Kalten Krieges weiter. In Chile wurde der militärische Sicherheitsdienst maßgeblich von der Pinochet-Diktatur geprägt. Der interne bewaffnete Konflikt in Peru trimmte das Militär ebenso darauf, gegen alles Linke rabiat vorzugehen. Menschenrechtsaktivist*innen, die vermitteln wollten, wurden zum Feind erklärt. Heute steht in militärischen Berichten, dass Amnesty International und andere NGOs die Bevölkerung gegen den Bergbau indoktrinieren und linke Parteien werden verdächtigt, Fassade der Guerilla Leuchtender Pfad zu sein.

Die schiere Zahl der zivilgesellschaftlichen Organisationen und Parteien, die heute Gegenstand von Militärspionage sind, steht in Chile und Peru sinkenden Militärausgaben gegenüber. Dagegen nehmen die für Verteidigung zur Verfügung gestellten Mittel in Mexiko stetig zu. Die Leaks enthüllten nun, dass sogar die Gründung einer eigenen Tourismusagentur inklusive Fluglinie und Hotelkette vorgesehen ist – für die Altersversorgung der Streitkräfte, so AMLO. Mexikos Militär scheint in den vergangenen Jahren in alles außer die eigene Cybersicherheit investiert zu haben – eine billige Software im Verteidigungsministerium war nun scheinbar Einfallstor für das Hackerkollektiv. Das Beispiel zeigt, dass mehr Geld für Militär und Sicherheitsbehörden kein Garant für mehr Sicherheit ist. Und die Leaks beweisen: Wenn die finanzielle Aufstockung der Streitkräfte nicht an zivile Kontrollmechanismen gebunden wird, werden kalte Krieger*innen fortan noch besser ausgestattet vermeintliche Staatsfeind*innen zu beobachten.

Auch in Deutschland standen letztere lange links. Nun soll zwar der Verfassungsschutz reformiert und Soldaten des KSK der Rechtsextremismus wegtherapiert werden. Doch der verharmlosende Umgang mit rechten Strukturen in deutschen Sicherheitsbehörden zeigt ebenso wie die Guacamaya Leaks, dass Geheimdienste weniger zum Schutz der Demokratie agieren, sondern politische Gegner*innen überwachen und am Ausbau des eigenen Einflusses arbeiten. Wenn die Bundeswehr jetzt mit 100 Milliarden Euro Sondervermögen aufgestockt wird, um „den sicherheitspolitischen Herausforderungen gewachsen zu sein“, stellen sich also für die gesellschaftliche Linke wichtige Fragen. Etwa, wie viel von den 20,8 Millionen Euro für „Führungsfähigkeit und Digitalisierung“ für neue Überwachungstechnik ausgegeben wird. Und, wer dann zum Ziel dieser Überwachung wird. Es bleibt zu hoffen und dafür zu sorgen, dass diese Fragen nicht erst mit dem nächsten Leak beantwortet werden.


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„MEXIKANISIERUNG DER SICHERHEITSLAGE“

Statt Liberalisierung des Waffengesetzes Feuerwaffen zu Stahlschrott (Foto: Agência Brasil CC BY 2.0)

Viele brasilianische Städte durchleben derzeit eine Welle der Gewalt. Wie erklären Sie das?
Als Erstes muss gesagt werden: Was momentan in Brasilien passiert, ist keine neue Tendenz. In den vergangenen 30 Jahren ist die Gewalt stetig angestiegen. Das zeigt sich vor allem am Zuwachs der Mordrate. Was neu ist, ist die extreme Gewalt in den Gefängnissen. Wir haben lange die Ursachen erforscht, sind jedoch zu keinem Konsens gekommen. Aber: Es ist sehr wahrscheinlich, dass das sozioökonomische Profil Brasiliens Einfluss auf die Gewalt hat. Brasilien ist eine reiche Nation mit einer sehr hohen Anzahl von Armen. Der Reichtum ist extrem ungleich verteilt. Was die Gewalt zudem stark angetrieben hat, ist die Politik der Masseninhaftierung. Arme Viertel werden von der Polizei belagert und Jugendliche, die mit kleinen Mengen Drogen erwischt werden, landen im Gefängnis. Viele schließen sich erst dort dem organisierten Verbrechen an. Die aktuelle Sicherheitspolitik stärkt die Präsenz der Kartelle und heizt ihre Kämpfe um die Vorherrschaft sogar noch an.

Welche Rolle spielen die Veränderungen des organisierten Verbrechens?
Es gibt eine neue Ökonomie des Verbrechens vor allem im Bereich des Drogenhandels. Man kann von einer Globalisierung sprechen, die fast alle Kontinente betrifft. Brasilien hat eine riesige Grenze und es haben sich verschiedene Profile des organisierten Verbrechens entlang dieser Grenze entwickelt. Das macht die Situation sehr kompliziert. Meine These ist: Das organisierte Verbrechen hat sich verändert, aber das brasilianische Strafsystem ist das Gleiche geblieben.

Im Norden und Nordosten explodiert die Gewalt. In São Paulo geht die Mordrate zurück. Warum?
Die Banden aus São Paulo und Rio de Janeiro sind in den Norden und Nordosten expandiert. Sie sind immer aktiver in den Grenzregionen und kämpfen um die Kontrolle von Territorien. Was dort derzeit passiert, ist in São Paulo bereits vor Jahren geschehen: Das PCC (Erstes Hauptstadt-kommando, Anm. d. Red.) erkämpfte sich in den 1990er Jahren zuerst das Monopol in den Gefängnissen. Bald überschritt das Kartell die Gefängnismauern und heute kontrolliert es einen Großteil der armen Stadtteile von São Paulo. Das PCC hat dort fast die absolute Macht und hat Regeln des Zusammenlebens etabliert: So darf man beispielsweise nicht mehr ohne ihre Autorisierung töten. Deshalb ist es mittlerweile in São Paulo relativ ruhig geworden. Einige Menschen sagen sogar, dass das PCC in ihren Vierteln den Frieden gebracht habe. Diese Stärke bedeutet auch, dass es sich beim PCC nicht nur um eine einfache Gruppe von Kriminellen handelt, die man kontrollieren könnte. Es würde vielleicht zu weit gehen, bereits von Strukturen wie bei der italienischen Mafia zu sprechen, aber es hat eine enorme Professionalisierung stattgefunden. Wenn man sich ihre im Zuge von Ermittlungen veröffentlichte Buchhaltung anschaut, sieht man, dass das keine Amateure sind.

Ist Brasilien auf dem besten Weg dahin, ein „Narcostaat“ wie Mexiko zu werden?
Nein, ich denke, bis jetzt gibt es dafür noch keine Anzeichen. In Brasilien ist die Präsenz des organisierten Verbrechens im Staat noch relativ gering. Es ist noch kein Szenario, in dem der Staat komplett die Kontrolle über die Sicherheit verloren hat. Die Geschichte von Staaten wie Mexiko ist ganz anders. Brasilien ist noch nicht bei diesem Szenario angelangt. Aber man sollte nicht denken, dass sich das nicht bald ändern könnte. Studien von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen zeigen, dass Verbindungen zwischen Staat und organisiertem Verbrechen existieren. Es gibt eine starke Tendenz des Kontrollverlusts und die Gefahr einer Mexikanisierung der Sicherheitslage.

Der Staat reagiert mit einer Politik der harten Hand. Immer mehr Polizist*innen werden eingesetzt, der Kongress diskutiert im Moment die Liberalisierung der Waffengesetze, neue Gefägnisse sollen gebaut werden. Lassen sich auf diese Weise die Probleme lösen?
Auf keinen Fall. Wenn man immer mehr Jugendliche ins Gefängnis wirft, sorgt man dafür, dass der Gewaltmechanismus angetrieben wird. Und mit Gewalt wird man den Rachekreislauf nur weiter in Gang setzen. Das wird noch mehr Opfer zur Folge haben.


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“WIR HABEN DAS UNDENKBARE ERREICHT”

In den vergangenen Monaten haben Sie als Sprecher der Initiative Voces de Paz die Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) politisch repräsentiert. Wie ist diese Initiative entstanden?
Während der Friedensverhandlungen in Havanna haben die Vertreter der FARC und der kolumbianischen Regierung eine politische Übergangslösung vereinbart: Während die Guerilla noch bewaffnet war und formal als terroristische Vereinigung galt, durfte sie schon aus juristischen Gründen nicht politisch aktiv werden. Voces de Paz ist in diesem Zusammenhang als eine Verbindung zwischen den FARC und der Zivilgesellschaft entstanden. Wir sind sechs Repräsentanten, drei im Kongress und drei im Senat. Dabei ist es unsere Aufgabe, die Umsetzung der Bestimmungen zu beobachten und zu überwachen; wir dürfen beraten, sind aber nicht stimmberechtigt. Außerdem unterstützen wir die FARC bei ihrem Übergang ins politische Leben. Mit der Entwaffnung und dem Ende der Übergangsphase erhielten die FARC volle politische Rechte, sodass der Gründung einer eigenen Partei nichts mehr im Wege stand.

Nach dem Referendum, bei dem eine dünne Mehrheit der Kolumbianer*innen gegen das Abkommen stimmte, unterzeichneten der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos und der FARC-Anführer Rodrigo Londoño im November vergangenen Jahres eine überarbeitete Version. Wie haben Sie den Prozess seit Inkrafttreten der Bestimmungen erlebt?
Ich muss sagen, dass die vergangenen Monate sehr schwierig waren. Der ganze Prozess war leider von sehr vielen Verzögerungen und viel Unsicherheit geprägt. Dabei wird die Umsetzung die ganze Zeit von der rechten Opposition und dem Ex-Präsidenten Álvaro Uribe torpediert.

Welche konkreten Schwierigkeiten gab es?
Das Abkommen sah vor, dass sich die FARC-Kämpfer ab Anfang Dezember über sechs Monate hinweg in Übergangszonen auf ihr ziviles Leben vorbereiten. Die Guerilla erfüllte ihren Teil der Abmachungen und sammelte ihre Kämpfer in den geplanten Gebieten. Doch keine der Siedlungen war fertig, als die Kämpfer eintrafen. Selbst heute, fast acht Monate später, ist nicht einmal die Hälfte der Siedlungen fertiggestellt. Während der Bauarbeiten gab es verschiedene Probleme, unter anderem auch mit Korruption. Die ehemaligen Kämpfer lebten dort also unter schwierigen Bedingungen, teilweise waren sogar die gelieferten Nahrungsmittel bereits verwest.
Ein weiteres schwerwiegendes Problem ist die Umsetzung des Amnestiegesetzes, das bereits Ende vergangenen Jahres verabschiedet wurde: Viele ehemalige Rebellen befinden sich bis heute in Haft, sie wurden bislang weder freigelassen noch amnestiert.
Unsere größte Sorge sind jedoch die paramilitärischen Gruppen. In den vergangenen zwei Jahren, in denen nominell „Frieden“ herrschte, wurden über 160 Menschenrechtsaktivisten ermordet. Seit Anfang des Jahres wurden mindestens acht ehemalige FARC-Kämpfer ermordet, die ihre Waffen bereits abgegeben hatten. Die Guerilla hat keine Waffen mehr und kann nicht auf ihre alten Verteidigungsmechanismen zurückgreifen. Diese Vorgänge erzeugen eine große Unsicherheit. Der Staat erfüllt seine Aufgabe, das Leben der Kolumbianer und eben auch der entwaffneten Guerilla-Kämpfer zu schützen, nicht. Die paramilitärischen Gruppen werden nicht effektiv bekämpft.

Was bedeutet das für die weitere Umsetzung des Abkommens?
Durch diese Probleme wurde der gesamte Friedensprozess verzögert – aber nicht aufgehalten. Im Kongress wurden bereits etwa 60 Prozent der Bestimmungen verabschiedet, es fehlen noch etwa zehn Reformen. Dazu gehört unter anderem auch das Gesetz für die Über­gangsjustiz sowie das Gesetz für die Landverteilung, das zentral im gesamten Friedens­prozess war. Die massive Konzentration des Landbesitzes und die damit verbundene poli­tische Ausgrenzung großer Bevölkerungsteile waren und sind die Hauptursachen für den bewaffneten Konflikt in Kolumbien. Wenn wir diese Reformen nicht angehen, wird die Gewalt auch nicht enden. Das Problem ist, dass die Gesetze im Grunde bis Ende dieses Jahres verabschiedet sein müssen – nächstes Jahr sind Wahlen und es ist offen, wie eine mögliche neue Regierung mit den Rechtsvorschriften umgehen wird. Die rechte Opposition lässt keine Zweifel zu, Álvaro Uribe hat schon vielfach verkündet, dass er den Friedensvertrag „in Fetzen reißen“ möchte.

Wie bewerten Sie aktuell die Stimmung in der Zivilbevölkerung bezüglich des Friedensprozesses?
Das Abkommen hat die Bevölkerung vergangenes Jahr sehr stark polarisiert. Man kann sagen, dass das halbe Land dafür, die andere Hälfte dagegen war. Diese Spannungen haben sich vor allem im Rahmen des Referendums zum Frie­densabkommen gezeigt. Und diese Situation hat es der rechten Opposition ermöglicht, Zweifel zu sähen sowie mit polemischen Äußerungen und Falschnachrichten auf Stimmenfang zu gehen. Dadurch werden die Wahlen nächstes Jahr im Grunde zu einer Art zweitem Friedensreferendum.
Wir haben allerdings beobachtet, dass sich die Lage insgesamt in den vergangenen Monaten eher entspannt hat. Die Menschen nehmen den Friedensprozess nicht mehr als zentrale Agenda in der Politik wahr.

Was für Auswirkungen hat die allgemeine Stimmung auf den Prozess?
Die Polarisierung ist schwächer geworden, das hat Vor- und Nachteile. Die symbolische Gewalt hat nachgelassen, der Hass und die Aufrufe zu Gewalt sind insgesamt weniger geworden. Der Nachteil ist jedoch, dass die politische Rolle des Abkommens insgesamt auch abgeschwächt wurde, die Menschen fordern die Umsetzung der Bestimmungen nicht mehr so vehement ein. Die Bevölkerung ist sich kaum der Tatsache bewusst, dass 90 Prozent der Bestimmungen aus dem Abkommen eigentlich nichts mit den FARC zu tun haben, vielmehr betreffen sie die Landrückgabe, Maßnahmen zur Bekämpfung der Korruption, Strategien zur Aufklärung der Verbrechen und zur Demokratisierung der politischen Prozesse. Nur etwa ein Zehntel der Bestimmungen beschäftigen sich wirklich mit den FARC, mit ihrer Wiedereingliederung, ihrer juristischen Situation.

Was sind aus Ihrer Sicht die wesentlichen Herausforderungen, mit denen der Friedensprozess aktuell konfrontiert wird?
Wir stehen gerade vor drei Herausforderungen: Erstens müssen das Abkommen und die ehemaligen Rebellen juristisch abgesichert werden, dazu gehört eine rasche Ratifizierung der fehlenden Reformen. Aktuell fehlen noch etwa zehn Reformen, darunter auch so zentrale wie das Gesetz zur Landrückgabe und das Gesetz für die Übergangsjustiz. Das Landgesetz ist wesentlich, da es die Ursachen des Konfliktes betrifft: die Landverteilung und die politische Exklusion weiter Bevölkerungsteile. Letzteres regelt den legalen Status der ehemaligen Kämpfer und ist dadurch eigentlich unverzichtbar.
Zweitens muss die körperliche Sicherheit der ehemaligen Rebellen garantiert werden. Jeden Tag werden Menschen bedroht und er­mor­det. Dadurch entsteht eine große Unsicherheit, die durch die fehlende ökonomische Absicherung, den dritten Punkt, noch verschärft wird. Die Mitglieder der FARC müssen schnellstmöglich in die Zivilgesellschaft integriert werden – gerade erhalten sie nicht einmal den vereinbarten monatlichen Geldbetrag, der noch unter dem Mindestlohn liegt. Diese Unsicherheiten verschärfen das Risiko, dass Teile der FARC sich nach alternativen Wegen umschauen und sich etwa anderen illegalen bewaffneten Gruppierungen anschließen.

Was ziehen Sie nach diesen Berichten für ein Fazit?
Der Friedensprozess war unglaublich kompliziert und wird auch weiterhin kompliziert bleiben. Allerdings habe ich den Eindruck, dass uns Kolumbianern noch gar nicht so richtig bewusst ist, welche Situation wir erleben: Wir haben gerade die Möglichkeit, ein Kapitel unserer Geschichte zu beenden, das schon vor vielen Jahren hätte beendet werden müssen. Wir haben etwas erreicht, was vor wenigen Jahren noch nicht einmal denkbar war. Die ehemaligen FARC-Rebellen haben heute die Möglichkeit, in Schulen und Universitäten zu gehen und ihre Ideen mit dem Wort zu verteidigen und dem Land ihre Version der Geschichte zu erklären. Und ich hoffe, dass diese Erfahrungen unser Land zum Positiven verändern werden, auch wenn es einige Zeit in Anspruch nimmt.


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