„Jeden Morgen bin ich erleichtert, dass er noch da ist!“

Über den Dächern von Ciudad Bolívar Der Eukalyptusbaum als Hoffnungssymbol (Foto: Ingolf Bruckner)

Don Héctor, Leiter der Gemeindebibliothek Senderos de Progreso, nennt ihn nuestro abuelo sabedor („unseren weisen Großvater“), Andere bezeichnen ihn als „Baum des Gehenkten“ oder auch als „Lebensbaum“. Wieder Andere behaupten, es gäbe keinen geeigneteren Ort auf der Welt, um fliegende Untertassen zu beobachten; auch würden hier Hexen und Zauberer ihr Unwesen treiben.

Der Cerro Seco ist ein kahler, narbiger Hügelrücken voll blonden Grases, geschwürartiger Kiesgruben und Steinbrüche. Man sagt dem Taxifahrer im Stadtzentrum von Bogotá, man wolle zu den Canchas Dobles im Barrio Potosí. Der Taxifahrer wird dort nicht gern warten oder sein Fahrzeug zumindest zwischen den Mauern der niedrigen, selbst gezimmerten Behausungen verbergen wollen, damit es keine Aufmerksamkeit erregt. Das Viertel liegt im fernen Süden der Neun-Millionen-Metropole Bogotá, in der Zone der riesigen, zum großen Teil ungeplant errichteten, Ciudad Bolívar, die von Opfern des jahrzehntelangen bewaffneten Konflikts in Kolumbien besiedelt wird. Paramilitärs, korrupte Unternehmen und Banden halten hier viele der Entrechteten und Geflohenen in einem Würgegriff aus Angst, ökonomischer Abhängigkeit und sozialer Isolation wie in der Schlinge eines Galgens. Die Menschen aber haben nie aufgegeben. Sie haben in der Schlinge gestrampelt und sich herausgekämpft: Im Dezember 2023 konnten sie mit der Ernennung zum Kulturerbe durch das IDPC einen wichtigen Schritt auf dem Weg ins Licht der Öffentlichkeit feiern.

Im Umkreis von Kilometern scheint es in diesem Teil der Stadt nur einen einzigen Baum zu geben: Jenen alten Eukalyptusbaum mit charakteristischer, dreieckiger Silhouette vor einem wolkenzerfetzten Himmelszelt, welches sich unglaublich weit zu spannen scheint, von blauer Ferne links in blaue Ferne rechts, hier, mehr als 2.500 Meter über dem Meeresspiegel. Keine*r der entwurzelten Bewohner*innen unterhalb seiner Äste hat je einen Tag im Leben verbracht, ohne dass es diesen Baum gab. Keine*r einen Tag, ohne ihn bewusst oder unbewusst gesehen zu haben, versichert mir Lorena Montes, die gerade mit anderen Sozialarbeiter*innen in der Nachbarschafts­hilfe im Barrio Potosí ein Dach neu errichtet hat. Als Fixpunkt ist der Baum „allgegenwärtig wie der Geist von Großeltern. Er mahnt und erdet, als wolle er in Erinnerung rufen, dass alles aus der Natur kommt und dahin strebt”, erklärt Lorena. Nachdenklich fügt sie hinzu: „Jeden Morgen, wenn ich aufwache, geht mein Blick als erstes zu ihm und ich bin erleichtert, wenn er noch da ist – das war zuletzt keine Selbstverständlichkeit!“ Diese unmittelbare Zuneigung zu dem Baum, so als sei er ein Mitmensch, mag Uneingeweihte zunächst verwundern. Denn die Geschichten, die über den gespenstisch hageren, schwarzbelaubten Baum auf dem Cerro Seco kursieren, sind oft düster, geheimnisvoll, schrecklich.

Der wohl mindestens hundertjährige Baum mit dem Namen Palo del Ahorcado soll seit 1938 Pilgerstätte von Selbstmörder*innen, Verzweifelten, vom Teufel Besessenen und Verfolgten gewesen sein. „Höllenhunde“ – in Wahrheit dürften es ganz gewöhnliche streunende Hunde gewesen sein, die nachts aufgeschreckt wurden – kündigten etwa den Tod des exkommunizierten Ehebrechers Pablo an und einige Zeit später baumelte seine Geliebte Ernestina leblos an einem Ast. Mit der Ausdehnung der Stadt folgten weitere Todesfälle. Zuletzt, im Februar 2023, fand man nahebei die zerstückelte Leiche eines Jugendlichen namens Brayner Stiven Asprilla.

Das „Trotzdem“ vereint

Als Lorenas Mutter Blanca Luz Rosas de Montes in den 1980ern, vertrieben aus dem gewaltgeschüttelten Departamento Caquetá nach Ciudad Bolívar kam, war sie wie so viele Andere auf der Suche nach einem Leben in Frieden. Viele der Anwohner*innen kamen zu dem Baum, um Drachen steigen zu lassen oder einfach frische Luft zu atmen.

Mit der Zeit entwickelte sich der Brauch einer Karfreitagsprozession, die jährlich anwachsend und inzwischen viele Tausend Menschen zählend, hinaufführt zum Eukalyptus. Es ist der Glaube, es ist auch ein „Trotzdem“, dass die Pilgernden auf ihrem Weg vereint. Direkt am Fuße des Baumes legen sie Kreuze, Rosenkränze, Amulette, Bittgesuche ab, beten und errichten unweit ein großes Holzkreuz. Man spricht miteinander, plant die Zukunft und es entsteht eine Gemeinschaft, in der sich gegenseitig hilft, wer kurz zuvor noch fremd war.

Zerzaust, angegriffen und hager Der Eukalyptusbaum Palo del Ahorcado blickt vom Cerro Seco aus über Ciudad Bolívar (Foto: Ingolf Bruckner)

Ein Baum aber, der sein dämonisches Image verliert und stattdessen Menschen in ihrer Hoffnung und ihren Zielen vereint, ist ein Stachel. Ein Stachel für Immobilien-, Sand- und Kiesgruben­-unternehmen, die den Cerro Seco jahrzehntelang ausgebeutet haben und unter Ausschluss der Öffentlichkeit ohne Rücksicht auf die Natur illegal weiter ausbeuten möchten; für Politiker*innen, die die Nöte der unterprivilegierten Stadtviertel und deren Bedarf an Infrastruktur und Daseinsvorsorge ignorieren, und für Drogenbanden, denen das Vergessen, das Schweigen und die Unter- und Fehlentwicklung in die Hand spielt.

„Unsere Gegner denken, mit dem Symbol würde auch unsere *Solidarität enden“


Lorena erklärt, man habe versucht, den Baum zu verbrennen, abzusägen, umzuhauen und zuletzt sogar, ihn zu vergiften. Sie zeigt auf die Wurzeln des Baumes – eine musste sogar entfernt werden, um ihn zu retten. „Unsere Gegner denken, wenn dieses Symbol der Gemeinschaft, des Umweltschutzes und des Widerstandes erst weg wäre, dann würde auch unsere Solidarität enden, dann könnten sie weiter das Ökosystem, die natürlichen Wasserläufe, die Orchideen und anderen Pflanzen zerstören, mühsam gebaute Wege und Straßen mit ihren volquetas (Schwertransportern) zerfurchen und unser letztes Erholungsgebiet zunichtemachen.“

Sie berichtet von Kämpfen und Erfolgen. 2015 etwa kam es zum offenen Konflikt, weil Sicherheitsleute der Kiesgrubenfirma die Karfreitagsprozession nicht durchlassen wollten. Als eine volqueta die Nachbarin Doña Yineth, eine mehrfache Mutter, überfuhr, errichteten Anwohner*innen Blockaden an den Zufahrtswegen der Sand- und Kiesunternehmen. Waren Bittgesuche an die Politik zunächst ungehört geblieben, schwoll die Stimme der Menschen aus dem Viertel immer mehr an und schließlich stieß man den Prozess an, den Cerro Seco mit dem Palo del Ahorcado zum Kulturerbe der Stadt Bogotá zu erklären.

Im Dezember 2023 kam schließlich der Durchbruch! Mit dem frisch errungenen Status des kulturellen Erbes ist der Weg zum Schutz des Symbols der Gemeinschaft und der Umwelt gestärkt. Das Erbe von Lorenas Mutter und anderen Aktivist*innen aus der Nachbarschaft, die längst nicht mehr leben, ist gesichert.

Lorena zeigt Mappen mit Fotos aus vier Jahrzehnten. Vergilbte und neue. Schwierige Anfänge. Gemeinsame Arbeit. Gemeinsame Proteste. Gemeinsame Feste. Organisationen wie die Fundación Blanca Luz, die nach Lorenas Mutter benannt ist, widmen sich der Verbesserung der Gemeindeinstitutionen. Heute gibt es Kindergärten, eine Volkshochschule, in der Erwachsene Lesen und Schreiben lernen können, einen Abendabiturkurs, eine Schneiderei, eine Tanzschule, die von Don Héctor betreute Gemeindebibliothek, eine Schule für Gründerinnen von Kleinunternehmen, Lehrgänge zur Selbstfürsorge und Selbsthilfe, Stadtgärten zur Selbstversorgung mit Gemüse und ein Kollektiv für humane Stadtentwicklung, Zivilschutz und Schutz des Cerro Seco. Aus seinem dürren Boden sprießen Ideen und Projekte wie frische Blumen. Keine Erosion mehr. Und keine Illusion. Die Wurzeln des Palo del Ahorcado halten fest.

„Wenigstens etwas Wichtiges tun”

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“Die Straße ist kein guter Ort zum Leben” Mitglieder der Suppenküche Amigues por las Calles (“Freund*innen für die Straße”) (Foto: privat)

Wie ist es euch seit dem Amtsantritt von Milei ergangen, merkt ihr in der Suppenküche einen Unterschied?
Catalina Fixman: Ja, leider bemerke ich, dass die Zahl der wohnungslosen Menschen seitdem gestiegen ist. Was mir zuallererst aufgefallen ist: Viele Menschen können kein Dach über dem Kopf mehr bezahlen, weil sie keine staatliche Unterstützung mehr bekommen. Dazu kommt noch die Lebensmittelkrise wegen der plötzlichen Preissteigerungen.
Joaquín Puga: Vor Kurzem, als wir gerade auf der Plaza Miserere (zentraler Platz in Buenos Aires, Anm. d. Red.) Essen ausgaben, kamen ein paar Rentnerinnen zu uns, die dort ihre Hunde Gassi führten. Sie fragten uns, ob wir nicht auch eine Portion für sie hätten. Das sind Leute, die ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben. Jetzt bekommen sie eine sehr prekäre Rente, die nicht einmal bis zum Monatsende reicht.

Geht die Regierung diese Probleme an?
JP: Es interessiert sie überhaupt nicht! Das Problem gibt es nicht nur auf Landesebene. Hier in Buenos Aires gibt es einen neuen Bürgermeister, Jorge Macri. Er steht für eine Anti-Wohnungslosenpolitik, er sieht sie als etwas, das die Stadt verunstaltet. Ich sehe es so: Sowohl die Regierung von Buenos Aires als auch die Regierung von Milei machen Politik für die Mittelschicht. Auf Landesebene gibt es jetzt bestimmte Maßnahmen, die den Geldbeutel der Mittelschicht schützen sollen. Zum Beispiel Hilfen für Menschen, die Privatschulen oder private Gesundheitsdienste bezahlen. Währenddessen gehen die staatliche Gesundheitsversorgung und Bildung den Bach herunter! Und die ganzen wohnungslosen Menschen sind einfach nur ein Hindernis, das sie aus dem Weg räumen müssen. Jüngst hat Diego Kravetz, der Sicherheitschef von Buenos Aires, wirklich gemeine Dinge gesagt: alle Wohnungslosen seien gefährlich und hätten Vorstrafen.
CF: Ja, diese Entmenschlichung, die die Menschen sowieso schon erleben, nimmt zu. Viele, die jetzt neu unter dieser Krise leiden, schließen sich völlig ein und entwickeln Hass- oder sogar Gewaltfantasien gegen andere. Für Menschen in verletzlichen Situationen hätte der argentinische Staat schon vorher viel tun müssen, aber nun, nach den ganzen Entlassungen, noch viel mehr. Aber alle öffentlichen Institutionen werden gerade ausgehöhlt. Die Aussichten sind überhaupt nicht gut.

Führt all das nicht für Gruppen wie euch zu einer extremen Überlastung?
JP: Schon. Ich lebe seit 2020 in Buenos Aires und immer hat es wohnungslose Menschen gegeben. Wir als Fahrrad-Verteilgruppe sind früher mit 30 Portionen losgefahren, manchmal haben wir nicht einmal alles verteilt. Jetzt fahren wir mit 50 Portionen los und auf der Hälfte der Strecke ist alles alle.
CF: Das ist tatsächlich ein Thema für uns: Es gibt leider klare Grenzen für das, was wir ausrichten können, denn irgendwann ist das Essen alle. Außerdem verteilen wir ja nur donnerstags und sonntags. Andere Dienste und Essen an anderen Tagen können wir nicht bieten. Gleichzeitig merke ich aber, dass wir in den vergangenen Monaten stark gewachsen sind. Ich glaube, es gibt jetzt mehr Bewusstsein dafür. Wir müssen also weiterhin alles geben und darauf vertrauen, dass dieses Kollektiv vielleicht nicht das große Ganze in Ordnung bringt, aber zumindest etwas sehr Wichtiges tut.

Wie finanziert ihr die Suppenküche?
CF: Amigues war schon immer eine autonome Küche, wird also weder vom Staat noch von einer politischen Gruppierung unterstützt. Wir finanzieren uns nur über Spenden, sowohl monatliche als auch punktuelle. Immer wieder starten wir Kampagnen, um Geld zu sammeln oder bitten direkt um Lebensmittel. Außerdem werden wir zu vielen Veranstaltungen eingeladen, bei denen wir ein Gericht anbieten und Spenden dafür sammeln. Wir verkaufen Sticker und alle möglichen Merchandise-Artikel, denn es gibt mehrere Künstler*innen im Kollektiv, die ihre Werke auf Spendenbasis verkaufen. Da wir ja Miete und das Essen zahlen müssen und ständig neue Ausgaben dazukommen, sind wir dauerhaft auf der Suche nach Spenden._
JP: Zum Glück ist unsere finanzielle Lage aktuell stabil. In einer stressigen gesellschaftlichen Situation gibt es eine Menge Menschen, denen klar wird, dass sie etwas beitragen können und sie tun es. Zum Beispiel, indem sie uns Geld geben oder ihre Zeit schenken und freiwillig mitarbeiten.

In den vergangenen Wochen gab es immer wieder Demonstrationen gegen die Regierung. Macht euch das Hoffnung?
JP: Es gibt derzeit sehr viele Demonstrationen, zum Beispiel am 23. April die Großdemo für die staatlichen Unis, denen gerade die Budgets gekürzt wurden. Was man damit erreichen kann, weiß ich wirklich nicht. Ich weiß nicht, wann die Regierung sagen muss: „Es gleitet uns aus der Hand, wir müssen einen Schritt zurückmachen.“ Ich glaube ja, dass sie nur für die Mittelschicht regieren, also wird dieser Moment auch erst kommen, wenn die Mittelschicht ihre Interessen in Gefahr sieht.
CF: Mir macht es schon Hoffnung, dass viele Kollektive und Nachbarschaftsversammlungen gerade wachsen. So entsteht eine Organisierung parallel zum Staatlichen und ein Widerstand dagegen, dass die Realität für Viele so schlimm ist. Ich hoffe, dass das weiterwächst. Wir dürfen nicht aufgeben und nicht normalisieren, was passiert. Das müssen wir in andere Länder tragen und sowohl lokal und regional als auch international eine Debatte ermöglichen. Denn klar, jede internationale Solidarität hilft uns. Zum Beispiel gab es auch eine große Spende, die in Berlin bei einer Veranstaltung zusammengekommen ist. Je nach Land gibt es große Ungleichheiten in Sachen Macht und Zugang: Eure Währung ist für uns zum Beispiel viel mehr wert. Und so führen auch kleine Beiträge mit geringem Aufwand hier am Ende zu einem großen Effekt.

“Wir kommen aus der Zukunft”

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“Wasser ist Menschenrecht!” MODATIMA-Aktivist*innen beim Klimastreik im September 2023 in Berlin (Foto: Ute Löhning)

50 Jahre nach dem Militärputsch stimmt der Verfassungsrat in diesen Tagen über die Normen für den neuen Verfassungsentwurf ab. Wie blickt ihr auf diesen Prozess?

Catalina: Was dort entworfen und verabschiedet wird, könnte am Ende sogar schlimmer aussehen als die Verfassung von Pinochet. Der Klimawandel wird im Prozess nicht berücksichtigt. Die Ultrarechte, die im Rat dominiert, leugnet ihn und stellt sogar grundlegende Menschenrechte in Frage. Für öffentliche Güter wie Flussufer und Auen, die bisher nie privatisiert waren, sollen nun Konzessionen vergeben werden. Deshalb setzen wir so gut wie keine Hoffnung in den Prozess. Er setzt unsere Forderungen von den Protesten im Oktober 2019 nicht um.

Das klingt fast so, als wäre es besser, wenn der Entwurf beim Verfassungsplebiszit im Dezember abgelehnt wird.

Jorge: Ich sehe tatsächlich einen Vorteil, wenn die Verfassung von 1980 bleibt, denn sie ist bereits delegitimiert. Damit würden sich für die Zukunft gewisse Spielräume öffnen. Deshalb finde ich es wichtig, dass der Rechazo (dt. Ablehnung) im Dezember gewinnt.

Catalina: Eine wichtige Aufgabe für uns als Bewegungen wird es sein, das Ergebnis des ersten Verfassungsplebiszits von 2020 zu bekräftigen, in dem man sich gegen die Pinochetverfassung ausgesprochen hatte. Der Plebiszit im Dezember wird auch ein wichtiger Moment für die politischen Kräfteverhältnisse und für die Regionalwahlen nächstes Jahr.

Was würde ein Sieg des Rechazo für die Rechte bedeuten?

Victor: Es gibt nicht die eine Rechte, sie ist gespalten. Die Ultrarechte mit der Republikanischen Partei bringt alle wichtigen Themen ihres politischen Entwurfs in die Verfassung ein. Für sie ist es eine Win-Win-Situation: Entweder gewinnt das Ja – dann gewinnt ihre Position – oder es gewinnt das Nein und Pinochets Verfassung bleibt in Kraft.

Welche Aussicht bleibt dann noch auf die Abschaffung der Diktaturverfassung?

Victor: Ich denke das einzige, das uns dann bleibt, wäre eine Verfassungsreform. Aber mit dem aktuellen Kongress ist das sehr schwierig, es müsste zu einem anderen Moment geschehen. Fürs Hier und Jetzt bleibt uns der Weg des Protests.

Catalina: Genau. Derzeit bilden wir uns politisch weiter und wollen wachsen – qualitativ und quantitativ.

MODATIMA ist nicht nur auf der Straße aktiv, sondern auch in politischen Institutionen.

Victor: Ja, in der Kombination von Basisarbeit und dem institutionellen Weg auf lokaler Ebene sehen wir eine große Stärke. Zum Beispiel in den Regionalregierungen, im Fall der Region Valparaíso mit unserem Gouverneur Rodrigo Mundaca. Hier arbeiten wir daran, die Verwaltung des Wassers innerhalb des rechtlichen Rahmens zu demokratisieren.

Was hat Rodrigo Mundaca als Gouverneur seit Juli 2021 erreicht? Welche Befugnisse hat er?

Victor: In allen Provinzen der Region werden derzeit Flussgebietsräte als runde Tische eingerichtet. Dort beteiligen die Menschen sich zum ersten Mal an Entscheidungen zum Thema Wasser. Die Regierung plant, solche Räte über ein Gesetz zukünftig landesweit einzurichten. In der Region von Valparaíso funktioniert das bereits, allerdings ohne gesetzliche Grundlage. Außerdem wurden Bildungsprogramme für Führungspersonen in den Trinkwassergenossenschaften der Region geschaffen. Das Trinkwasser auf dem Land ist das einzige Wasser, das nicht privatisiert, sondern öffentlich und gemeinschaftlich ist.

Carolina: Rodrigo Mundaca hat im kommenden Jahr die Möglichkeit, der Agorechi – der Gouverneursvereinigung Chiles – vorzusitzen. Dadurch könnte er deutlich stärker auf die landesweite Politik einwirken. Abseits davon sind die Stärkung der Umwelt- und genossenschaftlichen Trinkwasserinstitutionen, der Bürger*innen und die finanzielle Stärkung der Gemeinden wichtig. Dadurch gibt es heute wieder deutlich mehr Vertrauen in die Politik und Institutionen – das war vor dem estallido social von 2019 undenkbar.

Und doch verhindert der Wasserkodex aus Diktaturzeiten mehr Gerechtigkeit beim Zugang zu Wasser. Gab es hier in den vergangenen Jahren Fortschritte?

Carolina: Am 25. März 2022 wurde die jüngste Reform des Wasserkodexes beschlossen. Alle Eigentumsrechte an Wasser, die nach diesem Datum vergeben werden, haben keine unbegrenzte Laufzeit mehr. Personen, die bereits Eigentumsrechte an Wasser besitzen, müssen diese neu einschreiben lassen, wofür jedoch genug Wasser verfügbar sein muss. Da das häufig nicht der Fall ist, wird das dazu führen, dass in Zukunft weniger Eigentumsrechte an Wasser existieren. Wo zukünftig bei Wassermangel Konflikte entstehen, wird die Wassergeneraldirektion tätig und kann das Wasser neu verteilen. Das war im Flussbecken des Aconcagua bereits der Fall.

Mit Dürresommern und Unwettern ist der Klimawandel auch in Deutschland zu spüren. Unterschätzen wir die Probleme, die es bald auch hier mit der Wasserversorgung geben könnte?

Victor: Ich denke, in den reichen Ländern wird das Thema Wasser immer noch nicht als Problem wahrgenommen. In diesem März hat in New York zum ersten Mal seit 50 Jahren eine Weltwasserkonferenz stattgefunden. In diesen 50 Jahren hat sich das Weltwasserforum, eine von Privatunternehmen finanzierte Institution, jedes Jahr getroffen. In den entwickelten Ländern gibt es genug Wasser für Bevölkerung und Unternehmen. Wir in Chile sind nach 40 Jahren Wasserprivatisierung bei dem Extrem angekommen, dass es Wasser für die Reichen gibt, aber nicht für die Armen. Wir fordern, dass dem Wasser fortan die Bedeutung zugeschrieben wird, die es auf der Welt hat. Und wenn man von Klimawandel spricht, darf es nicht nur um Temperaturanstiege gehen, man muss die Verfügbarkeit von Süßwasser miteinbeziehen. In Chile werden bereits Menschen wegen des Klimawandels vertrieben, weil es zu wenig Wasser gibt. Und jetzt kommen noch neue Industriezweige wie Lithium oder grüner Wasserstoff dazu, die ebenfalls große Mengen Wasser brauchen.

Gleichzeitig werden diese Rohstoffe als zentral für die Energiewende angesehen. Wie blickt ihr auf dieses Dilemma?

Jorge: Beim Lithium ist die Rede von grüner Energie, aber seine Gewinnung ist extrem verschmutzend und kostet viele Ökosysteme in den Abbauländern das Leben. Gleichzeitig ist Lithium ein flüchtiger Rohstoff, denn wenn in 20 oder 25 Jahren bessere Energiequellen kommen, wird Lithium zu teuer sein. Das Gleiche ist mit den Deutschen und dem Salpeter passiert: Salpeter war einst die Lösung für alles, mein Vater hat in der Gewinnung gearbeitet, mein Großvater auch. Irgendwann kam das synthetische Salpeter und hat alles ersetzt. Das Problem ist auch die fehlende Wissensvermittlung: Wir gewinnen das Lithium, aber die Batterien stellt ihr her. Uns bleiben am Ende nur die Umweltkatastrophen.

Victor: Für die Energiewende haben die reichen Länder ihre Pläne bis 2030. Länder wie Deutschland müssten bei Vertragsabschlüssen nicht nur darauf achten, das billigste Lithium oder den billigsten Wasserstoff zu kaufen, sondern auch darauf, wie diese Rohstoffe erzeugt werden können, ohne das Leben der benachbarten Gemeinschaften zu beeinträchtigen. Und sie müssen die Variable Wasser miteinbeziehen.

Was kann die Welt und was können wir von der Situation in Chile lernen?

Carolina: Zu was führen denn der Konsum und der Export aus den so genannten „Opferzonen“ (Anm. d. Red.: von massiver Verschmutzung durch Industrie betroffene Regionen)? Wir sehen, wie Menschen im Avocado-Anbaugebiet ohne Wasser leben, obwohl es Wasser gibt – aber die Agrarindustrie nimmt es uns weg. Und Deutschland geht in Lateinamerika auf Rohstoff-Einkaufstour und will Freihandelsabkommen schließen, um unsere Territorien zu plündern. Wir haben gelernt, dass dies nicht nachhaltig und weder für Investitionen noch für den internationalen Handel sicher ist. Denn es zerstört unseren Wasserkreislauf. Ich glaube, die einzige Gegenstrategie besteht darin, Allianzen zu bilden, das Bewusstsein zu schärfen und Aufklärung zu betreiben, um zu verstehen, dass in Chile heute Investitionen wichtiger sind als Menschenrechte. Dabei geht es nicht nur um eine Änderung der Technologie, sondern um eine Änderung des Lebensstils und des Verbrauchs von Ressourcen.

Jorge: Die ganze Natur, die Wälder, die Ozeane, die Flüsse, sind in großem Umfang geplündert worden. Wenn die reichen Leute und Länder sich dessen nicht bewusstwerden und den unnötigen Konsum reduzieren, werden wir mit Lateinamerika und Afrika am Ende ihre Hinterhöfe zerstören. Wir müssen also der Bevölkerung beibringen, dass man mit dem leben muss, was man hat, auch wenn das ziemlich schwierig ist.

Vielen Menschen fällt es schwer, ihren Lebensstil zu ändern. Was denkt ihr, auf welche sozialen Probleme sollten wir uns einstellen, wenn auch hier das Wasser knapp wird?

Victor: Wir erleben bereits einen Krieg um Wasser: Es gibt Gebiete, in denen die Menschen kein Trinkwasser haben, auf die Straße gehen und sich mit der Polizei anlegen und denen, die das Wasser haben. Dieses angeblich so ferne Zukunftsszenario ist in Chile und an einigen Orten in Afrika längst eingetreten. Als MODATIMA ist es unsere Aufgabe, betroffene Gemeinschaften zu organisieren, Kritik zu üben und die Fragen zu stellen, um die sich die Regierungen nicht sorgen. Wir Chilen*innen und andere kommen aus der Zukunft, in der es Kriege um Wasser gibt. Und Länder wie Deutschland, in denen es bisher keine Wasserprivatisierung gibt, könnten wie Chile enden.

Während der Veranstaltungen in Berlin habt ihr die Idee einer Internationalen des Wassers erwähnt. Worum geht es dabei?

Carolina: Es geht dabei um Solidarität: Es gibt etwas, das über ein Projekt wie MODATIMA hinausgeht, wie bei den ALBA-Bewegungen oder der Landlosenbewegung MST. Wir sind bereit, über eine internationale Bewegung für Wasser Macht aufzubauen, die auf Solidarität und ihrer Bedeutung für die Menschheit basiert, die eindeutig Grenzen überschreitet.

Victor: Seit der Gründung von MODATIMA sind wir mit anderen großen und kleinen Bewegungen zusammengetroffen, die sich mit denselben Themen beschäftigen: die Rondas Campesinas in Peru, Afectados por Represas in Brasilien, Ríos Vivos in Kolumbien und die Coordinadora Agua para Todos in Mexiko. In den lateinamerikanischen Ländern wird der Kampf um Wasser bereits stark geführt, aber es gibt auch die europäische Wasserbewegung, zu der wir Beziehungen unterhalten. Ich denke, das ist ein Projekt auf lange Sicht. Zum Beispiel mit der Bewegung der von Staudämmen betroffenen Menschen (MAR) in Lateinamerika. Wir haben die Idee, eine globale Bewegung für Wasser und Energie aufzubauen, eine Art Via Campesina bezogen auf Wasser und Energie, die sich weltweit Verbündete sucht – MAR arbeitet bereits seit zehn Jahren in diese Richtung.

Hat diese Reise nach Deutschland euch dahingehend weitergebracht?

Catalina: Diese Reise war sehr bereichernd, um einen Horizont für den Erfahrungsaustausch zu schaffen, auch dafür, den Kampf um das Wasser zu internationalisieren. Vor allem war es interessant, dass die Themen Wasserstoff und Lithium so oft zur Sprache kamen. Wir nehmen diese neuen Herausforderungen der Energiewende an und die dringende Aufgabe mit, sie tiefer in die Bewegung einzubringen.

Jorge: Ich hätte nicht gedacht, dass es hier in der Gegend einen Konflikt mit Tesla gibt, bei dem Leute ihr Wasser in Gefahr sehen. Es hat meine Aufmerksamkeit erregt, dass auch hier Menschen sich für diese Themen mobilisieren und territorial denken. Wir fühlen uns also mit ihnen verbunden und freuen uns darüber.

Victor: Ich finde es sehr wichtig, sich nach einer Pandemie wieder persönlich mit Menschen austauschen zu können, die auf der gleichen Wellenlänge sind, um uns gegenseitig zu stärken. Und Medien wie eure Zeitschrift tragen viel dazu bei, durch Information Verbindungen und Netzwerke aufzubauen und Meinungen auszutauschen.

Carolina: Ich denke, es war 50 Jahre nach dem Putsch eine Reise voller Erinnerung für uns, aber auch eine Reise voller Zukunft: darüber, wie wir uns unser Land erträumen, was wir von eurem Land erwarten, was wir von unseren Kontakten erwarten. Es war nach dem Scheitern des Verfassungskonvents eine heilende Erfahrung. Für mich bleibt davon der Wunsch und die Erwartung, eine Gemeinschaft aufzubauen und mit einer Internationalen des Wassers voranzukommen.

Götterdämmerung in Zentralamerika

10 Jahre Nicaragua Libre Ausschnit aus einem LN-Cover von 1989

Als im Juli 1979 die revolutionäre Sandinistische Nationale Befreiungsfront (FSLN) in Nicaragua nach mehr als einem Jahrzehnt bewaffnetem Kampf den Sieg über die Somoza-Diktatur errang, hatte dieses Ereignis das rasche Anwachsen der bundesdeutschen Nicaragua-Solidarität zur Folge. Bis dahin hatte die Bewegung in der Öffentlichkeit erfolgreich zu vermitteln vermocht, dass es sich bei den Sandinist*innen nicht um eine isolierte revolutionäre Guerilla-Vorhut handelte, die den Aufstand probte, sondern der Widerstand gegen den Diktator deutlich und sichtbar vom Volk getragen wurde. Nach dem Sieg der Sandinist*innen begann im westlichen Teil Deutschlands eine unüberblickbare Zahl von Solidaritätskomitees die politische Topografie zu verändern. Selbst in kleinsten Gemeinden gründeten sich Solidaritätskomitees. Vor allem junge Leute fühlten sich von der Revolution angezogen, insbesondere nachdem die USA durch die von ihnen bewaffnete und trainierte Contra-Guerilla die Niederschlagung der Revolution durch Terror gegen die Zivilbevölkerung anstrebten. Menschen unterschiedlichster politischer Gesinnung, einzeln oder organisiert in linken Zusammenhängen, kirchliche Gruppen bis hin zu Grünen-, SPD- und Gewerkschaftsgruppen folgten dem Ruf der Revolution und machten sich in ein bis dahin unbekanntes Land auf, um medizinische Versorgung zu leisten, zu unterrichten, Schulen und Siedlungen zu bauen oder bei der Kaffeeernte zu helfen.

In El Salvador, wo die Oppositionsbewegung mit dem Sieg der Sandinist*innen ungeheuren Auftrieb erhielt, standen sich Anfang der 80er Jahre eine starke Guerilla und eine von den USA hochgerüstete Armee gegenüber und auch in Guatemala schienen sich mit dem Zusammenschluss der vier Guerillaorganisationen die Voraussetzungen für eine Volkserhebung abzuzeichnen. Die Solidaritätsbewegung in Deutschland weitete dementsprechend ihre Praxis auf ganz Mittelamerika aus.

Im Editorial vom Februar 1995 beschäftigten wir uns mit dem Scherbenhaufen, vor dem die Solidaritätsbewegung nach dem Ende der revolutionären Hoffnungen stand: Nach fast 10 Jahren Krieg waren die Nicaraguaner*innen kriegsmüde und nach 50.000 Toten vom Terror der Contra-Guerilla zermürbt. 1990 verlor die FSLN die Wahlen und stand damit an einem Scheideweg: Auf ihrem Parteikongress 1994 spaltete sich die Partei, wobei der Flügel, der die Demokratisierung anstrebte, unterlag. Der von Daniel Ortega angeführte Mehrheitsflügel bestätigte dagegen seinen Führungsanspruch. Als Ortega 2007 erneut Präsident wurde, trugen sein autoritärer Führungsstil, sowie der in der Partei verankerte Vertikalismus bereits den Keim für die Errichtung der heutigen Diktatur in sich: Eine Familiendynastie, die an der Spitze von strategisch wichtigen Unternehmen, Geschäften und Kommunikationsmedien steht und der jedes Mittel recht ist, um sich an der Macht zu halten.

Für die Solidaritätsbewegung hatte dieser Prozess schon früh demobilisierenden Charakter, viele Gruppen lösten sich auf oder zogen sich auf die Unterstützung jener Projekte zurück, die sie einst mitinitiiert hatten und für deren Überleben sie sorgen wollten. Andere übernahmen das Narrativ der Ortega-Anhänger*innen, wonach − frei von jeglicher Selbstkritik und trotz offensichtlicher Verfehlungen − allein der von den USA geführte Contra-Krieg für die Wahlniederlage verantwortlich gemacht wurde.

Elisabeth Erdtmann ist seit 2018 Redaktionsmitglied mit dem Schwerpunkt Nicaragua
Lya Cuéllar koordiniert den Runden Tisch Zentralamerika und ist Redaktionsmitglied bei LN

// ES HERRSCHT KRIEG

Viele Menschen werden grausam und skrupellos ermordet, noch mehr Menschen verlieren ihr Zuhause, packen das Notwendigste, um zu fliehen und hoffen darauf, dass ihnen irgendwo Schutz gewährt wird. Familien werden getrennt, Verzweiflung überall. Seit der russische Präsident Wladimir Putin seinen brutalen und völkerrechtswidrigen Angriffskrieg begonnen hat, passiert das nicht einmal zehn Autostunden von Deutschland entfernt in der Ukraine. Wir verurteilen die Aggressionen der russischen Führung und fordern ihre sofortige Beendigung.

Immerhin: Inmitten des Leids gibt es auch viele Bürger*innen, Unternehmen und staatliche Institutionen, die Solidarität zeigen – auch in Deutschland. Züge und Busse werden bereitgestellt, an den Bahnhöfen nehmen vor allem freiwillige Helfer*innen die Geflüchteten in Empfang. Auch wenn vieles chaotisch läuft – die Grundversorgung funktioniert. Ukrainer*innen erhalten vergleichsweise unbürokratisch einen Aufenthaltstitel, Sozialleistungen und eine Arbeitserlaubnis. Für die Betroffenen ein Lichtblick in ihrer schrecklichen Situation. Wir begrüßen es sehr, dass aktuell viel dafür getan wird, den geflüchteten Ukrainer*innen in ihrer Notlage zu helfen.

Wie schön wäre es aber, wenn allen Geflüchteten in einem solchen Maße Solidarität entgegengebracht würde. Auch in Afrika, im Mittleren Osten oder in Lateinamerika herrschen an vielen Orten dauerhaft kriegerische Konflikte. Sie werden meistens nicht als „Krieg” betrachtet, obwohl nationale sowie internationale Regierungen beteiligt sind. Diese Handlungen in der „Peripherie” gehen heute von bewaffneten staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen aus, die die Bevölkerung terrorisieren und den Betroffenen keine Chance lassen, sich wirksam vor ihnen zu schützen. Das individuell und gesellschaftlich verursachte Leid wird dadurch jedoch keineswegs kleiner.

In Mexiko, Kolumbien und Brasilien wurden in den vergangenen Jahren monatlich jeweils mehr als 1.000 Menschen getötet. Dort gelangen deutsche Waffen durch illegale Lieferungen, etwa von Heckler & Koch oder Sig Sauer, immer wieder auch in die Hände derjenigen, die Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen, Journalist*innen und Politiker*innen ermorden. Laut Schätzung des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte entspricht die Anzahl dieser Morde in etwa der Anzahl der nicht an den Kämpfen beteiligten Menschen, die in der Ukraine umgebracht wurden. Dennoch erfahren die Opfer dieser gewaltsamen Auseinandersetzungen unterschiedlich viel Aufmerksamkeit. Konflikte in Lateinamerika und anderswo finden nicht vor unserer Haustüre statt. Und im Unterschied zur Ukraine flüchten in aller Welt nicht vorwiegend weiße Europäer*innen, sondern oft Menschen mit einer anderen Hautfarbe und/oder Religion. Sie haben es unendlich viel schwerer, in der EU aufgenommen zu werden und meist kaum eine Chance auf ein Bleiberecht und eine Arbeitserlaubnis. Diese Ungleichbehandlung ist durch nichts zu legitimieren und verstößt gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, die eine Diskriminierung „aus Gründen der Rasse, der Religion oder des Herkunftslandes” verbietet.

Wir wollen nicht hinnehmen, dass es Geflüchtete „niedrigeren” und „höheren” Ranges gibt. Angesichts dieser Widersprüche in der Flüchtlingspolitik, die durch den russischen Angriffskrieg und seine Konsequenzen erneut deutlich werden, fordern wir, dass alle Menschen, die in ihrer Heimat von Krieg und Ermordung bedroht sind, nicht nur theoretisch, sondern auch in der Praxis das gebotene Maß an Hilfsbereitschaft erfahren – unabhängig von ihrer Herkunft. Russlands Invasion in der Ukraine ist grauenvoll. Zu wünschen bleibt, dass ihre Folgen ein Umdenken in Gesellschaft und Politik bewirken, zukünftig nicht mehr „Kapazitätsgrenzen” vorzuschieben, sondern allen Schutzsuchenden einen neuen Anfang und sicheren Zufluchtsort zu ermöglichen.

REISE DER REBELLION

In internationalen Gewässern Das Segelschiff der Zapatistas ist auf dem Weg nach Europa (Foto: Enlace Zapatista)

Am 3. Mai ist eine siebenköpfige Delegation der zapatistischen Autonomiebewegung mit einem Segelschiff von Südmexiko in Richtung Europa aufgebrochen. Das Schiff erreichte am 11. Juni die Azoren. Doch die sieben Segler*innen sind nur die Vorhut, die gesamte Delegation soll aus über 150 Vertreter*innen der EZLN (Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung) und des CNI (Nationaler Indigener Kongress) bestehen. Mindestens drei Viertel von ihnen sollen Frauen und Queers sein. In Europa angekommen, werden sie in verschiedenen Konstellationen unterschiedliche Orte, soziale Bewegungen und Kämpfe „von unten und links“ besuchen. Ein zentraler Termin der Reise wird der 13. August in Madrid sein: 500 Jahre nach der Eroberung des Gebietes des heutigen Mexikos durch Spanien ist das Ziel dieses Stopps, symbolisch zu verdeutlichen, dass der indigene Widerstand gegen den Kolonialismus anhält. Die Zapatistas betonen, dass vor 500 Jahren damit begonnen wurde, die Menschen in den Amerikas zu kolonisieren, aber es nie geschafft wurde, sie zu unterwerfen.

Aber was ist das Besondere an dieser Reise? Eine Delegation indigener Aktivist*innen, die durch Europa fahren und soziale Bewegungen besuchen? Die Bilder von den Revolutionär*innen in Sturmhauben sind vom Süden Mexikos aus längst um die Welt gegangen und doch sind die Hintergründe ihres Kampfes für viele immer noch ein Mysterium. So hängt die Bedeutung dieser Reise eng mit der Geschichte der zapatistischen Bewegung, einem Vierteljahrhundert des Aufstands und der Strahlkraft ihres inspirierenden Charakters für soziale Bewegungen weltweit zusammen. Der Beginn dieses Aufstandes der EZLN fand nicht ohne Grund am 1. Januar 1994 statt, dem Tag des Inkrafttretens des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA). Es ist ein Aufstand, der sich nicht nur gegen die Marginalisierung der indigenen Bevölkerung richtet, sondern auch gegen den internationalen neoliberalen Kapitalismus, für den das NAFTA-Abkommen so exemplarisch steht.

Nach über zehn Jahren Vorbereitung hatten die bewaffneten Kämpfer*innen der EZLN am 1. Januar 1994 fünf Bezirkshauptstädte in Chiapas, einem Bundesstaat im südlichen Mexiko, besetzt und damit der mexikanischen Regierung den Krieg erklärt. Der Aufstand kam für internationale Beobachter*innen wie aus dem Nichts. Niemand hatte ihn vorhergesagt oder auch nur mit ihm gerechnet. Nach wenigen Tagen zogen sich die Zapatistas aus den Bezirkshauptstädten in die ländlichen Regionen zurück.

Der zapatistische Aufstand als „Einladung zur Rebellion“ weltweit

Unterstützt durch die mexikanische Zivilgesellschaft konnten sie nach zwölf Tagen eine Waffenruhe mit der mexikanischen Regierung erreichen. Die nach langen Verhandlungen 1996 im Vertrag von San Andrés vereinbarte Anerkennung der Rechte und Autonomie indigener Bevölkerungsgruppen wurde nie in die mexikanische Verfassung eingeschrieben. Trotzdem hat die EZLN im Osten Chiapas eine faktische Autonomie umgesetzt, doch bis heute sind die Zapatistas immer wieder Angriffen der mexikanischen Regierung und paramilitärischer Einheiten ausgesetzt (siehe LN 543/544). Die zapatistischen Gemeinden in den autonomen Gebieten zeichnen sich durch ihre basisdemokratische Selbstorganisation aus. Hier wird der Versuch gewagt, eine andere Form des Zusammenlebens auszuprobieren.

Für soziale Bewegungen weltweit sind das Erproben neuer Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens geschichtlich immer inspirierende Momente gewesen und auch die zapatistische Befreiung ist hier keine Ausnahme. Schon seit 1996 finden regelmäßig internationale Treffen in Chiapas statt und Menschen verschiedenster sozialer Bewegungen weltweit sind den Einladungen gefolgt. Zudem reisen immer wieder Menschen und Delegationen nach Chiapas, um beim Aufbau der Infrastruktur zu helfen. Zapatistischer Kaffee für die finanzielle Unterstützung ist quasi schon Pflicht für viele europäische Aktivist*innen.

„Finden, was uns gleich macht.“

Dass die Zapatistas bis heute einen so großen Einfluss auf diverse soziale Bewegungen haben, ist aber vor allem ihrem Politikverständnis anzurechnen. Sie verbinden feministische, ökologische, anti-koloniale und anti-neoliberale Perspektiven mit einem machtkritischen und zutiefst selbstreflexiven Verständnis. Dieses spiegelt sich auch in ihrem Motto „Fragend schreiten wir voran!“ wider: Der zapatistische Aufstand ist in seiner Idee nicht auf sich bezogen, sondern versteht sich vielmehr als „Einladung zur Rebellion“ auf der ganzen Welt, dem es nicht darum geht, die Macht über Institutionen oder den Staat zu übernehmen, sondern eine andere autonome gesellschaftliche Organisation des Alltags aufzubauen. Die Zapatistas wollen verschiedene Perspektiven nicht gegeneinander diskutieren, sondern diese solidarisch nebeneinander stellen, sich aufeinander beziehen lassen, ohne sich auszuschließen, auch wenn sie sich oft widersprechen. Es geht für die indigenen Revolutionär*innen darum, aus gemeinsamen Kämpfen „von unten und links“ zu lernen. Internationale Solidarität ist demnach nicht der einfache Blick auf die Orte widerständiger Kämpfe, sondern darüber hinaus eine Einladung zur gegenseitigen Inspiration.

Als am 5. Oktober vergangenen Jahres ein Kommuniqué der EZLN erschien, in dem sie ankündigten, alle fünf Kontinente zu bereisen und sich im April dieses Jahres Richtung Europa auf den Weg zu machen, löste das eine große Aufregung innerhalb europäischer sozialer Bewegungen aus. Inmitten einer Pandemie machten die Zapatistas wie so oft eine unerwartete Ankündigung: „Verschiedene zapatistische Delegationen aus Männern, Frauen und Anderen der Farbe unserer Erde werden die Welt bereisen. Wir werden gehen oder segeln, bis hin zu weit entfernten Ländern, Meeren und Himmeln. Wir wollen weder die Unterschiede suchen, noch die Überlegenheit oder die Konfrontation, noch viel weniger Vergebung und Mitleid. Wir werden finden, was uns gleich macht.“

In Europa laufen unterdessen die Vorbereitungen für eine Reise, die schwer zu planen ist und deren Realisierbarkeit Unterstützer*innenorganisationen schon in Frage gestellt hatten. Obwohl der erste Teil der Delegation bereits in See gestochen ist, sind viele Fragen zur Route und dem Ablauf der Veranstaltungen und Aktionen offen. Bis jetzt ist nur klar, dass die gesamte Delegation am 13. August in Madrid sein, sich im Laufe der Reise aber auf verschiedene Orte aufteilen wird.

Trotz dieser Herausforderungen und der geringen Planbarkeit sagt Uli vom Ya-Basta-Netz, einer deutschlandweit agierenden Unterstüt-*zer*innenorganisation: „Wir werden Vieles auf die Beine stellen und es sind unglaublich viele Menschen, die mitmachen wollen“. Bereits jetzt nähmen Hunderte an der Vorbereitung teil. Ya Basta geht davon aus, dass sich noch weitaus mehr interessierte Menschen mobilisieren lassen werden, wenn die Delegation erst einmal angekommen ist. Dass so viele Menschen in die Reise involviert sind, läge daran, dass es nicht nur um das Organisatorische, sondern auch darum geht, „zusammen zu kommen und trotz aller Unterschiede hier gemeinsam weiter zu machen“, erklärt Uli. An den verschiedenen Orten laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren und die Pläne verstetigen sich, je näher die Ankunft der Zapatistas rückt. Auch Bewegungen und Organisationen aus unterschiedlichen Ländern vernetzen sich dafür. Zu Themenfeldern wie Antirassismus, Feminismus und Klimagerechtigkeit haben sich sowohl lokal als auch überregional Arbeitsgruppen gebildet. Die Vorbereitungsgruppen achten insbesondere darauf, basisdemokratisch zu entscheiden und zu handeln.

Am Jahrestag des zapatistischen Aufstandes, am ersten Januar 2021, veröffentlichte die EZLN unter dem Titel „Eine Erklärung für das Leben“ ihr letztes von sechs Kommuniqués zur Reise – diesmal an der Seite internationaler Unterstützer*innenorganisationen. Im gemeinsamen Kommuniqué wird einmal mehr deutlich: Was diese Reise ausmacht, ist das Verständnis der zapatistischen Politik. Es geht den indigenen Revolutionär*innen nicht um das bloße Bereisen Europas und der sozialen Bewegungen vor Ort, sondern darum, einen Austausch mit den Menschen zu initiieren, zu inspirieren, selbst Inspiration einzuholen und aktiv gemeinsame Kämpfe zu führen. Die Zapatistas verstehen die Vielfalt und Widersprüchlichkeiten verschiedener linker Positionen als Stärke, in der sich Möglichkeiten für die einzelnen Kämpfe bieten. Sie wollen von den europäischen sozialen Bewegungen nicht glorifiziert werden. Vielmehr soll es für jene darum gehen, die Einladung zur „Rebellion für das Leben“ anzunehmen und mit den Zapatistas neue Impulse für gemeinsame Kämpfe zu finden.

Internationale Solidarität ist gegenseitige Inspiration

Es bleibt abzuwarten, was auf dieser Reise passieren wird und welche Herausforderungen auf die Zapatistas und die einladenden Gruppen zukommen. So sind nach wie vor eine Reihe von Ungereimtheiten offen, zum Beispiel bezüglich der Einreise in die EU oder die Frage, wie der gesamte Ablauf koordiniert werden kann.

Die Zapatistas werden auch auf dieser Reise für Überraschungen gut sein. Wenn sie in wenigen Wochen vor der Küste Spaniens anlegen, wird das Abenteuer, welches sie nach Europa tragen, erst richtig beginnen. Offen bleibt, welchen Einfluss dies auf die sozialen Bewegungen vor Ort haben wird. Wird eine neue Form der Zusammenarbeit, Organisation und des internationalen gemeinsamen Kampfes entstehen? Werden diese neue Stärke gewinnen und neue kreative Wege einschlagen? Vieles bleibt spannend, daher wird es sich lohnen, die Reise aufmerksam zu verfolgen. Die zapatistische Bewegung hat seit ihrem Beginn die sozialen und linken Bewegungen weltweit inspiriert. Es lässt sich vermuten, dass ihre Reise ein neues Kapitel der internationalen Solidarität aufschlagen wird.

EIN MENSCHLICHER KÄMPFER

Gefragt Albert Luther während der Besetzung der westdeutschen Botschaft in Nicaragua 1986 (Foto: Rob Brouwer)

Die Gedanken reisen zurück in die 1980er Jahre, nach Managua in Nicaragua: in Alberts Haus im Stadtteil El Dorado, auch Eldorado für viele Internationalist*innen. Es war Umschlagplatz für Informationen, Schwarzbrot und Käse, Briefe und Päckchen aus der fernen Heimat, zudem ausgestattet mit einem echten Telefon, ein Juwel in jener Zeit ohne Internet und Handy. Albert hat Haus, Kühlschrank, Auto, sein Leben mit uns geteilt. In seinem großen Herzen war Platz für die unterschiedlichsten Menschen. Als Pfarrer hatte er sich der Befreiungstheologie zugewandt. Er war ein radikaler Menschenfreund, ein menschlicher Kämpfer für eine gerechte Gesellschaft, die die Sandinist*innen damals den Nicaraguaner*innen versprachen. Faszinierend für Albert und für viele junge Menschen, die deshalb aus aller Welt nach Nicaragua kamen.

So bot sein Haus uns ein Zuhause und den Platz für leidenschaftliche politische Diskussionen über Revolution, Solidarität, die sandinistische Politik, die Rolle der Befreiungstheologie. Egal ob Brigaden-Koordination, ökumenische Delegationen oder Gewerkschafter*innen: sie alle debattierten auf den nicaraguanischen Schaukelstühlen seines Wohnzimmers. Über Alberts Telefon kamen gute und schlechte Nachrichten. Er wurde angerufen, wenn die von den USA finanzierten Contras Menschen entführten oder töteten. Bei ihm klingelte das Telefon, als eine deutsche Brigade entführt und auch als die Internationalisten Iwan, Joel und Bernd 1986 zusammen mit Nicaraguaner*innen in einem Hinterhalt der Contra umgebracht wurden. Albert wurde zum Seelsorger und „Pressesprecher“ zugleich. Er war nicht eitel, es ging ihm nie darum im Vordergrund zu stehen, und vielleicht war genau das der Grund, warum er im Mittelpunkt stand. Als 1986 die Contra eine deutsche Brigade entführte, wurde sein Haus zum Sitz des „Krisenstabs“ der Solidaritätsgruppen. Von dort liefen die Kontakte nach Deutschland: über das Informationsbüro in Wuppertal zu den Angehörigen der Entführten und zum Krisenstab in Bonn. Aktionen wurden geplant, mit denen Druck auf die Bundesregierung ausgeübt werden sollte, damit diese gegenüber der US-Regierung und der Contra für die Freilassung der Entführten aktiv wird. So wurde die deutsche Botschaft in Managua besetzt, Internationalist*innen ketteten sich vor der US-Botschaft und an zentralen Plätzen in Costa Rica und Honduras an, da die Contras in diesen Ländern Militärbasen unterhielten. In seiner ruhigen und gelassenen Art strukturierte Albert das Gewusel, hatte immer den Kontakt zur richtigen Ansprechperson in Regierung oder Presse. Nach drei Wochen wurden die acht Entführten freigelassen. Albert war Mitorganisator der großen Pressekonferenz mit den Freigelassenen, die weltweites Interesse fand.

Wir sind traurig, dass Albert am 4. April 2021 an Corona gestorben ist. Uns bleiben viele Erinnerungen und existentielle Politik- und Lebenserfahrungen mit Albert. Seine Großzügigkeit und Herzlichkeit haben unsere gemeinsame politische Arbeit geprägt.

// BILDET ANTIKÖRPER!

Ziemlich einsam fühlen sich die Redaktionssitzungen der Lateinamerika Nachrichten derzeit an. Statt mit einem Plausch vor und einem Bierchen nach der Sitzung, beschäftigen wir uns jetzt mit ausgefallenen Mikrofonen, Rauschen und anderen nervigen Technikproblemen während der Telefonkonferenzen. Seit fast zwei Monaten geht das nun so. Dass wir uns nur noch virtuell treffen, heißt für manche von uns, gar nicht mehr an den Sitzungen teilnehmen zu können.

Wie an vielen nagt auch an uns die soziale Isolation. Die Pandemie macht uns bewusst, dass wir soziale Wesen sind, die einander brauchen. Unsere lebendigen Unterhaltungen und das gemeinsame Frühstück zu Beginn eines jeden Produktionswochenendes können nicht so einfach durch eine Telefonkonferenz ersetzt werden. Jetzt, wo wir allein in unseren eigenen vier Wänden sitzen, erscheinen uns selbst die manchmal bis vier Uhr morgens ausartenden Nachtschichten eines Umbruchssamstags fast schon wieder verlockend.

LN-Alltag in Zeiten der Pandemie

Die politischen Diskussionen jenseits der Heftproduktion fehlen uns gerade jetzt, denn auch wir schauen voller Sorge auf die derzeitigen Entwicklungen. Mit den Ereignissen der vergangenen Wochen haben sich die Grundlagen unseres Wirtschaftssystems im Bewusstsein vieler Menschen ganz von selbst in Frage gestellt. Eine logische Folge wäre es, die Krise als Chance für ein grundsätzliches Umsteuern zu begreifen und ab jetzt das Leben und die Sorge darum in den Mittelpunkt zu stellen: Dem, was nun „systemrelevant” genannt wird, etwa der Arbeit in der Pflege, Betreuung, Versorgung und Gesundheit, auch die Anerkennung zu geben, die sie verdient und sicherzustellen, dass die dahinterliegenden Strukturen keinen profitorientierten Prinzipien folgen.

Die Doppelmoral von Politiker*innen aller Couleur, die Solidarität zum neuen Begriff der Stunde gemacht haben, zeigt sich nicht zuletzt daran, wer und was nun geschützt werden soll oder für wen Grenzen geöffnet oder geschlossen werden. Die Krise betrifft uns alle, aber nicht alle gleich.

„Nicht alle Leben sind es wert, in dieser Krise versorgt, geschützt oder anerkannt zu werden”, sagt auch die feministische Aktivistin Javiera Manzi in einem Interview für diese Ausgabe über die Politik der chilenischen Regierung. Gerade diejenigen, die ohnehin schon kämpfen müssen, um das alltägliche (Über-)Leben zu sichern, werden auch aus der Corona-Pandemie wieder als Verlierer*innen herausgehen – ohne dass jemand ihren Lohnausfall bezahlt, ihre Mietschulden übernimmt oder die Voraussetzungen dafür schafft, Abstand halten zu können. Und wie sich so oft zeigt, müssen sie sich selbst organisieren, um fehlende staatliche Schutzmaßnahmen aufzufangen. Das bringt auch in dieser Krise wieder beeindruckende Solidaritätsaktionen hervor. Sei es in Chile, wo das soziale Gefüge seit den monatelangen Protesten so intakt ist, wie vielleicht nie zuvor und die feministische Bewegung mit einem Notfallplan für die kollektive Sorgearbeit reagiert hat. Oder in Kolumbien, wo sich mit Beginn der Ausgangssperre spontane Kollektive zum Sammeln und Verteilen von Lebensmittelspendengegründet haben. Die indigenen und kleinbäuerlichen Kooperativen, die in Ecuador die Versorgung mit Nahrungsmitteln gegen die Preisspekulation sicherstellen. Die Landlosenbewegung MST in Brasilien oder die UTT in Argentinien, die tonnenweise selbst angebaute Lebensmittel verschenken. Die Menschen in den Favelas von Brasilien, die Netzwerke gründeten, um die Nachbarschaft mit Hygiene-Artikeln, Lebensmitteln und Informationen über COVID-19 zu versorgen.

Beeindruckende Solidaritätsaktionen

Sowohl die alten wie  die neuen Probleme, die das Coronavirus derzeit an die Oberfläche bringt, als auch, wie Menschen auf sie reagieren, geben uns also mehr als genug Gründe, an unseren Themen dran zu bleiben und weiter zu berichten. Dass wir trotz der widrigen Umstände jetzt unsere zweite digitale Produktion hinter uns haben, zeigt, dass es auch bei uns Spielraum für ungeahnte Veränderungen gibt. Das macht uns auch ein wenig stolz. Sehr viel Mut und Kraft gebt auch ihr uns dafür, liebe Leser*innen und Abonnent*innen. Danke für euren Zuspruch, euer Lob, eure konstruktive Kritik in den vergangenen Wochen und dafür, dass ihr uns (teilweise schon mehr als 40 Jahre) die Treue haltet! Bleibt gesund, bleibt solidarisch und − um einen Zuspruch einer unserer Leserinnen zu zitieren: “Bildet Antikörper!” – Antikörper gegen die Zumutungen des kapitalistischen Krisenalltags.

// ALLEIN DIE SOLIDARITÄT KANN UNS RETTEN

Ein vorbildlicher Demokrat ist Nayib Bukele ganz sicher nicht: Das zeigte El Salvadors junger Präsident, als er Anfang Februar das Parlamentsgebäude von Soldat*innen und Polizist*innen besetzen ließ, um ein Paket zur Finanzierung seiner repressiven Sicherheitspolitik durchzusetzen (siehe LN 549). Dieses verfassungswidrige Vorgehen war den hiesigen Medien kaum mehr als eine Nachricht wert. Nicht viel anders verhält es sich in Bezug auf Bukeles bemerkenswertes Vorgehen gegen das Coronavirus. Nach nur fünf nachgewiesenen Fällen im Land erließ er weitreichende Maßnahmen: Alle, die sich in „obligatorischer Quarantäne“ befänden, könnten ihre Zahlungen für Miet-, Wasser- und Telefon für drei Monate aussetzen, ebenso wie Kredit- und Zinszahlungen. 

In seiner viral gehenden Videobotschaft wandte sich der ehemalige Unternehmer Bukele an die Vertreter*innen der Geschäftswelt: „Ich garantiere Dir, was Dich am wenigsten interessiert, wenn Du ein Beatmungsgerät brauchst, ist Dein Bankkonto. Wie viel sind Dir Deine Mutter wert, Dein Vater, Deine Kinder? Gut, Du wirst vielleicht 20 Prozent Deines Kapitals verlieren, aber es gibt Menschen, die heute Abend nichts zu essen haben. Das Einzige, was uns jetzt rettet, ist Solidarität.“

Bukele neigt zur One-Man-Show, daher wird sich zeigen müssen, ob seinen Worten entsprechende Taten folgen. Unbestreitbar trifft allerdings seine Kernbotschaft zu: „Das Einzige was uns jetzt rettet, ist Solidarität.“

 Nicht die Solidarität, sondern das Virus rettet derzeit Chiles Präsident Sebastián Piñera. Die rechte Regierung hat unter dem Schirm des Seuchenschutzes endlich das geeignete Mittel gefunden, um die seit mehr als fünf Monaten andauernden Proteste zu seinem Vorteil und dem der herrschenden Elite zu beenden. Ein Negativbeispiel dafür, wie die Aussetzung von Grundrechten missbraucht werden kann.
 
Nicht alle Regierungschefs in Lateinamerika nehmen das Corona-Virus ernst. Von extremer Ignoranz ist die Situation in Nicaragua gekennzeichnet, wo weiterhin zu Massenveranstaltungen aufgerufen wird. Bereits zu Beginn der Krise hatte Rosario Murillo, die Ehefrau von Präsident Ortega, unter dem Motto „Liebe in Zeiten von Covid-19″ zu einer Demonstration mobilisiert. Die staatlichen Institutionen sind nicht geschlossen, Schulen und Universitäten bleiben weiterhin geöffnet. 
 
Auch in Brasilien versucht der rechtsradikale Präsident Jair Bolsonaro mit allen Mitteln, den Stillstand des öffentlichen Lebens zu unterbinden und erklärt sich in täglichen Videobotschaften als willfähriger Handlanger seiner Unterstützer*innen: „Das Land muss zur Normalität zurückkehren. Eine Wirtschaftskrise ist viel tödlicher als diese kleine Grippe.“ Ein Diskurs, der auch in Europa in den vergangenen Tagen zunehmend an Fahrt aufnimmt. 
 
In der Corona-Pandemie zeigt sich überdeutlich, dass ein System, in dem Gesundheit zur Ware erklärt wurde, nicht dazu geeignet ist, auf eine weltweite Katastrophe angemessen zu reagieren. Der Wettbewerb der Konzerne, um Tests, Impfstoffe und Medikamente zuerst „auf den Markt zu bringen“, überlagert die gemeinsamen Forschungsanstrengungen und Normen der Weltgesundheitsorganisation. Internationale Lieferketten für Teststäbchen und Atemschutzmasken sind ebenso wenig pandemie-kompatibel wie eine privatisierte Gesundheitsversorgung. 
 
Wenn die Welt “nach Corona” tatsächlich nie wieder so sein wird wie zuvor, wie überall zu hören ist, dann müssen wir uns schon jetzt dafür einsetzen, dass nach der Pandemie die demokratischen Rechte nicht nur wieder hergestellt, sondern erweitert werden. Menschenrechte sind keine Ware, weder das Recht auf Gesundheit noch das Recht auf Wohnen, auf Nahrung oder auf Wasser. Wenn uns heute allein die Solidarität rettet, dann muss dies auch in Post-Corona-Zeiten gelten. Anders als in der Finanzkrise sollten und müssen wir die neuen Erkenntnisse und Handlungsspielräume, die sich in der aktuellen Krise eröffnen, nutzen.

IM KLASSENZIMMER ZU HAUSE

Fotos: Inés Ripari

Nur ein Schildchen hinter dem Eisengittertor weist darauf hin, dass sich in dem grauen Hochhaus eine Schule befindet. Ansonsten könnte man das sechsstöckige Gebäude auch für eine Bauruine halten. Hier am Bahnhof Chacarita in Buenos Aires befand sich früher die Hauptverwaltung der argentinischen Eisenbahngesellschaft. Als diese 2011 den Langstreckenverkehr einstellte, wurde das Gebäude besetzt. Noch im gleichen Jahr zog die „Mocha Celis“ ein, eine selbstorganisierte Schule für Erwachsenenbildung, gegründet von und für trans Personen und Travestis. Der Begriff Travesti wurde in den Neunzigern von Lohana Berkins als politische Identität und Kampfbegriff geprägt, der nicht nur eine Gender- sondern auch eine Klassenperspektive umfasst und die spezifische Lebensrealität von trans Personen in Lateinamerika beschreibt. Die prekären Lebensbedingungen und die ständige wirtschaftliche Krisensituation im Falle Argentiniens verschärfen die Gewalt, der Travestis im Bildungs- und Gesundheitssystem oder beim Wohnen und Arbeiten ausgesetzt sind.

„Wie viele Travestis sitzen mit euch im Psychologieseminar?“

Die Besetzung alter Fabrikgebäude für Klassenzimmer ging aus einer wirtschaftlichen Notsituation hervor: als staatliche Strukturen zusammenbrachen, organisierten sich Menschen in den Vierteln und entwickelten alternative Bildungsangebote. So entstand auch die Schule in Chacarita, in der Menschen innerhalb von drei Jahren ihren Sekundarschulabschluss, das Bachillerato, nachholen können. Der Name erinnert an die Travesti-Aktivistin Mocha Celis aus der argentinischen Provinz Tucumán, die 1996 von einem Polizisten ermordet wurde. Sie hatte nie lesen und schreiben gelernt.

Direktor Francisco Quiñones ist Gründungsmitglied der Mocha.

Ein enger Fahrstuhl voller Graffitis bringt mich in den fünften Stock. Die Tür des Aufzugs klemmt beim Öffnen. Dann stehe ich in der großen, lichtdurchfluteten Aula der „Mocha“. Es ist Samstagnachmittag, in der Aula sitzen Schüler*innen im Alter von 16 bis 40 zusammen an den Hausaufgaben. Auch außerhalb der Unterrichtszeit dient die Schule als Treffpunkt. Aus diesem Klassenzimmer hört man Tritte gegen Boxpratzen, aus jenem Stimmübungen und Tonleitern. Im dritten Raum empfängt der Direktor Francisco Quiñones zur Pressekonferenz. Seit es so viele Medienanfragen gibt, finden diese Treffen regelmäßig statt. Quiñones ist 35 Jahre alt und Gründungsmitglied der Mocha. „Warum habe ich euch alle zusammen eingeladen? Erstens, weil immer die gleichen Fragen gestellt werden. Zweitens, weil wir den akademischen Extraktivismus satt haben. Damit meine ich, dass Leute herkommen und auf der Grundlage der Erfahrungen der Schüler*innen ihre Masterarbeiten und Reportagen schreiben. Dafür bekommen sie akademische Titel oder Geld. Aber wir haben meist nichts davon. Wir kämpfen weiter jeden Monat damit, die Strom- und Wasserrechnungen zu bezahlen.“

Nach mehr als 30 Jahren zurück ins Klassenzimmer

Tatsächlich sitzen in der Runde Psychologie- und Soziologiestudierende und drei Journalist*innen, eine davon bin ich. Manche nicken, alle halten die Klappe. „Das heißt nicht, dass ihr nicht willkommen seid. Ich will nur auf strukturelle Probleme aufmerksam machen: Wie viele Travestis kennt ihr, die mit euch im Psychologieseminar sitzen? Wahrscheinlich keine. Das liegt nicht an mangelndem Interesse, sondern daran, dass bestimmte Menschen früh aus dem Schulsystem gekickt werden.“

Nicht mal zwei von zehn trans Frauen schließen in Argentinien die Schule ab, neun von zehn werden Sexarbeiter*innen. Das steht auf einem gemeinsamen Infoflyer des argentinischen Trans-Gedenkarchivs und der Mocha. Seit 2012 sammelt das Archiv Fotos, Briefe und Postkarten einer Community, deren Geschichten und Kämpfe sonst kaum dokumentiert sind. „90 Prozent werden Opfer von Gewalt, 85 Prozent von Missbrauch durch Polizisten“, heißt es weiter. Die Lebenserwartung einer trans Frau in Argentinien liegt bei 35 Jahren, nicht einmal halb so lang wie der Durchschnitt. Trans Frauen über 35 werden als Überlebende bezeichnet. „Wenn eine Travesti eine Universität betritt, dann verändert das das Leben dieser Travesti. Viele Travestis an der Universität verändern die Gesellschaft.“ Dieses Zitat von Lohana Berkins, einer der treibenden Kräfte bei der Konzeption der Schule, haben Schüler*innen in bunter Schrift auf die weiße Wand der Aula gemalt.

Quiñones macht eine kurze Pause. „Trotzdem gut, dass ihr da seid. Wir brauchen nämlich Unterstützung: Kauft und lest Bücher von Lohana und anderen Travesti-Aktivist*innen. Organisiert Screenings für den Dokumentarfilm* der Mocha, den Schüler*innen selbst gedreht haben. Esst hier in der Cafeteria statt bei McDonalds. Die Schüler*innen können das Geld gut gebrauchen. Fast alle sind seit Jahren vom klassischen Arbeitsmarkt ausgeschlossen.“

Erste legale Anstellung nach Jahren in der kriminalisierten Sexarbeit

Seit Juli 2018 gibt es in Argentinien ein Gesetzesprojekt, nach dem ein Prozent aller öffentlichen Stellen von trans Personen und Travestis besetzt werden soll. In den letzten Jahren gab es Fortschritte für LGBTIQ-Rechte mit weltweitem Alleinstellungscharakter, etwa 2012 das Gesetz zur Selbstbestimmung der Geschlechtsidentität. Aber Gesetze wie dieses werden oft nur halbherzig umgesetzt. Nur vier von 24 Provinzen haben legislative Schritte für die Quote eingeleitet, erfüllt wird sie nirgends.

Dass Quiñones, einer der wenigen cis Männer in der Mocha, den formellen Posten des Direktors besetzt, liegt an Ausschlüssen aufgrund von Klasse und Geschlecht. Er ist der Einzige mit dem notwendigen Studienabschluss und hofft, den Posten bald an eine*n der Schüler*innen abgeben zu können. Seit 2014 wird die Schule vom Bildungsministerium anerkannt. Die erste Zeugnisverleihung im Festsaal des Ministeriums nutzte Quiñones, um auf die prekäre Situation der Einrichtung aufmerksam zu machen. Der Staat bezahlt 72 Lehrstunden pro Woche und zusätzlich drei Verwaltungsstellen. Je 20.000 argentinische Pesos gibt es dafür, das sind umgerechnet etwa 330 Euro. Für Psycholog*innen oder Sozialarbeiter*innen gibt es kein Budget.

Für fast alle Dozent*innen handelt es sich um die erste legale Anstellung nach Jahren in der kriminalisierten Sexarbeit. Meist teilen sich mehrere Personen die Stellen und damit auch das Geld. „Von diesen Leuten kann man kaum verlangen, einen Teil ihres Gehalts für die Stromrechnung abzudrücken“, so Quiñones. Alle Schüler*innen der Mocha haben Anspruch auf ein städtisches Stipendium für Geringverdienende über 10.000 Pesos im Jahr, etwa 165 Euro. Trotz des expliziten Fokus auf Gender ist die Schule offen für alle, die Diskriminierung im Bildungssystem erfahren: alleinerziehende Mütter, Migrant*innen, alte Menschen.

Viviana González leitet die Selbstverteidigungskurse

Viviana González setzt sich auf einen Tisch im Klassenzimmer. Sie hat gerade den Selbstverteidigungskurs im Nebenraum gegeben und trägt noch ihr Sportoutfit. González hat 2018 ihren Abschluss gemacht und studiert nun Literaturwissenschaften – als erste und bislang einzige trans Frau am Institut. „Als Kind hatte ich wie jede arme Person nur einen Traum: Ich wollte, dass was aus mir wird, wenn ich groß bin. Ich wollte Lehrerin werden. Und ich liebte es, Gedichte zu schreiben.“

„Zum ersten Mal im Leben mache ich das, was mir gefällt.“

Dann erzählt González, wie sie mit zwölf auf keiner Sekundarschule aufgenommen wurde: „Sie schauten in meinen Pass und meinten: ,Du bist ein Junge, du kannst hier nicht verkleidet herkommen‘. Wir versuchten es bei 30 Schulen, überall das Gleiche. Das war das Ende meiner Schulkarriere und des Gedichteschreibens.“ Ab dann verdiente sie Geld auf dem Straßenstrich der Panamericana. „Das Einzige, was mir Halt gab, war der Kampfsport. Mit drei Jahren fing ich an, mit zwölf hatte ich den Schwarzen Gürtel in Karate. Gleichzeitig war das Nachtleben auf der Straße meine Realität. Das hieß Drogen, vor der Polizei wegrennen, verprügelt und vergewaltigt werden. Ich verlor viele Freund*innen in diesen Jahren.“

González spricht schnell, erzählt chronologisch von den Ereignissen ihrer Vergangenheit. „Beim Kampfsport trat ich weiter mit meinem männlichen Namen an und obwohl die Hormontherapie mich schwächte, gewann ich alle Turniere. Ich kämpfte mit der argentinischen Fahne auf meinem Trikot, gewann Medaillen für ein Land, das meine Identität nicht akzeptierte.“ Von der Mocha erfuhr González schließlich durch Bekannte aus Palermo. Im Stadtteil von Buenos Aires, den viele mit hippen Bars verbinden, befindet sich in einem unbeleuchteten Park auch einer der zentralen Straßenstriche. „Zuerst konnte ich mir nicht vorstellen, nach mehr als 30 Jahren zurück in ein Klassenzimmer zu gehen. Verrückt war, dass ich in der Schule viele Bekannte aus Palermo wiedertraf. Ich sah sie zum ersten Mal tagsüber und in Alltagskleidung, sprach mit ihnen und merkte, dass wir sehr ähnliche Geschichten hatten.“ Nachmittags saß sie im Unterricht, nachts verdiente sie weiter ihr Geld auf der Straße. „Es war anstrengend, ich schlief kaum. Ich wollte nicht weiter anschaffen gehen. Ich bin nicht gegen Sexarbeit, ich habe viele Jahre davon gelebt. Ich finde nur, dass Menschen die Möglichkeit haben sollten, sich frei dafür zu entscheiden.“

„Die Mocha ist mein Zuhause.“

Jetzt, mit 49, pendelt González zwischen Vorlesungen und Sportkursen. Für die Mocha gibt sie Selbstverteidigungskurse auf Spendenbasis, für Leute von draußen gegen Bezahlung – eine Idee ihrer Mitschüler*innen. Als Schüler*innenvertreterin setzt sie sich für eine emanzipatorische Sexualerziehung ein. Die Mocha wird Mitte 2020 ihren eigenen Sexualkunde-Kit herausgeben, mit pädagogischen Spielen und interaktiven Videos. Seit 2006 haben Schüler*innen in Argentinien ein Recht auf regelmäßigen Sexualkundeunterricht. Aber auch hier hapert es an der Umsetzung, vor allem während der Amtszeit Mauricio Macris von 2015 bis 2019 blieben emanzipatorische Gesetze in den konservativ besetzten Institutionen stecken. In die Verhandlungen mit der neuen Regierung unter Alberto Fernández werden deswegen große Hoffnungen gesetzt.

Vieles in der Mocha läuft anders als in den meisten Schulen. In Plena sprechen Dozierende und Schüler*innen über das Zusammenleben und treffen gemeinsam Entscheidungen. „Wir versuchen uns an die Lebensrealität der Schüler*innen anzupassen. Die meisten Schüler*innen verdienen abends und nachts ihr Geld, daher ist unser Unterricht nachmittags“, erklärt Quiñones. „Wir organisieren Lern- und Nachhilfegruppen, denn in jedem Jahrgang kommen Menschen mit unterschiedlichen Wissensständen zusammen.“

Die Mocha war weltweit die erste Schule, die die Situation von trans Personen und Travestis explizit in den Blick nahm. Mittlerweile gibt es ähnliche Schulen im argentinischen Tucumán, eine Grundschule in Santiago de Chile und Univorbereitungskurse für trans Personen und Travesti in Belo Horizonte in Brasilien.

Lautaro Rosa verdient mit der Cafeteria der Mocha sein Geld

Lautaro Rosa hat gerade die Cafeteria geschlossen und sich zu uns gesetzt. „Hier läuft es anders als in der Gesellschaft. Nicht wir müssen uns anpassen, sondern die Gesellschaft. Das ist unser Raum. Wir sind, wie wir sind. Wenn Leute nicht darauf klar kommen, einen trans Mann mit Titten zu sehen, dann sollen sie einfach gehen.“ Rosa ist 39 Jahre alt und seit drei Jahren an der Mocha, seitdem hat er schon zweimal abgebrochen und wieder angefangen: „Es ist nicht so, dass ich nicht lernen wollte. Ich musste mich mein ganzes Leben lang zwischen Geld und Bildung entscheiden. Ich bin alleinerziehender trans Vater, meine Tochter lebt bei mir, ich muss die Miete zahlen. Aber ich hatte immer im Hinterkopf, dass ich die Schule fertigmachen will.“ Seit einem Jahr verdient Rosa mit der Cafeteria sein Geld. Er schaut auf seine Hände und erzählt mit stockender Stimme weiter, mehrere Personen im Raum wischen sich dabei Tränen aus dem Gesicht. „Zum ersten Mal im Leben mache ich das, was mir gefällt. Ich will um sechs Uhr morgens aufstehen und zwei Stunden mit dem Bus hierherfahren. Ich will bis neun Uhr bleiben, denn die Mocha ist mein Zuhause. Ich hatte vorher nie ein Zuhause und auch keine Schule. So geht es den meisten hier.“ Nach dem Abschluss will er Soziale Arbeit studieren. „Ich weiß, was es heißt, arm zu sein, ausgegrenzt zu werden. Aber ich habe auch erfahren, dass man da rauskommt.“

Einige Wochen später findet in der Aula eine Fotoausstellung des Trans-Gedenkarchivs statt. Es ist brechend voll, viele Schüler*innen haben sich schick gemacht. Auf den schmalen Schultischen stapeln sich Fotoalben, teilweise stammen die Dokumente aus den 1940er-Jahren. Im Zentrum der Aula stehen Selbstporträts von Schüler*innen der Mocha. Lautaro Rosa lacht selbstbewusst in die Kamera.

Viviana González ist aufgeregt. Sie tritt ans Mikrofon: „Ich musste viel in meinem Gedächtnis kramen, um das aufschreiben zu können. Ich hoffe, ihr mögt es.“ In Stakkatosätzen reiht sie Momentaufnahmen aus ihrem Leben aneinander, malt Bilder aus dem Alltag des Straßenstrichs, gedenkt Freund*innen und Bekannten, die nicht mehr leben. Nur wenig später wird Vivianas Gedicht in einer argentinischen Online-Zeitung veröffentlicht. Als nächstes will sie ein Buch schreiben.

DOCH DIE WAFFEN EXISTIEREN WEITER

Ein enttäuschtes Seufzen geht durch Saal 1 des Stuttgarter Landgerichts. Soeben hat Frank Maurer, vorsitzender Richter der 13. Großen Wirtschaftskammer, sein Urteil verlesen: zwei Bewährungsstrafen und drei Freisprüche für ehemalige Mitarbeiter*innen des Waffenherstellers Heckler & Koch (H&K). Die Staatsanwaltschaft hatte ihnen vorgeworfen, zwischen 2006 und 2009 Tausende Sturmgewehre vom Typ G36 in mexikanische Unruheprovinzen geliefert zu haben ­– ohne die nötigen Exportgenehmigungen. Maurer sieht es als erwiesen an, dass ein ehemaliger Vertriebsleiter sich der banden­­­­mäßigen Ausfuhr von Waffen mit erschlichenen Genehmigungen schuldig gemacht hat. Der Mann bekommt vom Gericht eine Bewährungsstrafe von 22 Monaten und eine Geldstrafe über 50.000 Euro. Eine Sachbearbeiterin wird wegen Beihilfe zu 17 Monaten auf Bewährung und 250 Stunden Sozialdienst verurteilt. Der Vorsitzende bleibt damit unter der Forderung der Staatsanwaltschaft, Freiheitsstrafen ohne Bewährung zu verhängen. Doch das Seufzen im Gerichtssaal gilt vor allem den Freisprüchen. Besonders pikant ist der für Peter B., früherer Landgerichts-Präsident, der später bei H&K zuständig für Kontakte zu den Behörden war. Verächtliches Gelächter kommt auf, als Maurer die Begründung für den Freispruch verliest: der Ex-Geschäftsführer habe lediglich „Formulierungsvorschläge unterbreitet“, die Indizien würden nicht für eine Verurteilung ausreichen. Darum, was die Mordwerkzeuge in Mexiko angerichtet haben, ging es in dem Prozess nicht. Das stellt Maurer noch einmal klar. Diesen Part haben andere übernommen.

 

Im Namen der Opfer deutscher Waffen Friedensaktivist*innen vor dem Stuttgarter Landgericht (Fotografin: Kerstin Hasenkopf)

Vor dem Gericht machen Friedensaktivist*innen mit einer Mahnwache auf die Opfer der Praktiken von H&K aufmerksam. Wieder. Schon zu Prozessbeginn im Mai 2018 erinnerten sie an den Fall Iguala im September 2014. Damals verschwanden 43 Lehramtsstudent*innen spurlos, nachdem sie von Polizist*innen und Kriminellen angegriffen worden waren, auch mit H&K-Gewehren. Sechs Menschen starben bei dem Angriff. Der Verbleib und das Schicksal der Verschwundenen sind bis heute ungewiss. Iguala liegt in Guerrero, einem der vier mexikanischen Bundesstaaten, in die keine Waffen exportiert werden dürfen. So will es die Bundesregierung – eigentlich.

Die Opfer der Waffen in Mexiko fanden keine Beachtung bei dem Prozess

Die Aktivist*innen in Stuttgart singen kurz vor der Urteilsverkündung von einer Gitarre begleitet Lieder, präsentieren Transparente und entzünden Kerzen. Unter ihnen ist Jürgen Grässlin, der 2010 die Strafanzeige gegen H&K stellte. Carola Hausotter, Koordinatorin der Deutschen Menschenrechtskoordination Mexiko, verliest einen Brief von Leonel Gutiérrez Solano. Seinem Bruder, einem Studenten der Universität Ayotzinapa, wurde von Polizisten in der Nacht des 26. September 2014 in den Kopf geschossen. Seitdem liegt er im Koma. In dem Brief steht: „Wir wissen, dass die Polizisten des Staates Guerrero, die auf die Studenten schossen und meinen Bruder mit einem Schuss in den Kopf lebensgefährlich verletzten, Waffen aus Deutschland besaßen. Es waren Waffen der Firma Heckler & Koch, die sie nie hätten erhalten dürfen.“
Hausotter sagt, dass die Familie gerne am Prozess beteiligt gewesen wäre, das Gericht dies jedoch nicht zugelassen habe. In seinem Brief formuliert Gutiérrez Solano deutlich seine Erwartung, „die Schuldigen“ zu bestrafen und den Opfern und ihren Angehörigen wenigstens etwas Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – auf die sie nach wie vor warten (siehe LN 533). Das Urteil wenig später erscheint vielen Beobachter*innen sehr milde. Von einer „Zwei-Klassen-Justiz“ spricht Grässlin. „Die Kleinen hängt man und die Großen lässt man laufen“, konstatiert er. Grässlins Anwalt Holger Rothbauer kritisiert die Rolle des Staates: „Mit diesem Urteil ist die gesamte Rüstungsexportkontrolle in diesem Land ad absurdum geführt, weil klar wird, dass Endverbleibserklärungen überhaupt keine sinnvolle Funktion haben und beliebig ausgetauscht und gefälscht werden können, ohne dass die Genehmigungsbehörden irgendetwas prüfen“, sagt er. In den Endverbleibserklärungen steht normalerweise, für welche Region die Waffen bestimmt sind. Das Gericht hat die Endverbleibserklärungen für Waffenexporte nicht als Bestandteil von Waffenexportgenehmigungen von Seiten des deutschen Staates gewertet. Deshalb sind die Waffenlieferungen in die verbotenen Bundesstaaten Mexikos nicht nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz, sondern ausschließlich nach dem Außenwirtschaftsgesetz strafbar, das weniger harte Strafen vorsieht.

Auch Cristina Valdivia vom Ökumenischen Büro für Frieden und Gerechtigkeit bedauert, dass die Opfer in Mexiko keine Beachtung im Prozess fanden. Außerdem seien keine Menschenrechtsverletzungen verhandelt worden, sondern lediglich Verstöße gegen das Außenwirtschaftsgesetz und das Kriegswaffenkontrollgesetz. Trotzdem erkenne sie einen „ersten kleinen Schritt zur Gerechtigkeit“, sagt Hausotter. Sie sei zuversichtlich, dass sich in Mexiko etwas tue. Der neue Präsident Andrés Manuel López Obrador hat nach dem Machtwechsel im Dezember 2018 eine neue Wahrheitskommission für Iguala eingesetzt. Das Unternehmen aus dem baden-württembergischen Oberndorf wird vom Richterspruch aus Stuttgart empfindlich getroffen. Im Jahr 2017 machte es 13,4 Millionen Euro Verlust, in den ersten neun Monaten 2018 vier Millionen Euro. Das Urteil sieht eine Strafe von 3,7 Millionen Euro vor, der Gegenwert der Waffen, die der Prozess behandelte. Das Geld würde an den deutschen Staat gehen, die Familien von Opfern in Mexiko werden nicht berücksichtigt. H&K findet „die Einziehung des gesamten Kaufpreises nicht nachvollziehbar“. Man habe die Aufklärung „aktiv unterstützt und nachhaltig Konsequenzen gezogen“, teilte die Firma mit. Der Waffenhersteller hat, ebenso wie die Staatsanwaltschaft und die verurteilten Mitarbeiter*innen Revision eingelegt. Damit geht das Verfahren vor den Bundesgerichtshof.

Der Stuttgarter Prozess ist nicht das einzige Verfahren bei dem gegen einen deutschen Hersteller wegen illegalen Waffenexports nach Lateinamerika geurteilt wird. Auch im Prozess gegen drei Ex-Manager vom in Eckernförde ansässigen Waffenhersteller SIG Sauer vor dem Landgericht Kiel (siehe Kurznachrichten) zeichnen sich Strafen ab. Doch die Waffen existieren auch nach den Urteilen weiter.

 

// NOTORISCHE VERSAGER

Es war ein Versagen mit Ansage. Die wenigsten Mexikaner*innen dürften überrascht gewesen sein, welch schwache Figur ihre politische Führung im Umgang mit den schweren Erbeben abgab. Diese ereigneten sich am 7. und 19. September im südlichen und zentralen Mexiko, erschütterten neben der Hauptstadt und angrenzenden Bundesstaaten weite Teile Oaxacas und Chiapas‘. In beiden Fällen war es die selbstorganisierte Bevölkerung, die schneller und effizienter Hilfe leistete. So aktivierte Präsident Enrique Peña Nieto von der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) am 19. September erst mit deutlicher Verzögerung den Katastrophennotfallplan „Plan MX“. Dieser sieht vor, das Militär in die betroffenen Gebiete zur Hilfe zu schicken. In der Zwischenzeit zogen Zivilpersonen Menschen mit bloßen Händen aus den Trümmern (siehe Titelfoto) und leisteten auf der Straße Notversorgung für Verletzte. Ohne die aufopferungsvolle Solidarität der zahllosen freiwilligen Helfer*innen, die tage- und nächtelang pausenlos arbeiteten, wären weit mehr Menschen gestorben.

Die Regierungen auf Landes- und Bundesebene hingegen simulierten oftmals nur Hilfe oder versuchten die Situation für sich politisch auszunutzen. So raubte die Regierung des Bundesstaats Morelos Spendengüter aus der Hauptstadt, um diese mit ihren Aufklebern zu versehen und als eigene Spenden zu deklarieren. Menschen aus den südmexikanischen Bundesstaaten Chiapas und Oaxaca berichteten, dass Hilfspakte oftmals nur an Anhänger*innen der Regierungsparteien übergeben wurden. Ebenso gibt es Aussagen von Augenzeug*innen, die berichten, wie ein LKW mit Hilfspaketen beladen vor einem zerstörten Haus hielt, Fotos machte – und die Pakete anschließend wieder mitnahm. Präsident Peña Nieto persönlich wollte in der Öffentlichkeit bella figura machen, indem er vor geladenen Fotograf*innen bei der Verladung der staatlichen Hilfspakete mit anpackte. Dumm nur, dass eine Videoaufnahme offenlegt, wie er vor der Aktion herumfeixt und in der organisierten Inszenierung die Kisten leer sind. Das Video ist ein Hit in den sozialen Medien.

Überhaupt kein Hit war dagegen die staatliche Krisenprävention. Seit Jahrzehnten bestehen strenge Bauvorschriften, die nach dem Erbeben 1985, das große Teile der Hauptstadt zerstörte, nochmals verstärkt wurden. Ebenso sind regelmäßige Überprüfungen der Bausubstanz vorgesehen. Wie kann es also sein, dass sogar neuere Gebäude jetzt einstürzten? Und wie kann es sein, dass ausgerechnet derjenige Ingenieur Schulgebäude nach dem Beben überprüfen soll, welcher der eben erst eingestürzten Schule Enrique Rébsamen im Jahr 2014 das Prädikat „perfekter Zustand“ verlieh? Ein Kollektiv aus Anwält*innen, Aktivist*innen und Akademiker*innen hat bei der Justizverwaltung von Mexiko-Stadt Klage gegen verschiedene städtische Autoritäten als auch private Bau- und Immobilienfirmen eingereicht. Der Vorwurf: fahrlässige Tötung.

Das staatliche Versagen bei dem Erbeben im Jahr 1985 war Initiationspunkt für das Entstehen einer sich selbst organisierenden Zivilgesellschaft, die das autoritäre korporatistische Herrschaftsmodell der PRI bekämpfte und demokratische Rechte einforderte. Echte Oppositionsparteien entstanden, unter anderem die Partei der Demokratischen Revolution (PRD), die seit 1997 in Mexiko-Stadt regiert. Das Machtmonopol der PRI zerbrach. Das staatliche Versagen bei den Beben im Jahr 2017 ist jedoch das aktuellste Beispiel dafür, dass sich zwar bisweilen das Parteibuch, nicht jedoch die Verantwortungslosigkeit und systematische Korruptheit der politischen Eliten geändert hat. Damals wie heute kann sich die Bevölkerung im Wesentlichen nur auf sich selbst verlassen. Trotz der Abwärtsspirale aus entgrenzter (staatlicher) Gewalt sowie weitgehender gesellschaftlicher Verrohung und Apathie, in der sich das Land seit einem guten Jahrzehnt befindet, ist die Selbstverständlichkeit, mit der Mexikaner*innen nun ihre Solidarität untereinander wiedergefunden haben, ein Hoffnungsschimmer.

„WIR BRAUCHEN DRINGEND INTERNATIONALE UNTERSTÜTZUNG“

Simón Trinidad sitzt seit 13 Jahren in den Vereinigten Staaten in Haft. Was waren die genauen Anklagepunkte?
Ihm wurden Drogenhandel und Entführung vorgeworfen, er wurde aber nur für die Mittäterschaft im zweiten Punkt schuldig gesprochen. Das ist eigentlich lächerlich, weil er gar nichts mit den Geiseln zu tun hatte. Das waren drei Amerikaner, die die Stellung von den FARC-Kämpfern im Land filmten und die Informationen dem Southern Kommando der amerikanischen Armee weiterleiteten. Laut Völkerrecht und des Genfer Abkommens, waren sie als Kriegsgefangene einzuordnen (2008 wurden sie, die Politikerin Ingrid Betancourt und andere in der Operation Jaqué befreit, Anm. d. Red.).

Welche Beweise lagen zum Zeitpunkt des Prozesses vor?
Es wurden falsche Zeugen zum Prozess gebracht. Lügner und Deserteure von der FARC-EP behaupteten, dass Simón Trinidad der Entführungschef der karibischen Küste sei – aber ich glaube, dass selbst die Jury nicht ganz daran geglaubt hat. Allerdings wurde auch ein kolumbianischer Diplomat als Zeuge hinzugezogen. Dieser erklärte, die FARC-EP seien für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich. Aber in Wahrheit – wie aus mehreren Berichten der UNO mittlerweile hervorgeht – war überwiegend die kolumbianische Regierung für solche Verbrechen verantwortlich.

Simón Trinidad wurde 2004 in Ecuador verhaftet und in die USA ausgeliefert. Warum war er dort?
Er war dort, um einen Mitarbeiter der UNO, James Lemoyne, zu treffen. Sie hatten sich während des Friedensprozesses in San Vicente del Caguán in Kolumbien kennengelernt. Die FARC-EP wollten sich wieder mit Lemoyne treffen um über einen Kriegsgefangenenaustausch zu beraten. Simón Trinidad war für diese Aufgabe zuständig. Es gab auch eine Mitteilung im Jahr 2003 von den FARC, aus der hervorgeht, dass Simón Trinidad die Guerilla in einem möglichen Dialog vertreten würde. Jedenfalls gab er während des Prozesses an, dass er die Nominierung angenommen hatte. Simón hatte überhaupt nichts mit den amerikanischen Kriegsgefangenen zu tun. Weder hatte er Kontrolle über sie noch über ihre Geiselnahme, dennoch wurde er schuldig gesprochen. Nachdem sein Fall zwei weitere Instanzen durchlaufen hatte, wurde seine Anklage wegen Drogenhandels fallen gelassen. Die Jury fand außer einigen sehr fragwürdigen Zeugenaussagen keine Beweise.

Sind Sie gegen diese falschen Zeugnisse vorgegangen?
Wir haben Einspruch eingelegt, dieser wurde aber verweigert.

Wie wollen Sie und das Verteidigungsteam Simón Trinidads Unschuld beweisen?
Zurzeit verfolgen wir den politischen Weg. Vermutlich wird der Fall in Zukunft erneut vor Gericht eröffnet werden, aber wann ist unklar. Wir informieren die Leute über seinen Fall und die Bedingungen, unter denen er inhaftiert ist sowie über die Notwendigkeit seiner Teilnahme am Friedensprozess und an der neuen Gesetzgebung in Kolumbien. Sowohl als ehemaliger Kämpfer als auch als Opfer des bewaffneten Konflikts muss er die Vorteile des Friedensabkommens in Kolumbien genießen können. Er ist Kolumbianer, alle ihm vorgeworfenen Delikte sind in Kolumbien geschehen. Er sollte Zugang zur Übergangsjustiz haben, die im Rahmen des Friedensabkommens in Kraft treten wird.

Warum sprechen Sie von Simón Trinidad als Opfer?
Er lebte unter ständiger Bedrohung, wegen seiner politischen Ideen ermordet zu werden. Er war Mitglied der Partei Unión Patriótica (UP) im Jahr 1987, viele seiner Kollegen und Freunde sind ermordet worden. Wegen der Bedrohungen musste seine Familie aus dem Land fliehen. Sie sind zuerst nach Mexiko gegangen und danach in die Vereinigten Staaten. Simón hatte nur zwei Optionen: entweder zusammen mit seiner Familie zu fliehen oder in den Bergen für die Guerilla zu kämpfen. In diesem Sinne ist er Opfer, genau wie seine Familie, die ins Exil gezwungen oder seine Schwester, die von Paramilitärs entführt wurde. Während des bewaffneten Konfliktes sind seine Frau und sein Kind von der kolumbianischen Regierung aufgesucht und während einer Bombardierung ermordet worden.

Die Regierung hatte sich im Laufe der Friedensverhandlungen in Havanna über die Freilassung Simón Trinidas geäußert, allerdings bis jetzt nicht gehandelt.
Das ist genau das Problem. Die Regierung äußerte sich, aber ein formaler Antrag wurde nie gestellt. Wir brauchen eine Regierung in Kolumbien, die versteht, dass diese Frage für den Staat wichtig ist. Es ist eine Voraussetzung des vollständigen Friedensprozesses. Ohne Simón Trinidad bleibt er unvollendet.

Und wie hoch stehen die Chancen, dass der politische Druck zu seiner Freilassung führt?
Es ist schwierig, aber nichts ist unmöglich. Als Beispiel nehmen wir den Fall der Cuban 5, die nach Jahren Öffentlichkeitsarbeit 2014 freigelassen wurden. Auch Oscar López Rivera (Unabhängigkeitskämpfer aus Puerto Rico, Anm. d. Red.) ist nach 36 Jahren Kampf entlassen worden. Wir müssen die geeigneten politischen und sozialen Verhältnisse schaffen, um die Freilassung von Simón Trinidad zu ermöglichen.

Angenommen Simón Trinidad würde entlassen und nach Kolumbien ausgeliefert werden, könnte die normale Strafjustiz ein Verfahren gegen ihn eröffnen?
Nein, sein Fall müsste durch die zuständige Behörde der Sonderjustiz für den Frieden eröffnet werden. Im Verlauf dieses Prozesses könnte er gegen eine Kaution freigelassen werden, bis die letzte Entscheidung getroffen ist. Handelt es sich um politisch motivierte Straftaten, kann er begnadigt werden.

Was können Sie uns als Anwalt von Simón Trinidad über ihn erzählen? Unter welchen Bedingungen hat er in den letzten 13 Jahren gelebt?
Die Bedingungen sind die schlechtesten im Gefängnissystem der Vereinigten Staaten. Er ist schon seit 13 Jahren in Isolationshaft, mit wenig bis fast gar keinem menschlichen Kontakt. Erst letztes Jahr verbesserte sich die Situation – als Ergebnis unserer Arbeit. Nun kann er sich mit drei anderen Gefangenen einige Stunden pro Tag unterhalten. Am Anfang gab es einen Mexikaner. Als die Wachleute merkten, dass sie auf Spanisch redeten, wurde der Mexikaner in eine andere Zelle verlegt. Simón darf 15 Minuten pro Monat telefonieren. Nur mit seinem Anwalt und mit einigen Mitgliedern seiner Familie darf er Kontakt haben, keiner darf ihm Nachrichten von außen mitteilen, oder durch uns vermitteln. Simón befindet sich in einer Zelle kleiner als 2×3 Meter, in die wenig Licht reinkommt. Trotzdem ist er nicht gebrochen worden. Er ist eine sehr intelligente Person. Fokussiert auf seine Vision eines besseren Kolumbiens bleibt er stark. Diese Kraft hält ihn davon ab, zusammenzubrechen. Ganz im Gegenteil, er will sich weiter für sein Land einsetzen. Momentan ist er gesund. Wir müssten für bessere Haftbedingungen hart kämpfen, er hat einige Beschwerden, die Situation verbessert sch jedoch. Wir arbeiten daran, Simón Trinidad zu befreien.

„Wird als Würde geschrieben und als Simón Trinidad gelesen“- Die Kampagne für die Freilassung der damaligen Farc-Anführer geht nun auf der Internationalen Arena los. Warum wurde sie ins Leben gerufen?
Simón Trinidad ist eine Person, die sich gegen die Staatsgewalt gewehrt hat. Als würdige Person bedürfen sein Leben und sein Kampf Beachtung. Es gibt Leute, die großes Interesse an dem Fall von Simón Trinidad haben, Menschenrechtsaktivisten oder die soziale Bewegung Marcha Patriótica. Diese Kampagne ist aus der gemeinsamen Anstrengung diverser Gruppen in Spanien und Kolumbien geboren. Gruppen, die dank einer ausführlichen Koordination und eines eisernen Willens, das Projekt in Gang gesetzt haben. Jetzt ist der richtige Moment um Druck auszuüben und die Notwendigkeit seiner Freilassung, nach Jahren der Ungerechtigkeit ans Tageslicht zu bringen.

Und was steht auf Ihrer Agenda? Mit welchen Organisationen oder Persönlichkeiten werden Sie sich treffen? Welche Aktionen treibt die Kampagne genau voran?

Wir stehen erst am Anfang. Wir sind auf der Suche nach entscheidender Unterstützung von anderen Organisationen, die sich mit dem Thema Menschenrechte beschäftigen und sich für Lateinamerika interessieren. Hier in Europa haben wir Treffen mit verschiedenen Abgeordneten geplant. In Deutschland habe ich mit Heike Hänsel von der Partei Die Linke gesprochen. Dann geht es los nach Brüssel, um mit Abgeordneten des europäischen Parlaments zu reden. Danach fliegen wir nach Spanien und treffen uns mit Mitgliedern des baskischen und des spanischen Parlaments. Ein Treffen mit Abgeordneten des englischen Parlaments ist auch vorgesehen. Wir brauchen dringend internationale Unterstützung. Diese Situation ist auch eine internationale Frage, nicht nur der Vereinigten Staaten oder Kolumbien. Die Europäische Union hat sich dazu verpflichtet, den Friedensprozess in Kolumbien zu begleiten. Und ohne Simón Trinidad, wie ich schon erwähnt habe, ist er unvollständig. Er hat das Recht, ins System der Übergangsjustiz aufgenommen zu werden. In den Vereinigten Staaten geht das einfach nicht.

Was hat die Kampagne in Berlin erreicht?
Selbst wenn das hier nur unsere erste Haltestelle ist, haben wir uns schon mit einigen Medien getroffen. Das macht die Kampagne sichtbarer. Heike Hänsel hat Interesse daran geäußert, einen Antrag an die USA zu stellen, damit eine Gruppe Abgeordneter Simón Trinidad im Gefängnis besuchen kann. Das ist natürlich kompliziert, weil er keinen Kontakt mit der Außenwelt haben darf. Selbst wenn die Erlaubnis verweigert wird, bleibt das Ganze ein symbolischer Akt, der erheblichen Druck auf die Regierung der USA vor den Augen der Weltgemeinschaft ausüben könnte. Würden sie die Genehmigung verweigern, wäre dies ein guter Grund, eine Demonstration direkt vor dem Gefängnis zu organisieren. Das sind erstmal nur Ideen und Pläne, die man weiter entwickeln muss. Alles in allem bin ich aber mit den Ergebnissen dieser ersten Phase sehr zufrieden.

WO IST SANTIAGO MALDONADO?

In der argentinischen Verfassung sind indigene Rechte verankert. Anspruch und Wirklichkeit klaffen jedoch weit auseinander: Das Recht der indigenen Bevölkerungen auf Schutz ihrer Territorien wird häufig mit Füßen getreten. Im Süden des Landes schwelt seit Jahren ein Konflikt mit den Mapuche, zu denen sich etwa 100.000 Menschen in Argentinien zugehörig fühlen. Bereits seit ihrer Vertreibung und Dezimierung in der Kolonialzeit fordern die Mapuche ihre Gebiete zurück. Doch erst als in den neunziger Jahren große Ländereien in Patagonien an private Investor*innen verkauft wurden und mit Öl- und Gasbohrungen unter den Regierungen der Kirchners (2003-2015) fortgeschritten wurde, brachen die Konflikte zwischen Mapuche und argentinischem Staat offen aus. Die derzeitige Regierung von Mauricio Macri versucht, die Mapuche als Terrorist*innen und Gefahr für die innere Sicherheit darzustellen. Sie hat sogar nachweislich den argentinischen Geheimdienst mit der Aufgabe betraut, Delikte zu erfinden, die die Indigenen hinter Gitter bringen.

Auch das lof (“Gemeinde” auf Mapudungún) Cushamen gehört zum Konfliktgebiet, da es auf dem 900.000 Hektar umfassenden Grundstück des italienischen Kleiderherstellers und Multimillionärs Luciano Benetton liegt. Nach dem Staat und den Provinzen besitzt Benetton am meisten Land in Argentinien. Mehrmals versuchte die Polizei bereits gewaltsam das lof zu räumen. Ihr lonko (“Anführer”), Facundo Jones Huala, sitzt seit Ende Juni im Gefängnis.

Am 1. August griff die Polizei bei einer Straßenblockade für die Freilassung Hualas erneut hart durch. Laut der Aussage von Zeug*innen ging die Polizei mit Schusswaffen gegen die Mapuche vor und brannte deren Zelte nieder. Auch Santiago Maldonado war vor Ort. Maldonado ist selbst kein Mapuche, solidarisiert sich aber mit ihren Forderungen und war zu diesem Zweck in die Gemeinde gereist. Nach dem Angriff der Polizei floh er mit den anderen Aktivist*innen in Richtung eines Flusses. Da er jedoch nicht schwimmen kann, kehrte er auf halbem Weg wieder um. Maldonado versteckte sich in einem Busch, wo die Polizei ihn aufspürte. Die Polizeibeamt*innen verprügelten den jungen Mann, zerrten ihn in ihr Polizeiauto und verschwanden. Laut der Mapuche leitete Pablo Noceti, die rechte Hand von Innenministerin Patricia Bullrich und Vorsitzender des Kabinetts des Ministeriums für innere Sicherheit, die Operation. Dies konnte später durch Fotos und Filmaufnahmen belegt werden.

Nach dem Verschwinden von Santiago Maldonado machten zahlreiche Gerüchte die Runde. Zuerst äußerte die Regierung Zweifel daran, dass er zum Tatzeitpunkt überhaupt am Ort des Geschehens war. Bald fanden Ermittler*innen jedoch in dem Gebüsch, wo sich der Aktivist laut Zeugenaussagen versteckt gehalten hatte, seine Mütze und Blutspuren. Die Auswertung der DNA ist noch nicht abgeschlossen. Regierungsnahe Medien verbreiteten die Aussagen von Personen, die Maldonado gesehen oder sogar im Auto mitgenommen haben wollten. Tatsächlich handelte es sich jedoch nicht um den Verschwundenen. Innenministerin Bullrich ließ verlauten, dass die Familie Maldonado nicht ausreichend mit der Justiz kooperiere, weshalb die Ermittlungen nur schleppend vorankämen.

Die Regierung kommt zunehmend in Erklärungsnöte.

Die Regierung kommt zunehmend in Erklärungsnöte. Dafür sorgt auch eine Liste der unterlassenen oder verspätet eingeleiteten Maßnahmen durch die Verantwortlichen. Denn inzwischen gibt es Informationen darüber, dass auf dem Grundstück Benettons, nahe Cushamen, ein Posten der Militärpolizei stationiert ist. Von dort aus koordiniert die Polizei Aktionen gegen die Mapuche. Doch trotz der Aussagen einiger Zeug*innen, Maldonado sei dorthin verschleppt worden, ordnete der verantwortliche Richter bislang keine Durchsuchung an. Ebenso wenig wurden die Telefonate von Pablo Noceti mit der Polizei ausgewertet. Die Begründung: Es läge kein Verdacht gegen Noceti vor. Menschenrechtsorganisationen sind überzeugt, dass die Ministerin selbst ein Vorankommen bei der Suche nach Maldonado verhindere. Sie fordern ebenso wie viele andere Argentinier*innen ihren Rücktritt.

Währenddessen haben die Familie Maldonado und eine Reihe sozialer und politischer Organisationen eine Öffentlichkeitskampagne gestartet. “Lebend haben sie ihn mitgenommen, lebend wollen wir ihn zurück – JETZT” lautet das Motto, das jede Aktion begleitet. Das Gesicht des 28-Jährigen und die Frage nach seinem Verbleib haben inzwischen die Grenzen des Landes überschritten. Fotos machen die Runde, auf denen Persönlichkeiten wie Noam Chomsky oder die Fraktion von Podemos im spanischen Parlament Poster mit Maldonados Konterfei hochhalten. Hinzu kommen Solidaritätsaktionen vor der argentinischen Botschaft in unterschiedlichen Ländern – so auch in Berlin am 1. September. Auch Lieder, Gottesdienste und Nachtwachen sind Teil der Kampagne. “Es ist entscheidend, soviel Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen, um Druck auf die Verantwortlichen auszuüben. Nur so können wir hoffen, dass die Untersuchungen weitergehen, Santiago lebendig auftaucht und niemand ungestraft davonkommt, so wie es leider schon in anderen Fällen geschehen ist”, sagt Roberto Cipriano, Anwalt und Vorsitzender des Exekutivstabs der Gedächtniskommission der Provinz von Buenos Aires, der als Nebenkläger an dem Fall beteiligt ist.

Am 1. September, einen Monat nach dem Verschwinden Maldonados, fand in Buenos Aires eine Demonstration statt. Mehr als 250.000 Menschen versammelten sich auf der zentralen Plaza de Mayo. Am Ende der Demonstration lieferten sich Polizei und Demonstrant*innen Auseinandersetzungen. Mehr als 30 Personen wurden festgenommen. Zahlreiche Hinweise darauf, dass Polizeibeamte den Protestzug infiltriert und Gewalt provoziert hätten, sorgten für Empörung in der Bevölkerung. Die Festgenommenen mussten jedoch nach 48 Stunden freigelassen werden, da es keine Beweise gab und soziale Bewegungen starken Druck ausübten. Ein kleiner Erfolg für die Protestbewegung. Doch von Maldonado fehlt nach wie vor jede Spur…

„BESSER LEBEN OHNE KOHLE”

El Cerrejón – so nannten die Wayúu einst den heiligen Berg. Heilig, weil er ihnen seit Jahrhunderten Medizinpflanzen spendete und das spirituelle Erbe der Gemeinschaft, der größten indigenen Gruppe Kolumbiens, barg. Heute steht El Cerrejón für einen Großkonzern, eine Mine, ein Loch, Zerstörung. Der Berg ist ausgehöhlt, die Menschen vertrieben.

Samuel Arregoces ist Sprecher der afrokolumbianischen Gemeinde Tabaco und wurde 2001 selbst Opfer einer gewaltvollen Vertreibung durch El Cerrejón. Der gesamte Ort wurde dem Unternehmen übergeben, um dort weiter Kohleabbau zu betreiben. Bis heute warten die Menschen von Tabaco darauf, dass ein Ort für die Neugründung ihrer Gemeinde bereitgestellt wird.

„Es geht hier um mehr als die physische Trennung zwischen Mensch und Territorium“

„Es geht hier um mehr als die physische Trennung zwischen Mensch und Territorium“, schildert Arregoces den Verlust. Mit der Vertreibung und Hinauszögerung der Umsiedlung sterbe etwas in der Gemeinschaft, im sozialen Gefüge. Der Aktivist ringt um Worte. „Unsere Kinder verlieren das Bewusstsein für die anzestrale Mythologie, hören auf zu träumen“. Ein wesentlicher Bestandteil der Wayúu-Spiritualität ginge somit verloren. „Der Verlust dieses Gedächtnisses des Territoriums ist irreparabel“, sagt Arregoces.

Hinzu kommt, dass die Dorfgemeinschaft beständig unter Druck von außen durch den Bergbaukonzern steht. Durch unterschiedliche Strategien wie zum Beispiel lukrative Jobangebote versucht El Cerrejón, den Zusammenhalt im Widerstand zu schwächen. Dass diese Strategie der internen Spaltung oft genug aufgeht, beschreibt Arregoces mit Bedauern: „Ein Riss zieht sich durch Familien und Freundschaften: Manche arbeiten in der Mine, andere verlieren durch sie jegliche Existenzgrundlage.“ Im Fall von Tabaco gestalte es sich darüber hinaus schwierig Widerstand zu organisieren, da alle ehemaligen Dorfmitglieder nun an verschiedenen Orten verstreut lebten. Geld für die Anreise und Organisation von Treffen sei fast nie da.

„Und daher sind wir nun hier in Deutschland, um uns mit sozialen Bewegungen und Aufklärungskampagnen zu vernetzen und internationalen Druck aufzubauen. Wenn man hier im Norden davon spricht, von der Kohle als Energiequelle wegzukommen, dann heißt das für uns notwendigerweise, dass man uns unsere Territorien zurückgibt.“ Arregoces verdeutlicht, dass es den Menschen von Tabaco nicht nur um die Einhaltung internationaler Standards und Verträge seitens des Unternehmens geht. Nein, auch ein definitives Ende des Extraktivismus in der Region, stehe auf ihrer Agenda. Die Rechtfertigung der Konzerne, Arbeitsplätze zu schaffen und den “Fortschritt” der Region zu befördern, hält Arregoces für einen Vorwand.

Tabaco ist nicht die einzige Gemeinde, die große Verluste zu beklagen hat. In den vergangenen drei Jahrzehnten wurden durch die Mine große Teile des Territoriums der Wayúu zerstört. Ganze Landstriche wurden verwüstet, Böden unbrauchbar gemacht, Biodiversität vernichtet und die Versteppung vorangetrieben. Wasserläufe versiegen aufgrund des riesigen Wasserbedarfs für die Mine, was die übliche kleinbäuerliche Subsistenzwirtschaft unmöglich macht. Vielen Dörfern droht nun mit der geplanten Erweiterung des Tagebaus bereits die zweite Vertreibung.

Die im Nordosten Kolumbiens gelegene Mine El Cerrejón ist der größte Steinkohletagebau der Welt.

Die auf der Halbinsel La Guajira im Nordosten Kolumbiens gelegene Mine El Cerrejón ist mit einer Gesamtfläche von 69.000 Hektar der größte Steinkohletagebau der Welt. Noch bis 2034 läuft der Vertrag zwischen den beteiligten Konzernen Anglo American aus Großbritannien, BHP Billiton aus Australien, dem Schweizer Glencore und dem kolumbianischen Staat. In dem „Plan Colombia País Minero 2019“ sieht Kolumbien eine Ausweitung aller bestehenden Minen vor, sowie eine Steigerung der landesweiten Kohleförderung. 98 Prozent der kolumbianischen Kohle sind für den Export bestimmt. Immer noch wird auf die Bergbauindustrie als „Lokomotive für die Entwicklung Kolumbiens“ gesetzt und verheerende Folgen für die Bevölkerung werden in Kauf genommen.

Während die Mine für die ansässige Bevölkerung den Inbegriff von Gewalt und Ungerechtigkeit darstellt, importieren Unternehmen wie Vattenfall, RWE oder E.ON weiterhin kolumbianische Kohle, um sie unter anderem in Deutschland zu verstromen. Die versprochene Energiewende in Deutschland, und das Einstellen der eigenen Steinkohleproduktion bis 2018, ist tatsächlich nur durch das Festhalten an Kohleimporten möglich. Deutschland allein importiert momentan pro Jahr rund 54 Millionen Tonnen Steinkohle und ist damit Spitzenreiter in der EU.

Rund ein Drittel der Importe stammt aus Russland. Nummer zwei der Importländer ist Kolumbien mit ungefähr 20 Prozent. Weiterhin gibt es kaum Transparenz über die Lieferbeziehungen, was der Missachtung von Grundrechten Tür und Tor öffnet. Laut einer aktuellen Studie von den Nichtregierungsorganisationen Germanwatch und MISEREOR betrifft ein Drittel der unternehmensbezogenen Vorwürfe zu Menschenrechtsverletzungen den Energie- und Rohstoffsektor. Anders als Frankreich, Großbritannien und die Niederlande hat sich Deutschland jedoch immer noch nicht dazu durchringen können, Gesetze mit Menschenrechtsvorgaben für Auslandsgeschäfte von Unternehmen zu verabschieden.

So kann ein hier geführter Protest gegen Vattenfall und Co. die Gemeinden in der Guajira ganz konkret in ihrem alltäglichen Widerstand unterstützen. Auch das ist eine Botschaft der drei Aktivist*innen. Die Ziele und Vorstellungen der betroffenen Menschen müssen in den Vordergrund gestellt werden, um Chancen und Möglichkeiten der Zusammenarbeit und Solidarität auszumachen.

Auftaktveranstaltung der Rundreise war die Filmvorführung des Dokumentarfilms La buena vida (Das gute Leben) von Jens Schanze in Berlin. Der Film erzählt die Geschichte der Dorfgemeinschaft Tamaquito am Río Ranchería, die 2011 zum Vorzeigeprojekt „gelungener Umsiedlung“ unter „Einhaltung internationaler Standards“ durch El Cerrejón werden sollte. Dies misslang vollauf.

Catalina Caro Galvis, ebenfalls Aktivistin und Bergbaureferentin der Umweltorganisation CENSAT – Agua Viva kann im Kampf gegen das Kohlegeschäft aber auch von Erfolgen berichten. So wurde im März 2017 ein Besuch einer Konzerndelegation von Vattenfall in der Guajira erwirkt, bei dem die Führungsebenen des schwedischen Staatskonzerns mit den Menschenrechtsverletzungen in den Minen Kolumbiens konfrontiert werden sollten. Die Besonderheit: Kolumbianische Aktivist*innen, unter anderem Caro Galvis, bestimmten den Ablauf dieses Besuches. Bis heute steht das versprochene Abschlussgutachten von Vattenfall jedoch aus. Caro Galvis vermutet, dass jede weitere zeitliche Verzögerung dazu führen wird, dass die Zustände abgeschwächt und beschönigt werden. Einmal mehr ruft sie daher dazu auf, von Deutschland aus Druck auf Vattenfall auszuüben und die Veröffentlichung eines weitreichenden und transparenten Gutachtens einzufordern.

Vattenfall spielt weiterhin auch im deutschen Kohleabbau eine bedeutende Rolle. Ironischerweise finanziert der Konzern seit 2006 das „Archiv verschwundener Orte“, in dem an die 136 Dörfer erinnert wird, die allein in der Lausitz seit 1924 dem Braunkohlebergbau ganz oder teilweise weichen mussten. Bei einer Fahrradtour um den Braunkohletagebau Jänschwalde an der deutsch-polnischen Grenze tauschen die kolumbianischen Gäste ihre Erfahrungen aus der Guajira mit deutschen und polnischen Klimaaktivist*innen aus. Arregoces zieht aus diesem Zusammentreffen vor allem eine Erkenntnis: dass Kohleabbau überall auf der Welt mit einer gewaltvollen Geschichte von Vertreibung und Umweltzerstörung verbunden ist – auch in Deutschland, dem vermeintlichen Vorreiter des Umweltschutzes und der Menschenrechte. Strategie, Logik und Argumentation der Konzerne seien überall auf der Welt gleich, wenn auch die Bedingungen der Vertreibung mehr oder weniger gewaltvoll sein können, schlussfolgert er aus der Rundreise. „Hinter all dem steht die gleiche Grundidee“, sagt er.

„Extraktivismus und Wirtschaftwachsum gehen vor, Menschen müssen weichen und Lebensräume werden zerstört.“

In den noch bis vor Kurzem bedrohten sächsischen Ortschaften Grabko, Atterwasch und Kerkwitz in der Lausitz können die Anwohner*innen mittlerweile aufatmen.

In den noch bis vor Kurzem bedrohten sächsischen Ortschaften Grabko, Atterwasch und Kerkwitz in der Lausitz können die Anwohner*innen mittlerweile aufatmen. Die jahrelangen Forderungen von Umweltschützer*innen erfüllen sich: Der Tagebau Jänschwalde wird nicht erweitert und Welzow-Süd in der Niederlausitz auf Eis gelegt. Fest steht nun: Spätestens 2050 ist Schluss mit der Kohleverstromung in der Lausitz. Und bereits im Oktober 2018 sollen in Jänschwalde erste Generatoren stillgelegt werden, voraussichtlich Mitte der 2020er Jahre wird das Feld ausgekohlt sein. Der Austausch bestärke alle Beteiligten einmal mehr, weiterzukämpfen, so die Aktivist*innen. Nicht nur der Protest, sondern auch die Möglichkeiten eines sozialverträglichen Kohleausstiegs und alternative Erwerbskonzepte müssten global gedacht werden.

Jakeline Romero Epiayu, Sprecherin von Fuerza de Mujeres Wayúu, macht sich darüber hinaus bei einem Vernetzungstreffen mit Berliner Anti-Kohle-Aktivist*innen von den Bewegungen Kohleausstieg Berlin, Ende Gelände und anderen dafür stark, das Thema Klimagerechtigkeit und Energie in den Diskurs um einen möglichen Frieden in Kolumbien zu integrieren. Sie fordert einen Friedensvertrag, in dem das aktuelle neoliberale Wirtschaftsmodell infrage gestellt wird. Eben dieses Modell sei seit jeher Triebfeder des Konfliktes. Romero Epiayu sagt das sowohl mit Blick auf die Situation der vertriebenen Gemeinden in der Guajira, als auch in Hinblick auf das Gebiet Catatumbo. Durch die dort herrschende Guerilla ist die Region bisher weitgehend von extraktivistischen Großprojekten verschont worden. Nun könnte Catatumbo jedoch als lukrativer Standort der Kohle- und Ölförderung ins Blickfeld der Konzerne geraten. Aktionen des zivilen Ungehorsams, wie sie Ende Gelände in den vergangenen Jahren in Deutschland durchführte, seien in Lateinamerika jedoch undenkbar, glaubt Romero Epiayu. „In Kolumbien gleicht eine Mine einer militärischen Festung und das Verhältnis zum Staat ist ein anderes“, erklärt sie. „Wenn du einen Tagebau betrittst, kann das jederzeit mit einem tödlichen Schuss enden.“ Gerade in der derzeitigen Implementierungsphase des Friedensabkommens werden Aktivist*innen in erhöhtem Maße Opfer von Kriminalisierung und Bedrohung. Auch Jakeline und Samuel erlebten bereits konkrete Gewaltandrohungen aufgrund ihrer politischen Tätigkeit. „Schutz, Unterstützung und Sichtbarmachung für Betroffene, als auch deren Familien, muss ein internationales Interesse werden“, fordert Romero Epiayu.

Letzte Station der Rundreise: Der Gipfel der Globalen Solidarität im Rahmen des Anti-G20-Protests in Hamburg. „Wir wollen erreichen, dass die Regierungschefs beim Thema Klimaschutz uns indigenen Gemeinschaften zuhören“, sagt Romero Epiayu. „Immerhin haben wir unsere Territorien und natürlichen Ressourcen über Jahrhunderte konserviert. Unsere Hoffnung ist, dass ein Leben ohne Minen und so, wie wir es uns vorstellen, irgendwann wieder möglich ist.“ Die Zukunft sieht die Aktivistin in lokalen Initiativen und kommunitären Formen des Zusammenlebens. Agerroces ergänzt: „Was man aus dem Süden in den Norden schafft, kontaminiert den ganzen Planeten. Vielleicht erinnern sich die G20 irgendwann daran, dass wir in einem einzigen gemeinsamen Ökosystem leben.“ Was die beiden zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen können, wenige Tage nach dem Gipfel jedoch feststeht: US-Präsident Donald Trump hat in Hamburg in Sachen Missachtung des Pariser Klimaabkommens einen Verbündeten gefunden. Überraschend stellt nun auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Umsetzung des Pariser Vertrages durch sein Land infrage. Ein Grund mehr für Aktivist*innen, sich weltweit zu verbünden.

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