Gaza-Notfallkonferenz in Bogotá

Vom Reden ins Handeln kommen Kolumbiens Präsident Petro fordert mehr Veranstwortungsübernahme, ob beim Klima (wie hier auf der COP) oder in Solidarität mit der palästinensischen Bevökerung (Foto: UNclimatechange via Flickr (CC-BY-NC-SA 2.0))

Die UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten Gebiete Palästinas, Francesa Albanese, dokumentiert in ihren Berichten die sich verdichtende Beweislage zu israelischen Kriegsverbrechen. Im Februar 2025 wurde Albanese in Deutschland von Berliner Politiker*innen wie dem Bürgermeister Kai Wegner (CDU) und der Wissenschafts-Senatorin Ina Czyborra (SPD) als Antisemitin beschimpft. Sowohl die FU Berlin als auch die LMU München sagten Veranstaltungen mit ihr ab. Im Rahmen des Narrativs, dass die UNO von der Hamas instrumentalisiert werde, verhängte die Trump-Regierung Sanktionen gegen sie. Albanese erklärte die Sanktionen wiederum für illegal und als Missachtung der Immunität von Amtsträger*innen und Sachverständigen im Dienst der UN.

Bereits zuvor haben die USA Sanktionen gegen Richter*innen des Internationaler Straf­gerichtshof (IStGH) und dessen Chefankläger Karim Khan verhängt, die die Verbrechen der israelischen Regierung sowie der Hamas untersuchen. Laut Le Monde war unter anderem das Auswärtige Amt unter Leitung von Annalena Baer­bock in Einschüchterungsversuche gegen Karim Khan verwickelt. Vor diesem Hintergrund eröffnete Albanese am 15. Juli in Bogotá die Ministerkonferenz der Haager Gruppe so: „Viel zu lange wurde die internationale Ordnung als etwas Optionales betrachtet – selektiv angewandt auf diejenigen, die als schwach wahrgenommen werden, und ignoriert von jenen, die sich als mächtig darstellen. Dieser Doppelstandard hat die Grundfeste der internationalen Ordnung untergraben. Dieses Zeitalter muss ein Ende haben.“

Zusammenschluss für das Ende der israelischen Besatzung

Die Haager Gruppe ist ein Zusammenschluss von Staaten des Globalen Südens. Sie wurde im Januar 2025 von den Regierungen von Bolivien, Kolumbien, Kuba, Honduras, Malaysia, Namibia, Senegal und Südafrika gegründet. In ihrem Gründungsdokument erklären sie, entschlossen zu sein, „ihren Verpflichtungen zur Beendigung der israelischen Besatzung des Staates Palästina nachzukommen und die Verwirklichung des unveräußerlichen Rechts des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung zu unterstützen“.

Im Juli 2025 luden Kolumbien und Südafrika als Vorsitzende der Haager Gruppe zu einer ministeriellen Notfallkonferenz in Bogotá über die Lage in Gaza ein. Insgesamt nahmen Minister*innen aus 30 Ländern, darunter China, Ägypten, Brasilien, Spanien, Norwegen, Schweden und die Türkei, teil. Im Gegensatz zu den USA oder der EU haben die Gründungsstaaten der Haager Gruppe begrenzte Einflussmöglichkeiten auf das Geschehen in Palästina oder die Politik Israels, beispielsweise hinsichtlich von Waffenimporten und -exporten oder Handelsbeziehungen, über die Druck ausgeübt werden kann. Der Wert der Gruppe liegt jedoch darin, sich dafür starkzumachen, dass von der Rhetorik zum Handeln übergegangen werden muss, und zu zeigen, dass es eine Verpflichtung jedes Staates ist, sich der Straflosigkeit Israels entgegenzustellen – so wie es das Völkerrecht fordert.

Albanese stellte ihren Bericht „Von der Besatzungswirtschaft zur Völkermordwirtschaft“ (Januar 2025) in Bogotá vor und plädiert dafür, Maßnahmen zu ergreifen, um nicht nur gegen die Ausführenden, sondern auch gegen jene vorzugehen, die den Völkermord ermöglichen. Viele Unternehmen bereichern sich an der illegalen Besatzung, Apartheid und dem Völkermord. Die damit gemeinten Unternehmen stammen aus vielen Teilen der Welt. Sie zur Rechenschaft zu ziehen, „ist ein notwendiger Schritt, um den Völkermord zu beenden und das globale System zu demontieren, das ihn ermöglicht hat“, so der Bericht. Außerdem bleibe eine zentrale Maßnahme, ein Waffenembargo gegen Israel umzusetzen. Die zweitägige Notfall-Konferenz führte zu sechs konkreten Maßnahmen, auf die sich die teilnehmenden Ländervertreter*innen einigten. Dazu gehören: die Unterbindung der Lieferung und des Transits von Waffen und militärischem Material, das Verbot der Nutzung von Häfen und Schiffen zur Versorgung Israels mit militärischem Material sowie die Überprüfung öffentlicher Verträge, die etwa den Handel mit Israel regeln.

Dreizehn Teilnehmerstaaten verabschiedeten die Maßnahmen umgehend. Schlüsselländer wie Brasilien, China und die europäischen Staaten haben sich jedoch noch nicht angeschlossen. Die Haager Gruppe setzte den 20. September als Frist. An dem Tag findet die 80. UN-Generalversammlung statt, bei der weitere Staaten Palästina als Staat anerkennen wollen. Bis dahin soll Israel gemäß der letztjährigen UN-Resolution die illegale Besatzung Palästinas beenden. Es ist bereits klar, dass Israel diese Resolution nicht einhalten wird.

Umfassende Solidaritätspolitik mit Palästina

Auch der Kohlehandel ist Thema in Bogotá, denn 60 Prozent der Kohleimporte Israels stammen aus Kolumbien. Darauf hatte zuvor die niederländische NGO SOMO im Bericht „Powering Injustice“ hingewiesen. Laut SOMO, die Lieferbeziehungen weltweit aufdeckt, könnten diese Kohlelieferungen „zu schweren Verstößen gegen das Völkerrecht beitragen, die von Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten, einschließlich Gaza, begangen werden“. Der Hinweis zeigte Wirkung: Nach der Konferenz unterzeichnete Präsident Gustavo Petro im August ein neues Dekret, mit dem er die Ausfuhr von Kohle nach Israel stoppen will. Bereits vor einem Jahr hatte er eine ähnliche Regelung erlassen, die jedoch zuvor genehmigte Lieferungen nicht verbot und daher wirkungslos blieb. Das investigative Medium Vorágine hatte festgestellt, dass seit August 2024 die Konzerne Drummond und Glencore mindestens 30 Schiffe mit 1 Mio. Tonnen kolumbianischer Kohle an Israel geliefert haben.

Der Versuch, diese Lieferungen nun zu unterbinden, wurde von der Opposition scharf kritisiert. Ex-Präsident Iván Duque warf Petro vor, die Hamas zu unterstützen, und besuchte Netanyahu. Petros Regierung ist dennoch entschlossen, eine aktive Politik angesichts des Völkermords in Gaza zu verfolgen. Neben der Ausrichtung der Haager Konferenz und dem Kohleboykott kündigte er Ende August eine „umfassende Solidaritätspolitik mit dem palästinensischen Volk“ an. Diese verpflichtet kolumbianische Minister*innen, Botschafter*innen und andere Beamt*innen dazu, Abkommen mit Israel zu überprüfen, um die Übereinstimmung von Beschaffung u. a. von Waffen und Software mit den Grundsätzen des Völkerrechts sicherzustellen. Auch der Handel mit Palästina soll gestärkt werden.

Boykott und Handelsstopp

Parallel dazu haben regierungsnahe Abgeordnete entsprechende Initiativen vorangetrieben: So kündigte die Repräsentantin der Kolumbianer*innen im Ausland, Carmen Ramírez, die Einrichtung einer Solidaritätskommission für Palästina im Kongress an. Diese soll das 2020 unter der Regierung von Iván Duque unterzeichnete Freihandelsabkommen mit Israel überprüfen und gegebenenfalls aufheben.
Auch die türkische Regierung hat die in Bogotá vereinbarten Maßnahmen umgesetzt. Die Türkei spielt aufgrund ihrer geografischen Nähe zu Israel eine besonders wichtige Rolle. Ende August erklärte der türkische Außenminister Hakan Fidan seinerseits: „Wir erlauben nicht, dass türkische Schiffe israelische Häfen anlaufen. Wir erlauben nicht, dass Schiffe, die Waffen und Munition nach Israel transportieren, unsere Häfen anlaufen.“ Damit will Erdoğans Regierung, die in anderen Zusammenhängen Menschenrechte allerdings systematisch missachtet, nun den Druck auf Israel erhöhen. Am 8. September kündigte auch die spanische Regierung ähnliche Maßnahmen an.

Handeln auch ohne die Mächtigen

Derweil hat Deutschland ein Teilwaffenembargo verhängt und symbolisch Hilfsgüter über dem Gazastreifen abgeworfen. Doch eine Revision des Assoziierungsabkommens sowie Sanktionen gegen Israel blockiert Deutschland bis dato immer noch. Die Geschäfte deutscher Unternehmen – wie Axel Springer und Heidelberger Materials – bleiben unangetastet. Die USA zeigen ihrerseits keinerlei Absicht, etwas gegen das israelische Vorgehen in Gaza zu unternehmen.

Angesichts der Tatenlosigkeit der Verbündeten Israels stellen koordinierte Maßnahmen wie jene der Haager Gruppe konkrete Schritte dar, um den Völkermord in Gaza zu stoppen. Auch unilaterale Aktionen wie der Rückzug des norwegischen Staatsfonds aus Israel oder die Aussetzung schwedischer Rüstungsabkommen sind Beispiele dafür, dass es Staaten gibt, die Verantwortung übernehmen. Nicht zu übersehen sind auch die Bemühungen der internationalen Zivilgesellschaft – etwa Blockaden von Häfen im Mittelmeer oder die Aktionen der Freedom Flotilla Coalition.

Bisher ist der Zusammenschluss der Haager Gruppe die größte gemeinsame Strategie, die unternommen wurde, um dem Völkermord in Gaza ein Ende zu setzen. So zeigt die Konferenz einen Handlungsweg auf – im Einklang mit dem Völkerrecht und auch ohne Beteiligung der „Mächtigen“.


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„Wozu solidarische Ökonomie?“

Portrait von André Ricardo de Souza
André Ricardo de Souza (Foto: privat)

Was sind die Prinzipien der solidarischen Ökonomie?
Die solidarische Ökonomie beruht auf gleichberechtigter und demokratischer wirtschaftlicher Praxis, sei es bei der Produktion, dem Konsum, dem Sparen oder dem Kreditwesen. Sie zielt darauf ab, die Gewinne wirtschaftlicher Aktivitäten so gerecht wie möglich zu verteilen und auch die Entscheidungen so demokratisch wie möglich zu treffen. Wir sagen, dass die Selbstverwaltung die Seele der solidarischen Ökonomie ist.

Welche Rolle spielt die solidarische Ökonomie in Krisenzeiten, wie zum Beispiel während der Corona-Pandemie?
In Krisenzeiten, wenn die Arbeitslosigkeit steigt, gewinnt die solidarische Ökonomie als Arbeitsalternative immer mehr an Bedeutung. Sie ist ein Weg, wie Menschen produzieren und überleben können. Und historisch gesehen war es immer so: In Krisenzeiten nehmen Initiativen dieser Art zu.
Es gab jedoch auch Zeiten, in denen das Land ein Wirtschaftswachstum erlebte und die Zahl der solidarischen Unternehmen ebenfalls zunahm. Das verdeutlicht, dass solidarische Initiativen auch in Zeiten ohne Krise relevant sind.

Welche Rolle spielt die solidarische Ökonomie heute in Brasilien?
Die solidarische Ökonomie in Brasilien ist eine soziale Bewegung, die in allen Bundesstaaten durch kommunale, regionale und bundesstaatliche Foren sowie das Brasilianische Forum der Solidarischen Ökonomie organisiert ist. Ein Bereich, der sich in den letzten Jahren herausgebildet hat, ist das solidarische Genossenschaftswesen. Dieser grenzt sich vom traditionellen Genossenschaftswesen ab, der in Brasilien beispielsweise durch die Agrarwirtschaft und konventionelle Unternehmen repräsentiert wird.
Im Bereich des solidarischen Genossenschaftswesen gibt es beispielsweise die_Nationale Vereinigung der Müll- und Recycling-Sammler*innen Brasiliens (Unicatadores), die Vereinigung der Arbeiter*innen der Familienlandwirtschaft und Solidarischen Ökonomie (Unicafes), die Vereinigung der Genossenschaften und Unternehmen der solidarischen Ökonomie (Unisol), sowie die Vereinigung der Genossenschaften der Agrarreform und der Bevölkerung Brasiliens (Unicrab), die mit der Bewegung der landlosen Landarbeiter*innen (MST) verbunden ist. Zusammen bilden diese Organisationen den Verband der Solidarischen Genossenschaftsorganisationen (Unicopas).

Können Sie konkrete Beispiele für die territoriale Umsetzung der solidarischen Ökonomie nennen?
Klar, die Entwicklungen im Bereich Gemeinschaftsbanken sind gute Beispiele dafür. Es gibt das brasilianische Netzwerk der Gemeinschaftsbanken, das sich über mehrere Standorte erstreckt, vor allem die Gemeinschaftsbank von Maricá, die Banco Mumbuca, im Bundesstaat Rio de Janeiro, und auch die Banco Palmas in Fortaleza, Ceará. Letztere war die erste Gemeinschaftsbank in Brasilien. Von dort aus weitete sich das Netzwerk aus, denn es gab einen starken Impuls für die Verwendung sozialer Währungen und Praktiken zur Unterstützung der Bildung von solidarisch wirtschaftenden Unternehmungen. Auch wurden pädagogische Aktivitäten aus der Perspektive der educação popular (dt.: Bildung an der Basis) nach Paulo Freire durchgeführt.

Und was sind die Ziele der solidarischen Ökonomie?
Paul Singer sah in der solidarischen Ökonomie einen zentralen Weg zum demokratischen Sozialismus. Sie ist nicht nur eine Alternative in Krisenzeiten, sondern Ausdruck eines mensch­licheren Wirtschaftens – mit dem Ziel einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformation.
In Uma Utopia Militante: Repesando o Socialismo (dt.: Eine militante Utopie: Den Sozialismus neu denken) entwickelt Singer seine Theorie der solidarischen Ökonomie. Gemeinsam mit dem Paul-Singer-Institut, der Brasilianischen Vereinigung der Forschenden zur Solidarischen Ökonomie (ABPES) und Mitwirkenden wie Clarita Müller-Plantenberg bereiten wir zurzeit die Veröffentlichung des Buches in Deutschland vor. Es würdigt die Genossenschaftsbewegung und die oft vergessenen utopischen Sozialist*innen. Singer, fundierter Marx-Kenner, geht über dessen Kritik hinaus und fragt, wie eine Überwindung des Kapitalismus konkret aussehen kann. Schlüsselkonzept ist das der sozialistischen Implantate (Zusammenschlüsse von Genossenschaften und solidarischen Ökonomien, Anm. d. Red.). Gemeint sind damit sowohl Entwicklungen in sozialen Organisationen als auch im Überbau – Formen von Organisation und Widerstand, die über den Kapitalismus hinausgehen. Singer bezeichnet damit Projekte der solidarischen Ökonomie als Keimformen eines demokratischen Sozialismus innerhalb des Kapitalismus – aufgebaut von unten nach oben. Der Bürgerhaushalt, der 1989 in Porto Alegre eingeführt wurde, ist ein gutes Beispiel dafür. Bürger*innen diskutieren hier über die Verteilung öffentlicher Mittel. Auch Sozialversicherungssysteme und Agrarreformen sieht Singer als solche Implantate. Entscheidend ist, dass sie sich vermehren, vernetzen und an Stärke gewinnen. Wenn sie von progressiven Regierungen unterstützt werden, die partizipative Demokratie fördern, entsteht daraus eine reale Kraft zur gesellschaftlichen Veränderung.
Die solidarische Ökonomie ist daher nicht nur Praxis, sondern auch Widerstand – sie muss sich mit anderen Fronten verbinden, damit die langsame soziale Revolution vom Kapitalismus hin zu einem demokratischen Sozialismus spürbar wird.


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// Beharrlich gegen die Grausamkeit

In Paramount, Kalifornien, gehen seit dem 7. Juni große Gruppen von Einwohner*innen auf die Straße und drängen Panzer der Einwanderungspolizei (ICE), des FBI und anderer Repressionsbehörden zurück. Zu Hunderten umzingeln sie die Einsatzfahrzeuge und verhindern zumindest, dass die Polizei einen Teil der Menschen, die sie verhaften will, mitnimmt – rund 70.000 Migrant*innen, wurden in diesem Jahr bereits abgeschoben. Vor kurzem hat die ICE in Donald Trumps verzweifeltem Bemühen, die Zahl der Abschiebungen früherer Präsidenten zu erreichen, die Strategie übernommen, Personen ohne Haftbefehl zu ergreifen. Verhaftet werden Eltern, die ihre Kinder gerade zur Schule bringen, Personen, die einen Termin in Bezug auf ihren Visumsprozess wahrnehmen, zur Arbeit erscheinen oder in die Kirche gehen. In Paramount, wo sich 80 Prozent der Bevölkerung als latino identifizieren, haben die Menschen unter dieser verschärften Verfolgung nichts mehr zu verlieren. Und sie haben genug.

Die Proteste sind zwar keine organisierte Kampagne, sondern entstanden relativ spontan, doch Zusammenhalt und Widerstand war in den migrantischen und rassifizierten communities der USA auch schon in den letzten Monaten zu beobachten. Seit Trumps Amtsantritt organisierte sich beispielsweise eine Koalition aus 60 Latino-, Schwarzen, asiatischen und jüdischen Organisationen, um ihre Gemeinden auf die Anwesenheit von ICE-Patrouillen aufmerksam zu machen und Migrant*innen ihre Rechte über Lautsprecher aus Handbüchern vorzulesen. Dem Zusammenschluss der Nachbar*innen gelang es, die Apathie zu durchbrechen, die ansonsten vielerorts um sich griff. Das steckt an: Die von Latinx Migrant*innen in Los Angeles angeführten Protestaktionen des zivilen Ungehorsams und der direkten Gegenwehr breiteten sich in wenigen Tagen auf 40 weitere Städte aus.

Auf der anderen Seite des Atlantiks wurden währenddessen die 12 Besatzungsmitglieder der Madleen Freedom Flotilla entführt. Die Flotilla ist ein Protestschiff, das die Blockade der humanitären Hilfe in der jüngsten Phase des völkermörderischen Besatzungskrieges Israels gegen Palästina durchbrechen wollte. Nachdem die israelische Armee das Schiff in internationalen Gewässern illegal gekapert hatte, wurden die Besatzungsmitglieder angeklagt, bei der Einreise gegen das Gesetz verstoßen zu haben, obwohl sie gegen ihren Willen nach Israel gebracht wurden. Nur wenige Tage später bereitete sich der Soumoud-Konvoi, eine massive Karawane von mehr als 1.500 Menschen, die von Tunis aus in Richtung der ägyptischen Grenze zum Gazastreifen startete, darauf vor, die Blockade auf dem Landweg zu durchbrechen, mit einer geplanten Ankunft am 15. Juni.

Überall auf der Welt mobilisieren sich insbesondere rassifizierte Bevölkerungsgruppen und durchbrechen die verkrusteten Schichten der Normalisierung der Grausamkeit. Die Migrant*innen in Los Angeles und im Rest der USA wissen, dass, wie in Warsan Shires Gedicht, niemand sein Zuhause verlässt, es sei denn, das Zuhause ist das Maul eines Hais. Doch was, wenn es keinen sicheren Ort mehr gibt, an den man gehen kann?

Nichts an der Gewalt, die wir dieser Tage sehen ist normal. Schiffe, Karawanen, Lautsprecheraktionen, Rechtsklagen und Mobilisierungen auf der Straße sind nur einige Arten, wie Menschen dies nach wie vor erkennen und sich dagegen in Bewegung setzen. Und wir brauchen noch viel mehr Formen der Solidarität mit widerständigen Völkern, der Kämpfe gegen die Entmenschlichung, der Gegenwehr angesichts zunehmend autoritärer Manöver. Wir müssen weiterhin beharrlich auf unser aller Menschlichkeit bestehen und angesichts von Grauen, Frustration und Schmerz Gemeinschaft organisieren.


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„Jeden Morgen bin ich erleichtert, dass er noch da ist!“

Über den Dächern von Ciudad Bolívar Der Eukalyptusbaum als Hoffnungssymbol (Foto: Ingolf Bruckner)

Don Héctor, Leiter der Gemeindebibliothek Senderos de Progreso, nennt ihn nuestro abuelo sabedor („unseren weisen Großvater“), Andere bezeichnen ihn als „Baum des Gehenkten“ oder auch als „Lebensbaum“. Wieder Andere behaupten, es gäbe keinen geeigneteren Ort auf der Welt, um fliegende Untertassen zu beobachten; auch würden hier Hexen und Zauberer ihr Unwesen treiben.

Der Cerro Seco ist ein kahler, narbiger Hügelrücken voll blonden Grases, geschwürartiger Kiesgruben und Steinbrüche. Man sagt dem Taxifahrer im Stadtzentrum von Bogotá, man wolle zu den Canchas Dobles im Barrio Potosí. Der Taxifahrer wird dort nicht gern warten oder sein Fahrzeug zumindest zwischen den Mauern der niedrigen, selbst gezimmerten Behausungen verbergen wollen, damit es keine Aufmerksamkeit erregt. Das Viertel liegt im fernen Süden der Neun-Millionen-Metropole Bogotá, in der Zone der riesigen, zum großen Teil ungeplant errichteten, Ciudad Bolívar, die von Opfern des jahrzehntelangen bewaffneten Konflikts in Kolumbien besiedelt wird. Paramilitärs, korrupte Unternehmen und Banden halten hier viele der Entrechteten und Geflohenen in einem Würgegriff aus Angst, ökonomischer Abhängigkeit und sozialer Isolation wie in der Schlinge eines Galgens. Die Menschen aber haben nie aufgegeben. Sie haben in der Schlinge gestrampelt und sich herausgekämpft: Im Dezember 2023 konnten sie mit der Ernennung zum Kulturerbe durch das IDPC einen wichtigen Schritt auf dem Weg ins Licht der Öffentlichkeit feiern.

Im Umkreis von Kilometern scheint es in diesem Teil der Stadt nur einen einzigen Baum zu geben: Jenen alten Eukalyptusbaum mit charakteristischer, dreieckiger Silhouette vor einem wolkenzerfetzten Himmelszelt, welches sich unglaublich weit zu spannen scheint, von blauer Ferne links in blaue Ferne rechts, hier, mehr als 2.500 Meter über dem Meeresspiegel. Keine*r der entwurzelten Bewohner*innen unterhalb seiner Äste hat je einen Tag im Leben verbracht, ohne dass es diesen Baum gab. Keine*r einen Tag, ohne ihn bewusst oder unbewusst gesehen zu haben, versichert mir Lorena Montes, die gerade mit anderen Sozialarbeiter*innen in der Nachbarschafts­hilfe im Barrio Potosí ein Dach neu errichtet hat. Als Fixpunkt ist der Baum „allgegenwärtig wie der Geist von Großeltern. Er mahnt und erdet, als wolle er in Erinnerung rufen, dass alles aus der Natur kommt und dahin strebt”, erklärt Lorena. Nachdenklich fügt sie hinzu: „Jeden Morgen, wenn ich aufwache, geht mein Blick als erstes zu ihm und ich bin erleichtert, wenn er noch da ist – das war zuletzt keine Selbstverständlichkeit!“ Diese unmittelbare Zuneigung zu dem Baum, so als sei er ein Mitmensch, mag Uneingeweihte zunächst verwundern. Denn die Geschichten, die über den gespenstisch hageren, schwarzbelaubten Baum auf dem Cerro Seco kursieren, sind oft düster, geheimnisvoll, schrecklich.

Der wohl mindestens hundertjährige Baum mit dem Namen Palo del Ahorcado soll seit 1938 Pilgerstätte von Selbstmörder*innen, Verzweifelten, vom Teufel Besessenen und Verfolgten gewesen sein. „Höllenhunde“ – in Wahrheit dürften es ganz gewöhnliche streunende Hunde gewesen sein, die nachts aufgeschreckt wurden – kündigten etwa den Tod des exkommunizierten Ehebrechers Pablo an und einige Zeit später baumelte seine Geliebte Ernestina leblos an einem Ast. Mit der Ausdehnung der Stadt folgten weitere Todesfälle. Zuletzt, im Februar 2023, fand man nahebei die zerstückelte Leiche eines Jugendlichen namens Brayner Stiven Asprilla.

Das „Trotzdem“ vereint

Als Lorenas Mutter Blanca Luz Rosas de Montes in den 1980ern, vertrieben aus dem gewaltgeschüttelten Departamento Caquetá nach Ciudad Bolívar kam, war sie wie so viele Andere auf der Suche nach einem Leben in Frieden. Viele der Anwohner*innen kamen zu dem Baum, um Drachen steigen zu lassen oder einfach frische Luft zu atmen.

Mit der Zeit entwickelte sich der Brauch einer Karfreitagsprozession, die jährlich anwachsend und inzwischen viele Tausend Menschen zählend, hinaufführt zum Eukalyptus. Es ist der Glaube, es ist auch ein „Trotzdem“, dass die Pilgernden auf ihrem Weg vereint. Direkt am Fuße des Baumes legen sie Kreuze, Rosenkränze, Amulette, Bittgesuche ab, beten und errichten unweit ein großes Holzkreuz. Man spricht miteinander, plant die Zukunft und es entsteht eine Gemeinschaft, in der sich gegenseitig hilft, wer kurz zuvor noch fremd war.

Zerzaust, angegriffen und hager Der Eukalyptusbaum Palo del Ahorcado blickt vom Cerro Seco aus über Ciudad Bolívar (Foto: Ingolf Bruckner)

Ein Baum aber, der sein dämonisches Image verliert und stattdessen Menschen in ihrer Hoffnung und ihren Zielen vereint, ist ein Stachel. Ein Stachel für Immobilien-, Sand- und Kiesgruben­-unternehmen, die den Cerro Seco jahrzehntelang ausgebeutet haben und unter Ausschluss der Öffentlichkeit ohne Rücksicht auf die Natur illegal weiter ausbeuten möchten; für Politiker*innen, die die Nöte der unterprivilegierten Stadtviertel und deren Bedarf an Infrastruktur und Daseinsvorsorge ignorieren, und für Drogenbanden, denen das Vergessen, das Schweigen und die Unter- und Fehlentwicklung in die Hand spielt.

„Unsere Gegner denken, mit dem Symbol würde auch unsere *Solidarität enden“


Lorena erklärt, man habe versucht, den Baum zu verbrennen, abzusägen, umzuhauen und zuletzt sogar, ihn zu vergiften. Sie zeigt auf die Wurzeln des Baumes – eine musste sogar entfernt werden, um ihn zu retten. „Unsere Gegner denken, wenn dieses Symbol der Gemeinschaft, des Umweltschutzes und des Widerstandes erst weg wäre, dann würde auch unsere Solidarität enden, dann könnten sie weiter das Ökosystem, die natürlichen Wasserläufe, die Orchideen und anderen Pflanzen zerstören, mühsam gebaute Wege und Straßen mit ihren volquetas (Schwertransportern) zerfurchen und unser letztes Erholungsgebiet zunichtemachen.“

Sie berichtet von Kämpfen und Erfolgen. 2015 etwa kam es zum offenen Konflikt, weil Sicherheitsleute der Kiesgrubenfirma die Karfreitagsprozession nicht durchlassen wollten. Als eine volqueta die Nachbarin Doña Yineth, eine mehrfache Mutter, überfuhr, errichteten Anwohner*innen Blockaden an den Zufahrtswegen der Sand- und Kiesunternehmen. Waren Bittgesuche an die Politik zunächst ungehört geblieben, schwoll die Stimme der Menschen aus dem Viertel immer mehr an und schließlich stieß man den Prozess an, den Cerro Seco mit dem Palo del Ahorcado zum Kulturerbe der Stadt Bogotá zu erklären.

Im Dezember 2023 kam schließlich der Durchbruch! Mit dem frisch errungenen Status des kulturellen Erbes ist der Weg zum Schutz des Symbols der Gemeinschaft und der Umwelt gestärkt. Das Erbe von Lorenas Mutter und anderen Aktivist*innen aus der Nachbarschaft, die längst nicht mehr leben, ist gesichert.

Lorena zeigt Mappen mit Fotos aus vier Jahrzehnten. Vergilbte und neue. Schwierige Anfänge. Gemeinsame Arbeit. Gemeinsame Proteste. Gemeinsame Feste. Organisationen wie die Fundación Blanca Luz, die nach Lorenas Mutter benannt ist, widmen sich der Verbesserung der Gemeindeinstitutionen. Heute gibt es Kindergärten, eine Volkshochschule, in der Erwachsene Lesen und Schreiben lernen können, einen Abendabiturkurs, eine Schneiderei, eine Tanzschule, die von Don Héctor betreute Gemeindebibliothek, eine Schule für Gründerinnen von Kleinunternehmen, Lehrgänge zur Selbstfürsorge und Selbsthilfe, Stadtgärten zur Selbstversorgung mit Gemüse und ein Kollektiv für humane Stadtentwicklung, Zivilschutz und Schutz des Cerro Seco. Aus seinem dürren Boden sprießen Ideen und Projekte wie frische Blumen. Keine Erosion mehr. Und keine Illusion. Die Wurzeln des Palo del Ahorcado halten fest.


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„Wenigstens etwas Wichtiges tun”

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“Die Straße ist kein guter Ort zum Leben” Mitglieder der Suppenküche Amigues por las Calles (“Freund*innen für die Straße”) (Foto: privat)

Wie ist es euch seit dem Amtsantritt von Milei ergangen, merkt ihr in der Suppenküche einen Unterschied?
Catalina Fixman: Ja, leider bemerke ich, dass die Zahl der wohnungslosen Menschen seitdem gestiegen ist. Was mir zuallererst aufgefallen ist: Viele Menschen können kein Dach über dem Kopf mehr bezahlen, weil sie keine staatliche Unterstützung mehr bekommen. Dazu kommt noch die Lebensmittelkrise wegen der plötzlichen Preissteigerungen.
Joaquín Puga: Vor Kurzem, als wir gerade auf der Plaza Miserere (zentraler Platz in Buenos Aires, Anm. d. Red.) Essen ausgaben, kamen ein paar Rentnerinnen zu uns, die dort ihre Hunde Gassi führten. Sie fragten uns, ob wir nicht auch eine Portion für sie hätten. Das sind Leute, die ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben. Jetzt bekommen sie eine sehr prekäre Rente, die nicht einmal bis zum Monatsende reicht.

Geht die Regierung diese Probleme an?
JP: Es interessiert sie überhaupt nicht! Das Problem gibt es nicht nur auf Landesebene. Hier in Buenos Aires gibt es einen neuen Bürgermeister, Jorge Macri. Er steht für eine Anti-Wohnungslosenpolitik, er sieht sie als etwas, das die Stadt verunstaltet. Ich sehe es so: Sowohl die Regierung von Buenos Aires als auch die Regierung von Milei machen Politik für die Mittelschicht. Auf Landesebene gibt es jetzt bestimmte Maßnahmen, die den Geldbeutel der Mittelschicht schützen sollen. Zum Beispiel Hilfen für Menschen, die Privatschulen oder private Gesundheitsdienste bezahlen. Währenddessen gehen die staatliche Gesundheitsversorgung und Bildung den Bach herunter! Und die ganzen wohnungslosen Menschen sind einfach nur ein Hindernis, das sie aus dem Weg räumen müssen. Jüngst hat Diego Kravetz, der Sicherheitschef von Buenos Aires, wirklich gemeine Dinge gesagt: alle Wohnungslosen seien gefährlich und hätten Vorstrafen.
CF: Ja, diese Entmenschlichung, die die Menschen sowieso schon erleben, nimmt zu. Viele, die jetzt neu unter dieser Krise leiden, schließen sich völlig ein und entwickeln Hass- oder sogar Gewaltfantasien gegen andere. Für Menschen in verletzlichen Situationen hätte der argentinische Staat schon vorher viel tun müssen, aber nun, nach den ganzen Entlassungen, noch viel mehr. Aber alle öffentlichen Institutionen werden gerade ausgehöhlt. Die Aussichten sind überhaupt nicht gut.

Führt all das nicht für Gruppen wie euch zu einer extremen Überlastung?
JP: Schon. Ich lebe seit 2020 in Buenos Aires und immer hat es wohnungslose Menschen gegeben. Wir als Fahrrad-Verteilgruppe sind früher mit 30 Portionen losgefahren, manchmal haben wir nicht einmal alles verteilt. Jetzt fahren wir mit 50 Portionen los und auf der Hälfte der Strecke ist alles alle.
CF: Das ist tatsächlich ein Thema für uns: Es gibt leider klare Grenzen für das, was wir ausrichten können, denn irgendwann ist das Essen alle. Außerdem verteilen wir ja nur donnerstags und sonntags. Andere Dienste und Essen an anderen Tagen können wir nicht bieten. Gleichzeitig merke ich aber, dass wir in den vergangenen Monaten stark gewachsen sind. Ich glaube, es gibt jetzt mehr Bewusstsein dafür. Wir müssen also weiterhin alles geben und darauf vertrauen, dass dieses Kollektiv vielleicht nicht das große Ganze in Ordnung bringt, aber zumindest etwas sehr Wichtiges tut.

Wie finanziert ihr die Suppenküche?
CF: Amigues war schon immer eine autonome Küche, wird also weder vom Staat noch von einer politischen Gruppierung unterstützt. Wir finanzieren uns nur über Spenden, sowohl monatliche als auch punktuelle. Immer wieder starten wir Kampagnen, um Geld zu sammeln oder bitten direkt um Lebensmittel. Außerdem werden wir zu vielen Veranstaltungen eingeladen, bei denen wir ein Gericht anbieten und Spenden dafür sammeln. Wir verkaufen Sticker und alle möglichen Merchandise-Artikel, denn es gibt mehrere Künstler*innen im Kollektiv, die ihre Werke auf Spendenbasis verkaufen. Da wir ja Miete und das Essen zahlen müssen und ständig neue Ausgaben dazukommen, sind wir dauerhaft auf der Suche nach Spenden._
JP: Zum Glück ist unsere finanzielle Lage aktuell stabil. In einer stressigen gesellschaftlichen Situation gibt es eine Menge Menschen, denen klar wird, dass sie etwas beitragen können und sie tun es. Zum Beispiel, indem sie uns Geld geben oder ihre Zeit schenken und freiwillig mitarbeiten.

In den vergangenen Wochen gab es immer wieder Demonstrationen gegen die Regierung. Macht euch das Hoffnung?
JP: Es gibt derzeit sehr viele Demonstrationen, zum Beispiel am 23. April die Großdemo für die staatlichen Unis, denen gerade die Budgets gekürzt wurden. Was man damit erreichen kann, weiß ich wirklich nicht. Ich weiß nicht, wann die Regierung sagen muss: „Es gleitet uns aus der Hand, wir müssen einen Schritt zurückmachen.“ Ich glaube ja, dass sie nur für die Mittelschicht regieren, also wird dieser Moment auch erst kommen, wenn die Mittelschicht ihre Interessen in Gefahr sieht.
CF: Mir macht es schon Hoffnung, dass viele Kollektive und Nachbarschaftsversammlungen gerade wachsen. So entsteht eine Organisierung parallel zum Staatlichen und ein Widerstand dagegen, dass die Realität für Viele so schlimm ist. Ich hoffe, dass das weiterwächst. Wir dürfen nicht aufgeben und nicht normalisieren, was passiert. Das müssen wir in andere Länder tragen und sowohl lokal und regional als auch international eine Debatte ermöglichen. Denn klar, jede internationale Solidarität hilft uns. Zum Beispiel gab es auch eine große Spende, die in Berlin bei einer Veranstaltung zusammengekommen ist. Je nach Land gibt es große Ungleichheiten in Sachen Macht und Zugang: Eure Währung ist für uns zum Beispiel viel mehr wert. Und so führen auch kleine Beiträge mit geringem Aufwand hier am Ende zu einem großen Effekt.


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“Wir kommen aus der Zukunft”

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“Wasser ist Menschenrecht!” MODATIMA-Aktivist*innen beim Klimastreik im September 2023 in Berlin (Foto: Ute Löhning)

50 Jahre nach dem Militärputsch stimmt der Verfassungsrat in diesen Tagen über die Normen für den neuen Verfassungsentwurf ab. Wie blickt ihr auf diesen Prozess?

Catalina: Was dort entworfen und verabschiedet wird, könnte am Ende sogar schlimmer aussehen als die Verfassung von Pinochet. Der Klimawandel wird im Prozess nicht berücksichtigt. Die Ultrarechte, die im Rat dominiert, leugnet ihn und stellt sogar grundlegende Menschenrechte in Frage. Für öffentliche Güter wie Flussufer und Auen, die bisher nie privatisiert waren, sollen nun Konzessionen vergeben werden. Deshalb setzen wir so gut wie keine Hoffnung in den Prozess. Er setzt unsere Forderungen von den Protesten im Oktober 2019 nicht um.

Das klingt fast so, als wäre es besser, wenn der Entwurf beim Verfassungsplebiszit im Dezember abgelehnt wird.

Jorge: Ich sehe tatsächlich einen Vorteil, wenn die Verfassung von 1980 bleibt, denn sie ist bereits delegitimiert. Damit würden sich für die Zukunft gewisse Spielräume öffnen. Deshalb finde ich es wichtig, dass der Rechazo (dt. Ablehnung) im Dezember gewinnt.

Catalina: Eine wichtige Aufgabe für uns als Bewegungen wird es sein, das Ergebnis des ersten Verfassungsplebiszits von 2020 zu bekräftigen, in dem man sich gegen die Pinochetverfassung ausgesprochen hatte. Der Plebiszit im Dezember wird auch ein wichtiger Moment für die politischen Kräfteverhältnisse und für die Regionalwahlen nächstes Jahr.

Was würde ein Sieg des Rechazo für die Rechte bedeuten?

Victor: Es gibt nicht die eine Rechte, sie ist gespalten. Die Ultrarechte mit der Republikanischen Partei bringt alle wichtigen Themen ihres politischen Entwurfs in die Verfassung ein. Für sie ist es eine Win-Win-Situation: Entweder gewinnt das Ja – dann gewinnt ihre Position – oder es gewinnt das Nein und Pinochets Verfassung bleibt in Kraft.

Welche Aussicht bleibt dann noch auf die Abschaffung der Diktaturverfassung?

Victor: Ich denke das einzige, das uns dann bleibt, wäre eine Verfassungsreform. Aber mit dem aktuellen Kongress ist das sehr schwierig, es müsste zu einem anderen Moment geschehen. Fürs Hier und Jetzt bleibt uns der Weg des Protests.

Catalina: Genau. Derzeit bilden wir uns politisch weiter und wollen wachsen – qualitativ und quantitativ.

MODATIMA ist nicht nur auf der Straße aktiv, sondern auch in politischen Institutionen.

Victor: Ja, in der Kombination von Basisarbeit und dem institutionellen Weg auf lokaler Ebene sehen wir eine große Stärke. Zum Beispiel in den Regionalregierungen, im Fall der Region Valparaíso mit unserem Gouverneur Rodrigo Mundaca. Hier arbeiten wir daran, die Verwaltung des Wassers innerhalb des rechtlichen Rahmens zu demokratisieren.

Was hat Rodrigo Mundaca als Gouverneur seit Juli 2021 erreicht? Welche Befugnisse hat er?

Victor: In allen Provinzen der Region werden derzeit Flussgebietsräte als runde Tische eingerichtet. Dort beteiligen die Menschen sich zum ersten Mal an Entscheidungen zum Thema Wasser. Die Regierung plant, solche Räte über ein Gesetz zukünftig landesweit einzurichten. In der Region von Valparaíso funktioniert das bereits, allerdings ohne gesetzliche Grundlage. Außerdem wurden Bildungsprogramme für Führungspersonen in den Trinkwassergenossenschaften der Region geschaffen. Das Trinkwasser auf dem Land ist das einzige Wasser, das nicht privatisiert, sondern öffentlich und gemeinschaftlich ist.

Carolina: Rodrigo Mundaca hat im kommenden Jahr die Möglichkeit, der Agorechi – der Gouverneursvereinigung Chiles – vorzusitzen. Dadurch könnte er deutlich stärker auf die landesweite Politik einwirken. Abseits davon sind die Stärkung der Umwelt- und genossenschaftlichen Trinkwasserinstitutionen, der Bürger*innen und die finanzielle Stärkung der Gemeinden wichtig. Dadurch gibt es heute wieder deutlich mehr Vertrauen in die Politik und Institutionen – das war vor dem estallido social von 2019 undenkbar.

Und doch verhindert der Wasserkodex aus Diktaturzeiten mehr Gerechtigkeit beim Zugang zu Wasser. Gab es hier in den vergangenen Jahren Fortschritte?

Carolina: Am 25. März 2022 wurde die jüngste Reform des Wasserkodexes beschlossen. Alle Eigentumsrechte an Wasser, die nach diesem Datum vergeben werden, haben keine unbegrenzte Laufzeit mehr. Personen, die bereits Eigentumsrechte an Wasser besitzen, müssen diese neu einschreiben lassen, wofür jedoch genug Wasser verfügbar sein muss. Da das häufig nicht der Fall ist, wird das dazu führen, dass in Zukunft weniger Eigentumsrechte an Wasser existieren. Wo zukünftig bei Wassermangel Konflikte entstehen, wird die Wassergeneraldirektion tätig und kann das Wasser neu verteilen. Das war im Flussbecken des Aconcagua bereits der Fall.

Mit Dürresommern und Unwettern ist der Klimawandel auch in Deutschland zu spüren. Unterschätzen wir die Probleme, die es bald auch hier mit der Wasserversorgung geben könnte?

Victor: Ich denke, in den reichen Ländern wird das Thema Wasser immer noch nicht als Problem wahrgenommen. In diesem März hat in New York zum ersten Mal seit 50 Jahren eine Weltwasserkonferenz stattgefunden. In diesen 50 Jahren hat sich das Weltwasserforum, eine von Privatunternehmen finanzierte Institution, jedes Jahr getroffen. In den entwickelten Ländern gibt es genug Wasser für Bevölkerung und Unternehmen. Wir in Chile sind nach 40 Jahren Wasserprivatisierung bei dem Extrem angekommen, dass es Wasser für die Reichen gibt, aber nicht für die Armen. Wir fordern, dass dem Wasser fortan die Bedeutung zugeschrieben wird, die es auf der Welt hat. Und wenn man von Klimawandel spricht, darf es nicht nur um Temperaturanstiege gehen, man muss die Verfügbarkeit von Süßwasser miteinbeziehen. In Chile werden bereits Menschen wegen des Klimawandels vertrieben, weil es zu wenig Wasser gibt. Und jetzt kommen noch neue Industriezweige wie Lithium oder grüner Wasserstoff dazu, die ebenfalls große Mengen Wasser brauchen.

Gleichzeitig werden diese Rohstoffe als zentral für die Energiewende angesehen. Wie blickt ihr auf dieses Dilemma?

Jorge: Beim Lithium ist die Rede von grüner Energie, aber seine Gewinnung ist extrem verschmutzend und kostet viele Ökosysteme in den Abbauländern das Leben. Gleichzeitig ist Lithium ein flüchtiger Rohstoff, denn wenn in 20 oder 25 Jahren bessere Energiequellen kommen, wird Lithium zu teuer sein. Das Gleiche ist mit den Deutschen und dem Salpeter passiert: Salpeter war einst die Lösung für alles, mein Vater hat in der Gewinnung gearbeitet, mein Großvater auch. Irgendwann kam das synthetische Salpeter und hat alles ersetzt. Das Problem ist auch die fehlende Wissensvermittlung: Wir gewinnen das Lithium, aber die Batterien stellt ihr her. Uns bleiben am Ende nur die Umweltkatastrophen.

Victor: Für die Energiewende haben die reichen Länder ihre Pläne bis 2030. Länder wie Deutschland müssten bei Vertragsabschlüssen nicht nur darauf achten, das billigste Lithium oder den billigsten Wasserstoff zu kaufen, sondern auch darauf, wie diese Rohstoffe erzeugt werden können, ohne das Leben der benachbarten Gemeinschaften zu beeinträchtigen. Und sie müssen die Variable Wasser miteinbeziehen.

Was kann die Welt und was können wir von der Situation in Chile lernen?

Carolina: Zu was führen denn der Konsum und der Export aus den so genannten „Opferzonen“ (Anm. d. Red.: von massiver Verschmutzung durch Industrie betroffene Regionen)? Wir sehen, wie Menschen im Avocado-Anbaugebiet ohne Wasser leben, obwohl es Wasser gibt – aber die Agrarindustrie nimmt es uns weg. Und Deutschland geht in Lateinamerika auf Rohstoff-Einkaufstour und will Freihandelsabkommen schließen, um unsere Territorien zu plündern. Wir haben gelernt, dass dies nicht nachhaltig und weder für Investitionen noch für den internationalen Handel sicher ist. Denn es zerstört unseren Wasserkreislauf. Ich glaube, die einzige Gegenstrategie besteht darin, Allianzen zu bilden, das Bewusstsein zu schärfen und Aufklärung zu betreiben, um zu verstehen, dass in Chile heute Investitionen wichtiger sind als Menschenrechte. Dabei geht es nicht nur um eine Änderung der Technologie, sondern um eine Änderung des Lebensstils und des Verbrauchs von Ressourcen.

Jorge: Die ganze Natur, die Wälder, die Ozeane, die Flüsse, sind in großem Umfang geplündert worden. Wenn die reichen Leute und Länder sich dessen nicht bewusstwerden und den unnötigen Konsum reduzieren, werden wir mit Lateinamerika und Afrika am Ende ihre Hinterhöfe zerstören. Wir müssen also der Bevölkerung beibringen, dass man mit dem leben muss, was man hat, auch wenn das ziemlich schwierig ist.

Vielen Menschen fällt es schwer, ihren Lebensstil zu ändern. Was denkt ihr, auf welche sozialen Probleme sollten wir uns einstellen, wenn auch hier das Wasser knapp wird?

Victor: Wir erleben bereits einen Krieg um Wasser: Es gibt Gebiete, in denen die Menschen kein Trinkwasser haben, auf die Straße gehen und sich mit der Polizei anlegen und denen, die das Wasser haben. Dieses angeblich so ferne Zukunftsszenario ist in Chile und an einigen Orten in Afrika längst eingetreten. Als MODATIMA ist es unsere Aufgabe, betroffene Gemeinschaften zu organisieren, Kritik zu üben und die Fragen zu stellen, um die sich die Regierungen nicht sorgen. Wir Chilen*innen und andere kommen aus der Zukunft, in der es Kriege um Wasser gibt. Und Länder wie Deutschland, in denen es bisher keine Wasserprivatisierung gibt, könnten wie Chile enden.

Während der Veranstaltungen in Berlin habt ihr die Idee einer Internationalen des Wassers erwähnt. Worum geht es dabei?

Carolina: Es geht dabei um Solidarität: Es gibt etwas, das über ein Projekt wie MODATIMA hinausgeht, wie bei den ALBA-Bewegungen oder der Landlosenbewegung MST. Wir sind bereit, über eine internationale Bewegung für Wasser Macht aufzubauen, die auf Solidarität und ihrer Bedeutung für die Menschheit basiert, die eindeutig Grenzen überschreitet.

Victor: Seit der Gründung von MODATIMA sind wir mit anderen großen und kleinen Bewegungen zusammengetroffen, die sich mit denselben Themen beschäftigen: die Rondas Campesinas in Peru, Afectados por Represas in Brasilien, Ríos Vivos in Kolumbien und die Coordinadora Agua para Todos in Mexiko. In den lateinamerikanischen Ländern wird der Kampf um Wasser bereits stark geführt, aber es gibt auch die europäische Wasserbewegung, zu der wir Beziehungen unterhalten. Ich denke, das ist ein Projekt auf lange Sicht. Zum Beispiel mit der Bewegung der von Staudämmen betroffenen Menschen (MAR) in Lateinamerika. Wir haben die Idee, eine globale Bewegung für Wasser und Energie aufzubauen, eine Art Via Campesina bezogen auf Wasser und Energie, die sich weltweit Verbündete sucht – MAR arbeitet bereits seit zehn Jahren in diese Richtung.

Hat diese Reise nach Deutschland euch dahingehend weitergebracht?

Catalina: Diese Reise war sehr bereichernd, um einen Horizont für den Erfahrungsaustausch zu schaffen, auch dafür, den Kampf um das Wasser zu internationalisieren. Vor allem war es interessant, dass die Themen Wasserstoff und Lithium so oft zur Sprache kamen. Wir nehmen diese neuen Herausforderungen der Energiewende an und die dringende Aufgabe mit, sie tiefer in die Bewegung einzubringen.

Jorge: Ich hätte nicht gedacht, dass es hier in der Gegend einen Konflikt mit Tesla gibt, bei dem Leute ihr Wasser in Gefahr sehen. Es hat meine Aufmerksamkeit erregt, dass auch hier Menschen sich für diese Themen mobilisieren und territorial denken. Wir fühlen uns also mit ihnen verbunden und freuen uns darüber.

Victor: Ich finde es sehr wichtig, sich nach einer Pandemie wieder persönlich mit Menschen austauschen zu können, die auf der gleichen Wellenlänge sind, um uns gegenseitig zu stärken. Und Medien wie eure Zeitschrift tragen viel dazu bei, durch Information Verbindungen und Netzwerke aufzubauen und Meinungen auszutauschen.

Carolina: Ich denke, es war 50 Jahre nach dem Putsch eine Reise voller Erinnerung für uns, aber auch eine Reise voller Zukunft: darüber, wie wir uns unser Land erträumen, was wir von eurem Land erwarten, was wir von unseren Kontakten erwarten. Es war nach dem Scheitern des Verfassungskonvents eine heilende Erfahrung. Für mich bleibt davon der Wunsch und die Erwartung, eine Gemeinschaft aufzubauen und mit einer Internationalen des Wassers voranzukommen.


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Götterdämmerung in Zentralamerika

10 Jahre Nicaragua Libre Ausschnit aus einem LN-Cover von 1989

Als im Juli 1979 die revolutionäre Sandinistische Nationale Befreiungsfront (FSLN) in Nicaragua nach mehr als einem Jahrzehnt bewaffnetem Kampf den Sieg über die Somoza-Diktatur errang, hatte dieses Ereignis das rasche Anwachsen der bundesdeutschen Nicaragua-Solidarität zur Folge. Bis dahin hatte die Bewegung in der Öffentlichkeit erfolgreich zu vermitteln vermocht, dass es sich bei den Sandinist*innen nicht um eine isolierte revolutionäre Guerilla-Vorhut handelte, die den Aufstand probte, sondern der Widerstand gegen den Diktator deutlich und sichtbar vom Volk getragen wurde. Nach dem Sieg der Sandinist*innen begann im westlichen Teil Deutschlands eine unüberblickbare Zahl von Solidaritätskomitees die politische Topografie zu verändern. Selbst in kleinsten Gemeinden gründeten sich Solidaritätskomitees. Vor allem junge Leute fühlten sich von der Revolution angezogen, insbesondere nachdem die USA durch die von ihnen bewaffnete und trainierte Contra-Guerilla die Niederschlagung der Revolution durch Terror gegen die Zivilbevölkerung anstrebten. Menschen unterschiedlichster politischer Gesinnung, einzeln oder organisiert in linken Zusammenhängen, kirchliche Gruppen bis hin zu Grünen-, SPD- und Gewerkschaftsgruppen folgten dem Ruf der Revolution und machten sich in ein bis dahin unbekanntes Land auf, um medizinische Versorgung zu leisten, zu unterrichten, Schulen und Siedlungen zu bauen oder bei der Kaffeeernte zu helfen.

In El Salvador, wo die Oppositionsbewegung mit dem Sieg der Sandinist*innen ungeheuren Auftrieb erhielt, standen sich Anfang der 80er Jahre eine starke Guerilla und eine von den USA hochgerüstete Armee gegenüber und auch in Guatemala schienen sich mit dem Zusammenschluss der vier Guerillaorganisationen die Voraussetzungen für eine Volkserhebung abzuzeichnen. Die Solidaritätsbewegung in Deutschland weitete dementsprechend ihre Praxis auf ganz Mittelamerika aus.

Im Editorial vom Februar 1995 beschäftigten wir uns mit dem Scherbenhaufen, vor dem die Solidaritätsbewegung nach dem Ende der revolutionären Hoffnungen stand: Nach fast 10 Jahren Krieg waren die Nicaraguaner*innen kriegsmüde und nach 50.000 Toten vom Terror der Contra-Guerilla zermürbt. 1990 verlor die FSLN die Wahlen und stand damit an einem Scheideweg: Auf ihrem Parteikongress 1994 spaltete sich die Partei, wobei der Flügel, der die Demokratisierung anstrebte, unterlag. Der von Daniel Ortega angeführte Mehrheitsflügel bestätigte dagegen seinen Führungsanspruch. Als Ortega 2007 erneut Präsident wurde, trugen sein autoritärer Führungsstil, sowie der in der Partei verankerte Vertikalismus bereits den Keim für die Errichtung der heutigen Diktatur in sich: Eine Familiendynastie, die an der Spitze von strategisch wichtigen Unternehmen, Geschäften und Kommunikationsmedien steht und der jedes Mittel recht ist, um sich an der Macht zu halten.

Für die Solidaritätsbewegung hatte dieser Prozess schon früh demobilisierenden Charakter, viele Gruppen lösten sich auf oder zogen sich auf die Unterstützung jener Projekte zurück, die sie einst mitinitiiert hatten und für deren Überleben sie sorgen wollten. Andere übernahmen das Narrativ der Ortega-Anhänger*innen, wonach − frei von jeglicher Selbstkritik und trotz offensichtlicher Verfehlungen − allein der von den USA geführte Contra-Krieg für die Wahlniederlage verantwortlich gemacht wurde.

Elisabeth Erdtmann ist seit 2018 Redaktionsmitglied mit dem Schwerpunkt Nicaragua
Lya Cuéllar koordiniert den Runden Tisch Zentralamerika und ist Redaktionsmitglied bei LN


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// ES HERRSCHT KRIEG

Viele Menschen werden grausam und skrupellos ermordet, noch mehr Menschen verlieren ihr Zuhause, packen das Notwendigste, um zu fliehen und hoffen darauf, dass ihnen irgendwo Schutz gewährt wird. Familien werden getrennt, Verzweiflung überall. Seit der russische Präsident Wladimir Putin seinen brutalen und völkerrechtswidrigen Angriffskrieg begonnen hat, passiert das nicht einmal zehn Autostunden von Deutschland entfernt in der Ukraine. Wir verurteilen die Aggressionen der russischen Führung und fordern ihre sofortige Beendigung.

Immerhin: Inmitten des Leids gibt es auch viele Bürger*innen, Unternehmen und staatliche Institutionen, die Solidarität zeigen – auch in Deutschland. Züge und Busse werden bereitgestellt, an den Bahnhöfen nehmen vor allem freiwillige Helfer*innen die Geflüchteten in Empfang. Auch wenn vieles chaotisch läuft – die Grundversorgung funktioniert. Ukrainer*innen erhalten vergleichsweise unbürokratisch einen Aufenthaltstitel, Sozialleistungen und eine Arbeitserlaubnis. Für die Betroffenen ein Lichtblick in ihrer schrecklichen Situation. Wir begrüßen es sehr, dass aktuell viel dafür getan wird, den geflüchteten Ukrainer*innen in ihrer Notlage zu helfen.

Wie schön wäre es aber, wenn allen Geflüchteten in einem solchen Maße Solidarität entgegengebracht würde. Auch in Afrika, im Mittleren Osten oder in Lateinamerika herrschen an vielen Orten dauerhaft kriegerische Konflikte. Sie werden meistens nicht als „Krieg” betrachtet, obwohl nationale sowie internationale Regierungen beteiligt sind. Diese Handlungen in der „Peripherie” gehen heute von bewaffneten staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen aus, die die Bevölkerung terrorisieren und den Betroffenen keine Chance lassen, sich wirksam vor ihnen zu schützen. Das individuell und gesellschaftlich verursachte Leid wird dadurch jedoch keineswegs kleiner.

In Mexiko, Kolumbien und Brasilien wurden in den vergangenen Jahren monatlich jeweils mehr als 1.000 Menschen getötet. Dort gelangen deutsche Waffen durch illegale Lieferungen, etwa von Heckler & Koch oder Sig Sauer, immer wieder auch in die Hände derjenigen, die Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen, Journalist*innen und Politiker*innen ermorden. Laut Schätzung des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte entspricht die Anzahl dieser Morde in etwa der Anzahl der nicht an den Kämpfen beteiligten Menschen, die in der Ukraine umgebracht wurden. Dennoch erfahren die Opfer dieser gewaltsamen Auseinandersetzungen unterschiedlich viel Aufmerksamkeit. Konflikte in Lateinamerika und anderswo finden nicht vor unserer Haustüre statt. Und im Unterschied zur Ukraine flüchten in aller Welt nicht vorwiegend weiße Europäer*innen, sondern oft Menschen mit einer anderen Hautfarbe und/oder Religion. Sie haben es unendlich viel schwerer, in der EU aufgenommen zu werden und meist kaum eine Chance auf ein Bleiberecht und eine Arbeitserlaubnis. Diese Ungleichbehandlung ist durch nichts zu legitimieren und verstößt gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, die eine Diskriminierung „aus Gründen der Rasse, der Religion oder des Herkunftslandes” verbietet.

Wir wollen nicht hinnehmen, dass es Geflüchtete „niedrigeren” und „höheren” Ranges gibt. Angesichts dieser Widersprüche in der Flüchtlingspolitik, die durch den russischen Angriffskrieg und seine Konsequenzen erneut deutlich werden, fordern wir, dass alle Menschen, die in ihrer Heimat von Krieg und Ermordung bedroht sind, nicht nur theoretisch, sondern auch in der Praxis das gebotene Maß an Hilfsbereitschaft erfahren – unabhängig von ihrer Herkunft. Russlands Invasion in der Ukraine ist grauenvoll. Zu wünschen bleibt, dass ihre Folgen ein Umdenken in Gesellschaft und Politik bewirken, zukünftig nicht mehr „Kapazitätsgrenzen” vorzuschieben, sondern allen Schutzsuchenden einen neuen Anfang und sicheren Zufluchtsort zu ermöglichen.


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REISE DER REBELLION

In internationalen Gewässern Das Segelschiff der Zapatistas ist auf dem Weg nach Europa (Foto: Enlace Zapatista)

Am 3. Mai ist eine siebenköpfige Delegation der zapatistischen Autonomiebewegung mit einem Segelschiff von Südmexiko in Richtung Europa aufgebrochen. Das Schiff erreichte am 11. Juni die Azoren. Doch die sieben Segler*innen sind nur die Vorhut, die gesamte Delegation soll aus über 150 Vertreter*innen der EZLN (Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung) und des CNI (Nationaler Indigener Kongress) bestehen. Mindestens drei Viertel von ihnen sollen Frauen und Queers sein. In Europa angekommen, werden sie in verschiedenen Konstellationen unterschiedliche Orte, soziale Bewegungen und Kämpfe „von unten und links“ besuchen. Ein zentraler Termin der Reise wird der 13. August in Madrid sein: 500 Jahre nach der Eroberung des Gebietes des heutigen Mexikos durch Spanien ist das Ziel dieses Stopps, symbolisch zu verdeutlichen, dass der indigene Widerstand gegen den Kolonialismus anhält. Die Zapatistas betonen, dass vor 500 Jahren damit begonnen wurde, die Menschen in den Amerikas zu kolonisieren, aber es nie geschafft wurde, sie zu unterwerfen.

Aber was ist das Besondere an dieser Reise? Eine Delegation indigener Aktivist*innen, die durch Europa fahren und soziale Bewegungen besuchen? Die Bilder von den Revolutionär*innen in Sturmhauben sind vom Süden Mexikos aus längst um die Welt gegangen und doch sind die Hintergründe ihres Kampfes für viele immer noch ein Mysterium. So hängt die Bedeutung dieser Reise eng mit der Geschichte der zapatistischen Bewegung, einem Vierteljahrhundert des Aufstands und der Strahlkraft ihres inspirierenden Charakters für soziale Bewegungen weltweit zusammen. Der Beginn dieses Aufstandes der EZLN fand nicht ohne Grund am 1. Januar 1994 statt, dem Tag des Inkrafttretens des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA). Es ist ein Aufstand, der sich nicht nur gegen die Marginalisierung der indigenen Bevölkerung richtet, sondern auch gegen den internationalen neoliberalen Kapitalismus, für den das NAFTA-Abkommen so exemplarisch steht.

Nach über zehn Jahren Vorbereitung hatten die bewaffneten Kämpfer*innen der EZLN am 1. Januar 1994 fünf Bezirkshauptstädte in Chiapas, einem Bundesstaat im südlichen Mexiko, besetzt und damit der mexikanischen Regierung den Krieg erklärt. Der Aufstand kam für internationale Beobachter*innen wie aus dem Nichts. Niemand hatte ihn vorhergesagt oder auch nur mit ihm gerechnet. Nach wenigen Tagen zogen sich die Zapatistas aus den Bezirkshauptstädten in die ländlichen Regionen zurück.

Der zapatistische Aufstand als „Einladung zur Rebellion“ weltweit

Unterstützt durch die mexikanische Zivilgesellschaft konnten sie nach zwölf Tagen eine Waffenruhe mit der mexikanischen Regierung erreichen. Die nach langen Verhandlungen 1996 im Vertrag von San Andrés vereinbarte Anerkennung der Rechte und Autonomie indigener Bevölkerungsgruppen wurde nie in die mexikanische Verfassung eingeschrieben. Trotzdem hat die EZLN im Osten Chiapas eine faktische Autonomie umgesetzt, doch bis heute sind die Zapatistas immer wieder Angriffen der mexikanischen Regierung und paramilitärischer Einheiten ausgesetzt (siehe LN 543/544). Die zapatistischen Gemeinden in den autonomen Gebieten zeichnen sich durch ihre basisdemokratische Selbstorganisation aus. Hier wird der Versuch gewagt, eine andere Form des Zusammenlebens auszuprobieren.

Für soziale Bewegungen weltweit sind das Erproben neuer Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens geschichtlich immer inspirierende Momente gewesen und auch die zapatistische Befreiung ist hier keine Ausnahme. Schon seit 1996 finden regelmäßig internationale Treffen in Chiapas statt und Menschen verschiedenster sozialer Bewegungen weltweit sind den Einladungen gefolgt. Zudem reisen immer wieder Menschen und Delegationen nach Chiapas, um beim Aufbau der Infrastruktur zu helfen. Zapatistischer Kaffee für die finanzielle Unterstützung ist quasi schon Pflicht für viele europäische Aktivist*innen.

„Finden, was uns gleich macht.“

Dass die Zapatistas bis heute einen so großen Einfluss auf diverse soziale Bewegungen haben, ist aber vor allem ihrem Politikverständnis anzurechnen. Sie verbinden feministische, ökologische, anti-koloniale und anti-neoliberale Perspektiven mit einem machtkritischen und zutiefst selbstreflexiven Verständnis. Dieses spiegelt sich auch in ihrem Motto „Fragend schreiten wir voran!“ wider: Der zapatistische Aufstand ist in seiner Idee nicht auf sich bezogen, sondern versteht sich vielmehr als „Einladung zur Rebellion“ auf der ganzen Welt, dem es nicht darum geht, die Macht über Institutionen oder den Staat zu übernehmen, sondern eine andere autonome gesellschaftliche Organisation des Alltags aufzubauen. Die Zapatistas wollen verschiedene Perspektiven nicht gegeneinander diskutieren, sondern diese solidarisch nebeneinander stellen, sich aufeinander beziehen lassen, ohne sich auszuschließen, auch wenn sie sich oft widersprechen. Es geht für die indigenen Revolutionär*innen darum, aus gemeinsamen Kämpfen „von unten und links“ zu lernen. Internationale Solidarität ist demnach nicht der einfache Blick auf die Orte widerständiger Kämpfe, sondern darüber hinaus eine Einladung zur gegenseitigen Inspiration.

Als am 5. Oktober vergangenen Jahres ein Kommuniqué der EZLN erschien, in dem sie ankündigten, alle fünf Kontinente zu bereisen und sich im April dieses Jahres Richtung Europa auf den Weg zu machen, löste das eine große Aufregung innerhalb europäischer sozialer Bewegungen aus. Inmitten einer Pandemie machten die Zapatistas wie so oft eine unerwartete Ankündigung: „Verschiedene zapatistische Delegationen aus Männern, Frauen und Anderen der Farbe unserer Erde werden die Welt bereisen. Wir werden gehen oder segeln, bis hin zu weit entfernten Ländern, Meeren und Himmeln. Wir wollen weder die Unterschiede suchen, noch die Überlegenheit oder die Konfrontation, noch viel weniger Vergebung und Mitleid. Wir werden finden, was uns gleich macht.“

In Europa laufen unterdessen die Vorbereitungen für eine Reise, die schwer zu planen ist und deren Realisierbarkeit Unterstützer*innenorganisationen schon in Frage gestellt hatten. Obwohl der erste Teil der Delegation bereits in See gestochen ist, sind viele Fragen zur Route und dem Ablauf der Veranstaltungen und Aktionen offen. Bis jetzt ist nur klar, dass die gesamte Delegation am 13. August in Madrid sein, sich im Laufe der Reise aber auf verschiedene Orte aufteilen wird.

Trotz dieser Herausforderungen und der geringen Planbarkeit sagt Uli vom Ya-Basta-Netz, einer deutschlandweit agierenden Unterstüt-*zer*innenorganisation: „Wir werden Vieles auf die Beine stellen und es sind unglaublich viele Menschen, die mitmachen wollen“. Bereits jetzt nähmen Hunderte an der Vorbereitung teil. Ya Basta geht davon aus, dass sich noch weitaus mehr interessierte Menschen mobilisieren lassen werden, wenn die Delegation erst einmal angekommen ist. Dass so viele Menschen in die Reise involviert sind, läge daran, dass es nicht nur um das Organisatorische, sondern auch darum geht, „zusammen zu kommen und trotz aller Unterschiede hier gemeinsam weiter zu machen“, erklärt Uli. An den verschiedenen Orten laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren und die Pläne verstetigen sich, je näher die Ankunft der Zapatistas rückt. Auch Bewegungen und Organisationen aus unterschiedlichen Ländern vernetzen sich dafür. Zu Themenfeldern wie Antirassismus, Feminismus und Klimagerechtigkeit haben sich sowohl lokal als auch überregional Arbeitsgruppen gebildet. Die Vorbereitungsgruppen achten insbesondere darauf, basisdemokratisch zu entscheiden und zu handeln.

Am Jahrestag des zapatistischen Aufstandes, am ersten Januar 2021, veröffentlichte die EZLN unter dem Titel „Eine Erklärung für das Leben“ ihr letztes von sechs Kommuniqués zur Reise – diesmal an der Seite internationaler Unterstützer*innenorganisationen. Im gemeinsamen Kommuniqué wird einmal mehr deutlich: Was diese Reise ausmacht, ist das Verständnis der zapatistischen Politik. Es geht den indigenen Revolutionär*innen nicht um das bloße Bereisen Europas und der sozialen Bewegungen vor Ort, sondern darum, einen Austausch mit den Menschen zu initiieren, zu inspirieren, selbst Inspiration einzuholen und aktiv gemeinsame Kämpfe zu führen. Die Zapatistas verstehen die Vielfalt und Widersprüchlichkeiten verschiedener linker Positionen als Stärke, in der sich Möglichkeiten für die einzelnen Kämpfe bieten. Sie wollen von den europäischen sozialen Bewegungen nicht glorifiziert werden. Vielmehr soll es für jene darum gehen, die Einladung zur „Rebellion für das Leben“ anzunehmen und mit den Zapatistas neue Impulse für gemeinsame Kämpfe zu finden.

Internationale Solidarität ist gegenseitige Inspiration

Es bleibt abzuwarten, was auf dieser Reise passieren wird und welche Herausforderungen auf die Zapatistas und die einladenden Gruppen zukommen. So sind nach wie vor eine Reihe von Ungereimtheiten offen, zum Beispiel bezüglich der Einreise in die EU oder die Frage, wie der gesamte Ablauf koordiniert werden kann.

Die Zapatistas werden auch auf dieser Reise für Überraschungen gut sein. Wenn sie in wenigen Wochen vor der Küste Spaniens anlegen, wird das Abenteuer, welches sie nach Europa tragen, erst richtig beginnen. Offen bleibt, welchen Einfluss dies auf die sozialen Bewegungen vor Ort haben wird. Wird eine neue Form der Zusammenarbeit, Organisation und des internationalen gemeinsamen Kampfes entstehen? Werden diese neue Stärke gewinnen und neue kreative Wege einschlagen? Vieles bleibt spannend, daher wird es sich lohnen, die Reise aufmerksam zu verfolgen. Die zapatistische Bewegung hat seit ihrem Beginn die sozialen und linken Bewegungen weltweit inspiriert. Es lässt sich vermuten, dass ihre Reise ein neues Kapitel der internationalen Solidarität aufschlagen wird.


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EIN MENSCHLICHER KÄMPFER

Gefragt Albert Luther während der Besetzung der westdeutschen Botschaft in Nicaragua 1986 (Foto: Rob Brouwer)

Die Gedanken reisen zurück in die 1980er Jahre, nach Managua in Nicaragua: in Alberts Haus im Stadtteil El Dorado, auch Eldorado für viele Internationalist*innen. Es war Umschlagplatz für Informationen, Schwarzbrot und Käse, Briefe und Päckchen aus der fernen Heimat, zudem ausgestattet mit einem echten Telefon, ein Juwel in jener Zeit ohne Internet und Handy. Albert hat Haus, Kühlschrank, Auto, sein Leben mit uns geteilt. In seinem großen Herzen war Platz für die unterschiedlichsten Menschen. Als Pfarrer hatte er sich der Befreiungstheologie zugewandt. Er war ein radikaler Menschenfreund, ein menschlicher Kämpfer für eine gerechte Gesellschaft, die die Sandinist*innen damals den Nicaraguaner*innen versprachen. Faszinierend für Albert und für viele junge Menschen, die deshalb aus aller Welt nach Nicaragua kamen.

So bot sein Haus uns ein Zuhause und den Platz für leidenschaftliche politische Diskussionen über Revolution, Solidarität, die sandinistische Politik, die Rolle der Befreiungstheologie. Egal ob Brigaden-Koordination, ökumenische Delegationen oder Gewerkschafter*innen: sie alle debattierten auf den nicaraguanischen Schaukelstühlen seines Wohnzimmers. Über Alberts Telefon kamen gute und schlechte Nachrichten. Er wurde angerufen, wenn die von den USA finanzierten Contras Menschen entführten oder töteten. Bei ihm klingelte das Telefon, als eine deutsche Brigade entführt und auch als die Internationalisten Iwan, Joel und Bernd 1986 zusammen mit Nicaraguaner*innen in einem Hinterhalt der Contra umgebracht wurden. Albert wurde zum Seelsorger und „Pressesprecher“ zugleich. Er war nicht eitel, es ging ihm nie darum im Vordergrund zu stehen, und vielleicht war genau das der Grund, warum er im Mittelpunkt stand. Als 1986 die Contra eine deutsche Brigade entführte, wurde sein Haus zum Sitz des „Krisenstabs“ der Solidaritätsgruppen. Von dort liefen die Kontakte nach Deutschland: über das Informationsbüro in Wuppertal zu den Angehörigen der Entführten und zum Krisenstab in Bonn. Aktionen wurden geplant, mit denen Druck auf die Bundesregierung ausgeübt werden sollte, damit diese gegenüber der US-Regierung und der Contra für die Freilassung der Entführten aktiv wird. So wurde die deutsche Botschaft in Managua besetzt, Internationalist*innen ketteten sich vor der US-Botschaft und an zentralen Plätzen in Costa Rica und Honduras an, da die Contras in diesen Ländern Militärbasen unterhielten. In seiner ruhigen und gelassenen Art strukturierte Albert das Gewusel, hatte immer den Kontakt zur richtigen Ansprechperson in Regierung oder Presse. Nach drei Wochen wurden die acht Entführten freigelassen. Albert war Mitorganisator der großen Pressekonferenz mit den Freigelassenen, die weltweites Interesse fand.

Wir sind traurig, dass Albert am 4. April 2021 an Corona gestorben ist. Uns bleiben viele Erinnerungen und existentielle Politik- und Lebenserfahrungen mit Albert. Seine Großzügigkeit und Herzlichkeit haben unsere gemeinsame politische Arbeit geprägt.


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// BILDET ANTIKÖRPER!

Ziemlich einsam fühlen sich die Redaktionssitzungen der Lateinamerika Nachrichten derzeit an. Statt mit einem Plausch vor und einem Bierchen nach der Sitzung, beschäftigen wir uns jetzt mit ausgefallenen Mikrofonen, Rauschen und anderen nervigen Technikproblemen während der Telefonkonferenzen. Seit fast zwei Monaten geht das nun so. Dass wir uns nur noch virtuell treffen, heißt für manche von uns, gar nicht mehr an den Sitzungen teilnehmen zu können.

Wie an vielen nagt auch an uns die soziale Isolation. Die Pandemie macht uns bewusst, dass wir soziale Wesen sind, die einander brauchen. Unsere lebendigen Unterhaltungen und das gemeinsame Frühstück zu Beginn eines jeden Produktionswochenendes können nicht so einfach durch eine Telefonkonferenz ersetzt werden. Jetzt, wo wir allein in unseren eigenen vier Wänden sitzen, erscheinen uns selbst die manchmal bis vier Uhr morgens ausartenden Nachtschichten eines Umbruchssamstags fast schon wieder verlockend.

LN-Alltag in Zeiten der Pandemie

Die politischen Diskussionen jenseits der Heftproduktion fehlen uns gerade jetzt, denn auch wir schauen voller Sorge auf die derzeitigen Entwicklungen. Mit den Ereignissen der vergangenen Wochen haben sich die Grundlagen unseres Wirtschaftssystems im Bewusstsein vieler Menschen ganz von selbst in Frage gestellt. Eine logische Folge wäre es, die Krise als Chance für ein grundsätzliches Umsteuern zu begreifen und ab jetzt das Leben und die Sorge darum in den Mittelpunkt zu stellen: Dem, was nun „systemrelevant” genannt wird, etwa der Arbeit in der Pflege, Betreuung, Versorgung und Gesundheit, auch die Anerkennung zu geben, die sie verdient und sicherzustellen, dass die dahinterliegenden Strukturen keinen profitorientierten Prinzipien folgen.

Die Doppelmoral von Politiker*innen aller Couleur, die Solidarität zum neuen Begriff der Stunde gemacht haben, zeigt sich nicht zuletzt daran, wer und was nun geschützt werden soll oder für wen Grenzen geöffnet oder geschlossen werden. Die Krise betrifft uns alle, aber nicht alle gleich.

„Nicht alle Leben sind es wert, in dieser Krise versorgt, geschützt oder anerkannt zu werden”, sagt auch die feministische Aktivistin Javiera Manzi in einem Interview für diese Ausgabe über die Politik der chilenischen Regierung. Gerade diejenigen, die ohnehin schon kämpfen müssen, um das alltägliche (Über-)Leben zu sichern, werden auch aus der Corona-Pandemie wieder als Verlierer*innen herausgehen – ohne dass jemand ihren Lohnausfall bezahlt, ihre Mietschulden übernimmt oder die Voraussetzungen dafür schafft, Abstand halten zu können. Und wie sich so oft zeigt, müssen sie sich selbst organisieren, um fehlende staatliche Schutzmaßnahmen aufzufangen. Das bringt auch in dieser Krise wieder beeindruckende Solidaritätsaktionen hervor. Sei es in Chile, wo das soziale Gefüge seit den monatelangen Protesten so intakt ist, wie vielleicht nie zuvor und die feministische Bewegung mit einem Notfallplan für die kollektive Sorgearbeit reagiert hat. Oder in Kolumbien, wo sich mit Beginn der Ausgangssperre spontane Kollektive zum Sammeln und Verteilen von Lebensmittelspendengegründet haben. Die indigenen und kleinbäuerlichen Kooperativen, die in Ecuador die Versorgung mit Nahrungsmitteln gegen die Preisspekulation sicherstellen. Die Landlosenbewegung MST in Brasilien oder die UTT in Argentinien, die tonnenweise selbst angebaute Lebensmittel verschenken. Die Menschen in den Favelas von Brasilien, die Netzwerke gründeten, um die Nachbarschaft mit Hygiene-Artikeln, Lebensmitteln und Informationen über COVID-19 zu versorgen.

Beeindruckende Solidaritätsaktionen

Sowohl die alten wie  die neuen Probleme, die das Coronavirus derzeit an die Oberfläche bringt, als auch, wie Menschen auf sie reagieren, geben uns also mehr als genug Gründe, an unseren Themen dran zu bleiben und weiter zu berichten. Dass wir trotz der widrigen Umstände jetzt unsere zweite digitale Produktion hinter uns haben, zeigt, dass es auch bei uns Spielraum für ungeahnte Veränderungen gibt. Das macht uns auch ein wenig stolz. Sehr viel Mut und Kraft gebt auch ihr uns dafür, liebe Leser*innen und Abonnent*innen. Danke für euren Zuspruch, euer Lob, eure konstruktive Kritik in den vergangenen Wochen und dafür, dass ihr uns (teilweise schon mehr als 40 Jahre) die Treue haltet! Bleibt gesund, bleibt solidarisch und − um einen Zuspruch einer unserer Leserinnen zu zitieren: “Bildet Antikörper!” – Antikörper gegen die Zumutungen des kapitalistischen Krisenalltags.


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// ALLEIN DIE SOLIDARITÄT KANN UNS RETTEN

Ein vorbildlicher Demokrat ist Nayib Bukele ganz sicher nicht: Das zeigte El Salvadors junger Präsident, als er Anfang Februar das Parlamentsgebäude von Soldat*innen und Polizist*innen besetzen ließ, um ein Paket zur Finanzierung seiner repressiven Sicherheitspolitik durchzusetzen (siehe LN 549). Dieses verfassungswidrige Vorgehen war den hiesigen Medien kaum mehr als eine Nachricht wert. Nicht viel anders verhält es sich in Bezug auf Bukeles bemerkenswertes Vorgehen gegen das Coronavirus. Nach nur fünf nachgewiesenen Fällen im Land erließ er weitreichende Maßnahmen: Alle, die sich in „obligatorischer Quarantäne“ befänden, könnten ihre Zahlungen für Miet-, Wasser- und Telefon für drei Monate aussetzen, ebenso wie Kredit- und Zinszahlungen. 

In seiner viral gehenden Videobotschaft wandte sich der ehemalige Unternehmer Bukele an die Vertreter*innen der Geschäftswelt: „Ich garantiere Dir, was Dich am wenigsten interessiert, wenn Du ein Beatmungsgerät brauchst, ist Dein Bankkonto. Wie viel sind Dir Deine Mutter wert, Dein Vater, Deine Kinder? Gut, Du wirst vielleicht 20 Prozent Deines Kapitals verlieren, aber es gibt Menschen, die heute Abend nichts zu essen haben. Das Einzige, was uns jetzt rettet, ist Solidarität.“

Bukele neigt zur One-Man-Show, daher wird sich zeigen müssen, ob seinen Worten entsprechende Taten folgen. Unbestreitbar trifft allerdings seine Kernbotschaft zu: „Das Einzige was uns jetzt rettet, ist Solidarität.“

 Nicht die Solidarität, sondern das Virus rettet derzeit Chiles Präsident Sebastián Piñera. Die rechte Regierung hat unter dem Schirm des Seuchenschutzes endlich das geeignete Mittel gefunden, um die seit mehr als fünf Monaten andauernden Proteste zu seinem Vorteil und dem der herrschenden Elite zu beenden. Ein Negativbeispiel dafür, wie die Aussetzung von Grundrechten missbraucht werden kann.
 
Nicht alle Regierungschefs in Lateinamerika nehmen das Corona-Virus ernst. Von extremer Ignoranz ist die Situation in Nicaragua gekennzeichnet, wo weiterhin zu Massenveranstaltungen aufgerufen wird. Bereits zu Beginn der Krise hatte Rosario Murillo, die Ehefrau von Präsident Ortega, unter dem Motto „Liebe in Zeiten von Covid-19″ zu einer Demonstration mobilisiert. Die staatlichen Institutionen sind nicht geschlossen, Schulen und Universitäten bleiben weiterhin geöffnet. 
 
Auch in Brasilien versucht der rechtsradikale Präsident Jair Bolsonaro mit allen Mitteln, den Stillstand des öffentlichen Lebens zu unterbinden und erklärt sich in täglichen Videobotschaften als willfähriger Handlanger seiner Unterstützer*innen: „Das Land muss zur Normalität zurückkehren. Eine Wirtschaftskrise ist viel tödlicher als diese kleine Grippe.“ Ein Diskurs, der auch in Europa in den vergangenen Tagen zunehmend an Fahrt aufnimmt. 
 
In der Corona-Pandemie zeigt sich überdeutlich, dass ein System, in dem Gesundheit zur Ware erklärt wurde, nicht dazu geeignet ist, auf eine weltweite Katastrophe angemessen zu reagieren. Der Wettbewerb der Konzerne, um Tests, Impfstoffe und Medikamente zuerst „auf den Markt zu bringen“, überlagert die gemeinsamen Forschungsanstrengungen und Normen der Weltgesundheitsorganisation. Internationale Lieferketten für Teststäbchen und Atemschutzmasken sind ebenso wenig pandemie-kompatibel wie eine privatisierte Gesundheitsversorgung. 
 
Wenn die Welt “nach Corona” tatsächlich nie wieder so sein wird wie zuvor, wie überall zu hören ist, dann müssen wir uns schon jetzt dafür einsetzen, dass nach der Pandemie die demokratischen Rechte nicht nur wieder hergestellt, sondern erweitert werden. Menschenrechte sind keine Ware, weder das Recht auf Gesundheit noch das Recht auf Wohnen, auf Nahrung oder auf Wasser. Wenn uns heute allein die Solidarität rettet, dann muss dies auch in Post-Corona-Zeiten gelten. Anders als in der Finanzkrise sollten und müssen wir die neuen Erkenntnisse und Handlungsspielräume, die sich in der aktuellen Krise eröffnen, nutzen.

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IM KLASSENZIMMER ZU HAUSE

Fotos: Inés Ripari

Nur ein Schildchen hinter dem Eisengittertor weist darauf hin, dass sich in dem grauen Hochhaus eine Schule befindet. Ansonsten könnte man das sechsstöckige Gebäude auch für eine Bauruine halten. Hier am Bahnhof Chacarita in Buenos Aires befand sich früher die Hauptverwaltung der argentinischen Eisenbahngesellschaft. Als diese 2011 den Langstreckenverkehr einstellte, wurde das Gebäude besetzt. Noch im gleichen Jahr zog die „Mocha Celis“ ein, eine selbstorganisierte Schule für Erwachsenenbildung, gegründet von und für trans Personen und Travestis. Der Begriff Travesti wurde in den Neunzigern von Lohana Berkins als politische Identität und Kampfbegriff geprägt, der nicht nur eine Gender- sondern auch eine Klassenperspektive umfasst und die spezifische Lebensrealität von trans Personen in Lateinamerika beschreibt. Die prekären Lebensbedingungen und die ständige wirtschaftliche Krisensituation im Falle Argentiniens verschärfen die Gewalt, der Travestis im Bildungs- und Gesundheitssystem oder beim Wohnen und Arbeiten ausgesetzt sind.

„Wie viele Travestis sitzen mit euch im Psychologieseminar?“

Die Besetzung alter Fabrikgebäude für Klassenzimmer ging aus einer wirtschaftlichen Notsituation hervor: als staatliche Strukturen zusammenbrachen, organisierten sich Menschen in den Vierteln und entwickelten alternative Bildungsangebote. So entstand auch die Schule in Chacarita, in der Menschen innerhalb von drei Jahren ihren Sekundarschulabschluss, das Bachillerato, nachholen können. Der Name erinnert an die Travesti-Aktivistin Mocha Celis aus der argentinischen Provinz Tucumán, die 1996 von einem Polizisten ermordet wurde. Sie hatte nie lesen und schreiben gelernt.

Direktor Francisco Quiñones ist Gründungsmitglied der Mocha.

Ein enger Fahrstuhl voller Graffitis bringt mich in den fünften Stock. Die Tür des Aufzugs klemmt beim Öffnen. Dann stehe ich in der großen, lichtdurchfluteten Aula der „Mocha“. Es ist Samstagnachmittag, in der Aula sitzen Schüler*innen im Alter von 16 bis 40 zusammen an den Hausaufgaben. Auch außerhalb der Unterrichtszeit dient die Schule als Treffpunkt. Aus diesem Klassenzimmer hört man Tritte gegen Boxpratzen, aus jenem Stimmübungen und Tonleitern. Im dritten Raum empfängt der Direktor Francisco Quiñones zur Pressekonferenz. Seit es so viele Medienanfragen gibt, finden diese Treffen regelmäßig statt. Quiñones ist 35 Jahre alt und Gründungsmitglied der Mocha. „Warum habe ich euch alle zusammen eingeladen? Erstens, weil immer die gleichen Fragen gestellt werden. Zweitens, weil wir den akademischen Extraktivismus satt haben. Damit meine ich, dass Leute herkommen und auf der Grundlage der Erfahrungen der Schüler*innen ihre Masterarbeiten und Reportagen schreiben. Dafür bekommen sie akademische Titel oder Geld. Aber wir haben meist nichts davon. Wir kämpfen weiter jeden Monat damit, die Strom- und Wasserrechnungen zu bezahlen.“

Nach mehr als 30 Jahren zurück ins Klassenzimmer

Tatsächlich sitzen in der Runde Psychologie- und Soziologiestudierende und drei Journalist*innen, eine davon bin ich. Manche nicken, alle halten die Klappe. „Das heißt nicht, dass ihr nicht willkommen seid. Ich will nur auf strukturelle Probleme aufmerksam machen: Wie viele Travestis kennt ihr, die mit euch im Psychologieseminar sitzen? Wahrscheinlich keine. Das liegt nicht an mangelndem Interesse, sondern daran, dass bestimmte Menschen früh aus dem Schulsystem gekickt werden.“

Nicht mal zwei von zehn trans Frauen schließen in Argentinien die Schule ab, neun von zehn werden Sexarbeiter*innen. Das steht auf einem gemeinsamen Infoflyer des argentinischen Trans-Gedenkarchivs und der Mocha. Seit 2012 sammelt das Archiv Fotos, Briefe und Postkarten einer Community, deren Geschichten und Kämpfe sonst kaum dokumentiert sind. „90 Prozent werden Opfer von Gewalt, 85 Prozent von Missbrauch durch Polizisten“, heißt es weiter. Die Lebenserwartung einer trans Frau in Argentinien liegt bei 35 Jahren, nicht einmal halb so lang wie der Durchschnitt. Trans Frauen über 35 werden als Überlebende bezeichnet. „Wenn eine Travesti eine Universität betritt, dann verändert das das Leben dieser Travesti. Viele Travestis an der Universität verändern die Gesellschaft.“ Dieses Zitat von Lohana Berkins, einer der treibenden Kräfte bei der Konzeption der Schule, haben Schüler*innen in bunter Schrift auf die weiße Wand der Aula gemalt.

Quiñones macht eine kurze Pause. „Trotzdem gut, dass ihr da seid. Wir brauchen nämlich Unterstützung: Kauft und lest Bücher von Lohana und anderen Travesti-Aktivist*innen. Organisiert Screenings für den Dokumentarfilm* der Mocha, den Schüler*innen selbst gedreht haben. Esst hier in der Cafeteria statt bei McDonalds. Die Schüler*innen können das Geld gut gebrauchen. Fast alle sind seit Jahren vom klassischen Arbeitsmarkt ausgeschlossen.“

Erste legale Anstellung nach Jahren in der kriminalisierten Sexarbeit

Seit Juli 2018 gibt es in Argentinien ein Gesetzesprojekt, nach dem ein Prozent aller öffentlichen Stellen von trans Personen und Travestis besetzt werden soll. In den letzten Jahren gab es Fortschritte für LGBTIQ-Rechte mit weltweitem Alleinstellungscharakter, etwa 2012 das Gesetz zur Selbstbestimmung der Geschlechtsidentität. Aber Gesetze wie dieses werden oft nur halbherzig umgesetzt. Nur vier von 24 Provinzen haben legislative Schritte für die Quote eingeleitet, erfüllt wird sie nirgends.

Dass Quiñones, einer der wenigen cis Männer in der Mocha, den formellen Posten des Direktors besetzt, liegt an Ausschlüssen aufgrund von Klasse und Geschlecht. Er ist der Einzige mit dem notwendigen Studienabschluss und hofft, den Posten bald an eine*n der Schüler*innen abgeben zu können. Seit 2014 wird die Schule vom Bildungsministerium anerkannt. Die erste Zeugnisverleihung im Festsaal des Ministeriums nutzte Quiñones, um auf die prekäre Situation der Einrichtung aufmerksam zu machen. Der Staat bezahlt 72 Lehrstunden pro Woche und zusätzlich drei Verwaltungsstellen. Je 20.000 argentinische Pesos gibt es dafür, das sind umgerechnet etwa 330 Euro. Für Psycholog*innen oder Sozialarbeiter*innen gibt es kein Budget.

Für fast alle Dozent*innen handelt es sich um die erste legale Anstellung nach Jahren in der kriminalisierten Sexarbeit. Meist teilen sich mehrere Personen die Stellen und damit auch das Geld. „Von diesen Leuten kann man kaum verlangen, einen Teil ihres Gehalts für die Stromrechnung abzudrücken“, so Quiñones. Alle Schüler*innen der Mocha haben Anspruch auf ein städtisches Stipendium für Geringverdienende über 10.000 Pesos im Jahr, etwa 165 Euro. Trotz des expliziten Fokus auf Gender ist die Schule offen für alle, die Diskriminierung im Bildungssystem erfahren: alleinerziehende Mütter, Migrant*innen, alte Menschen.

Viviana González leitet die Selbstverteidigungskurse

Viviana González setzt sich auf einen Tisch im Klassenzimmer. Sie hat gerade den Selbstverteidigungskurs im Nebenraum gegeben und trägt noch ihr Sportoutfit. González hat 2018 ihren Abschluss gemacht und studiert nun Literaturwissenschaften – als erste und bislang einzige trans Frau am Institut. „Als Kind hatte ich wie jede arme Person nur einen Traum: Ich wollte, dass was aus mir wird, wenn ich groß bin. Ich wollte Lehrerin werden. Und ich liebte es, Gedichte zu schreiben.“

„Zum ersten Mal im Leben mache ich das, was mir gefällt.“

Dann erzählt González, wie sie mit zwölf auf keiner Sekundarschule aufgenommen wurde: „Sie schauten in meinen Pass und meinten: ,Du bist ein Junge, du kannst hier nicht verkleidet herkommen‘. Wir versuchten es bei 30 Schulen, überall das Gleiche. Das war das Ende meiner Schulkarriere und des Gedichteschreibens.“ Ab dann verdiente sie Geld auf dem Straßenstrich der Panamericana. „Das Einzige, was mir Halt gab, war der Kampfsport. Mit drei Jahren fing ich an, mit zwölf hatte ich den Schwarzen Gürtel in Karate. Gleichzeitig war das Nachtleben auf der Straße meine Realität. Das hieß Drogen, vor der Polizei wegrennen, verprügelt und vergewaltigt werden. Ich verlor viele Freund*innen in diesen Jahren.“

González spricht schnell, erzählt chronologisch von den Ereignissen ihrer Vergangenheit. „Beim Kampfsport trat ich weiter mit meinem männlichen Namen an und obwohl die Hormontherapie mich schwächte, gewann ich alle Turniere. Ich kämpfte mit der argentinischen Fahne auf meinem Trikot, gewann Medaillen für ein Land, das meine Identität nicht akzeptierte.“ Von der Mocha erfuhr González schließlich durch Bekannte aus Palermo. Im Stadtteil von Buenos Aires, den viele mit hippen Bars verbinden, befindet sich in einem unbeleuchteten Park auch einer der zentralen Straßenstriche. „Zuerst konnte ich mir nicht vorstellen, nach mehr als 30 Jahren zurück in ein Klassenzimmer zu gehen. Verrückt war, dass ich in der Schule viele Bekannte aus Palermo wiedertraf. Ich sah sie zum ersten Mal tagsüber und in Alltagskleidung, sprach mit ihnen und merkte, dass wir sehr ähnliche Geschichten hatten.“ Nachmittags saß sie im Unterricht, nachts verdiente sie weiter ihr Geld auf der Straße. „Es war anstrengend, ich schlief kaum. Ich wollte nicht weiter anschaffen gehen. Ich bin nicht gegen Sexarbeit, ich habe viele Jahre davon gelebt. Ich finde nur, dass Menschen die Möglichkeit haben sollten, sich frei dafür zu entscheiden.“

„Die Mocha ist mein Zuhause.“

Jetzt, mit 49, pendelt González zwischen Vorlesungen und Sportkursen. Für die Mocha gibt sie Selbstverteidigungskurse auf Spendenbasis, für Leute von draußen gegen Bezahlung – eine Idee ihrer Mitschüler*innen. Als Schüler*innenvertreterin setzt sie sich für eine emanzipatorische Sexualerziehung ein. Die Mocha wird Mitte 2020 ihren eigenen Sexualkunde-Kit herausgeben, mit pädagogischen Spielen und interaktiven Videos. Seit 2006 haben Schüler*innen in Argentinien ein Recht auf regelmäßigen Sexualkundeunterricht. Aber auch hier hapert es an der Umsetzung, vor allem während der Amtszeit Mauricio Macris von 2015 bis 2019 blieben emanzipatorische Gesetze in den konservativ besetzten Institutionen stecken. In die Verhandlungen mit der neuen Regierung unter Alberto Fernández werden deswegen große Hoffnungen gesetzt.

Vieles in der Mocha läuft anders als in den meisten Schulen. In Plena sprechen Dozierende und Schüler*innen über das Zusammenleben und treffen gemeinsam Entscheidungen. „Wir versuchen uns an die Lebensrealität der Schüler*innen anzupassen. Die meisten Schüler*innen verdienen abends und nachts ihr Geld, daher ist unser Unterricht nachmittags“, erklärt Quiñones. „Wir organisieren Lern- und Nachhilfegruppen, denn in jedem Jahrgang kommen Menschen mit unterschiedlichen Wissensständen zusammen.“

Die Mocha war weltweit die erste Schule, die die Situation von trans Personen und Travestis explizit in den Blick nahm. Mittlerweile gibt es ähnliche Schulen im argentinischen Tucumán, eine Grundschule in Santiago de Chile und Univorbereitungskurse für trans Personen und Travesti in Belo Horizonte in Brasilien.

Lautaro Rosa verdient mit der Cafeteria der Mocha sein Geld

Lautaro Rosa hat gerade die Cafeteria geschlossen und sich zu uns gesetzt. „Hier läuft es anders als in der Gesellschaft. Nicht wir müssen uns anpassen, sondern die Gesellschaft. Das ist unser Raum. Wir sind, wie wir sind. Wenn Leute nicht darauf klar kommen, einen trans Mann mit Titten zu sehen, dann sollen sie einfach gehen.“ Rosa ist 39 Jahre alt und seit drei Jahren an der Mocha, seitdem hat er schon zweimal abgebrochen und wieder angefangen: „Es ist nicht so, dass ich nicht lernen wollte. Ich musste mich mein ganzes Leben lang zwischen Geld und Bildung entscheiden. Ich bin alleinerziehender trans Vater, meine Tochter lebt bei mir, ich muss die Miete zahlen. Aber ich hatte immer im Hinterkopf, dass ich die Schule fertigmachen will.“ Seit einem Jahr verdient Rosa mit der Cafeteria sein Geld. Er schaut auf seine Hände und erzählt mit stockender Stimme weiter, mehrere Personen im Raum wischen sich dabei Tränen aus dem Gesicht. „Zum ersten Mal im Leben mache ich das, was mir gefällt. Ich will um sechs Uhr morgens aufstehen und zwei Stunden mit dem Bus hierherfahren. Ich will bis neun Uhr bleiben, denn die Mocha ist mein Zuhause. Ich hatte vorher nie ein Zuhause und auch keine Schule. So geht es den meisten hier.“ Nach dem Abschluss will er Soziale Arbeit studieren. „Ich weiß, was es heißt, arm zu sein, ausgegrenzt zu werden. Aber ich habe auch erfahren, dass man da rauskommt.“

Einige Wochen später findet in der Aula eine Fotoausstellung des Trans-Gedenkarchivs statt. Es ist brechend voll, viele Schüler*innen haben sich schick gemacht. Auf den schmalen Schultischen stapeln sich Fotoalben, teilweise stammen die Dokumente aus den 1940er-Jahren. Im Zentrum der Aula stehen Selbstporträts von Schüler*innen der Mocha. Lautaro Rosa lacht selbstbewusst in die Kamera.

Viviana González ist aufgeregt. Sie tritt ans Mikrofon: „Ich musste viel in meinem Gedächtnis kramen, um das aufschreiben zu können. Ich hoffe, ihr mögt es.“ In Stakkatosätzen reiht sie Momentaufnahmen aus ihrem Leben aneinander, malt Bilder aus dem Alltag des Straßenstrichs, gedenkt Freund*innen und Bekannten, die nicht mehr leben. Nur wenig später wird Vivianas Gedicht in einer argentinischen Online-Zeitung veröffentlicht. Als nächstes will sie ein Buch schreiben.


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DOCH DIE WAFFEN EXISTIEREN WEITER

Ein enttäuschtes Seufzen geht durch Saal 1 des Stuttgarter Landgerichts. Soeben hat Frank Maurer, vorsitzender Richter der 13. Großen Wirtschaftskammer, sein Urteil verlesen: zwei Bewährungsstrafen und drei Freisprüche für ehemalige Mitarbeiter*innen des Waffenherstellers Heckler & Koch (H&K). Die Staatsanwaltschaft hatte ihnen vorgeworfen, zwischen 2006 und 2009 Tausende Sturmgewehre vom Typ G36 in mexikanische Unruheprovinzen geliefert zu haben ­– ohne die nötigen Exportgenehmigungen. Maurer sieht es als erwiesen an, dass ein ehemaliger Vertriebsleiter sich der banden­­­­mäßigen Ausfuhr von Waffen mit erschlichenen Genehmigungen schuldig gemacht hat. Der Mann bekommt vom Gericht eine Bewährungsstrafe von 22 Monaten und eine Geldstrafe über 50.000 Euro. Eine Sachbearbeiterin wird wegen Beihilfe zu 17 Monaten auf Bewährung und 250 Stunden Sozialdienst verurteilt. Der Vorsitzende bleibt damit unter der Forderung der Staatsanwaltschaft, Freiheitsstrafen ohne Bewährung zu verhängen. Doch das Seufzen im Gerichtssaal gilt vor allem den Freisprüchen. Besonders pikant ist der für Peter B., früherer Landgerichts-Präsident, der später bei H&K zuständig für Kontakte zu den Behörden war. Verächtliches Gelächter kommt auf, als Maurer die Begründung für den Freispruch verliest: der Ex-Geschäftsführer habe lediglich „Formulierungsvorschläge unterbreitet“, die Indizien würden nicht für eine Verurteilung ausreichen. Darum, was die Mordwerkzeuge in Mexiko angerichtet haben, ging es in dem Prozess nicht. Das stellt Maurer noch einmal klar. Diesen Part haben andere übernommen.

 

Im Namen der Opfer deutscher Waffen Friedensaktivist*innen vor dem Stuttgarter Landgericht (Fotografin: Kerstin Hasenkopf)

Vor dem Gericht machen Friedensaktivist*innen mit einer Mahnwache auf die Opfer der Praktiken von H&K aufmerksam. Wieder. Schon zu Prozessbeginn im Mai 2018 erinnerten sie an den Fall Iguala im September 2014. Damals verschwanden 43 Lehramtsstudent*innen spurlos, nachdem sie von Polizist*innen und Kriminellen angegriffen worden waren, auch mit H&K-Gewehren. Sechs Menschen starben bei dem Angriff. Der Verbleib und das Schicksal der Verschwundenen sind bis heute ungewiss. Iguala liegt in Guerrero, einem der vier mexikanischen Bundesstaaten, in die keine Waffen exportiert werden dürfen. So will es die Bundesregierung – eigentlich.

Die Opfer der Waffen in Mexiko fanden keine Beachtung bei dem Prozess

Die Aktivist*innen in Stuttgart singen kurz vor der Urteilsverkündung von einer Gitarre begleitet Lieder, präsentieren Transparente und entzünden Kerzen. Unter ihnen ist Jürgen Grässlin, der 2010 die Strafanzeige gegen H&K stellte. Carola Hausotter, Koordinatorin der Deutschen Menschenrechtskoordination Mexiko, verliest einen Brief von Leonel Gutiérrez Solano. Seinem Bruder, einem Studenten der Universität Ayotzinapa, wurde von Polizisten in der Nacht des 26. September 2014 in den Kopf geschossen. Seitdem liegt er im Koma. In dem Brief steht: „Wir wissen, dass die Polizisten des Staates Guerrero, die auf die Studenten schossen und meinen Bruder mit einem Schuss in den Kopf lebensgefährlich verletzten, Waffen aus Deutschland besaßen. Es waren Waffen der Firma Heckler & Koch, die sie nie hätten erhalten dürfen.“
Hausotter sagt, dass die Familie gerne am Prozess beteiligt gewesen wäre, das Gericht dies jedoch nicht zugelassen habe. In seinem Brief formuliert Gutiérrez Solano deutlich seine Erwartung, „die Schuldigen“ zu bestrafen und den Opfern und ihren Angehörigen wenigstens etwas Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – auf die sie nach wie vor warten (siehe LN 533). Das Urteil wenig später erscheint vielen Beobachter*innen sehr milde. Von einer „Zwei-Klassen-Justiz“ spricht Grässlin. „Die Kleinen hängt man und die Großen lässt man laufen“, konstatiert er. Grässlins Anwalt Holger Rothbauer kritisiert die Rolle des Staates: „Mit diesem Urteil ist die gesamte Rüstungsexportkontrolle in diesem Land ad absurdum geführt, weil klar wird, dass Endverbleibserklärungen überhaupt keine sinnvolle Funktion haben und beliebig ausgetauscht und gefälscht werden können, ohne dass die Genehmigungsbehörden irgendetwas prüfen“, sagt er. In den Endverbleibserklärungen steht normalerweise, für welche Region die Waffen bestimmt sind. Das Gericht hat die Endverbleibserklärungen für Waffenexporte nicht als Bestandteil von Waffenexportgenehmigungen von Seiten des deutschen Staates gewertet. Deshalb sind die Waffenlieferungen in die verbotenen Bundesstaaten Mexikos nicht nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz, sondern ausschließlich nach dem Außenwirtschaftsgesetz strafbar, das weniger harte Strafen vorsieht.

Auch Cristina Valdivia vom Ökumenischen Büro für Frieden und Gerechtigkeit bedauert, dass die Opfer in Mexiko keine Beachtung im Prozess fanden. Außerdem seien keine Menschenrechtsverletzungen verhandelt worden, sondern lediglich Verstöße gegen das Außenwirtschaftsgesetz und das Kriegswaffenkontrollgesetz. Trotzdem erkenne sie einen „ersten kleinen Schritt zur Gerechtigkeit“, sagt Hausotter. Sie sei zuversichtlich, dass sich in Mexiko etwas tue. Der neue Präsident Andrés Manuel López Obrador hat nach dem Machtwechsel im Dezember 2018 eine neue Wahrheitskommission für Iguala eingesetzt. Das Unternehmen aus dem baden-württembergischen Oberndorf wird vom Richterspruch aus Stuttgart empfindlich getroffen. Im Jahr 2017 machte es 13,4 Millionen Euro Verlust, in den ersten neun Monaten 2018 vier Millionen Euro. Das Urteil sieht eine Strafe von 3,7 Millionen Euro vor, der Gegenwert der Waffen, die der Prozess behandelte. Das Geld würde an den deutschen Staat gehen, die Familien von Opfern in Mexiko werden nicht berücksichtigt. H&K findet „die Einziehung des gesamten Kaufpreises nicht nachvollziehbar“. Man habe die Aufklärung „aktiv unterstützt und nachhaltig Konsequenzen gezogen“, teilte die Firma mit. Der Waffenhersteller hat, ebenso wie die Staatsanwaltschaft und die verurteilten Mitarbeiter*innen Revision eingelegt. Damit geht das Verfahren vor den Bundesgerichtshof.

Der Stuttgarter Prozess ist nicht das einzige Verfahren bei dem gegen einen deutschen Hersteller wegen illegalen Waffenexports nach Lateinamerika geurteilt wird. Auch im Prozess gegen drei Ex-Manager vom in Eckernförde ansässigen Waffenhersteller SIG Sauer vor dem Landgericht Kiel (siehe Kurznachrichten) zeichnen sich Strafen ab. Doch die Waffen existieren auch nach den Urteilen weiter.

 


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// NOTORISCHE VERSAGER

Es war ein Versagen mit Ansage. Die wenigsten Mexikaner*innen dürften überrascht gewesen sein, welch schwache Figur ihre politische Führung im Umgang mit den schweren Erbeben abgab. Diese ereigneten sich am 7. und 19. September im südlichen und zentralen Mexiko, erschütterten neben der Hauptstadt und angrenzenden Bundesstaaten weite Teile Oaxacas und Chiapas‘. In beiden Fällen war es die selbstorganisierte Bevölkerung, die schneller und effizienter Hilfe leistete. So aktivierte Präsident Enrique Peña Nieto von der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) am 19. September erst mit deutlicher Verzögerung den Katastrophennotfallplan „Plan MX“. Dieser sieht vor, das Militär in die betroffenen Gebiete zur Hilfe zu schicken. In der Zwischenzeit zogen Zivilpersonen Menschen mit bloßen Händen aus den Trümmern (siehe Titelfoto) und leisteten auf der Straße Notversorgung für Verletzte. Ohne die aufopferungsvolle Solidarität der zahllosen freiwilligen Helfer*innen, die tage- und nächtelang pausenlos arbeiteten, wären weit mehr Menschen gestorben.

Die Regierungen auf Landes- und Bundesebene hingegen simulierten oftmals nur Hilfe oder versuchten die Situation für sich politisch auszunutzen. So raubte die Regierung des Bundesstaats Morelos Spendengüter aus der Hauptstadt, um diese mit ihren Aufklebern zu versehen und als eigene Spenden zu deklarieren. Menschen aus den südmexikanischen Bundesstaaten Chiapas und Oaxaca berichteten, dass Hilfspakte oftmals nur an Anhänger*innen der Regierungsparteien übergeben wurden. Ebenso gibt es Aussagen von Augenzeug*innen, die berichten, wie ein LKW mit Hilfspaketen beladen vor einem zerstörten Haus hielt, Fotos machte – und die Pakete anschließend wieder mitnahm. Präsident Peña Nieto persönlich wollte in der Öffentlichkeit bella figura machen, indem er vor geladenen Fotograf*innen bei der Verladung der staatlichen Hilfspakete mit anpackte. Dumm nur, dass eine Videoaufnahme offenlegt, wie er vor der Aktion herumfeixt und in der organisierten Inszenierung die Kisten leer sind. Das Video ist ein Hit in den sozialen Medien.

Überhaupt kein Hit war dagegen die staatliche Krisenprävention. Seit Jahrzehnten bestehen strenge Bauvorschriften, die nach dem Erbeben 1985, das große Teile der Hauptstadt zerstörte, nochmals verstärkt wurden. Ebenso sind regelmäßige Überprüfungen der Bausubstanz vorgesehen. Wie kann es also sein, dass sogar neuere Gebäude jetzt einstürzten? Und wie kann es sein, dass ausgerechnet derjenige Ingenieur Schulgebäude nach dem Beben überprüfen soll, welcher der eben erst eingestürzten Schule Enrique Rébsamen im Jahr 2014 das Prädikat „perfekter Zustand“ verlieh? Ein Kollektiv aus Anwält*innen, Aktivist*innen und Akademiker*innen hat bei der Justizverwaltung von Mexiko-Stadt Klage gegen verschiedene städtische Autoritäten als auch private Bau- und Immobilienfirmen eingereicht. Der Vorwurf: fahrlässige Tötung.

Das staatliche Versagen bei dem Erbeben im Jahr 1985 war Initiationspunkt für das Entstehen einer sich selbst organisierenden Zivilgesellschaft, die das autoritäre korporatistische Herrschaftsmodell der PRI bekämpfte und demokratische Rechte einforderte. Echte Oppositionsparteien entstanden, unter anderem die Partei der Demokratischen Revolution (PRD), die seit 1997 in Mexiko-Stadt regiert. Das Machtmonopol der PRI zerbrach. Das staatliche Versagen bei den Beben im Jahr 2017 ist jedoch das aktuellste Beispiel dafür, dass sich zwar bisweilen das Parteibuch, nicht jedoch die Verantwortungslosigkeit und systematische Korruptheit der politischen Eliten geändert hat. Damals wie heute kann sich die Bevölkerung im Wesentlichen nur auf sich selbst verlassen. Trotz der Abwärtsspirale aus entgrenzter (staatlicher) Gewalt sowie weitgehender gesellschaftlicher Verrohung und Apathie, in der sich das Land seit einem guten Jahrzehnt befindet, ist die Selbstverständlichkeit, mit der Mexikaner*innen nun ihre Solidarität untereinander wiedergefunden haben, ein Hoffnungsschimmer.


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