Auf einmal bist du Superstar. So erging es der Schülerin Ana Júlia Ribeiro, nachdem Ende Oktober ein Video einer Rede der Schülerin viral ging. Innerhalb weniger Tage klickten hunderttausende Brasilianer*innen den Clip an. Eine Einladung in die Hauptstadt Brasília zu einer öffentlichen Anhörung zum Thema Bildung folgte. Sogar Ex-Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva erklärte, dass ihn das Video „gerührt“ habe und telefonierte mit der 16-Jährigen. In ihrer emotionalen Rede verteidigte Ribeiro die Schulbesetzungen, die momentan in ganz Brasilien für leere Klassenzimmer sorgen. Mehr als 1.000 Schulen werden derzeit besetzt gehalten. Die Besetzungen richten sich nicht nur gegen den Bildungsnotstand, sondern auch die Verfassungsreform PEC 241, von der erhebliche Kürzungen der Sozialausgaben erwartet werden. Ribeiro nannte die Reform einen „Affront“.
Am 25. Oktober votierte die Abgeordnetenkammer in einer zweiten Lesung mit großer Mehrheit für die umstrittene Verfassungsänderung. Damit hat Präsident Michel Temer die erste Hürde für einen von langer Hand geplanten Richtungswechsel genommen.
Nachdem der Senat Ende August Dilma Rousseff von der sozialdemokratischen Arbeiterpartei PT in einem juristisch fragwürdigen Amtsenthebungsverfahren endgültig abgesetzt hatte, übernahm Temer als Vizepräsident die Führung des größten Staates Lateinamerikas. Mit der geplanten Verfassungsänderung holt er nun zum nächsten großen Schlag aus. Die PEC 241 sieht vor, die Bundesausgaben in den nächsten 20 Jahren zu beschränken. Das Budget des Vorjahres soll von nun an die Grundlage der öffentlichen Ausgaben sein, diese sollen nur noch in Höhe der Inflationsrate steigen. Bislang ist in der Bundesverfassung zudem ein bestimmter Prozentsatz für Sozialausgaben reserviert, der nun wegfallen soll.
Die Initiative stammt maßgeblich von Temer und Finanzminister Henrique Meirelles. Bereits im vergangenen Jahr hatte Temers Mitte-rechts-Partei PMDB mit dem Programm „Eine Brücke in die Zukunft“ einen Entwurf der neuen Politik vorgelegt. Darin kündigte sie an, auch Sozialprogramme zu kürzen und Partnerschaften mit dem privaten Sektor, vor allem aus dem Ausland, anzustreben. Das neue Programm hat nun Vorrang. So erklärte Temer Ende September während eines Vortrags in New York unverhohlen, dass seine Partei die Absetzung Rousseffs eingeleitet hatte, weil die PT nicht bereit war, dieses mitzutragen. Damit konterkariert er die offizielle Version, dass Rousseff ihren Posten räumen musste, weil sie sich des Amtsmissbrauchs schuldig gemacht habe.
Die geplante Haushaltsdeckelung begründet die Regierung mit der angespannten wirtschaftlichen Lage. Die Sparpolitik werde helfen, den gigantischen Schuldenberg zu verringern und das krisengebeutelte Land so zu stabilisieren. Nur durch solche „Strukturreformen“ könne Brasilien wieder wachsen und wettbewerbsfähig werden, heißt es aus Regierungskreisen. „Es gibt keine Möglichkeit, uns wirtschaftlich zu entwickeln, wenn wir viel mehr ausgeben, als die Gesellschaft bezahlen kann“, sagte der Finanzminister und frühere Zentralbankpräsident Meirelles.
Soziale Bewegungen und die linke Opposition befürchten nun erhebliche Einschnitte. „Die Verfassungsreform friert die Sozialausgaben ein. Das wird das Leben von vielen Menschen beeinflussen“, sagte Augusto Malaman von der linken Jugendorganisation RUA den Lateinamerika Nachrichten. „Sie wird eine drastische Veränderung der Lebensqualität zur Folge haben. Wir steuern auf traurige Jahre zu.“ Insbesondere in die sanierungsbedürftige Gesundheits- und Bildungsversorgung würde kein zusätzlicher Centavo investiert.
Sozialprogrammen könnten dramatische Kürzungen bevorstehen und auch der Mindestlohn soll nur noch in Höhe der Inflation steigen. Somit dürfte die „Haushaltskonsolidierung“ vor allem die ärmsten Brasilianer*innen treffen, deren Lage sich unter den PT-Regierungen verbessert hatte. Guilherme Boulos, der Sprecher der Wohnungslosenbewegung MTST, verurteilte die Reform in seiner Kolumne in der Tageszeitung Folha de São Paulo scharf: „Die PEC 241 ist der schwerste Angriff auf das brasilianische Volk seit der Militärdiktatur.“ Es handele sich um „eine Ode an die soziale Ungleichheit“.
Soziale Bewegungen haben Widerstand gegen die Austeritätspolitik angekündigt. Am 11. November soll ein landesweiter Generalstreik stattfinden. Immer mehr Schulen schließen aus Protest gegen die „PEC des Todes“ genannte Reform ihre Tore. Einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Vox Populi zufolge lehnen 70 Prozent der Brasilianer*innen die Verfassungsänderung ab. Trotzdem hat die Regierung gute Chancen, die PEC 241, über die nun noch zweimal im Senat abgestimmt werden muss, durchzubringen. Temers PMDB, die bis Anfang des Jahres noch mit der PT koalierte, hat es geschafft, eine wirtschaftsliberale Allianz im Parlament zu schmieden. Das Bündnis mit der bisherigen Oppositionspartei PSDB verschafft ihr Mehrheiten im Kongress. Wohl lediglich der Oberste Gerichtshof könnte das Vorhaben der Regierung noch vereiteln, mehrere Abgeordnete linker Parteien haben Klagen gegen die PEC 241 eingereicht. Derweil hat die Regierung eine Kampagne für die Verabschiedung der Verfassungsreform begonnen. „Wenn du gegen die PEC bist, bist du gegen Brasilien“, heißt es in Anzeigen vieler großer Zeitungen.
Die PEC 241 stellt sich für Temer als eine erste Machtprobe dar. Gelingt es ihm, die umstrittene Verfassungsänderung durchzusetzen, könnten andere unpopuläre Reformen wie eine Anhebung des Rentenalters oder eine Flexibilisierung des Arbeitsrechts folgen. Anfang Oktober stimmte in diesem Sinne der Kongress dafür, die Regularien für die Ausbeutung des pré-sal, der riesigen Öl- und Gasvorkommen vor der Küste Brasiliens, zu ändern. Die vorgeschriebene Beteiligung des halbstaatlichen Erdölkonzerns Petrobras wurde außer Kraft gesetzt, ausländischen Unternehmen wird freie Hand gelassen. Kritiker*innen werfen der Regierung einen Ausverkauf des Erdöls vor. Zudem kündigte die Regierung eine Privatisierungswelle an.
Für Temer, der eine Kandidatur für die Wahlen 2018 ausschließt, haben diese neoliberalen Reformen Priorität, auch wenn dabei seine Popularität auf der Strecke bleibt. Einer Studie der Meinungsforschungsinstitute CNI und Ibope zufolge hat Temer Zustimmungswerte von gerade einmal 14 Prozent. Damit ist der Hobbypoet aus São Paulo fast so unbeliebt wie seine Vorgängerin Dilma Rousseff. Allerdings hat Temer bereits einen Etappensieg errungen. So ist es der alten Elite geglückt, ohne Wahlen an die Macht zurückzukehren. Brasilien steuert in vergangene Zeiten zurück.