Krise der Repräsentation

Plebiszit am 17. Dezember 2023 Stimmabgabe in Santiago de Chile (Foto: Diego Reyes Vielma)

Die Forderung nach einer neuen Verfassung für unser Land gibt es schon seit Jahrzehnten: Seit dem Ende der Diktatur betonen linke Parteien, soziale Bewegungen und politische Organisationen, wie wichtig es ist, die Verfassung von 1980 abzuschaffen und damit die Militärdiktatur und ihr politisches Erbe ein für alle Mal zu beenden – sowohl materiell als auch symbolisch.

Mit der Demokratisierung der 90er Jahre wurden keine grundlegenden Veränderungen am Wirtschaftsmodell unternommen, das in der Verfassung festgeschrieben ist. Die gesellschaftliche Mobilisierung, die im Widerstand gegen die Diktatur in den 1980er Jahren noch tragende Kraft war, verschwand nach ihrem Ende oder fand nur noch in kleinen Zusammenhängen statt. Dies ebnete in den ersten Jahren des Übergangs zur Demokratie den Weg für eine Phase der Vereinnah­mung und des Verstummens sozialer Bewegungen.

Erst im Jahr 2006 waren es die Schüler*innen weiterführender Schulen, die lautstark wieder eine neue Verfassung forderten. Sie führten eine soziale Bewegung an, die sich explizit gegen das in der Verfassung verankerte Bildungsgesetz LOCE richtete. Daraus formierte sich im Jahr 2013 die Bewegung Marca tu voto AC, die sich von Studierenden der séptima papelera in Kolumbien hatte inspirieren lassen (im März 1990 hatten kolumbianische Studierende für die Parlamentswahlen dazu aufgerufen, eine siebte Wahlurne aufzustellen, um Stimmen für eine neue Verfassung zu sammeln. Dieser inofiziellen Wahl folgte im Mai 1990 eine offizielle Abstimmung, bei der die Kolumbianer*innen für die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung stimmten. Die séptima papelera-Bewegung markiert somit den Beginn der Entstehung der heutigen kolumbianischen Verfassung, Anm. d. Übers.). In Chile rief man nun dazu auf, den Stimmzettel mit „AC” für „Asamblea Constituyente” („verfassunggebende Versammlung”) zu markieren.

Im Regierungsprogramm für ihre zweite Amtszeit (2014-2018) schlug die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet tatsächlich einen Prozess für eine neue Verfassung vor. Obwohl dafür institutionelle Räume zur Partizipation zur Verfügung gestanden hätten, fehlte es aber an einer Ratifizierung des Vorschlags durch die Bevölkerung, sodass er von der Legislative nie aufgegriffen wurde.

Im Oktober 2019 dann gipfelten die vielfältigen Forderungen der sozialen Revolte zu Bildung, Renten, Umwelt, Geschlechtergerechtigkeit in einer einzigen: eine neue Verfassung, die gesellschaftliche Mehrheiten repräsentiert und die bislang durch Marktlogiken regulierten sozialen Rechte stärkt. Dass die progressiven Kräfte im Verfassungsplebiszit am 4. September 2022 (4S) eine Niederlage erlitten, markierte einen Wendepunkt. Die Wahlpflicht führte in den letzten Jahren dazu, dass sich Wahltendenzen veränderten und ganze 62 Prozent gegen den Entwurf des Verfassungskonvents stimmten.
Nach dem 4S einigten sich die politischen Parteien Chiles darauf, einen zweiten Verfassungsprozess anzugehen. Ein neuer Entwurf sollte sich inhaltlich innerhalb dessen bewegen, was man als „Verfassungsrahmen” in zwölf Punkten vordefinierte. In der Folge waren zwei Organe für die Ausarbeitung des Textes vorgesehen: eine Expert*innenkommission, deren Mitglieder vom Parlament vorgeschlagen wurden, sowie ein gewählter Verfassungsrat.

Die Wahlen zum Verfassungsrat am 7. Mai 2023 (7M) markierten einen wichtigen Moment: Da nur Kandidat*innen auf Parteilisten antreten konnten, handelte es sich um den ersten Moment seit Wiederienführung der Wahlpflicht, in dem sich die politischen Kräfte direkt miteinander messen konnten. Obwohl viele Analysen sich in der Folge darauf beschränkten, die Ergebnisse der Wahl mit jenen des Referendums vom 4S zu vergleichen, spricht aus beiden Ereignissen noch eine andere Tatsache: Beide Wahlen wiesen eine ähnliche Wahlbeteiligung auf: Am 7M waren es mit 84,9 Prozent der Wähler*innen nur 110.428 Wähler*innen weniger als beim Referendum zum 4S.

Bei einem Vergleich der Stimmen für das rechte Lager bei beiden Wahlen fällt auf: Die ultrarechte Republikanische Partei, das rechtskonservative Bündnis Chile Seguro und die Partido de la Gente (rechtsoffene populistische Partei) bekamen am 7M zusammen gut sechs Millionen Stimmen – fast zwei Millionen weniger als Stimmen für das Rechazo am 4S. Im Hinblick auf das Apruebo (Ja zur neuen Verfassung am 4S) zeigen die Ergebnisse ein ähnliches Phänomen. Am 4S stimmten über 4,8 Millionen Menschen für das Apruebo, am 7M kommen die Allianzen Todo por Chile (Mitte-links) und Unidad para Chile (links) auf über 3,6 Millionen Stimmen. Über eine Million Stimmen konnten also nicht von der vorherigen Wahl übertragen werden. Dazu kommen 2,1 Millionen ungültige (fast 17 Prozent der Stimmen) und über 500.000 leere Stimmzettel, mit denen Menschen ihrer Unzufriedenheit über den Verfassungsprozess Ausdruck verliehen.

Diese Zahlen offenbaren zwei entscheidende Aspekte des zweiten Verfassungsprozesses. Erstens: Unter jenen, die wählen gegangen sind, stimmte über die Hälfte mit ungültigen, leeren Stimmzetteln oder für die Republikanische Partei und Partido de la Gente – zwei Parteien, die die Vereinbarung für einen weiteren Verfassungsprozess nicht unterzeichnet hatten. Die meisten derer, die wählen gegangen sind, haben sich also für Optionen entschieden, die für eine offene Ablehnung des Verfassungsprozesses selbst standen. Zweitens: Wenn man ungültige und leere Stimmzettel sowie Nichtwähler*innen zusammenzählt, haben sich über ein Drittel der wahlberechtigten Personen von dem Prozess abgekapselt. Diese Tatsache deutet auf ein Problem der Repräsentation hin: eine Distanz zwischen jenen, die Gesetze machen und regieren und jenen, die sie repräsentieren.

Der rechte Verfassungsentwurf hätte zahlreiche Rückschritte bedeutet

Dieser zweite Verfassungsprozess war vor allem von Verfassungsrät*innen der Republikanischen Partei bestimmt. In Debatten, vorgestellten Verfassungsnormen und Abstimmungen dominierten sie die Ausarbeitung des Verfassungstextes, der auf Werteebene noch konservativer und auf Wirtschaftsebene noch neoliberaler ausfiel als die von der Diktatur vererbte Verfassung. Dass es sehr geringe oder keine Bereitschaft zum Dialog mit anderen gesellschaftlichen Bereichen gab, wurde zum Grundton jenes Prozesses, der es nicht schaffte, das Interesse der Bürger*innen an Verfassungsthemen zu wecken.

Mehrere Analysen des Verfassungstextes von unterschiedlichen Institutionen ließen schließlich die Alarmglocken klingeln. Wäre die neue Verfassung in Kraft getreten, hätte das Rückschritte in unterschiedlichen Bereichen bedeutet. Ein paar Beispiele dafür, was der Text in Gefahr gebracht hätte: das Recht auf Abtreibung in drei Fällen, den Verkauf der Pille danach, Kinder von alleinstehenden Müttern hätten Diskriminierung erlebt, die Wasserprivatisierung hätte sich noch weiter vertieft, der Extraktivismus wäre ohne Rücksicht auf Nachhaltigkeit und Umweltschutz in die Verfassung eingeschrieben worden. Durch die Verkleinerung des Kongresses hätte sich die Macht bei weniger Menschen konzentriert und schließlich wäre die Privatisierung sozialer Rechte in der Verfassung verankert worden.

Beim Wahlergebnis vom 17. Dezember handelt es sich um eine klare Ablehnung des Verfassungsentwurfes. Während 55,75 Prozent der Wähler*innen (6,8 Millionen Menschen) gegen den Entwurf stimmten, sprachen sich 44,24 Prozent (5,4 Millionen Menschen) dafür aus. Letztere konnten die Wahl zwar nicht für sich gewinnen, repräsentieren jedoch einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung. Der Sieg des Nein ist vor allem auf die Wahl von Frauen unter 34 Jahren zurückzuführen: 70 Prozent von ihnen stimmten gegen den Entwurf. Ähnlich fiel die Wahl unter älteren Menschen aus.

Mit einer Wahlbeteiligung von 84,4 Prozent und einem Anteil ungültiger bzw. leerer Stimmen von nur fünf Prozent hat die Bevölkerung dem politischen System einen Weckruf erteilt: Das Verfassungsprojekt bedeutete einen Rückschritt bei sozialen Rechten und vertrat oder begünstigte nicht die Mehrheiten im Land.

Dass die Chilen*innen in beiden Referenden gegen den jeweiligen Verfassungsentwurf gestimmt haben, macht eines deutlich: Wie dringend es ist, dass Gesetzgeber*innen weitreichende Kompromisse finden, die es möglich machen, die Nöte der Menschen anzugehen. Chile braucht soziale Transformationen, die das Wohlergehen der Bürger*innen in den Mittelpunkt stellen. Hier nehmen gesellschaftliche Organisationen und soziale Bewegungen eine Schlüsselrolle ein, wenn es darum geht, Druck auszuüben. Denn die Forderungen, die die Diskussion um eine neue Verfassung im Jahr 2019 ins Rollen brachten, sind noch immer von gemeinsamem Interesse. Der Weg über eine neue Verfassung hat sich dafür vorerst geschlossen. Die Forderungen nach einem Wandel richten sich nun an jene, die die Gesetze machen: Sie müssen in der Lage sein, strukturelle Reformen einzuleiten, die die Bedürfnisse der Bürger*innen erfüllen: Sicherheit, soziale Rechte und weniger Korruption.

DIE HOFFNUNG KEHRT ZURÜCK

Amtseinführung von LulaDie präsidiale Schärpe wurde ihm von der Wertstoffsammlerin Aline Sousa (links) umgelegt (Foto: Marcelo Camargo, Agência Brasil)

Es war für niemanden eine Überraschung, dass der bei den Präsidentschaftswahlen geschlagene ehemalige Präsident Jair Bolsonaro am 30. Dezember Brasilien verließ. Das Schweigen nach seiner Niederlage bildete einen scharfen Kontrast zu den lautstarken anti-demokratischen Protesten seiner Anhänger*innen, die seit Ende Oktober vor Kasernen kampierten und eine Militärintervention forderten. Die Abwesenheit Bolsonaros führte aber zur medial vielfach so bezeichneten „schönsten Amtseinführung in der Geschichte Brasiliens“: Acht Menschen aus der brasilianischen Zivilgesellschaft überreichten Lula da Silva die offizielle Präsidentschaftsschärpe.

Der neugewählte Präsident Lula da Silva machte bereits während seiner Kampagne und in seiner Rede am Wahlabend deutlich, dass er zum Wohl aller Braslianer*innen regieren würde. Lulas Optimismus und sein Anliegen Brasilien wieder aufzubauen, halfen ihm, die Kommunikation mit den sozialen Bewegungen wieder aufzunehmen. Auch die Hoffnung auf die Rückkehr einer Politik zum Wohl von Minderheiten entstand neu.

Frauen, Kinder, Schwarze Menschen, Menschen mit Behinderungen, Indigene und Führungspersönlichkeiten der sozialen Bewegungen standen bei der Amtseinführung an der Seite von Lula. Darunter war Aline Sousa, Sammlerin recycelbarer Materialien (Catadora) und eine der führenden Vertreterinnen der Nationalen Bewegung der Wertstoffsammler*innen (MNCR) sowie Geschäftsführerin des Netzwerkes Centcoop im Regierungsbezirk. Als letzte von acht Vertreter*innen der Zivilgesellschaft überreichte sie Lula in einem hochemotionalen Moment seine Schärpe. Aline Sousa repräsentiert laut Schätzungen der MNCR eine Gruppe von 800.000 Menschen, die in Brasilien recycelbare Materialien sammeln. Bereits während seiner ersten Amtszeit trug Lula zur Organisation der Bewegung bei, die laut dem Institut für angewandte wirtschaftliche Forschung (IPEA) für 90 Prozent der Müllverwertung verantwortlich ist.

Wertstoff-sammler*innen fordern ihre Rechte zurück

Gegründet wurde die MNCR bereits 2001, nach dem ersten Nationalen Kongress der Catadores in Brasilia. 2006 wandte sich die Bewegung mit ihren Forderungen nach mehr öffentlicher Unterstützung an die erste Regierung unter Präsident Lula. 2010 wurde mittels der „Nationalen Strategie für feste Abfälle“ festgelegt, dass Kommunen die jeweiligen Verbände und Kooperativen in entsprechende Maßnahmen miteinbeziehen müssen. Das Pro-Catador-Programm wurde ebenfalls 2010 ins Leben gerufen und sollte die Arbeiter*innen dabei unterstützen sich zu organisieren.

Die Regierung von Bolsonaro machte dagegen die über Jahre etablierten Richtlinien rückgängig, welche die Wertstoffsammler*innen besser in die Arbeitswelt integrieren sollten. Das Programm Recicla+, das unter Bolsonaro eingeführt wurde, vernachlässigte die Abfallsammler*innen vollständig, betont Neli Medeiros, Aktivistin und Catadora des Verbandes COOPESOLI Barreiro.

„Seit 2016, nach der Amtsenthebung von Dilma Rousseff, gab es für uns keine Fortschritte. Im Gegenteil, wir haben unsere Rechte verloren und unsere Arbeit sowie die Produktionsketten haben darunter gelitten. Das Programm Recicla+ hat uns geschadet, weil es große Firmen begünstigt, während wir nichts davon haben. Die Übergabe der Schärpe ist ein Symbol dafür, dass auch wir in der Politik etwas zu sagen haben und die Regeln, die unsere Produktionsketten betreffen, mitbestimmen können. Lulas Rückkehr bedeutet, dass wir unsere Arbeit neu organisieren können, unsere Würde zurückerobern und uns die Leute wieder sehen.“

Bereits am 2. Januar erließ Präsident Lula eine Verordnung, die das unter Bolsonaro gestrichene Programm Pro-Catador wieder aufnehmen und das Programm Recicla + überarbeiten soll. Auch Anderson Viana, Gründer und Präsident des Vereins UNICILA, analysierte es als positive politische Entwicklung, die Catadores wieder direkt in diese Regierungsprogramme mit einzubeziehen: „Lula und seine Regierung haben uns Türen geöffnet. Sie hören unsere Forderungen. Wir haben Lula gesagt, dass wir die Fördermaßnahmen für Catadores wieder zurückhaben wollen. Wir baten ihn darum, das Pro-Catador-Programm zurückzubringen und ein nationales Sekretariat für Abfallverwertung einzurichten, so wie es uns versprochen wurde. Heute fühle ich mich endlich wieder als Teil der Regierung. Wir regieren. Unsere Klasse wird gehört und wir werden für unsere Arbeit, die wir für die Gesellschaft ausüben, Anerkennung erhalten. Die Arbeit der Catadores bedeutet soziale Inklusion – die meisten von uns sind Frauen und Schwarze Personen. Gleichzeitig bilden wir als Catadores auch einen Raum, in dem Menschen aus der queeren Community willkommen sind. Ich sehe, dass die Menschen unsere Arbeit in Zukunft respektieren werden.”

Die Herausforderung, den Fortschritt des Landes und die Überwindung seiner ideologischen Spaltung miteinander in Einklang zu bringen, gilt es zu meistern. Trotzdem gibt es Gründe optimistisch zu sein, besonders für diejenigen, die sich von der brasilianischen Politik lange Zeit ausgeschlossen gefühlt haben. Bei Lulas Amtseinführung kam die Botschaft an: Frauen, Indigene, Schwarze, Kinder und Menschen mit Behinderungen, werden wieder eine Priorität auf der politischen Agenda einnehmen.

GABRIEL BORIC UND CHILES NEUE LINKE

Die Erde verteidigen Graffiti in Santiago de Chile gegen Holzraubbau in den Mapuche-Gebieten (Foto: Ute Löhning)

Umweltschutz, Feminismus, soziale Gerechtigkeit: Die Wahlversprechen von Gabriel Boric klangen verheißungsvoll. Nach Jahrzehnten des Neoliberalismus sollte Chile nun endlich die Kehrtwende schaffen. Dies- und jenseits des Atlantiks jubelte die Linke nach seiner Wahl zum Präsidenten im Dezember 2021. Endlich: das Ende der privatisierten Sozialsysteme, der extremen ökonomischen Ungleichheit und des umweltzerstörenden Extraktivismus. Stattdessen: der Anfang einer sozial-, umwelt- und geschlechtergerechten Gesellschaft und die Versöhnung mit den indigenen Bevölkerungsgruppen. So die Hoffnung.

Der jüngste Staatschef der Welt repräsentiert eine neue lateinamerikanische Linke, die mit den AMLOs und Lulas nur wenig und mit den Ortegas und Maduros gar nichts gemein hat. Als ehemaliger Studierendenanführer kommt Boric aus den sozialen Bewegungen. Auch wenn er schon vor einigen Jahren in die institutionelle Politik wechselte, haftet ihm dieses Image noch immer an. Und er macht sich auch wenig Mühe, es abzulegen – im Gegenteil. Statt in den Präsidentenpalast zog er in ein deutlich bescheideneres Haus in einem Mittelschichtsstadtteil Santiagos und auch sein Äußeres ist legerer, als man es sich jemals von einem chilenischen Präsidenten hätte vorstellen können: tätowiert, hemdsärmelig, ungekämmt. Anders als bisherige Präsidenten gibt Boric sich nahbar und sucht den Kontakt mit der Bevölkerung.

Von Anfang an war eine gewisse Enttäuschung jedoch insofern vorprogrammiert, als Borics Regierung sich nicht auf eine parlamentarische Mehrheit stützen kann: Sein linkes Parteienbündnis Apruebo Dignidad verfügt lediglich über 37 von 155 Abgeordneten sowie über 6 von 50 Senator*innen. Boric sah sich daher genötigt, die Basis seiner Regierung zu verbreitern. Infolge nahm er Mitte-Links-Parteien der ehemaligen Concertación (mit Ausnahme der Christdemokrat*innen) in seine Regierung auf. Als „Socialismo Democrático“ spielen diese Parteien eine zunehmend wichtige Rolle in der Regierung. Doch selbst dieses Bündnis hat keine eigene Parlamentsmehrheit und ist darauf angewiesen, mit anderen Kräften Kompromisse zu finden, im Senat sogar mit den Mitte-Rechts-Parteien.

Eines der ersten Projekte der neuen Regierung ist eine Steuerreform, die Boric und Finanzminister Mario Marcel bereits im Juli präsentierten. Marcel war zuvor Direktor der chilenischen Zentralbank und an allen Regierungen der Concertación beteiligt. Seine Ernennung brachte Boric reichlich Kritik ein, die Steuerreform mag jedoch manche überraschen. Laut Regierung hätten 97 Prozent der Steuerzahler*innen keine Erhöhungen zu befürchten, diese würden nur die oberen drei Prozent treffen. Das klingt nach wenig, laut dem Weltungleichheitsbericht 2022 verfügt das einkommensstärkste Prozent der Haushalte in Chile jedoch über rund 50 Prozent und die wohlhabendsten zehn Prozent sogar über mehr als 80 Prozent des Reichtums. Zentrale Bestandteile der geplanten Reform sind eine höhere Besteuerung von Vermögen, Kapitaleinkommen und hohen Einkommen, die Bekämpfung von Steuervermeidung und -hinterziehung sowie die Einführung von Abgaben für den Kupferbergbau.

Im laufenden Gesetzgebungsverfahren könnte außerdem eine Finanztransaktionssteuer hinzukommen. Mittlere Einkommen sollen durch Freibeträge für Mieten oder Pflege entlastet werden. Ein leicht reduzierter Steuersatz für Unternehmen soll Investitionen fördern.

Geplant ist, durch die Reform das Steueraufkommen um rund 12 Millionen US-Dollar (4 Prozent des BIP) zu erhöhen und so gut die Hälfte von Borics Regierungsprogramm zu finanzieren. Das aktuelle Aufkommen von 21 Prozent des BIP sei zu wenig, um die nötigen Sozialausgaben, etwa in den Bereichen Gesundheit und Bildung, zu tätigen, meint auch die OECD. Dort hält man die geplante Reform für „ambitioniert, aber machbar“. Nun wird es darauf ankommen, die nötigen Mehrheiten dafür zu gewinnen.

Eines der ersten Projekte der neuen Regierung ist eine Steuerreform Eine Ahnung, in welche Richtung die Politik von Gabriel Boric gehen wird, gibt der Haushaltsentwurf für das kommende Jahr 2023. Geplant sind Mehrausgaben in Höhe von 4,2 Prozent. Ein Schwerpunkt sind Investitionen in die „Infrastruktur für wirtschaftliche Entwicklung“ und in die Schaffung von Arbeitsplätzen. Ein zweiter Schwerpunkt ist die öffentliche Sicherheit. Der Fokus liegt hier auf zusätzlichen Mitteln für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität, unter anderem durch die uniformierte Polizei Carabineros, die wegen Menschenrechtsverbrechen während der Proteste 2019 des estallido social (der „sozialen Explosion“) in der Kritik stehen. Dritter Schwerpunkt ist die soziale Sicherheit mit Mehrausgaben von 8 Prozent, etwa für Investitionen in die Bildungsinfrastruktur, Gesundheitsversorgung und Sozialhilfen. Nach einem durch und durch linken Projekt klingt das zwar nicht, dafür aber nach einem mehrheitsfähigen.

Und Mehrheiten im Kongress sind für Boric überlebenswichtig, das gilt auch für die für seine Regierung zentrale Rentenreform. Nachdem das Gesetzgebungsverfahren auf die Zeit nach dem Verfassungsplebiszit verschoben wurde, kommt nun wieder Bewegung in die Sache: Medienberichten zufolge soll das bisherige System der privaten Rentenfonds (AFP) abgeschafft und durch ein öffentliches System ersetzt werden – eine der Hauptforderungen des estallido social. Die Regierung kündigte an, die Reform noch im Oktober 2022 in den Kongress einzubringen. Aber auch hier ist die Regierung auf Zustimmung aus der Opposition und möglicherweise auf Kompromisse angewiesen.

Auch außenpolitisch gibt sich Boric kompromissbereit. Immer wieder betont er in Interviews die Notwendigkeit einer stärkeren regionalen Integration und des Brückenbauens – ob zum linken Evo Morales in Bolivien oder zum rechten Guillermo Lasso in Ecuador. Gleichzeitig kritisierte er wiederholt entschieden Menschenrechtsverletzungen der autoritären Regime von Daniel Ortega in Nicaragua, Nicolás Maduro in Venezuela und Miguel Diaz-Canel in Kuba. Diese deutliche Beanstandung der Politik anderer linker Regierungen der Region bringt ihm einerseits Kritik ein, verleiht ihm aber auch Glaubwürdigkeit und spricht dafür, dass er nicht in das alte Rechts-Links-Schema passt, sondern einen neuen Typus progressiver Regierung vertritt.

Die privaten Rentenfonds sollen abgeschafft werden

Am Transpazifischen Partnerschaftsabkommen TPP-11 entzündet sich der neueste Konflikt innerhalb der Regierung. Die Parteien von Apruebo Dignidad lehnen es aufgrund seiner umstrittenen Mechanismen zur Konfliktlösung mittels Schiedsgerichten ab, auch Boric stimmte als Abgeordneter einst dagegen. Die Parteien des Socialismo Democrático befürworten jedoch die Ratifizierung. Anstatt eine Ablehnung des Abkommens in seiner Koalition durchzusetzen, versucht Boric nun, in Nebenabreden zum Abkommen die Konfliktlösungsmechanismen abzumildern, um ihm zustimmen zu können – ein weiteres Zeichen seiner Kompromissbereitschaft. Bei dem absehbaren Ringen um Kompromisse hatte die neue Regierung eigentlich auf Rückenwind durch die neue Verfassung gehofft – und dies auch öffentlich erklärt, denn die neoliberale Verfassung von Pinochet steht vielen ihrer politischen Ziele im Wege. Mit der Ablehnung des Verfassungsentwurfs im Plebiszit ist es mit dieser Hoffnung nun vorbei. Zudem ist Boric politisch geschwächt, denn seine Regierung und die Verfassung wurden allgemein als miteinander verbunden wahrgenommen.

Boric war nur wenige Wochen im Amt, da begann eine rechte Kampagne, den Verfassungsentwurf –und damit auch ihn und seine Regierung – erfolgreich und nachhaltig zu diskreditieren. Diese lancierte Falschbehauptungen über künftig angeblich unsichere Renten, enteignete Wohnungen oder kollabierende Krankenhäuser. Gleichzeitig lenkten die rechten Medien den Fokus auf seinen vermeintlichen Schwachpunkt: die Sicherheitspolitik. Meldungen über gestiegene Kriminalität in den Großstädten häuften sich, während die Polizei nach Ermittlungen in Sachen Polizeigewalt Boric misstrauisch gegenüberstand. Die neue Regierung ist somit von Anfang an in der Defensive und muss reagieren, anstatt sich auf eigene politische Projekte konzentrieren zu können. Da nur begrenzt politisches Kapital zur Verfügung steht, muss sie sich überlegen, für welche Anliegen sie dieses am besten einsetzt. Die Befreiung der politischen Gefangenen des estallido social gehörte beispielsweise nicht dazu. Das Innenministerium trat weiterhin als Klägerin gegen Gefangene der Proteste auf, Teile der Regierung halten die Gefangenen nun für normale Straftäter*innen. Und nach dem neuen Haushaltsentwurf wird nun eben sogar jene Polizei finanziell aufgestockt, die für illegale Verhaftungen und die massive Polizeigewalt verantwortlich ist.

Auch in der Causa Mapuche hält Boric nicht sein Wort. Im Wahlkampf hatte er noch angekündigt, den von seinem Vorgägner Piñera verhängten Ausnahmezustand in der Region Araucanía nicht verlängern zu wollen. Angesichts von sich häufenden Meldungen über dortige Zusammenstöße und Straßenblockaden sah er sich aber schließlich doch dazu gezwungen, wenn auch die Rolle des Militärs dabei auf die Sicherung der Straßen begrenzt wurde. Das brachte seiner Regierung den ersten internen Streit ein, da die linken Parteien die Verlängerung eigentlich nicht mittragen wollten. Stattdessen verspricht Boric nun höhere Investitionen in den Plan Buen Vivir für bessere Lebensbedingungen in den südchilenischen, indigen geprägten Regionen – und erweckt damit den Eindruck, die misslungene Politik seiner Vorgänger*innen im Umgang mit den Forderungen der Mapuche fortzuführen.

“Confort” ist alle Nach dem Misserfolg des Verfassungsreferendums macht die Pinochet-Verfassung der bekannten Klopapiermarke Confort leider noch keine Konkurrenz (Foto: Ute Löhning)

Um die Verfassung noch zu retten, bewegte Boric die Mitte-Links-Parteien in letzter Minute dazu, für den Fall der Annahme Abschwächungen der Verfassung zuzusagen – ein weiteres Zugeständnis an die Rechte. Es half jedoch nichts, der Ausgang des Referendums zwang ihn zu noch mehr Kompromissbereitschaft. Er ersetzte seinen Weggefährten Giorgio Jackson im Kabinett durch die Bachelet-Vertraute Ana Lya Uriarte und berief mit Carolina Tohá eine Veteranin der Concertación zur Innenministerin, in Chile der wichtigste Kabinettsposten. So setzt sich ein Prozess fort, der schon mit seiner Unterschrift unter die Verfassungsvereinbarung 2019 sichtbar begonnen hatte: Boric ist mit der Zeit immer moderater geworden. Inzwischen erscheint er vielen Linken immer mehr als Wiedergeburtshelfer der Concertación, eine Art Bachelet 2.0.

Auf der einen Seite scheint die Abkehr von linken Positionen innerhalb kürzester Zeit – Boric ist erst ein halbes Jahr im Amt – darauf hinzuweisen, dass die anfänglichen Hoffnungen in seine Regierung womöglich überhöht waren. Eine Rolle dabei mag auch die geringe Regierungserfahrung von Borics Bündnis Apruebo Dignidad, vieler seiner Minister*innen und des Präsidenten selbst spielen, der noch im Jahr 2020 versicherte, sich für die Übernahme des höchsten politischen Amtes nicht bereit zu fühlen. Andererseits befindet er sich bei all seinen politischen Entscheidungen in mehr oder weniger vorhersehbaren Zwangslagen: einerseits die Pandemie, andererseits Wirtschaftskrise und Inflation infolge des kurz vor seiner Amtsübernahme begonnenen Kriegs in der Ukraine. Nicht zuletzt schränken die fehlenden politischen Mehrheiten den Handlungsspielraum der Regierung ein. Der aktuelle Kontext ist geprägt durch eine Sicherheits- und Wirtschaftskrise, mit sinkenden Einkommen und dem Verlust von Arbeitsplätzen, die anhaltende Bedrohung durch Corona, die Unsicherheit im Zusammenhang mit Kriminalität und Drogenhandel etwa durch Gruppen des organisierten Verbrechens wie dem Tren de Aragua, sowie den Herausforderungen durch die hohe Migration, vor allem aus Venezuela. Der Vergleich mit Michelle Bachelet hinkt insofern, als dass die Ex-Präsidentin mit vielen Problemen in diesem Ausmaß nie konfrontiert war und mit ihren Parteienbündnissen Concertación und Nueva Mayoría stets über parlamentarische Mehrheiten verfügte.

Es bleibt also zu hoffen, dass Boric und seine Regierung die immensen Herausforderungen bewältigen, ohne dabei durch ständige Kompromisse völlig die Glaubwürdigkeit zu verlieren. Denn besonders in Chile gibt es für Politiker*innen weder lange Schonfristen noch mildernde Umstände.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika”. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

TRIUMPH DER SOZIALEN BEWEGUNGEN

„Schluss mit der Represssion!“ Kreativer Protest gegen das Gesetz 5.272 (Foto: Didy Aceituno)

Ausgerechnet am 8. März – dem Internationalen Frauentag – verabschiedete der Kongress in Guatemala das Gesetz 5.272 und das sogenannte Dekret 18-2022 „Zum Schutz des Lebens und der Familie“. 101 Abgeordnete stimmten dafür, acht dagegen, 43 enthielten sich. Einen Tag später erklärte der Präsident Alejandro Giammattei Guatemala-Stadt zur „Pro-Life Hauptstadt Iberoamerikas“. Dazu fand ein feierlicher Akt statt, angeführt vom Präsident Giammattei selbst sowie der Vorsitzenden des Kongresses, Shirley Rivera. Doch die Präsenz und Stärke von feministischen Kollektiven und sozialen Organisationen aus verschiedenen Bevölkerungsschichten, die auf der Straße ihre Ablehnung gegen das rechts- und verfassungswidrige Gesetz deutlich machten, zeigte Wirkung: Der Rücknahme des Gesetzes eine Woche später stimmte wieder die große Mehrheit der Abgeordneten zu, obwohl sie zuvor selbst für das Gesetz gestimmt hatten.

Das besagte Gesetz war Ausdruck der konservativen Agenda der politischen Bündnisse, von denen Guatemala regiert wird und die gegen Frauenrechte und Rechte von queeren Menschen vorgehen. Das Gesetz wurde in Angesicht der Erfolge feministischer Bewegungen in Lateinamerika erlassen. Zu diesen Erfolgen gehören die Legalisierung von Abtreibung in Argentinien und in einigen Bundesstaaten Mexikos sowie jüngst die Zustimmung des Verfassungskonvents in Chile zur Aufnahme des Rechts auf Abtreibung in den Entwurf für die neue Verfassung.

Das Gesetz verbietet die gleichgeschlechtliche Ehe – obwohl die nie legalisiert wurde

Das Gesetz sah die Erhöhung der Haftstrafen für Schwangerschaftsabbrüche auf bis zu zehn Jahre vor sowie die strafrechtliche Verfolgung von Personen, die Abtreibungsdienste aufsuchen oder anbieten. Außerdem erhöhte sich durch das Gesetz das Risiko einer Gefängnisstrafe im Falle einer Fehlgeburt, da es für die Betroffenen schwierig ist, zu beweisen, dass es sich hierbei nicht um einen absichtlich herbeigeführten Schwangerschaftsabbruch handelt. Außerdem lehnte das Gesetz jegliche Formen des Zusammenlebens, die von der heterosexuellen und cisgeschlechtlichen Norm abweichen, als „nicht normal“ und „unvereinbar mit der christlichen Moral“ ab. Es verbot explizit eingetragene Lebenspartnerschaften ebenso wie die gleichgeschlechtliche Ehe. Sämtliche Formen von Aggressionen und Hassverbrechen gegen LGBTIQ-Personen wurden legitimiert, in dem das Gesetz die strafrechtliche Verfolgung solcher Taten verbot. Außerdem wurde Sexualkundeunterricht in Schulen verboten und das Konzept von Familie beschränkt.

Sandra Morán ist Feministin, lesbisch und Aktivistin und saß von 2016 bis 2019 für die linke Partei Convergencia im guatemaltekischen Kongress. Morán hat öffentliche Positionen besetzt und Gesetzesinitiativen, die Frauen- und Kinderrechte sowie die Rechte queerer Personen stärken, angestoßen und verteidigt. Bereits während ihrer Zeit als Abgeordnete hat sie sich gegen die Initiative 5.272 ausgesprochen, die die Regierung schon seit 2017 einzuführen versucht. Außerdem ist sie Mitglied der Gruppe Mujeres con Poder Constituyente („Frauen mit verfassungsgebender Macht“), die sich in Guatemala für eine neue Verfassung einsetzt.

Auf die Frage, wie es gelungen ist, dass das besagte Gesetz vom selben Kongress zurückgenommen wurde, der ihm zuvor zugestimmt hat, sagt Sandra Morán: „Es klingt beschämend und das ist es auch. Es ist genauso skandalös, wie es auch der Inhalt des Gesetzes war.“ Die ehemalige Abgeordnete berichtet, dass es 2017 gelungen sei, ein Gesetz zur Änderung von zwei Artikeln des Strafgesetzbuchs zur Verringerung der Strafen bei Korruptionsdelikten zu verhindern. Damit war ein Präzedenzfall geschaffen, von dem nun erneut Gebrauch gemacht wurde, um die Rücknahme des Gesetzes zu erzwingen. Damit ein Gesetz in Kraft treten kann, muss es innerhalb von zehn Tagen von der Exekutive bestätigt werden. In diesem Zeitraum wurden die Ablehnungsbekundungen der Bevölkerung im Land und auch der internationalen Gemeinschaft unüberhörbar. Diejenigen, die das Gesetz beschlossen hatten, konnten dem öffentlichen Druck im Angesicht bevorstehender Wahlen nicht standhalten, schlussfolgert Morán. „Das Gesetz war ein technischer Irrtum und aus mehreren Gründen verfassungswidrig“, erklärt die Aktivistin. So wurde beispielsweise politischen Mandatsträger*innen untersagt, an internationalen Veranstaltungen teilzunehmen, wenn diese eine andere als die im Gesetz festgelegte Meinung verträten. „In Fragen der internationalen Politik ist es nicht angebracht, dass der Kongress die politische Meinung des Präsidenten in diesem Bereich bestimmt“, erläutert Morán. Das Gesetz verletzte außerdem die Rechte von Mädchen, Frauen und nicht-binären Personen sowie von Jugendlichen und Kindern. Der Sexualkundeunterricht an Schulen werde verboten und das alles unter dem Vorwand, das ungeborene Leben zu schützen. Es handele sich um ein Gesetz, das Trans- und Homofeindlichkeit unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit offen zuließe. Das Gesetz bestärke die Heteronormativität der Gesellschaft, indem es die traditionelle Familie als Mann und Frau, „die so geboren wurden“, definiere, die Existenz von trans Personen verbiete und die 14 restlichen Familienformen, die es laut der letzten Volkszählung in Guatemala gibt, außenvorlasse. „Die Initiative“, betont Morán außerdem, „verbietet die gleichgeschlechtliche Ehe – obwohl die noch nicht mal legalisiert wurde, nur für den Fall – ebenso wie die Anerkennung von Lebenspartnerschaften.“

Breite Solidarität im Kampf gegen Unterdrückung, Gewalt und Hass


Es handele sich um ein Gesetz der evangelikalen Pfingstkirchen, das die fundamentalistische Agenda der rechtsgerichteten Partei Visión con Valores (VIVA) zum Ausdruck bringe: „Seit Langem versucht diese Partei, die Ausweitung der Frauenrechte zu verhindern und den Vormarsch des Feminismus zu unterbinden und zu kontrollieren, weil sie sieht, dass die Bewegung sehr stark ist. Das Gesetz, mit dem die Regierenden vorgeben, das Leben und die Familie schützen zu wollten, ist ein Beispiel für diese Reaktion auf organisierten Aktivismus.“ Morán gibt zu bedenken, dass das Gesetz möglicherweise erneut vorgelegt wird. Schließlich basiere es auf einer Denkweise, die ebendiese verfassungswidrigen Handlungen auf die Agenda setzt, die sie und andere Aktivist*innen seit 2017 anprangern. Im Fall des Gesetzes 5.272 hatten sogar einige Organisationen, die sich gegen Frauen- und Abtreibungsrechte aussprechen, auf dessen Verfassungswidrigkeit hingewiesen. Dennoch haben die Abgeordneten das Gesetz beschlossen, betont Morán und skizziert das weitere Vorgehen: „Jetzt müssen wir eine Strafanzeige gegen die 101 Personen stellen, die dafür gestimmt haben, wegen Pflichtverletzung und Verstoßes gegen die Verfassung, die zu respektieren sie geschworen haben.“

Nach Zahlen der Beobachtungsstelle für reproduktive Gesundheit in Guatemala wurden im Jahr 2021 mehr als 65.000 Mädchen und junge Frauen unter 19 Jahren schwanger, häufig als Folge einer Vergewaltigung. 2.041 davon waren unter 14 Jahre alt, viele starben bei der Geburt. 70 Prozent der Betroffenen leben in Armut und jedes zweite Kind leidet an chronischer Unterernährung. Es sei paradox, so Sandra Morán, dass die Regierung das Land zur iberoamerikanischen Hauptstadt des Lebens und der Familie erkläre, während die Menschen in Wirklichkeit erschöpft seien und Hunger litten. Gerade jetzt, wo inmitten der unsicheren Weltlage auch noch die Preise für Grundnahrungsmittel in die Höhe schnellen.

Viele Menschen sind mit der extrem konservativen Politik nicht einverstanden und gingen deshalb gegen das Gesetz auf die Straße und demonstrieren. Morán erzählt, dass die jüngere Bevölkerung nicht mehr in einem Klima der Unterdrückung, der Gewalt und des Hasses aufwachsen will. Sie begrüßt es, dass sich in den letzten Wochen auch Männer, Jugendliche, Studierende und die indigene Bevölkerung öffentlich zu Wort gemeldet haben, um ihre Solidarität in diesem Kampf zu signalisieren. „Das erschien mir wichtig, denn vorher waren wir zersplittert, doch jetzt ist Zeit für mehr Einigkeit.“ Aufgrund von Verfolgung und Schikanierung habe es lange keine Massendemonstrationen mehr gegeben. Jetzt sieht die ehemalige Abgeordnete Fortschritte im Hinblick auf die Wiederherstellung einer breiteren Bewegung. Diese sei auch bitternötig, angesichts politischer Situation in Guatemala: „Sie wollen uns im Vorfeld der Wahlen eine Lektion erteilen, um die Schaffung eines kriminellen oligarchischen Staates voranzutreiben. Ein Staat, der von militärischen Kriegsmördern, korrupten Politikern, Drogenhändlern und evangelikalen Kirchen getragen wird. Das ist das Bündnis, das Guatemala seit zwölf Jahren regiert.“

„DER PUTSCH HÖRT NICHT AUF“

ADRIANA GUZMÁN ARROYO

ist Aymara, lesbisch und Feministin. Sie gehört der Organisation Feminismo Comunitario Antipatriarcal (Gemeinschaftlicher Anti­patriar­chaler Feminismus) an. Die Organisation verortet sich in den Protest-bewegungen der Straße und kämpft gegen geschlechterbasierte Gewalt und für die Verteidigung indigener Territorien. (Foto: privat)


 

Sie und viele Akteur*innen aus den sozialen Bewegungen hatten befürchtet, dass die Wahlen 2020 eine Falle der damaligen De-facto-Regierung unter Jeanine Añez seien (siehe LN 547). Wie bewerten Sie den Sieg der MAS heute?
Die De-facto-Präsidentin Añez konnte abgesetzt werden, aber das Ergebnis der Wahlen ist kein Sieg der MAS, sondern der sozialen Bewegungen. Diese haben dafür gesorgt, dass die Wahlen im Oktober 2020 stattfinden konnten. Viele Menschen haben gegen den Faschismus, aber nicht für die MAS gestimmt. Leider hat die MAS nicht die richtigen Schlüsse aus dem Wahlergebnis gezogen. Sie ist wenig selbstkritisch davon ausgegangen, dass die erzielten 55 Prozent der Stimmen für sie selbst und für ihren Kandidaten Luis Arce abgegeben wurden. Das ist kaum zu glauben, denn Arce vertritt nicht die Interessen der indigenen Bevölkerung, die diesen Prozess angestoßen hat. Er hat als Wirtschaftsminister viele Jahre eine kapitalistische Politik verfolgt. Arce ist mitverantwortlich dafür, dass sich an der Wirtschaftsstruktur nichts geändert hat und die Vereinbarungen mit den Banken und den transnationalen Unternehmen nicht revidiert wurden.

Wie bewerten Sie die Arbeit der neuen MAS-Regierung seit den Wahlen?
Seit den Wahlen 2020 hat die MAS-Regierung weder neue noch alte politische Ziele verfolgt, außer im Bereich der Gesundheit. Hier wurde erreicht, dass Corona-Impfstoffe und -Tests bereitgestellt wurden. Es gibt jedoch keine politischen Maßnahmen, um Bildung voranzutreiben oder um die Wirtschaft wieder zu beleben. Zum Zwecke der Wiederbelebung hat die Regierung den Bergbauunternehmen Steuern erlassen – stattdessen hätte sie die Steuern für die Bevölkerung senken sollen.

Bei diesem Putsch sind die faschistische Rechte und die wirtschaftliche und politische Oligarchie zum Vorschein gekommen. Leider haben die Wahlen und die neue MAS-Regierung es nicht geschafft, die Auswirkungen des Putsches wirklich zu beenden. Es mangelt der Regierung an politischem Profil und Führungskraft. Die Minister kommen nicht aus den sozialen Bewegungen und verfügen nicht einmal über fachliche Expertise. Sie sind nicht in der Lage, mit den Angriffen der Rechten und der Oligarchie umzugehen.

Die Politik wird von den wirtschaftlichen Eliten und den transnationalen Konzernen gesteuert. Deshalb bin ich der Meinung, dass dieses Thema auf der Straße und in den indigenen Territorien entschieden werden muss.

Wurde für die während der De-facto-Regierung begangenen Verbrechen Gerechtigkeit erreicht?
Für die Ereignisse von 2019, wie etwa die Massaker, sind bisher keine Verfahren eingeleitet worden. Die Verantwortlichen wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. Es herrscht große Straflosigkeit, insbesondere bei Gewalt gegen Frauen und für Feminizide, die mit dem Putsch angestiegen sind. Seit Beginn der Pandemie ist das gesamte Justizsystem geschlossen. Die Orte zum Feiern und Alkohol trinken sind wieder geöffnet, aber die Gerichte nicht.

Es gibt Verletzte, die noch behandelt werden müssen, die bleibende Gesundheitsschäden davongetragen haben. Für uns als Organisation und für mich als Feministin ist der Kampf für Gerechtigkeit sehr wichtig. Es kann keinen Frieden und keine politische Stabilität geben, wenn es keine Gerechtigkeit und keine anerkannte historische Wahrheit gibt, denn das zieht eine ständige Unzufriedenheit innerhalb der sozialen Organisationen nach sich. Wir wollen, dass die geistigen Urheber, die Anstifter und die Täter bestraft werden und es umfangreiche Wiedergutmachungsmaßnahmen für die Opfer gibt. Für mich ist es sehr frustrierend, dass gegen Jeanine Añez noch kein Verfahren eingeleitet wurde, obwohl sie schon seit neun Monaten in Haft ist. Die Menschen wollen Gerechtigkeit, aber es gibt sie nicht.

Wie ist das Leben in Bolivien heute unter der neuen MAS-Regierung?
Jetzt gibt es zwar keine Massaker mehr, aber eine ständige Bedrängung und Einschüchterung der indigenen Bevölkerung. Es gibt einen ständigen Rassismus auf den Straßen, in den Institutionen, in der Politik, im Bildungswesen und in den Medien. Das fördert eine Kultur des Hasses, in der die Äußerungen von Amtsträgern oder wem auch immer nach ihrer Hautfarbe beurteilt werden und nicht nach ihrem Inhalt.

Ich glaube also, dass sich der Rassismus verschärft. Nicht in Form von Massakern oder Repression, denn er geht nicht vom Staat selbst aus. Aber die Angreifer können Faschisten von der Union Juvenil Cruceñista (einer rechtsextremen Gruppe, Anm. d. Red.) sein oder dein Nachbar, der dich auf der Straße anspuckt oder als Dieb bezeichnet. Das habe ich auch persönlich erlebt. Vor kurzem riefen Luis Fernando Camacho, das Bürgerkomitee von Santa Cruz, die Plattform 21F und alle Gremien, die am Putsch beteiligt waren, zu einem landesweiten Streik auf. Ich wurde auf der Straße umzingelt und verprügelt. Natürlich habe ich die Täter als faschistisch denunziert und sie gefilmt. So etwas passiert indigenen Frauen und Männern, Aymara, Quechua oder Migranten an jeder Straßenecke. Egal, ob wir der MAS angehören oder den sozialen Organisationen nahestehen, wir werden überall beschimpft. Es ist sehr schwierig, zwei Stunden auf der Straße zu sein, ohne mit jemandem in Streit zu geraten. Das führt zu ständigen Spannungen. Ich würde die Situation nicht als Polarisierung bezeichnen, denn es stehen sich nicht zwei ähnlich große Seiten gegenüber, sondern diese Kultur des Hasses wird von einer kleinen Gruppe erzeugt.

Wie erklären Sie sich, dass diese kleine Gruppe nach wie vor das gesellschaftliche Klima vergiften kann?
Die paramilitärischen Gruppen wurden nicht entwaffnet und können jederzeit einen Streik durchführen. Sie hätten aufgelöst werden müssen und sollten im Gefängnis sitzen, aber sie sind weiterhin mit ihren Motorrädern auf den Straßen und verprügeln Indigene! Es ist ein Putsch, der nicht aufhört. Die Rechte betreibt mit paramilitärischen Gruppen, mit Nahrungsmittelspekulation, mit all ihren Mitteln eine permanente Destabilisierung. Neben der MAS hat auch sie Sitze im Parlament errungen, und Camacho ist Gouverneur von Santa Cruz, einem der Departementos mit der höchsten Wirtschaftsleistung. Er kann nun den Staatsapparat für die rechte Mobilisierung einspannen. Ich denke, dass sie ein Abwahlreferendum planen. Die zutiefst rassistische und putschfreundliche Ärztekammer streikt ebenfalls seit Wochen, wie schon 2019. So greifen sie systematisch die Regierung an.

Welche Rolle spielt die wirtschaftliche Situation?
Die Wirtschaftskrise ist schrecklich, besonders für Frauen, und während der Pandemie hat sie sich verschärft. Zur Wiederbelebung der Wirtschaft hat die Regierung etwa die Rückerstattung der Rentenbeiträge beschlossen, die man nun ausgeben kann, um nicht zu verhungern. Für mich ist das ein schlimmer Angriff auf die Menschen, denn wir Frauen haben nicht einmal eine Rente, und auch viele Männer, die jetzt von ihren Ersparnissen leben, werden einmal keine Rente bekommen. Der Rassismus in Bolivien verschärft sich durch die Vertiefung des Kapitalismus, der Ausbeutung und der Wirtschaftskrise. Denn warum behandeln sie uns rassistisch? Um uns zu beherrschen, zu demütigen und auszubeuten, so dass uns nichts anderes übrig bleibt, als ihre Dienerinnen zu sein. Das wollen wir nicht und wehren uns dagegen.

Wie schätzen Sie die Situation der indigenen sozialen Bewegungen ein?
Um dies zu analysieren, sind zwei Aspekte wichtig. Der Putsch wurde 2019 möglich, weil die sozialen Bewegungen sich um politische Ämter gestritten haben und dadurch geschwächt waren. Die MAS hat zunehmend aufgehört, ein politisches Instrument der Bewegungen zur Lösung der Probleme des Landes und der indigenen Bevölkerung zu sein. Stattdessen ist sie zu einer traditionellen Partei geworden, in der die Parteispitze Entscheidungen trifft und die sich auf den Staatsapparat stützt, um Arbeitsplätze für die eigenen Mitglieder zu schaffen. Dafür haben wir keine Revolution gemacht.

Dies ist aber nicht nur die Verantwortung der MAS. Es ist ebenso die Aufgabe der sozialen Bewegungen, Druck auszuüben und einzufordern, dass der Prozess des Wandels neu ausgerichtet und vertieft wird. Leider sind die sozialen Bewegungen aufgrund ihrer Beziehung zum Staat zersplittert. Es gibt Teile der Organisationen, die hinter Evo stehen. Eine zweite Strömung unterstützt den Vizepräsidenten David Choquehuanca und eine dritte Luis Arce. Da wir einen Putsch und eine Pandemie durchlebt haben, waren die Bedingungen denkbar schlecht, um die sozialen Bewegungen wieder zu stärken.

Der zweite Aspekt hängt mit der Pandemie zusammen. Diese hat uns isoliert und gelähmt und vielen Menschen Angst gemacht. Vor allem aber hat die Pandemie einige wichtige Führungspersönlichkeiten der sozialen Bewegungen umgebracht. Das hat die Organisation der sozialen Bewegungen geschwächt. Leider kommen wir aus einer Kultur, in der immer eine Führungsfigur gebraucht wird. Es mangelt an politischen Konzepten, die sozialen Bewegungen sind zersplittert und nach meinem Eindruck passiert Ähnliches in vielen Teilen von Abya Yala. Die Pandemie wurde von den Regierungen auch strategisch genutzt, um uns zu demobilisieren und die sozialen Bewegungen zu lähmen. Trotzdem gehen wir als Feministinnen weiterhin auf die Straße und fordern Gerechtigkeit.

Welche Rolle spielt die feministische Bewegung aktuell? Gab es Fortschritte bezüglich der patriarchalen Pakte innerhalb der MAS?
Nein, es gab keine großen Fortschritte. Es ist schwierig, sich nach einem Putsch wieder zu erheben. Der Putsch war ein politischer, aber es war auch ein körperlicher und emotionaler Schlag. Wir sind gerade erst dabei, wieder aufzustehen. In Bezug auf den Putsch gab es unterschiedliche feministische Positionen. Einige Feministinnen, wie María Galindo oder Silvia Rivera, haben sogar behauptet, dass es gar keinen Putsch gegeben hätte. Ich bin der Meinung, dass die feministische Bewegung in jenem wichtigen Moment 2019 keine bedeutende Rolle gespielt hat, außer dass Feministinnen falsche Informationen über den Putsch verbreitet haben. Es gibt viele verschiedene Feminismen, manche von ihnen tragen zur Polarisierung der Gesellschaft bei und spielen dabei der faschistischen Rechten in die Hände.

Wie wahrscheinlich sind neue Konflikte mit der Regierung wegen des Extraktivismus?
Die Regierung hat an ihrer extraktivistischen Ausrichtung nichts geändert. Die sozialen Organisationen, die dies anprangern könnten, werden das jedoch nicht tun. Im Moment ist es sehr schwierig, auf der Straße Druck auf den Staat auszuüben, denn all dies wird von der Rechten zum Zwecke der Destabilisierung ausgenutzt. Vor kurzem gab es einen indigenen Protest, der legitimermaßen anprangerte, dass auf die Forderungen der Gemeinschaften des Tieflands wie der Guaraní, der Chiquitán, nicht eingegangen wurde. Um an Stärke zu gewinnen, haben sie sich jedoch mit rechtsgerichteten Gruppen und der Partei von Carlos Mesa verbündet. Das hat ihnen jegliche Legitimität genommen. Deshalb glaube ich auch nicht, dass es jetzt große Mobilisierungen geben wird. Das Ausbleiben von Protesten führt vielleicht zu mehr Stabilität, es nimmt jedoch auch Druck von der Regierung, auf die Nöte der Bevölkerung einzugehen.

Gibt es trotz alledem auch ein Wort der Hoffnung für Bolivien?
Ich denke, wir befinden uns in einer schwierigen Situation. In der gesamten Region finden ständig Angriffe statt. In Argentinien zum Beispiel erobern die Anhänger von Ex-Präsident Macri weiterhin Räume zurück. In Chile gibt es Leute, die gegen die Revolte sind. Sie bedeuten uns, dass wir keine weiteren Revolutionen oder Transformationen befördern sollen. Was mich aber hoffnungsvoll stimmt, ist, dass wir in der Lage waren, die De-facto-Regierung sehr schnell loszuwerden. Denn es waren die Proteste vom Juli und August 2020, die die Durchführung der Wahlen vom 18. Oktober ermöglicht haben. An dieser Mobilisierung waren vor allem die indigenen Gemeinschaften beteiligt, die im ganzen Land demonstriert, Straßen blockiert sowie Bürgerversammlungen und einen unbefristeten Streik abgehalten haben.

Unsere Fähigkeit zur Organisation, unser Widerstand, unsere ständige Weigerung, beherrscht und unterworfen zu leben, gibt Hoffnung. Auch wenn es jetzt Spaltungen in den sozialen Bewegungen gibt, so sind diese vorübergehend. Wir Aymara und Quechua ertragen die Unterdrückung nicht. Wir sind rebellisch und haben uns immer selbst organisiert. Wir dürfen nicht alle unsere Hoffnungen auf den Staat setzen. Das haben wir bereits versucht, doch es ist schwierig für den Staat, alles zu verändern. Mich stimmt es hoffnungsvoll, dass wir wieder an uns selbst als Organisationen und Gemeinschaften glauben und den Staat als eine weitere Variable haben, über die man diskutieren kann. Vor allem aber ist es wichtig, dass wir uns selbst organisieren. Nicht mehr für eine Partei, nicht für eine Person, sondern weil wir nicht mehr mit den Patriarchen leben wollen. Nie wieder als Dienerinnen!

WIDERSTAND IN EINER DIGITALISIERTEN WELT

Protestaktion kolumbianischer Migrant*innen auf dem Tempelhofer Feld in Berlin am 24. Mai 2021 (Foto: Juan Camilo Alfonso)

Können Sie uns ein wenig über die digitalen Protestformen in Lateinamerika erzählen, die Sie kennen und zu denen Sie forschen?
Auf diese Frage gibt es so viele Antworten, ich glaube, ich würde nicht fertig werden, wenn ich hier alle Proteste nennen würde. Wenn wir andersherum fragen, wäre die Antwort, dass es sehr wenige Proteste gibt, die nicht zumindest für einen Teil ihrer Interventionen oder Partizipationsformen das Internet einbeziehen. Da ist immer irgendeine Person, die ein Foto oder Video aufnimmt und dieses dann viral gehen lässt. Das Internet stellt eine Kontinuität des uns bekannten sozialen Raums dar und eine politische Arena; in dem Sinne, dass Personen sagen: Ich werde mir diesen Raum aneignen, um meine Forderungen zu artikulieren, um zu demonstrieren, dass ich mit etwas nicht einverstanden bin und gleichzeitig möchte ich ein bestimmtes Thema mithilfe diverser Strategien sichtbar machen.

In meiner Forschung beobachte ich, wie feministische Kollektive derzeit gegen geschlechtsspezifische Gewalt auf die Straße gehen. Zum einen ist in aller Munde, dass der Körper immer mehr politisiert wird, da der Protest sich so sehr gegen den Zustand der Gewalt wendet. Zum anderen politisieren sich die sozialen Netzwerke, da wir uns diese Räume für unsere Ziele aneignen, um das Ende der Gewalt und konkrete Aktionen einzufordern.

Welche digitalen Räume und Kanäle sind bisher über die sozialen Medien hinaus genutzt und sich in den Protesten angeeignet worden?
Es stimmt, dass es sich beim Internet als sozialem Raum nicht nur um die sozialen Medien handelt. Wir wissen, dass es darüber hinaus alternative Netzwerke gibt, die von Communities geschaffen werden. In Lateinamerika weitet sich die Schaffung dieser Räume gerade aus. Vor allem wird eigene Infrastruktur genutzt, zum Beispiel Server, die nicht oder in ihrer Verkettung nur teilweise mit den großen Unternehmen verknüpft sind. Außerdem wird sehr darauf gesetzt, Inhalte mit alternativen Narrativen zu schaffen, Narrative von Personen, Geschichten und Standpunkte, die nicht die hegemonialen sind. Die Mehrheit dieser Räume sind Blogs, Webseiten oder Wikis, die den sozialen Bewegungen als Archive für alle ihre Aktivitäten dienen. Die Schaffung von Inhalten hat sehr innovative Züge, hier wird das Digitale mit dem Analogen verknüpft: Die Kreation von Pamphleten wie PDF-Dokumenten, die auf den Straßen und auch auf Webseiten zirkulieren. Danach ist die große Herausforderung, all diese Inhalte archivieren zu können, weil diese oft verschwinden.

Trotzdem spielen die sozialen Netzwerke eine sehr wichtige Rolle in der Organisation der Proteste. Ich gehe hier von zwei strategischen Formen aus, die sich das Internet zum Protestieren aneignet: Einerseits sagen Aktivist*innen: „Wir wollen uns nicht die kommerziellen Räume aneignen, denn im Grunde sind Facebook, Twitter, Instagram und TikTok Unternehmen. Es ist wie in ein Einkaufszentrum zu gehen, um zu protestieren, damit füttern wir nur die Firmen und garantieren ihnen Profite.“ Denn jeder Like, auch wenn dieser im Protest gegeben wurde, bedeutet Profit für diese Unternehmen. Dagegen steht eine zweite Position, die mit dem Dilemma der Aneignung der sozialen Medien zur Organisation zu tun hat. Diese zweite Gruppe sagt: „Wir müssen uns diese Räume aneignen, weil wir so die Leute erreichen, die ihre Beziehung zu Technik politisieren müssen und auf die Straße gehen müssen.“ Das ist das doppelte Spiel des Systems.

Können Sie uns Beispiele zu weiteren Technologien geben, die sich soziale Bewe-gungen aneignen?
Es gibt eine große Diskussion darum, was wir überhaupt als Technologie verstehen können. Es geht nicht nur um diese Geräte, sondern auch darum, die Machtverhältnisse zu hinterfragen, die bestimmen, was als Technologie kategorisiert wird und was nicht. Außerdem ist die Beziehung zwischen Mensch und Maschine sehr dynamisch. Es gibt keine Trennung zwischen der Maschine und mir.

Eine dieser weiteren Technologien sind die Drohnen. Drohnen sind sich in Lateinamerika von Aktivist*innen als gegenkulturelle Objekte angeeignet worden, um Technologien mit einer militärischen und patriarchalen Genealogie zu kritisieren und um das Stereotyp der Maschine als Mann oder eines männlichen Experten hinter der Maschine zu beseitigen. In Mexiko zum Beispiel brechen feministische Kollektive genau diese Idee auf und führen eine Gegen-Überwachung des Staates als Protest durch.

Das Interessante daran ist, dass sich feministische Kollektive Drohnen nicht nur als ein Objekt der Gegenkultur aneignen, sondern eine fiktionale feminine Figur schaffen: Droncita. Diese Drohne hat ihren eigenen Twitteraccount und setzt sehr polemische Kommentare zur Politik ab. Es gibt ein Video, in dem sie eine Abbildung des damaligen Präsidenten Peña Nieto mit Graffiti besprüht, wegen des Konfliktes um Ayotzinapa und die 43 verschwundenen Studierenden, in dem der Staat verantwortlich war. Droncita besprüht ihn, um auszudrücken: Alles was du fabriziert hast, ist eine Lüge. Du bist verantwortlich.

In Brasilien gibt es beispielsweise auch ein Kollektiv, das Fones konstruiert. Fones sind Telefone, die wie eine Drohne fliegen und dabei DIY-Technologien nutzen. Diese Fones wurden in Hacktivist*innen-Schulen in lokalen Gemeinschaften kreiert, um die Gewalt der Bauunternehmen während der Arbeiten für die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro offenzulegen. Diese Fotos wurden sogar in einem Prozess eingesetzt, um diese Gemeinschaften vor Raub durch Baufirmen zu schützen.

Also werden die sozialen Netzwerke und die digitalen Räume zusammen mit den Protesten auf der Straße genutzt. Wie wirkten sich diese Verbindungen im Fall von Droncita aus?
Droncita war während verschiedener sozialer Konflikte in Mexiko aktiv, besonders im Fall der 43 verschwundengelassenen Studierenden von Ayotzinapa. Droncita wurde 2015 geboren und hat seitdem die Proteste dokumentiert, um dem Diskurs der Polizei etwas entgegenzusetzten, der betroffene Familien und Protestierende revikti- misiert. Vor allem wollte sie Beweise dafür liefern, dass alles, was die Polizei gesagt hat, um die Proteste zu kriminalisieren, eine Lüge war.

Heute werden viel mehr Drohnen in Protesten eingesetzt. So viele, dass ihr Einsatz während Protesten in Mexiko sowie in ganz Lateinamerika verboten wurde. Wo sich mehr als 50 Personen versammeln, dürfen keine Drohnen fliegen. Tatsächlich gab es während der zwei letzten feministischen Proteste schon Polizist*innen die von ganz oben den Regierungspalast in Mexiko-Stadt mit Geräten, die Waffen zu sein schienen, schützten. Danach wurde in der Zeitung bekannt, dass es sich nicht um Waffen handelte, sondern um Geräte, die das Signal der fliegenden Drohnen unterbrechen konnten. Die Regierung hat wirklich Angst. Droncita missfällt ihnen.

Was tun die sozialen Bewegungen, um digitale Räume für den Protest und auch für User*innen im Allgemeinen sicher zu machen?
Das ist eine große Herausforderung, die viel Kampf und Widerstand erfordert. Der Punkt ist, dass die Gewalt während und nach einer Demonstration anhält. Es handelt sich um einen Kreislauf der Gewalt und des Widerstandes: Die Frauen gehen wegen der Gewalt protestieren, aber trotzdem sind sie am Ende des Widerstands der Gewalt ausgesetzt. Das liegt daran, dass die Plattformen zwar bei der kollektiven Organisation helfen, aber auch zu Räumen geworden sind, in denen sich die Gewalt fortsetzt. Beispielsweise gab es im Jahr 2019 zwei Proteste in Mexiko-Stadt. Vier Polizisten hatten eine Minderjährige vergewaltigt. Nach zwei Wochen hat ein in einem Museum angestellter Polizist eine weitere Minderjährige vergewaltigt (siehe LN 543/ 544). Die Straflosigkeit, besonders bei geschlechtsspezifischer Gewalt in Mexiko und Lateinamerika, ist bereits bekannt. Damals wurde zunächst eine Kundgebung mit Performances vor der Generalstaatsanwaltschaft und vor der Polizeistation von Mexiko-Stadt organisiert. Das reichte nicht aus, weshalb zu einer weiteren Demonstration am 16. August 2019 aufgerufen wurde. Diese war nicht die erste feministische Demonstration, aber sie war insofern besonders, dass die Frauen ihren Frust an strategischen Orten ausließen, wie vor der Polizeistation und an Denkmälern, auf die sie feministische Slogans oder Hashtags wie #EstadoFeminicida malten. Sie brachen mit allen Stereotypen davon, wie Frauen protestieren. Als Reaktion gab es einen Shitstorm in den sozialen Medien, der forderte, dass die Frauen an in ihren Platz, also die Küche, zurück gehen sollten. Es zirkulierten Drohungen und Aufrufe zu digitaler und sexualisierter Gewalt gegen die Aktivist*innen. Außerdem erhielten Kollektive, die zur Demonstration aufgerufen hatten, Nachrichten mit Fotos von verstümmelten und enthaupteten Körpern.

Sie haben erklärt, dass der Staat Räume reguliert, wenn soziale Bewegungen neue Technologien nutzen, wie zum Beispiel beim Verbot des Einsatzes von Drohnen. Gibt es andere Technologien oder Geräte, die genutzt werden, weil Drohnen verboten wurden?
Mir fällt nicht so ein klares Beispiel ein wie die Drohnen. Ich denke, der Staat erkennt, dass er alles, was das Internet und Apps betrifft, derzeit nicht komplett kontrollieren kann. Also wurde die Cyberpolizei verstärkt. Hier wurde viel Geld investiert, um Hacker auszubilden und generell in allen Bereichen, die etwas mit der Kontrolle von Applikationen und der Überwachung von Menschenrechtsverteidiger*innen zu tun haben. Dieses Konfliktfeld wird in den kommenden Jahren immer weiter reguliert werden.

Ich glaube, dass der Kampf in den nächsten Jahren über die Regulation des Internets ausgetragen werden wird, es wird mit dem Urheber*innenrecht anfangen und der Kontrolle der Apps, die nicht kommerziell sind. Die Mobilisierung und Proteste sind dem Staat ein Dorn im Auge und er versucht jetzt den Zugang zu Daten zu erhalten, um die Rechte im Internet weiter zu beschneiden. Das wird der nächste Kampf sein, in bestimmten Bereichen wird er schon ausgetragen und er wird sich ausweiten.

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