„Wir wollen uns lebend, frei und unverschuldet!“

“Wir wollen uns lebend, frei und unverschuldet” Plakar auf einer Demonstration von Ni una Menos Santa Fe (Foto: TitiNicola via wikimedia commons (CC BY-SA 4.0))

In euren jüngsten Publikationen aktualisiert ihr die These von Gewalt als Produktivkraft. Was versteht ihr darunter und inwiefern ist sie für eine politische Analyse der letzten Jahre hilfreich?
Verónica Gago: Die Idee der Gewalt als Produktivkraft ist zentral für das feministische Weiterdenken der ursprünglichen Akkumulation sowohl bei Maria Mies als auch bei Silvia Federici, die damit ein ganz neues Diskussionsfeld eröffnen. Besonders interessant erscheint mir, Gewalt als Produktivkraft mit den feministischen Debatten der letzten Jahre über die Gewalten im Plural zu verbinden. Wenn in den letzten Jahren von Gewalt oder Gewalten die Rede war, wurde oft eine strukturelle Dimension vergessen, die mit der Kapitalakkumulation und den daraus entstehenden Formen von Gewalt zusammenhängt. Gewalt als Produktivkraft zu verstehen, verschiebt den Fokus auf die strukturelle, auf die kapitalistische, patriarchale und rassistische Dimension von Gewalt und bindet sie damit an ihren produktiven Charakter zurück.

Wenn wir uns der Frage zuwenden, was heute im Zuge der kapitalistischen Akkumulation Gewalt produziert, dann konzentriere ich mich auf das, was einige von uns in Lateinamerika seit Jahren als die extraktive Dimension des Kapitals analysieren. Es gibt eine Verbindung zwischen Territorien und feminisierten Körpern, die gleichzeitig von Ausbeutungsprozessen gekennzeichnet sind – durch Dispositive direkter Gewalt (Enteignung und Vertreibung) und durch vermittelte Gewalt über finanzielle Dispositive, insbesondere Schulden (ökonomische Gewalt und finanzielle Gewalt).

Luci Cavallero: Wenn Mies die Abgrenzung vornimmt, dass Gewalt nicht mehr als außerökonomisches Element gedacht werden kann, dann scheint mir das auch ein Stück weit die Pädagogik des (feministischen) Streiks zu sein, die ökonomische Gewalt als Teil und intrinsisch verbunden mit geschlechtsbezogener Gewalt begreift. Gewalt als Produktivkraft zu denken, ist also nicht nur eine Diagnose oder eine theoretische Entscheidung, sondern hat auch politische Konsequenzen, wenn es um das Agenda-Setting zur Bekämpfung von Gewalt geht. Mit anderen Worten, es handelt sich um eine feministische Agenda, die auch eine Aushandlung mit dem Staat beinhaltet. Diese staatliche Dimension ist oft wie ein Versuch den Kampf gegen machistische Gewalt auf einen Alarmknopf zu reduzieren, während wir sagen, dass der Kampf auch Zugang zu Wohnraum und Arbeitsrechte in Haushalten umfasst. Die Idee von Gewalt als Produktivkraft beeinflusst auch die Art und Weise, wie wir innerhalb des Kollektivs Ni Una Menos über Bündnisse nachdenken und wie wir darin das Verhältnis zwischen ökonomischer und geschlechtsbezogener Gewalt aufgreifen.

An welche Art von Bündnissen denkst du, Luci?
Luci Cavallero: Für eine Anti-Gewalt-Agenda sind wir verschiedene politische Bündnisse eingegangen, zum Beispiel mit Mieter*innenbewegungen, die insbesondere die Rolle von Frauen als Haushaltsvorständen im Kampf um Wohnraum hervorheben. Denn im Kampf gegen machistische Gewalt kannst du verschiedene Arten von Bündnissen bilden, von der rechtlichen bis hin zur künstlerischen Ebene. Aber wenn du sagst, dass Gewalt auch eine Produktivkraft ist, dann bedeutet sich der Gewalt entgegenzustellen auch, sich dem finanzialisierten Immobilienextraktivismus entgegenzustellen.

Argentinien befindet sich seit Jahren in einer Wirtschaftskrise mit wenigen Höhen und vielen Tiefen. Ihr stellt die staatliche sowie die individuelle Verschuldung, die daraus resultiert, ins Zentrum eurer Überlegungen. Aber wie hängen Verschuldung und Gewalt als Produktivkraft zusammen?
Luci Cavallero: Ja, seit 2018 erleben wir in Argentinien eine soziale Tragödie, die mit einem wichtigen Ereignis begann: der Rückkehr des Internationalen Währungsfonds (IWF) in die Mitregierung der argentinischen Ökonomie im Jahr 2018 unter der Präsidentschaft von Mauricio Macri. Diese ultra-neoliberale Regierung hat den schnellsten Verschuldungsprozess in der Geschichte Argentiniens eingeleitet, der sogar den der Militärdiktatur übertrifft: 100 Millionen Dollar, die Hälfte davon bei externen Gläubigern, also Investmentfonds, und die andere Hälfte bei internationalen Kreditinstituten. Seither ist eine deutliche Prekarisierung der Lebensbedingungen für die große Mehrheit der Bevölkerung zu beobachten, die sich in verschiedenen Aspekten manifestiert. Darunter fällt eine stark wachsende Verschuldung der Bevölkerung, die immer mehr auf den Kauf von Gütern und Dienstleistungen der sozialen Reproduktion abzielt. Das breitet sich aus, nicht nur in der Arbeiter*innenklasse, sondern auch in den Mittelklassen. Einkommen reichen nicht aus und jeden Monat müssen neue Schulden aufgenommen werden, um das Einkommen aufzustocken.

Seit dem Wahlsieg von Milei ist diese Dynamik, die wir schon seit einiger Zeit untersuchen, geradezu explodiert. Aktuell befinden wir uns bereits in einem Szenario der Hyperinflation. Vor diesem Hintergrund ist der Wunsch nach einem radikalen Wandel zu verstehen, der sich in der Wahl derjenigen zeigt, die eine Dollarisierung versprochen haben. Der Dollar gilt als die einzige stabile Währung. In einer Ökonomie, die grund­legende Güter und Dienstleistungen, beispiels­weise Wohnraum, dollarisiert hat, wirkt Mileis Vorschlag zur Dollarisierung wie ein Stabilitätsversprechen – auch wenn es offensichtlich nur um den Preis extremer Verarmung zu haben ist.

Welche Rolle spielen Feminismen darin? Oder: Warum braucht es eine feministische, materia­listi­­­sche und dekoloniale Perspektive, um Inflation und Verschuldung zu analysieren?
Luci Cavallero: Die kriminelle Verschuldung während der Präsidentschaft von Mauricio Macri fällt mit einem Höhepunkt des feministischen Widerstands zusammen. Schulden und Verschuldung werden zum Thema auf den Asambleas (Versammlungen) und im Rahmen der feministischen Streiks organisierten wir eine Aktion vor den Toren der argentinischen Zentralbank. Dort brachten wir zum ersten Mal das Transparent mit dem Slogan: „Wir wollen uns lebend, frei und unverschuldet!“ (¡Vivas, libres y desendeudadas nos queremos!) an. Diese Politisierung der Schulden beleuchtet etwa die Verbindung zwischen externer Verschuldung, Austeritätsprogrammen und Haushaltsschulden. Es sind hauptsächlich Frauen, die Schulden aufnehmen müssen, was wiederum das Verhältnis zwischen finanziellen Verpflichtungen und Geschlechteranforderungen in wirtschaftlichen Krisenzeiten aufzeigt.
Auf der einen Seite ermöglicht diese feminisierte Verschuldung, Notsituationen zu bewältigen, aber gleichzeitig ist es eine Verschuldung, die häufig Frauen an die Haushalte bindet, in denen Gewalt herrscht. Nach dem Motto: „Ich kann dieses Zuhause nicht verlassen, weil ich einen Haufen Schulden habe. Etwa um Schulmaterial für meine Kinder zu kaufen, die darauf angewiesen sind, dass ich drei Schichten arbeite und außerdem mein Partner arbeitet.“

Der IWF hat in das Abkommen mit Argentinien von 2018 eine vergeschlechtlichte Sprache aufgenommen. Darin wird der argentinische Staat aufgefordert, die weibliche Erwerbsarbeit und die finanzielle Inklusion von Frauen im Sinne von ökonomischer Autonomie zu fördern und zu erhöhen. Wir haben darauf folgendermaßen geantwortet: Mehr Erwerbsbeteiligung ohne Rechte taugt nichts! Und zweitens bedeutet finanzielle Inklusion nicht ökonomische Autonomie. Die Genossinnen sind bereits finanziell integriert, allerdings in Form von Verschuldung. Verschuldung ist auch eine Form der Inklusion!

So üben Schulden auch eine Form von Gewalt aus, weil sie dazu führen, dass du für weniger Lohn mehr arbeitest. Ein Beispiel: Ab dem Jahr 2018 sind innerhalb von vier Monaten 700.000 Frauen auf den Arbeitsmarkt gekommen, und gleichzeitig ist die Verschuldung am stärksten gestiegen. Sprich: Du bist zu längeren Arbeitszeiten und mehr Schichten gezwungen, während die externe Verschuldung dir nicht das Existenzminimum garantiert, sondern du dich noch weiter verschulden musst. Ich würde sagen, die Verschuldung ist der Mechanismus par excellence, der Gewalt als Produktivkraft auszeichnet.

Verónica Gago: Ich möchte hinzufügen, dass dies auf zwei weitere Momente in der Geschichte Argentiniens verweist: die Krisen von 2001 und 1989, die die größten ökonomischen und politischen Krisen seit der Militärdiktatur waren. Im Jahr 1989 musste Raúl Alfonsín, der erste Präsident nach der Diktatur, vorgezogene Neuwahlen ausrufen, woraufhin Carlos Menem an die Macht kam und die brutalsten neoliberalen Reformen der 1990er Jahre durchführte. Im Jahr 2001 waren die Wirtschaftskrise und Verschuldung ebenfalls sehr schwerwiegend und führten zu großen Protesten und einem Massenaufstand. Die Dollarisierung der Wirtschaft, ein Projekt der wirtschaftlichen Eliten, wurde dank dieser Proteste verhindert. Wie oben erwähnt, bestritt Milei als Kandidat der extremen Rechten den Wahlkampf mit der Idee der Dollarisierung. Das macht für viele Menschen Sinn, weil diese bereits de facto in den Bereichen Lebensmittel und Wohnen existiert – das sind dollarisierte Märkte. In allen drei Fällen handelt es sich also um Hyperinflationskrisen und um politische Krisen. Das heißt es sind Krisen, die einen Regierungswechsel oder eine tiefgreifende Umstrukturierung eben dieses politischen Systems mit sich bringen. Aktuell geht es um die Umstrukturierung eines fortgeschrittenen Extraktivismus- und Landnahme-Modells. Seit dem Triumph Mileis sehen wir, dass all dies mit Nachdruck bestätigt wird, mit einer zusätzlichen Komponente: einer extremen Geschwindigkeit in der Deregulierung der Grenzen für Unternehmen und in der Organisation der Plünderung selbst.


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„WIR SIND IN EINER DREIFACHKRISE“

DR. WALTON WEBSON
ist Botschafter von Antigua und Barbuda bei den Vereinten Nationen. Zudem ist er 2021 und 2022 turnusmäßiger Vorsitzender der Allianz der kleinen Inselstaaten (AOSIS), der 39 Inselstaaten angehören, darunter auch größere wie Kuba oder gar das auf dem Festland liegende Guyana. Alle sind wegen ihrer geografischen Lage besonders vom Klimawandel betroffen.
(Foto: Martin Ling)

Kleine Inselstaaten wie Ihr Heimatland Antigua und Barbuda waren bereits vor der Covid 19-Pandemie aufgrund ihrer wenig diversifizierten Wirtschaft und ihrer besonderen Bedrohung durch Klimawandel mit zunehmenden extremen Wetterereignissen wie Hurrikanen besonders anfällig für Überschuldung. Wie hat sich die Pandemie ausgewirkt?
Um es mit einem Wort zu sagen: zerstörerisch. Die Pandemie hat die schwierige Lage der Inselstaaten, in der sie bereits zuvor waren, weiter verschärft. Durch die Pandemie sind die Inselstaaten nun einer Dreifachkrise ausgesetzt: Zur Klima- und Schuldenkrise hat sich eine Krise im Gesundheitssektor hinzugesellt. Außerdem haben sich durch zusammenbrechende Lieferketten infolge der Pandemie viele Güterpreise auf dem Weltmarkt stark erhöht, was für die stark importabhängigen Inselstaaten verheerend ist. Und eine der Haupteinnahmequellen, der Tourismus, ist zusammengebrochen und hat sich bis heute nur ansatzweise erholt. Und unabhängig davon drohen durch den Klimawandel jeder Insel immer verheerende Wirbelstürme, die immense Schäden hervorrufen können, die in der Vergangenheit teils an einem einzigen Tag mehr als die jährliche Wirtschaftsleistung vernichtet haben! Bahamas traf es 2019, Dominica und Antigua und Barbuda 2017, um nur die verheerendsten der vergangenen Jahre zu nennen.

Die AOSIS, der Sie vorstehen, hat am 29. Juni 2020 in der ersten Welle der Pandemie mit einer bemerkenswerten öffentlichen Erklärung auf diese Probleme aufmerksam gemacht. Um diese Herausforderungen zu bewältigen, forderten Sie von der internationalen Gemeinschaft konkrete Antworten: eine Ausweitung des bestehenden Schuldenmoratoriums auf alle kleinen Inselentwicklungsstaaten (SIDS), die Einbeziehung aller Gläubiger in das Moratorium und, was noch wichtiger ist und über die vorübergehende Aussetzung der Zahlungen hinausgeht, die Schaffung eines ganzheitlichen Entschuldungsmechanismus. Was war die bisherige Antwort?
Die Antwort fiel sehr zögerlich aus. In den Internationalen Finanzinstitutionen (IFIS) werden verschiedene Optionen diskutiert. Mal geht es einen Schritt voran, mal einen zurück. In der ersten Runde konnten nur wenige SIDS von den Sonderziehungsrechten des Internationalen Währungsfonds (IWF) profitieren und sich so zu niedrigen Zinsen Liquidität verschaffen. Die meisten SIDS müssen sich bei kommerziellen Banken Kredite verschaffen und das zu Zinssätzen, die weit über denen liegen, die große europäische Staaten zu zahlen haben. Das Entgegenkommen ist sehr begrenzt. Aber wir bleiben dran, weil wir dranbleiben müssen, wir machen weiter Druck, denn wir bleiben hoch verschuldet, wir bleiben verletzlich wegen unserer exponierten geografischen Lage.

Wie gehen Sie vor?
Wir arbeiten an der Milderung der Probleme und suchen nach Partnern, die uns dabei helfen. Die Schuldenkrise ist lösbar abhängig von den Beziehungen zwischen den Gläubigerstaaten zu den kleinen Inselstaaten. Unsere Verletzlichkeit muss anerkannt werden. Wir können nichts für den Klimawandel, wir können nichts für unsere geografische Lage und wir können sie auch nicht ändern. Wir können nur mit ihr umgehen und das ist auch unser Plädoyer: Lasst uns zusammenarbeiten. Wir sind in einer Dreifachkrise. In einer Krise darf man nicht langsam reagieren, man muss schnell reagieren, man muss den Betroffenen schnell helfen.

Dass es möglich ist, zeigt sich beim Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, oder? Da wurde schnell mit Hilfen für die Ukraine reagiert.
Sehr guter Punkt. Das zeigt, dass es gemacht werden könnte, auch im Falle der kleinen Inselstaaten. Es ist offensichtlich, dass wir noch mehr Druck machen müssen. Die Reaktion auf den Krieg ist überwältigend: Zig Milliarden Dollar wurden in kürzester Zeit mobilisiert. In der Ukraine spielt sich ein humanitäres Desaster ab. Aber das spielt sich abgesehen vom Krieg auch in den Inselstaaten ab. Ich sage das jeden Tag.

In Ihrem Vorschlag zur Bewältigung der Schuldenkrise sprechen Sie von einem ganzheitlichen Entschuldungsmechanismus. Was verstehen Sie darunter?
Nun, wir haben die bestehenden Strukturen von Schuldenerlassen unter die Lupe genommen, weil sie überarbeitet werden müssen. Dabei ist uns klar geworden, dass alle Gläubiger in die Schuldenerlassinitiativen einbezogen werden müssen, auch die Geschäftsbanken, nicht nur die multilateralen Institutionen und die staatlichen Gläubiger, sondern eben auch die privaten. Alle Beteiligten müssen an einen Tisch, Schuldner und alle Gläubiger. Sonst wenden Gläubiger unterschiedliche Strategien an, die Privaten kassieren rücksichtslos weiter, die Öffentlichen erlassen nur teilweise nach eigenem Ermessen. Das ist der erste Schritt. Und danach muss dann überlegt werden, bei welchem Land reicht ein Moratorium, bei welchem Land muss es einen Schuldenerlass geben. Die Schuldentragfähigkeit muss Land für Land untersucht werden. Wo handelt es sich nur um eine zeitweise Krise und wo müssen grundsätzlich die Schulden umstrukturiert werden, weil das Land sonst keine Chance hat? Dann muss entschieden und schnell gehandelt werden. Aber das Wichtigste ist: Alle an einen Tisch, ein Abkommen, an das alle Gläubiger gebunden sind.

Ein All-Inclusive-Ansatz für Gläubiger wie sonst im Tourismus?
Ja, genau.

Sie haben Ihre Forderungen im Prozess der Entwicklungsfinanzierung auf der Ebene der Vereinten Nationen vorgetragen. Deutschland kommt hier durch seine derzeitige G7-Präsidentschaft eine besondere Rolle und Verantwortung zu, auch im Rahmen der Vereinten Nationen. Kann Deutschland mit der G7-Präsidentschaft Impulse setzen?
Wir würden es sehr begrüßen, wenn Deutschland seinen Einfluss geltend machen würde, damit die SIDS stärker in Schuldenmoratoriums- und Schuldenerlassinitiativen eingebunden werden würden. Wir brauchen zur Bewältigung unserer Dreifachkrise starke Partner. Deutschland ist potenziell einer. Deswegen führen wir hier Gespräche mit der Bundesregierung. Wir wünschen, dass sich die Bundesregierung in ihrer G7-Präsidentschaft und darüber hinaus für die Belange der kleinen Inselstaaten stark macht. Die internationale Gemeinschaft steht in der Pflicht, darauf zu achten, dass niemand zurückgelassen wird. Sie steht in der Pflicht, den kleinen Inselstaaten zu helfen, die den Klimawandel nicht verursachen, aber am stärksten unter ihm zu leiden haben. Die Verletzlichsten müssen geschützt werden.

Gibt es ein europäisches Land, das sich bereits besonders um die Belange der Inselstaaten verdient macht?
Wir haben bilaterale Partnerschaften mit einer Reihe von Ländern. Deutschland gehört da leider noch nicht dazu. Deutschland sollte sich einreihen, auch bei den Vereinten Nationen. Dort wird mit den SIDS an der Entwicklung eines Multidimensionalen Verletzlichkeits-Index (MVI) gearbeitet. Damit sollen die besonderen Bedürfnisse der kleinen Inselstaaten erfasst werden, die vom Pro-Kopf-Einkommen nicht zu den ärmsten Staaten der Welt gehören, aber besonders den Folgen des Klimawandels und externen Schocks ausgesetzt sind, die außerhalb ihrer Verantwortung liegen. Von den Änderungen der EU-Marktpräferenzen für Afrika-Karibik-Pazifik-Staaten über die globale Rezession nach der Lehmann-Pleite 2008 bis hin zum Klimawandel und zu COVID-19 sind die externen Schocks stets von anderen verursacht, beziehungsweise andernorts ausgelöst worden. Ein MVI mit globaler Beteiligung soll mehr Daten und ein besseres Verständnis für das Klimarätsel liefern, das wir alle zu lösen versuchen. Die MVI-Expertengruppe hat das Mandat des UN-Generalsekretärs António Guterres und wird vom Ministerpräsidenten von Antigua und Barbuda, Gaston Browne, geleitet, zusammen mit der ehemaligen norwegischen Regierungschefin Erna Solberg. Also Norwegen ist ein echter Partner für die kleinen Inselstaaten, Deutschland noch nicht. Wir sind auf der Suche nach mehr Partnern.

Wenn es um die Schuldenfrage geht, sitzen Sie nicht mit am Tisch. In der G7, der G20 oder dem Pariser Club hat die AOSIS keinerlei Stimme, im IWF und der Weltbank ist Ihr Einfluss minimal. Wie wollen Sie Ihren Einfluss stärken?
Prinzipiell sehe ich zwei Wege. Die demokratisch repräsentativste Organisation sind die Vereinten Nationen. Dort haben wir wenigstens eine Stimme, weil wir dort vertreten sind. Dort werden wir auch gehört. Wir haben die Frage der Folgen des Klimawandels dort mit auf den Tisch gebracht. Seit der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio sind wir eine einflussreiche Stimme. Die Aufmerksamkeit für den Klimawandel wurde durch uns gestärkt, nicht so schnell, wie wir es gewünscht hatten, aber es gab einen Wandel. Es wurden auch Verpflichtungen eingegangen, nicht voll umgesetzt, aber immerhin aufgrund unseres Druckes eingegangen. Wir werden diesen Weg fortsetzen und in den Vereinten Nationen auf einen Wandel drängen und wirken. Der zweite Weg sind bilaterale Partnerschaften wie hoffentlich auch bald mit Deutschland. Es ist ein langer Weg, aber wir arbeiten an diesem Wandel. Im Moment verdrängt der Ukraine-Krieg den Klimawandel und die Schuldenproblematik aus der globalen Aufmerksamkeit. Das können wir uns nicht dauerhaft erlauben. Die großen globalen Herausforderungen müssen gemeinsam bewältigt werden.


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ARGENTINIEN KOMMT NICHT AUF DIE BEINE

Die Ärmsten werden immer ärmer Wohnungslose Person in Buenor Aires (Foto: Santiago Sito via Flickr (CC BY-NC-ND 2.0)

„Argentinien wieder auf die Beine bringen“: So lautete das Versprechen des Mitte-links-Peronisten Alberto Fernández als er am 10. Dezember 2019 sein Amt antrat. Seitdem ist eine Krise der nächsten gefolgt und schon das Erbe der vierjährigen Regierungszeit des neoliberalen Mauricio Macri wog schwer: In vier Jahren hatte die Macri-Regierung die Auslandsschulden um mehr als 100 Milliarden Dollar auf 323 Milliarden Dollar hochgetrieben, der Peso fiel im Verhältnis zum US-Dollar um fast 500 Prozent und Ende 2019 lebten 40 Prozent der Bevölkerung und sogar 50 Prozent der Kinder unterhalb der Armutsgrenze.

Nur drei Monate nach seinem Antritt verhängte Fernández aufgrund der Covid-19-Pandemie einen Lockdown, der zu den strengsten weltweit zählte. Fast sieben Monate waren die Grenzen zwischen den Provinzen des Landes geschlossen. Die Bewegungsfreiheit von Menschen in nicht „systemrelevanten“ Berufen war stark eingeschränkt. Die strikte Quarantäne konnte jedoch nicht die Zahl der Infizierten und Toten eindämmen. Anfang Dezember waren fast 39.000 Menschen an oder mit dem Virus verstorben. Damit belegt Argentinien den elften Rang auf der weltweiten Liste der Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19. Doch die Opfer der Pandemie sind nicht nur auf die Krankheit zurückzuführen. Denn die argentinische Polizei wurde mit der Einhaltung der Quarantäneregeln betraut. In den Medien wurde gleichzeitig der Eindruck vermittelt, dass dieselben Polizist*innen, die während der Regierung Macri für gewaltsame Repressalien verantwortlich waren, nun zu freundlichen „Dienstleister*innen“ geworden waren.

Die Regierung hilft weiterhin den Reichen

Dass die Regierung die Kontrolle über die Quarantäne an die Sicherheitskräfte übergab, führte zu Hunderten von Fällen institutioneller Gewalt, einschließlich Schikanierung, Verfolgung und Folter, wie unter anderem Amnesty International und die Menschenrechtsorganisation CORREPI berichteten. Als die Polizei von Buenos Aires schließlich Facundo Castro nach einer Quarantänekontrolle auf der Landstraße verschwinden ließ und tötete, nahmen die Spannungen zu. Der Fall wies viele Ähnlichkeiten mit denen von Rafael Nahuel und Santiago Maldonado auf, die unter der Vorgängerregierung von Mauricio Macri Opfer von Polizeigewalt geworden waren.

Der Fall Facundo Castro führte dazu, dass sich soziale Bewegungen, die die Präsidentschaft von Albert Fernández unterstützt hatten, von der Regierung abwandten. *Die Desillusionierung der linken und sozial-bewegten Kräfte im Land mit der Regierung wurde zudem dadurch verstärkt, dass die Quarantäne schwerwiegende Folgen für all jene Menschen hatte, die nicht fest angestellt waren. Sie verloren über Nacht ihren Job und die Möglichkeit, Einkommen zu generieren. Die vom Staat gezahlten Hilfen an die ärmsten Teile der Bevölkerung waren in dieser Situation nicht viel mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein, auch wenn sie dazu dienten, die soziale Sprengkraft der Pandemie wenigstens teilweise zu mindern.

Offiziellen Angaben zufolge gingen während der Quarantäne 3,7 Millionen Arbeitsplätze im Land verloren. Hunderttausende von Menschen verloren ihr Dach über dem Kopf. Das führte allein in der Provinz Buenos Aires, der bevölkerungsreichsten des Landes, zu mehr als 1.000 Landbesetzungen. Sinnbildlich für die Tatenlosigkeit der Regierung gegenüber den bedürftigsten Menschen der Gesellschaft steht die Repression in Guernica, am Stadtrand von Buenos Aires. Dort wurden mehr als 1000 Familien gewaltsam vertrieben. Nora Cortiñas, Madre de Plaza de Mayo, kommentierte die Zwangsräumung mit den Worten: „Die Regierung hat den Reichen damit gezeigt, dass sie ihnen weiterhin helfen wird.“ Bei vielen Wähler*innen und politischen Unterstützer*innen der Regierung Fernández blieben tiefe Empörung und Enttäuschung zurück (siehe S. 24 in diesem Heft).

Präsident Fernández vermeidet die Konfrontation

Dass der Präsident den Interessen von großen Wirtschaftsakteuren mehr entgegen kommt, als denen der eigenen Bevölkerung, hatte er bereits vorher gezeigt. Anfang 2020 hatte Vicentin, das sechstgrößte Exportunternehmen von Agrarprodukten, Konkurs angemeldet. In diesem Zusammenhang deckte eine Untersuchung massive Steuerhinterziehung und Betrug der Firmeneigentümer*innen auf. Da die argentinische Nationalbank die größte Gläubigerin des Unternehmens war, wollte die Regierung in dessen Geschäfte eingreifen und Vicentin sogar verstaatlichen. Dies wiederum löste eine massive Medienkampagne aus, während derer die Regierung unter anderem bezichtigt wurde, das Land zu einem zweiten Venezuela machen zu wollen. Aufgrund des wachsenden öffentlichen Drucks konservativer, neoliberaler Teile der Gesellschaft gab die Regierung schließlich nach und sah zu, wie 7000 Arbeitsplätze vernichtet wurden.

Auch bei den Verhandlungen über die Restrukturierung der argentinischen Schulden mit ausländischen Gläubiger*innen, zumeist Hedge-Fonds, machte die Regierung Fernández keine bessere Figur. Obwohl es ausreichend Gründe gab, eine tief gehende Untersuchung der durch die Regierung Macri angehäuften Schulden durchzuführen – und die Schuldenzahlungen solange auszusetzen – entschied sich Fernández dagegen. Seine Regierung erreichte nur, dass die Zinsen gesenkt und Fälligkeiten aufgeschoben wurden. Gleiches gilt für den Kredit über 57 Milliarden Dollar, den der Internationale Währungsfonds (IWF) der Regierung Macri im Jahr 2018 gewährt hatte. Im November schlug Wirtschaftsminister Martín Guzmán dem IWF eine Vereinbarung vor, die einen Aufschub der ersten Schuldenzahlungen vorsieht. Das hat jedoch einen Preis. IWF-Funktionär*innen können dann über die Finanzstruktur des Staates bestimmen. Wie bei den vom IWF vorgeschlagenen Sparplänen üblich, umfassen diese Steuer-, Renten- und Arbeitsmarktreformen. Obwohl die Vereinbarung noch nicht unterschrieben ist, geht die Regierung bereits in Vorleistung. Der Haushalt für 2021 enthält die vom IWF stets geforderten Kürzungen bei den Staatsausgaben, unter anderem im Gesundheitsbereich. Auch die in diesem Jahr auf Grund der Pandemie gezahlten Unterstützungen an die ärmsten Teile der Bevölkerung wird es dann nicht mehr geben.

Der progressive Wandel lässt auf sich warten

Um die Unzufriedenheit der Bevölkerung über die nicht eingehaltenen Versprechen und die Folgen der Pandemie zumindest ein wenig abzumildern, hat die Regierung Fernández in den vergangenen Wochen einige Gesetzesvorhaben vorangebracht. So wurde nach siebenmonatigem Aufschub ein Gesetz verabschiedet, das eine einmalige Zahlung von zwei Prozent des Privatvermögens von Personen vorsieht, deren deklariertes Vermögen über 2,4 Millionen US-Dollar beträgt. Diese Maßnahme betrifft die 11.865 reichsten Menschen Argentiniens. Diese Einmalzahlung soll dazu genutzt werden, pandemiebedingte Ausgaben im Gesundheitswesen und Bildungsprojekte zu finanzieren, kleine und mittelständische Unternehmen zu unterstützen sowie Stätten zur Ausbeutung von Gas zu erforschen, wobei weiterhin auch das wegen seiner Umweltschäden umstrittene Fracking ins Auge gefasst wird.

Auch das so genannte „Gesetz zum Umgang mit Feuer“ wurde im November verabschiedet. Es verbietet die kommerzielle Nutzung von Land, auf dem es in den vergangenen 30 Jahren gebrannt hat. Dies ist ein Versuch der Regierung, weitere Bodenspekulation zu unterbinden und eine Reaktion auf die massiven Wildfeuer in diesem Jahr, in dem fast die Hälfte aller argentinischen Provinzen von Bränden betroffen war. Darüber hinaus wurden der Anbau und die medizinische Verwendung von Cannabis legalisiert.

Seit Amtsantritt von Fernández wurde zudem das im Wahlkampf versprochene Gesetzesvorhaben zu Schwangerschaftsabbrüchen ungeduldig erwartet. Bei der Abstimmung im Parlament am 10. Dezember wurde es nach zwanzigstündiger Debatte mit 131 zu 117 Stimmen angenommen. Nun muss es noch dem Senat zur Abstimmung vorgelegt werden. Dies ist nicht nur eine Anerkennung der Regierung für den langjährigen Kampf von Hunderttausenden von Frauen und Queers für die Legalisierung der Abtreibung, sondern hat auch die Massen wieder auf die Straße gebracht, die aufgrund der Quarantäne in den vergangenen Monaten zu Hause geblieben waren.

Fernández vereinte im Wahlkampf progressive und konservative Sektoren hinter einem anti-neoliberalen Programm. Jetzt wird die Notwendigkeit einer wirtschaftlichen und sozialen Transformation immer deutlicher. Das inklusive Wachstumsversprechen des Wahlkampfes stieß schnell mit den Interessen der multinationalen Konzerne und konservativen Eliten Argentiniens zusammen, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Regierung. Anstatt im Widerstreit zwischen den Eliten, die das Land ausverkaufen wollen, und der einfachen Bevölkerung, die sich dem Ansturm des Neoliberalismus widersetzt, für jene einzustehen, die ihn zum Präsidenten gemacht haben, hat sich Fernández immer wieder für die Interessen des Privatkapitals entschieden. Konfrontation vermied er, wenn möglich. Vielmehr stellen Zurückhaltung, Schlichtung und Konsensbildung die Grundlage seines Regierungshandelns dar. Der argentinische Wirtschaftswissenschaftler Claudio Katz schrieb diesbezüglich kürzlich in einem Artikel für Jacobin: „In diesem Meer der Schwingungen setzt Fernández weder auf Sparkurs, noch Umverteilung. Er gibt vor, einen Mittelweg beschreiten zu wollen, womit er aber die Qualen der Wirtschaft verstärkt.“

Doch im Kontext von Pandemie und globaler Wirtschaftsrezession werden die Grenzen dieser Politik deutlich, die als Vermittler den Konflikt widerstrebender Interessen zu vermeiden versucht. Ein Jahr ist zu wenig, um Fernández vorwerfen zu können, er habe seine Versprechen gebrochen. Noch hat er die Chance, strukturelle Veränderungen durchzuführen. Doch ob er den progressiven Wandel tatsächlich anstoßen wird, oder ob es bei einigen wenigen Lichtblicken bleibt, während die Hoffnungen auf soziale Gerechtigkeit ein weiteres Mal im Sumpf der Realpolitik versinken, wird sich erst in den nächsten Jahren zeigen.


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