Der Geruch von frischgebackenen Empanadas und Facturas (argentinische Süßwaren) hängt in der Luft. Während sie auf ihren Kaffee warten, diskutieren zwei Bauarbeiter in einer Bäckerei über die Wahlen vom 22. Oktober. Als die Verkäuferin Leandra gefragt wird, was sie von dem Wahlergebnis hält, antwortet sie mit einem knappen „Eh egal, alles scheiße“. Ein Satz wie eine Überschrift für die Stimmung im Land.
Der Wahlsonntag hielt einige Überraschungen parat. Nachdem der ultrarechte Javier Milei von der Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) in den Vorwahlen im August an der Spitze lag, konnte nun der damals Drittplatzierte Sergio Massa von der peronistischen Regierungsallianz Unión por la Patria (Einheit für das Vaterland) deutlich zulegen. Mit 36,61 Prozent der Stimmen konnte er den selbsternannten Anarchokapitalisten in die Schranken verweisen, der lediglich sein Wahlergebnis von knapp 30 Prozent aus den Vorwahlen halten konnte. Für die Stichwahl am 19. November wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen erwartet.
Die große Verliererin der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen war die Kandidatin des Mitte-rechts-Bündnisses Patricia Bullrich, die lediglich 23,84 Prozent einheimste. Der aktuelle Gouverneur von Córdoba Juan Schiaretti kam auf knapp sieben Prozent der Stimmen, während die sozialistische Kandidatin Miryam Bregman nur 2,7 Prozent der Stimmen holte.
Die große Frage ist nun, wohin die Stimmen der Kandidat*innen wandern werden, welche nicht in die Stichwahl eingezogen sind. Die sich bereits im Rentenalter befindende Bäckereiverkäuferin Leandra wählte zuletzt sozialistisch. Sie ist sich bei ihrer Entscheidung für die Stichwahl noch sehr unsicher. Sie tendiert allerdings zu Milei, weil sie auf keinen Fall den Peronismus unterstützen möchte. Und das, obwohl Milei als Ultrarechter mit der linksprogressiven Bregman nicht im Ansatz politisch übereinstimmt. Das hat sich in den Fernsehdebatten gezeigt, als sich die beiden hitzig angingen. Dort teilte Bregman dem sich gerne als Löwen inszenierenden Milei mit, dass er nicht mehr als ein „kuschliges Kätzchen der Wirtschaftsmächte“ sei. Ein Großteil der Stimmen sowohl von Bregman als auch von Schiaretti werden Umfragen zu Folge zu Massa wandern, der sich als Zentrumspolitiker inszeniert. Schiaretti distanziert sich zwar von Massa, gehört aber ebenfalls einer peronistischen Strömung an, weshalb seine Wähler*innen eher zu Massa denn zu Milei tendieren dürften.
Vermutlich ausschlaggebend und besonders spannend wird, für welchen Kandidaten sich die Wähler*innen entscheiden, die Patricia Bullrich ihre Stimme gaben. Eine von diesen Wähler*innen ist die 21-jährige Candela. Sie studiert Internationale Beziehungen an der gleichen Privatuniversität, an der auch Milei und Massa ihren Abschluss gemacht haben. Sie wird zwar ihrer Wahlpflicht nachkommen, allerdings ein voto nulo (einen ungültigen Stimmzettel) abgeben, also ungültig abstimmen, um keinen der beiden zu unterstützen. Darauf sei sie nicht stolz, aber sie könne weder Milei noch Massa mit ihren Werten vereinbaren. Wie Candela wird es vielen Wähler*innen schwerfallen, sich für Milei oder Massa zu entscheiden.
Nicht nur Bullrichs Wähler*innen sind gespalten, sondern auch das Bündnis Juntos por el Cambio (Gemeinsam für den Wandel) selbst. So sprachen sich der ehemalige Präsident Maurico Macri (2015-2019) und Patricia Bullrich klar für Milei und gegen Massa aus. Dieser repräsentiere laut ihnen den Kirchnerismus, womit auf die Präsidentschaften von Néstor Kirchner (2003-2007) und Cristina Kirchner de Fernández (2007-2015) abgezielt wird, aber auch auf die amtierende Regierung von Präsident Alberto Fernández. Sowohl Macri als auch Bullrich vertreten die Position, ihr Bündnis sei für den Wandel gegründet worden und wenn nun Milei diesen Wandel repräsentiere, sei das immer noch besser als weitere vier Jahre Kirchnerismus. Wobei der Zentrist Sergio Massa innerhalb der peronistischen Unión por la Patria weit weg vom linken kirchneristischen Flügel einzuordnen ist.
„Milei ist wie ein Sprung aus dem Fenster“
Ein Prominenter von Juntos por el Cambio (JxC) folgt Bullrich und Macri nicht: Der bald aus dem Amt scheidende Bürgermeister von Buenos Aires Horacio Larreta, der in den parteiinternen Vorwahlen Bullrich unterlegen war, wird wie Candela weder Massa noch Milei seine Stimme geben. Das werden sicher nicht die beiden einzigen aus dem Mitte-rechts-Lager sein, die Milei für unwählbar halten.
Bullrich winkt für ihre Empfehlung an ihre Wähler*innen bei einem Sieg von Milei nun sogar das Amt der Sicherheitsministerin in dessen Kabinett. Dies wirkte vor kurzem noch wie ein Ding der Unmöglichkeit, denn in der Fernsehdebatte beschimpfte Milei Bullrich noch als „Montonera“ (die Montoneros waren in den 70er Jahren eine linksperonistische Stadtguerrilla), welche „Bomben in Kindergärten“ gelegt hätte. Eigenen Angaben zu Folge gehörte Bullrich allerdings nur der peronistischen Jugendorganisation, nicht aber der Guerillaorganisation an.
Für die Wähler*innen von Bullrich stellt sich die Frage, ob die anti-kirchneristische Haltung oder die Angst vor Milei bei der Wahlentscheidung überwiegt oder als Ausweg zur Abgabe eines leeren Stimmzettels (voto blanco) oder eines ungültigen Stimmzettels (voto nulo) gegriffen wird.
Der gesamte Wahlkampf ist durch das Wechselspiel von Angst und Wut geprägt. Alejandro, der sich selbst als Teil der Oberschicht sieht, hat mehr Angst vor Milei als Wut der aktuellen Regierung gegenüber. „Bei Massa weiß man in etwa, was man bekommt, Milei ist wie ein Sprung aus dem Fenster. Das mag manchmal glimpflich ausgehen, realistisch gesehen wird es das aber nicht.“ Der 64-Jährige ist im Moment an sein Bett gebunden, weil derzeit keine Prothesen importiert werden, wie er sie für sein fehlendes Bein bräuchte. Dennoch macht er für sein persönliches Leid und noch viel weniger für das laut ihm deutlich größere Leid anderer Argentinier*innen nicht die Regierung verantwortlich. Ihm zufolge „ist es für Argentinien immer bergab gegangen, wenn die Rechte an der Macht war“. In seinem Freundeskreis sei er mit dieser Meinung allein, aber momentan habe er sowieso genug Zeit, um dies mit ihnen auszudiskutieren.
Die Regierung schürt die Angst vor den sozialen Konsequenzen der möglichen Wirtschaftspolitik von Milei auch mit konkreten Maßnahmen. So sieht jeder Argentinierin, der*die ein öffentliches Verkehrsmittel nutzt, im Moment den Preis einer Fahrt ohne und mit den aktuellen Subventionen (bei einer einfachen Fahrt 700 statt 59 Pesos, derzeit in etwa 70 und 5,9 Eurocent).
Expert*innen zu Folge lag Massas Wahlerfolg in der ersten Runde vor allem an zwei Punkten. Zum einen präsentierte er sich deutlich staatsmännischer als seine Konkurrenz. Soziologe und Anthropologe Pablo Semán sagte gegenüber CNN: „Was ein Mangel ist, ist auch eine Tugend: Er ist der Chef des Landes und verhält sich auch so.“ Durch Mileis Auftritte mit Motorsäge in der Hand, welche seine Metapher für den radikalen Staatsabbau ist, wurde dieses Image noch verstärkt. Zum anderen trug der „Plan Platita“ Früchte. Dieser bestand aus zahlreichen expansiven Sozialmaßnahmen, um die Konsequenzen der Wirtschaftskrise für die Bevölkerung abzufedern. Der Wirtschaftswissenschaftler Pablo Mira erklärt gegenüber CNN, dass die Wirtschaft zwar nicht boomt, aber auch nicht in eine Abwärtsspirale geraten sei, was unter anderem auf den „Plan Platita“ zurückzuführen sei.
Von der Opposition wurden die sozialpolitischen Maßnahmen als Klientelismus kritisiert. So sieht es auch der 21-jährige Alejo. Er stammt aus einer Arbeiterfamilie aus der Provinz Entre Ríos. Es sei bei einer Inflation von knapp 140 Prozent eindeutig, dass das aktuelle politische System nicht funktioniere. Dem ersten Akademiker in seiner Familie seien soziale Themen zwar wichtig, allerdings müsse zuerst Reichtum geschaffen werden, bevor umverteilt werden könne. Wegen dieser Überzeugungen hat er sich dazu entschlossen, aktiv Wahlkampf für Milei zu betreiben. Dabei habe er die Erfahrung gemacht, dass nur wenige seine libertären Ansichten teilen, aber die Unzufriedenheit bei vielen so groß sei, dass sie sich dennoch für Milei als Alternative entscheiden. Dass Milei den Klimawandel leugnet und das in Argentinien hart erkämpfte Recht auf Abtreibung wieder in Frage stellt, gefällt ihm zwar nicht, aber dies seien zweitrangige Themen. Auch war er wie zunächst viele andere des harten Kerns von Milei kein Freund der angekündigten Allianz mit Macri und Bullrich. Denn wie Massa seien diese auch Teil der politischen Kaste, welche eigentlich bekämpft werden sollte. Zuletzt zeigte sich Milei allerdings moderat wie noch nie und glich einige seiner Forderungen an die von JxC an. So spricht er sich nun für das öffentliche Gesundheits- und Bildungssystem aus. Zuvor forderte er die Privatisierung und zweifelte sogar das Grundrecht auf Bildung an.
Candela wundert sich vor allem, warum die Lage im Land noch so entspannt ist und es bisher kaum zu Unruhen kam. Das größte Medienecho auf Grund einer Versammlung gab es zuletzt als am Obelisken in Buenos Aires der Rekord der meisten als Spiderman verkleideten Menschen geknackt wurde. Die ausbleibende Mobilisierung der Massen führt Alejandro darauf zurück, dass die Argentinier*innen einfach müde seien. Dabei bezieht er sich auf die weitverbreitete Politikverdrossenheit im Lande.
Ein weiteres wichtiges Thema im Wahlkampf ist die aktuelle Krise in der Benzinversorgung. Lange Wartezeiten, falls es überhaupt Benzin gibt und Bilder von Argentinier*innen die ihr Auto in der Schlange schieben, weil Ihnen der Sprit ausgegangen ist, spielen Milei in die Karten. Dieser versucht schon länger das Narrativ zu etablieren, dass sich Argentinien auf dem Weg zu einem zweiten Venezuela befindet. Die Situation hat sich in großen Teilen des Landes allerdings bereits wieder normalisiert.
Laut dem Meinungsforschungsinstitut AtlasIntel sehen knapp 50 Prozent der Argentinier*innen Sergio Massa direkt in der Verantwortung für diese Krise. AtlasIntel, welches bei den Vorwahlen und den Wahlen am 22. Oktober dem Ergebnis am nächsten kam, sieht zu Redaktionsschluss Milei mit 52 zu 48 Prozent vorne. Andere Umfragen sehen Massa vorne. Viel spricht dafür, dass es eng wird. Spricht man mit Argentinier*innen über das mögliche Resultat, bekommt man häufig ein Sprichwort zu hören: „Verlässt man Argentinien für drei Wochen und kommt wieder, ist alles anders, verlässt man es aber für 30 Jahre und kommt wieder, ist alles gleich.“