BILDUNG ZU DIESEL

Die Bilder in den Medien vermittelten ein Horrorszenario: Eine weinende hochschwangere Frau bettelt an einer Tankstelle um Benzin für ihr Auto, „weil die Ambulanzen nicht fahren“. Kein Insulin für Diabetes-Patient*innen in den Krankenhäusern, leergefegte Regale in den Supermärkten. Komplett überfüllte Autobusse, kilometerlange Schlangen an den Tankstellen, Streichung von Inlandsflügen an 14 Flughäfen, weil kein Kerosin geliefert werden kann. Und der Präsident setzt nach den ersten gescheiterten Verhandlungen das Militär ein, um die Blockaden der Lkw-Fahrer*innen auf den Fernstraßen aufzulösen. Grundlage dafür ist das Gesetz zur „Garantie von Gesetz und Ordnung“, das zum ersten Mal für das gesamte Land galt.

Doch am Abend des zweiten Tages nach dem Ende des landesweiten Streiks der selbstständigen Fuhrunternehmer*innen ist in der Millionenstadt Recife im Nordosten des Landes die Versorgungslage weitestgehend normal. Die langen Schlangen an den Tankstellen haben sich auf fünf bis zehn Autos reduziert. In den großen Supermärkten gibt es vereinzelte Lücken bei den Frischwaren wie Fleisch oder Gemüse, aber von einer Krise kann keine Rede sein. Und die – jährlich von starken Überschwemmungen der Straßen geprüften – Recifenses nehmen den Streik denkbar gelassen. „Wir machen sowieso einmal im Monat einen Großeinkauf, Obst und Gemüse kaufen wir alle vierzehn Tage“, sagt Kilsa Oliveira, die in einem Friseursalon arbeitet. „Da hat es uns an nichts gefehlt. Und mein Bus ist immer voll, das war nichts Neues.“ So oder so ähnlich klingt das bei fast allen, die den Streik beschreiben. Stärker als die Privatleute haben die Blockaden allerdings das Gewerbe getroffen, auch Restaurants sind auf tägliche Lieferungen angewiesen.

Und die öffentlichen Mittel für Gesundheit, Bildungm Wissenschaft und Würde werden zu Diesel

Aber auch hier galt: Im Ernstfall wurde einfach die Speisekarte umgeschrieben. Am schwierigsten war die Versorgung mit Benzin, drei bis vier Stunden zu warten und dann nicht einmal volltanken zu können – eine echte Geduldsprobe. Andere stiegen auf Öffentliche um, deren Verkehr in vielen Städten eingeschränkt weiter funktionierte. So fuhr in São Paulo immerhin jeder zweite Bus. Da viele Taxis Hybridmotoren haben, konnten sie Gas oder Alkohol als alternativen Treibstoff nutzen. Deshalb empört sich Taxifahrer Sandro Manga auch eher über diejenigen, die versuchten, aus dem Streik Geld zu schlagen, als über die Lkw-Fahrer*innen: „Das Benzin für neun Reai und 90 Centavos (2,27 Euro) zu verkaufen, das ist unverschämt. Die versuchten, auf unsere Kosten reich zu werden. Aber sie werden eine sehr hohe Strafe von 150.000 Reais erhalten, was ich ihnen wirklich gönne!“

Betroffen waren auch Universitäten und Schulen. „Wir mussten unsere Kurse für zehn Tage aussetzen“, erzählt Fatima Silva, die in Recife als Dozentin an einer Fakultät für Mode und Design arbeitet: „In den Außenbezirken fuhren kaum Busse, so dass viele Studierende gar nicht kommen konnten. Erst am vierten Juni konnten wir den Unterricht wieder aufnehmen.“

Doch auch wenn das Katastrophenszenario eher medial erzeugt war: Die selbständigen Fuhrunternehmer*innen haben mit ihrer zehntägigen Blockade-Aktion der Regierung Temer ihre erste große innenpolitische Niederlage beschert. Neben einer Senkung des Preises für Diesel – dieser ist in den vergangenen zwölf Monaten um fast 20 Prozent gestiegen – forderten sie eine Steuerbefreiung des Treibstoffs sowie eine festgelegte Untergrenze für Frachtgebühren. Und sie hatten Erfolg, denn nach nur wenigen Verhandlungstagen ist die Regierung eingeknickt, um die Straßen wieder frei zu bekommen und eine Ausweitung der Proteste zu verhindern.

Auch erhielten die Lkw-Fahrer*innen für ihre Blockaden durchaus Unterstützung von der Bevölkerung, selbst in armen ländlichen Gebieten im Sertão wurden sie tagelang mit Essen und Getränken versorgt. Schwerer tat sich die traditionelle Linke mit der Unterstützung. Da die meisten der streikenden Fahrer*innen zumindest offiziell selbständig sind, gehören sie nach Einschätzung der Linken eher zu den zu bekämpfenden Unternehmer*innen denn zur arbeitenden Klasse. Hinzu kommt, dass Teile der Fuhrunternehmer*innen nach dem Streik auf einer Demonstration in São Paulo den Eingriff der Militärs („Intervenção Militar“) in die brasilianische Innenpolitik forderten. Doch die Blockierenden sind nicht mehrheitlich den Rechten zuzuordnen; die vielen aus den Blockaden in den sozialen Medien veröffentlichen Videos und Interviews zeigen deutlich mehr Stellungnahmen zugunsten der Freilassung des ehemaligen Präsidenten Lula und mit Zuspruch für dessen Arbeiterpartei PT.

Aufgegriffen wurden die Proteste von der Gewerkschaft der Raffinerie-Arbeiter*innen, FUP. Diese erklärte einen Warnstreik von 72 Stunden ab dem 30. Mai und forderte eine erneute staatliche Regulierung der Preise für Benzin, Diesel und Gas sowie das Ende der täglichen Anpassungen an den Weltmarktpreis – was die große Mehrheit der Bevölkerung sicher aufs Wärmste begrüßen würde. Weiter ein Ende der Privatisierung des halbstaatlichen Mineralölunternehmens Petrobras und eine erneute Erhöhung der Produktion in den Raffinerien, um den auf 20 Prozent gestiegenen Marktanteil an internationalen Erdölderivaten wieder zu senken. Außerdem forderten sie den sofortigen Rücktritt des Direktors der Petrobras, Pedro Parente, der im Auftrag der Regierung Temer die Preisregelungen außer Kraft gesetzt hatte. Zumindest die letzte Forderung wurde schnell erfüllt, Pedro Parente ist bereits zurückgetreten. Bis zum Ende des Monats will die FUP entscheiden, ob weitere Streiks folgen sollen.

Ein weiteres Zugeständnis der Regierung ist die Senkung des Preises für den Liter Diesel um 0,46 Centavos, allerdings verkaufen bisher nur wenige Tankstellen Diesel zu diesem Preis. Denn, wie es die Folha de São Paulo formuliert, „das Dekret des Präsidenten verfügt den Preisnachlass durch die Raffinerien. Von den Raffinerien bis zu den Tankstellen bestimmen freie Verhandlungen den Preis. Es stellt sich die Frage, ob die Aktionen der Regierung an den Zapfsäulen verfassungsgemäß sind.“ Die teilweise Steuerbefreiung des Treibstoffs – insgesamt werden fünf verschiedene Formen von Steuern für Union und Bundesstaaten erhoben, die u.a. für den Straßenbau eingesetzt werden – sorgen für Unmut bei den Landesregierungen. Und die neuen Untergrenzen für Frachtgut rufen die Unternehmerverbände auf den Plan. Der Unternehmerverband von São Paulo, FIESP, hat bereits mit einer Klagewelle gedroht. So wird seit dem Ende des Streiks nachverhandelt und jeden Tag eine neue Lösung für die Einhaltung der Zusagen diskutiert.

Bereits am 30. Mai veröffentlichte die Regierung Temer das Präsidialdekret 839, eine 35 Seiten lange Liste mit Streichungen von finanziellen Mitteln in Regierungsprogrammen und Subventionen. Mehr als 1,2 Milliarden Reais (270 Millionen Euro) werden u.a. in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Förderung von Frauen und der kleinbäuerlichen Landwirtschaft gestrichen. Der größere Teil der Budgetkürzungen, 12,1 Milliarden Reais, betrifft allerdings bisherige Subventionen, darunter in der Getränkeindustrie. Die Liste mit Kürzungen war bereits seit längerem erwartet worden, denn seit dem Oktober 2016 sind die Ausgaben für staatliche Sozialprogramme für 20 Jahre „eingefroren“. Die versprochene Preissenkung für Diesel muss daher durch weitere Kürzungen finanziert werden – oder wie es der Blogger Leonardo Sakamoto formulierte: „Und die öffentlichen Mittel für Gesundheit, Bildung, Wissenschaft und Würde werden zu Diesel.“

„DIE WELT WIRD VON WIDERSPRÜCHEN BEWEGT“

Verônica Ferreira, vor genau 18 Monaten – also direkt nach der Amtsenthebung der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff durch den Senat – habe ich Sie das erste Mal interviewt (siehe LN 505/506) und nach der feministischen Analyse des Parlamentsputsches gefragt. Wie schätzen Sie die politische Situation in Brasilien heute ein?

Verônica Ferreira: Unsere Analyse des patriarchalen Charakters dieses Putsches hat sich bestätigt. Die öffentliche Politik für Frauen wurde völlig aufgelöst, ebenso wie die öffentliche Politik für LGTB und für die Gleichstellung der Schwarzen Bevölkerung. Es gibt eine sehr starke Präsenz der fundamentalistischen Sektoren in dieser Regierung sowie eine Offensive der fundamentalistischen religiösen Kräfte, in der Regierung wie im Parlament, um die Rechte der Frauen zu zerstören. Dies schließt die Leitung der äußerst reduzierten Frauenpolitik innerhalb des Ministeriums für Menschenrechte mit ein: Fátima Pelaes ist eine konservative Fundamentalistin, die sogar schon Gottesdienste innerhalb des Ministeriums abgehalten hat.

Was ist das Ziel dieser Politik?

VF: Die fundamentalistischen Kräfte in Brasilien sind mit ultra-neoliberalen Sektoren verbunden. Wir erleben eine absolute Verwüstung, nicht nur der Sozialpolitik, sondern auch des Ausverkaufs der natürlichen Reichtümer Brasiliens. Im November wurden mehrere halbstaatliche Unternehmen, darunter Petrobras, in großen Teilen zum Verkauf angeboten. Hinzu kommen die „Arbeitsreformen“, die schwarze Frauen besonders treffen, weil sie deren unsichere Arbeitsbedingungen praktisch institutionalisieren. Und die Rentenreform, die die Beitragsdauer drastisch erhöht.
Die Gesamtheit dieser Maßnahmen bestärkt unsere Analyse: Die Machtübernahme hat das Ziel, die öffentlichen Gelder, die Ressourcen des Staates, komplett zu übernehmen. Sich die natürlichen Reichtümer des Landes anzueignen und sie an das Finanzkapital und das ausländische Kapital zu übertragen.
Diese konservative Allianz hat ihre Macht konsolidiert und ihr Programm der Verwüstung des Landes etabliert. Dieses Programm hat die Wahlen 2014 verloren und wurde 2016 durch den Putsch dem Land trotzdem aufgezwungen. Die Geschwindigkeit der Verwüstung ist sehr groß. Diese Geschwindigkeit macht den Widerstand viel schwieriger.
Im Augenblick schöpfen wir Atem, um die Kraft der Mobilisierung wiederzugewinnen. Denn es ist nicht einfach, den Widerstand gegen diese Folge von Niederlagen aufrecht zu erhalten. Aber wir leisten Widerstand!
Analba Teixeira: Was in Brasilien passiert, hat die konservative Bewegung sehr gestärkt. Wir sehen den Rassismus wachsen, er existierte selbstverständlich bereits zuvor, aber die Akzeptanz wächst, die die Leute heute dem Rassismus entgegenbringen. Oder der Gewalt gegen Frauen. Der Homophobie. Seit 2016 wurde dies sehr viel stärker.

Kürzlich wurde aus konservativen Kreisen eine Unterschriftenaktion initiiert, mit der ein öffentlicher Auftritt der US-amerikanischen Feministin Judith Butler verhindert werden sollte. Wie hat die Frauenbewegung reagiert?

AT: Wenn so etwas passiert, dann reagieren die feministischen Kollektive und Bewegungen sofort, schreiben Protestbriefe, veröffentlichen Stellungnahmen und so weiter. Die sozialen Netzwerke sind dabei eine große Hilfe. Aber es sind so viele Sachen in letzter Zeit geschehen, eine nach der anderen, dass es schwierig ist, nicht den Überblick zu verlieren. Unsere aktuelle Strategie ist eine Massenmobilisierung zum 25. November, denn das Abtreibungsrecht soll verschärft und auch Abtreibungen nach einer Vergewaltigung kriminalisiert werden. Das steht im Moment im Mittelpunkt unserer Proteste auf der Straße, damit wir nicht nur Feuerwehr spielen.

Wogegen richtete sich der jüngste Protest der Frauenbewegung?

AT: Bei unserer vergangenen Aktion stand ebenfalls das Thema „Abtreibung“ im Mittelpunkt. Der 28. September ist der internationale Tag für die Legalisierung der Abtreibung und unsere dreitägige Aktion richtete sich an die brasilianische Gesellschaft, nicht an den Kongress. Wir waren von Mitternacht des 26. September bis Mitternacht des 27. September, also 24 Stunden, online: Alle 30 Minuten sprach eine andere Frau live über Abtreibung. Insgesamt hat die Aktion mehr als eine Million Klicks erhalten.
VF: An der Aktion „Sprechen wir über Abtreibung“ haben sich mehr als 100 Kollektive beteiligt, aus verschiedenen Bewegungen, aus Brasilien, aus Lateinamerika, aber auch aus Frankreich. Wir haben verschiedene Aspekte thematisiert, wie zum Beispiel das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung oder die Situation in Uruguay, wo nach der Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs Ärzte einen Gewis­sens­­konflikt geltend machen. Oder die Situation von Minderjährigen in Frankreich und wie sie Zugang zu dieser medizinischen Leistung erhalten können. Je mehr Kollektive sich beteiligen, desto einfacher ist es, den Algorithmus von Facebook zu knacken und so mehr Leute zu erreichen. Das ist umso wichtiger, weil für dieses Thema die öffentlichen Diskussionsräume stark eingeschränkt sind. Das Internet hat eine enorm wichtige Rolle, um öffentlich feministische Debatten über Themen zu führen, die durch die Präsenz des Konservativismus und der fundamentalistischen Offensive beiseite geschoben werden.
Heute sind Abtreibungen viel klandestiner als sie es früher waren. Im Alltag wird nicht mehr darüber gesprochen, eine Frau, die darüber spricht, wird sehr schnell kriminalisiert. Es ist schwieriger, solidarisch zu sein. Der Konservativismus ist im Parlament präsent, in den Gesetzesvorlagen, aber er wirkt auch sehr stark in den Alltag hinein.

“Vergewaltigung ist ein Verbrechen, Abtreibung ein Recht” Protest gegen die neuen Abtreibungsgesetze (Foto: Midia NINJA CC BY-NC-SA 2.0)

Es gab ja in jüngster Zeit sehr konkrete Versuche auch den Alltag zu bestimmen, sei es die Petition gegen eine Ausstellung im renommierten Museum für Moderne Kunst (MAM) in São Paulo oder die schon erwähnte Unterschriftenliste gegen den Vortrag von Judith Butler, welche Strategien stecken dahinter?

VF: Was in Bezug auf den Vortrag von Judith Butler und der Ausstellung im MAM passiert ist, zeigt die Strategien dieser rechten Gruppen, speziell der so genannten Bewegung des Freien Brasiliens, der MBL, ganz deutlich. Diese Bewegung hat sich 2013 gegründet, in einem andauernden Dialog mit der konservativen Jugend. Sie haben eine Strategie, ständig unbewiesene Informationen als Tatsachen zu präsentieren, die dann allgemein geglaubt werden: Es gibt diese Ausstellung im MAM, sie initiieren eine Unterschriftenliste, um die Ausstellung zu beenden, was ein großes Echo in der Öffentlichkeit und in den konservativen Sektoren der brasilianischen Gesellschaft hervorruft. Dies sind Gruppen, die an einen Konservativismus appellieren, der bereits existiert. Und den sie so mit großer Geschwindigkeit weiter befördern. Mit dem Vortrag von Judith Butler war es genau dasselbe.
AT: Was auch interessant ist: Judith Butler war vor zwei bis drei Jahren schon einmal in Brasilien und es gab keine vergleichbare Reaktion. Sie hat in Salvador einen Vortrag gehalten. Und dieses Mal gab es diese Welle, mit 200.000 Unterschriften.
VF: Es ist ja nicht so, dass die brasilianische Gesellschaft in den letzten zwei Jahren viel konservativer geworden wäre, sie ist sehr konservativ. Was es gibt, sind Sektoren, die sehr gut organisiert sind, die an diesen Konservatismus anknüpfen und dadurch selbst stärker werden. Und dies in einem gesellschaftlichen Umfeld, das für sie günstig ist. Darauf müssen wir reagieren und eine Antwort finden, die diese Strategien der Rechten mit einbezieht.

Es ist sicher schwierig, in dieser Situation nicht die Hoffnung zu verlieren, was tun Sie gegen die Entmutigung?

AT: Für mich persönlich ist es wichtig, dort zu sein, wo Frauen sich widersetzen. Ich bin in die Quilombos (vor rund 150 Jahren von geflohenen Sklav*innen gegründete Siedlungen, Anm. der Red.) gereist und wenn ich den Widerstand der Frauen in den Quilombos sehe, dann gibt mir das Hoffnung. Das sind lokale Kämpfe, aber mit sehr viel Kraft. Diese Widerstandsräume stärken uns. Als nächstes reisen wir zur feministischen Konferenz der Frauen in Lateinamerika und der Karibik, dem EFLAC. Wir werden dort sehr viele Frauen sein, sehr viele feministische Aktivistinnen. Das ist auch so ein stärkender Moment, denn diese konservative Welle gibt es in ganz Lateinamerika, eigentlich sogar in der ganzen Welt.
Für uns als Bewegung ist es außerdem wichtig, die Erfolge unserer Aktionen deutlich zu machen, auch wenn sie noch so klein sind. Denn wenn es gar keine Erfolge gibt, dann führt das zu Verzweiflung. Es gibt Frauen in der Bewegung, die sagen, dass die Proteste auf der Straße nichts nutzen, vor allem wenn gleichzeitig Temer das nächste Dekret unterzeichnet, das direkt gegen uns gerichtet ist. Aber ich denke, dass der Protest auf der Straße unverzichtbar ist. Wir haben in den letzten zwei, drei Jahren erfolgreich die Proteste auf der Straße genutzt, um zumindest der Gesellschaft zu sagen, was gerade passiert. Weil viele Leute das gar nicht wissen, gar keine Idee davon haben. Nicht einmal, wenn es sie direkt betrifft, wie die Arbeitsreformen.

VF: Ich glaube, es gibt drei Dinge, die unsere Hoffnung nähren. Fest im Widerstand zu stehen, diesen mit anderen Subjekten, anderen Kollektiven, mit anderen Frauen aufzubauen, das motiviert uns. Es ist ein schwieriger Moment, ein Moment des Verlustes der Rechte, die wir erobert hatten. Und die Kräfteverhältnisse zwischen der Rechten und der Frauenbewegung als Teil der Linken sind im Moment sehr ungleich. Aber es ist wichtig, den Widerstand am Leben zu erhalten und unsere Politik gemeinsam mit neuen Subjekten zu konstruieren, die vorher weniger sichtbar waren.
Zweitens gibt es im Widerstand viele neue Gesichter. Wenn wir an den Widerstand gegen die Diktatur zurückdenken, dann entstand dieser vor allem aus der städtischen Mittelklasse und aus der Landbewegung, die von den progressiven Teilen der Kirche organisiert wurde. Dieser Widerstand war viel homogener. Heute gibt es eine Pluralität von Subjekten und gleichzeitig gibt es neue Widersprüche in der brasilianischen Gesellschaft. Denn wer hat bisher vor allem protestiert? Es waren die Frauen, die Bewegung für das Recht auf Wohnen, die Jugend in der Peripherie, die LGBT-Jugend und die ganzen Studierenden, die Hochschulen und Schulen besetzt haben. Es ist wichtig, permanent zu handeln, sich zusammenzuschließen, zu vernetzen. Auch das nährt unsere Hoffnung.
Das dritte ist die historische Perspektive. Wir müssen strategisch denken: Dies ist ein historischer Moment, ein Moment der Niederlage. Die Frauenbewegung hatte immer eine autonome, kritische Analyse des Entwicklungsmodells der sogenannten progressiven Regierungen und hat die Widersprüche dieses Modells deutlich aufgezeigt. Wir haben bereits gesehen, dass sich diese Politik erschöpfen würde und dies ist der Moment, in dem das eingetreten ist. Aber wir haben unseren Eliten nie vertraut. Wir wussten, dass sie früher oder später das Boot verlassen würden und die ganzen autoritären und gegen Menschenrechte gerichteten Tendenzen aufbrechen würden, ebenso gegen den Staat wie gegen die sozialen Beziehungen. Wir haben eine absolut individualistische Mittelschicht, die nur an sich selbst denkt.
Das ist ein sehr herausfordernder Moment, in dem wir unsere Strategien und unsere Organisierung überdenken müssen. Denn es gibt auch eine Erschöpfung unserer Praktiken als organisierter Bewegung. Es gab ein gewisses Günstlingswesen während der progressiven Regierungen. Kritischere und eher autonome Sektoren waren isolierter, weniger gut vernetzt. Heute wollen sich alle gegen die rechten Kräfte vernetzen. Das ist eine große Herausforderung. Denn es gibt die Sektoren der Linken, die sich mehr auf den Staat bezogen haben, es gab die eher autonomen Sektoren und es gibt die neuen Sektoren, voller Widerstandskraft, aber gleichzeitig voller Misstrauen gegenüber den organisierten Formen von Widerstand. Es ist ein Moment, der gleichzeitig voller Potential und voller Herausforderungen steckt. Denn die Frage ist: Woraus konstruieren wir die heutige Linke in Brasilien? Diese Frage steht im Raum – aber immerhin steht sie im Raum. Ich glaube ja, dass die Welt von Widersprüchen bewegt wird. Wenn ich das nicht glauben würde, dann wäre ich heute nicht da, wo ich bin, voller Kampfeslust.

 

AGGRESSIVER KAMPFHUND STATT LAHME ENTE

Die Lage bleibt unübersichtlich in Brasilien. Aber eines wird deutlich: Die Opposition gegen die Regierung von Michel Temer gewinnt an Kraft und erobert die Straße zurück. Deutliches Signal dafür war der Generalstreik am 28. April (siehe Kasten), der einen der erfolgreichsten Ausstände in der jüngeren Geschichte des Landes darstellte. Aber es ist nicht nur der Generalstreik: Im ganzen Lande flammen diverse Proteste auf. In unglaublich kurzer Zeit hat die durch ein umstrittenes Impeachmentverfahren an die Macht gekommene Regierung Temer jegliche Unterstützung in der Bevölkerung verspielt.

Gründe dafür gibt es mehr als genug. Nach zwei Jahren schwerer Rezession kommt die Wirtschaft immer noch nicht in Schwung. Die Regierung hat es immer schwerer, für diese Wirtschaftsmisere nur das Vermächtnis der vorangegangenen Regierungen verantwortlich zu machen. Insbesondere die Zunahme der Arbeitslosigkeit trifft die Bevölkerung hart. Nichtsdestotrotz versucht die Regierung Temer eine „Reformagenda“ durchzusetzen, die aus dem kleinen Einmaleins des Neoliberalismus zu stammen scheint. Staatsausgaben sind bereits für eine langen Zeitraum gedeckelt und die Tertiärisierung – also die Verlagerung von Arbeitskräften auf den Dienstleistungssektor – erleichtert worden.

Nun werden zwei entscheidende Elemente der Reformagenda im Parlament verhandelt: eine Reform des Arbeitsrechtes und eine Rentenreform. So soll ermöglicht werden, dass in Tarifverträgen im Einverständnis von Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen auch Vereinbarungen getroffen werden können, die unterhalb der rechtlichen Rahmenbedingungen liegen, also etwa bei Regelungen für Urlaub oder Überstunden. Angesichts einer zersplitterten und fragmentierten Gewerkschaftsbewegung würde diese perverse Auslegung von Tarifautonomie dem Sozialabbau Tür und Tor öffnen. Auch bei der Rentenreform geht es um das übliche: Erhöhung des Rentenalteres und verschärfte Bedingungen für den Erhalt einer Rente, die insbesondere Landarbeiter*innen hart treffen würde. Beide Reformen sind – wie Umfragen zeigen – in der Bevölkerung extrem unbeliebt.

Die Regierung Temer hat kein demorkatisches Mandat solche Reformen durchzuführen.

Insbesondere die Rentenreform sieht die Bevölkerung als Angriff auf Rechte, die Teil der gesellschaftlichen Kultur Brasiliens sind. Die Regierung Temer hat kein demokratisches Mandat, solche umstrittenen Reformen durchzuführen. Temer ist als Vize einer Präsidentin gewählt worden, die zumindest im Wahlkampf eine neoliberale Wende in Brasilien als Antwort auf die Wirtschaftskrise entschieden ablehnte.

Trotz fehlender Legitimierung, einer kurzen Amtszeit von maximal etwa zweieinhalb Jahren und katastrophalen Umfragewerten ist die Regierung Temer alles andere als eine „lahme Ente“, sie erweist sich immer mehr als aggressiver Kampfhund für eine extrem reaktionäre Wende.

Diese Wende zeigt sich nicht nur in der angestrebten Arbeits- und Rentenreform, sondern auch in der Umweltpolitik. Der Etat des zuständigen Ministeriums ist um um die Hälfte gestrichen worden, internationale Gelder des Amazonasfonds mussten eingesetzt werden, um eine Minimum von Kontrolle in Amazonien zu ermöglichen. Und dies alles in einer Zeit, in der der Anstieg der Entwaldung in Brasilien wieder für internationale Schlagzeilen sorgt.

Besonders hart trifft es auch die indigene Bevölkerung und traditionelle Gemeinschaften. Im Parlament werden eine Reihe von Gesetzesvorhaben verhandelt, die deren Rechte fundamental einschränken. So soll der Bau von Straßen und die Ausbeutung von Bodenschätzen in indigenen Territorien oder anderen Schutzgebieten erleichtert werden.

Dabei geht es nicht nur um einzelne Maßnahmen. Durch die Regierung Temer fühlen sich reaktionäre Kreise und insbesondere das Agrobusiness ermuntert. Die Wahl des Großgrundbesitzers und Sojaproduzenten Blairo Maggi zum Landwirtschaftsminister ist ein deutliches Signal an diese Klientel. Ein ganz anderes Signal haben die indigene Völker erhalten. Die für sie zuständige Behörde FUNAI wurde nicht nur finanziell ausgetrocknet, sondern auch der extrem reaktionären und und von evangelikalen Gruppen dominierten Christlich-Sozialen Partei PSC zugeschlagen. Diese ernannte prompt zuerst einen Militär als Präsidenten der Behörde, und dann einen Priester – doch auch der musste bald zurücktreten. Indigene Völker haben daher eine historische einmalige Mobilisierung gegen die Regierung Temer auf die Beine gestellt: Ende April versammelten sich bis zu 3.000 Vertreter*innen indigener Völker und Unterstützer*innen in Brasilia zu einem Zeltlager, das sie „Terra Livre“ nannten.

Mitten in diese komplizierten und unruhigen Zeit platzte eine weitere politische Bombe: Im Rahmen des nicht enden wollenden Korruptionsskandals, der Brasilien nun seit geraumer Zeit erschüttert, wurden die Aussagen der Chefs des größten brasilianischen Baukonzerns Odebrecht veröffentlicht. Dazu kam eine Liste des Untersuchungsrichters Fachin mit den Politiker*innen, die unter Anklage gestellt werden. Nun wurde offensichtlich, was schon lange vermutet worden war: Das gesamt politische System ließ sich von dem Baugiganten schmieren, Politiker*innen fast aller Parteien finden sich auf der Liste, einschließlich der bisherigen Präsidentschaftskandidaten der wichtigsten Oppositionspartie PSDB. Die Aussagen und die Liste belasten führende Politiker*innen der Arbeiter*innenpartei PT schwer, sie werden beschuldigt illegale Parteispenden in dreistelliger Millionenhöhe entgegengenommen zu haben. Aber dasselbe trifft auch auf führende Oppositionspolitiker*innen zu, Odebrecht war zu allen Seiten hin spendabel. Dabei beschränkt sich der Aktionskreis des Konzerns nicht auf Brasilien: Nach eigenen Angaben hat der Konzern in zwölf Ländern illegale Zahlungen in Höhe von 788 Millionen US-Dollar getätigt (siehe LN 513).

Indigene Völker haben eine historische Mobilisierung gegen die Regierung aufgestellt.

Die Regierung Temer ist zentral von den Ermittlungen betroffen, acht Minister stehen nun unter Anklage. Temer selbst entkommt der Anklageerhebung nur, weil er durch das Präsidentenamt eine erweiterte Immunität genießt. Die bittere Tragödie des Impeachmentverfahrens ist nun für alle sichtbar: Durch die Amtsenthebung Dilma Rousseffs (die nicht auf der Liste erscheint!) im August vergangenen Jahres ist die wohl korrupteste Regierung Brasiliens in das Amt gelangt – unter dem Vorwand des Kampfes gegen Korruption.

Im Kern der strafrechtlichen Ermittlungen stehen nicht deklarierte und damit illegale Zuwendungen an Parteien und einzelne Politiker. Aber die Aussagen von Firmenchef Marcelo Odebrecht enthüllen noch ein andere Dimension der Geschichte: die quasi symbiotische Beziehung zwischen Lula und den Odebrechts. Die Geschichte begann schon vor der Zeit Lulas als Präsident (2003 – 2010). Eine Episode in dieser langen Beziehung wirft ein Schlaglicht darauf, wie sich die Interessen des Unternehmens mit dem Handel der Regeirung und Präsident Lula direkt vermischen. Unter der Lula-Regierung wurden der lange unterbrochene Bau von Großstaudämmen in der Amazonasregion wieder aufgenommen. Jirau und Santo Antonio im Bundestaat Rondonia waren die Bahnbrecher dafür. Als es Schwierigkeiten mit der Umweltlizenz für den von Odebrecht übernommenen Staudamm von Santo Antonio gab, mischte sich Lula direkt ein und beschwerte sich sinngemäß: „Nun muss ich mich auch noch um die Welse kümmern“. Der Satz und die Welse (bagre) wurde berühmt als Ausdruck von Lulas ostentativer Missachtung von ökologischen Fragen. Lulas Einmischung war nicht ohne Folgen: Der Chef der Umweltbehörde IBAMA musste den Hut nehmen, die Lizenz wurde erteilt und der Staudamm gebaut. Nun erfahren wir von Marcelo Odebrecht die ganze Geschichte: „Wenigstens einmal traf ich mit dem damaligen Präsidenten Lula um zu fordern, dass nicht zu einer Verzögerung bei der Finanzierung von Santo Antonio durch die (staatliche Entwicklungsbank) BNDES kommen dürfe. Ebenso bat ich um eine spezielle Unterstützung, damit es nicht zu einer Verzögerung bei der Erteilung der Umweltlizenzen komme, was auch den gesamten engen Zeitplan gefährdet hätte. Lula hat dann unsere Unzufriedenheit mit dem berühmten Satz ausgedrückt: ‚Jetzt kann wegen des Wels‘ nicht gebaut werden, sie haben den Wels in meinen Schoss geworfen. Was habe ich damit zu tun?‘“

Insgesamt hat Odebrecht nach eigenen Angaben etwa 80 Milllionen Reais (circa 25 Millionen US-Dollar) spendiert, um den Bau von Santo Antonio zu erleichtern.

Die politische Bewertung der Beziehung zwischen Lula und Odebrecht steht aber nicht im Mittelpunkt der aktuellen Debatte. Es geht in erste Linie um die Frage der strafrechtlichen Relevanz der Vorwürfe. Und da beteuert Lula – wie alle anderen Beschuldigten – seine völlige Unschuld.

Der politische Effekt der jüngsten Wendungen scheint paradox: Nach einer Ende April veröffentlichten Befragung durch das Institut Datafolha würde Lula bei Präsidentschaftswahlen deutlich vorne liegen. Das war schon bei den letzten Umfragen so, aber Lula hat noch einmal zugelegt und würde jetzt alle bekannteren Oppositionspolitiker*innen auch in einer Stichwahl klar besiegen. Nur gegen eine Person liegt er knapp zurück: gegen den untersuchenden Richter Moro, der zur Personifizierung der Ermittlungen der Operation Lava Jato geworden ist. Die Umfragen zeigen ein zutiefst gespaltenes Land. Gut 40 Prozent der Befragten würden Lula wählen und praktisch eben so viele den erklärten Widerpart und das Idol aller Lula- und PT-Hasser, den smarten Richter Moro. Aber Moro ist kein Kandidat und würde er es, dann müsste er sich in die Tiefen des von ihm angeblich bekämpften politischen Systems begeben und könnte leicht an Glaubwürdigkeit und Zustimmung verlieren.

Ein weitere neue Entwicklung in den Umfragen ist der Aufstieg Jair Bolsonaros, des erklärt rechtsextremen Politikers, der die Folterer der Militärdiktatur feiert und Homosexuelle verfolgen will (siehe LN 503). Mit 15 Prozent der Stimmen liegt er bei den Umfragen für den ersten Wahlgang auf Platz zwei. Im Zug der politischen Auseinandersetzungen formiert sich also in Brasilien eine rechtsradikale Strömung und versucht zunehmend Einfluss auf die Politik zu gewinnen.

Natürlich lassen solche Umfragen noch keine Schlussfolgerungen auf das Ergebnis der Wahlen zu, die planmäßig im Oktober 2018 stattfinden werden. Aber sie markieren eins: die wiedergewonnene Zentralität der Person Lulas im Brasilien der Gegenwart. Für das PT-Lager aber auch wohl für viele andere, die zuletzt mit der PT-Regierung unzufrieden waren, stellt nun Lula die einzige politisch aussichtsreiche Alternative zu einer reaktionären Wende da. Große Teile der Linken unterstützen die Kandidatur Lula 2018 – auch aus völligen Mangel an Alternativen und dem Eindruck, welchen Schaden eine reaktionäre Regierung wie die von Temer anrichten kann. Gleichzeitig wird die Linke damit aber auch in großem Maße abhängig von der Person Lulas und dessen politischen Perspektiven.

Für das rechte Lager hingegen wird die politische Vernichtung Lulas im Mittelpunkt stehen. Eine Karte ist dabei ausgespielt: die Korruption. Denn in einer weiteren Umfrage von Datafolha sehen die Befragten in Lula den korruptesten aller Präsidenten seit 1989, dem Jahr der ersten Wahlen nach dem Ende der Militärdiktatur. Die resignierende Ansicht, dass Korruption ein unvermeidlicher Teil des politischen Systems sei, kommt offenbar vor allem Lula zugute.

Für die Rechte bleibt die juristisch Verfolgung Lulas, um zu verhindern, dass dieser überhaupt kandidieren kann. Damit haben sich aber die juristische und politische Dimension zu einem unentwirrbaren Knäuel verwickelt. Lula nun auf juristischen Wege kalt zustellen hieße, zu verhindern, dass der zurzeit populärste Politiker Brasiliens bei den Wahlen antreten darf. Dies würde eine heftige Reaktion der sozialen Bewegungen und großer Teile der Bevölkerung provozieren. Der Generalstreik war ein Auftakt für weitere unruhige Zeiten in Brasilien.

WER AN DER RENTENREFORM VERDIENT

Auf vielen Plakaten, die Teilnehmer*innen der Proteste Mitte März gegen die Rentenreform bei sich trugen, wurde davor gewarnt, dass die Rentenrefom der Regierung Temer vor allem die Frauen hart treffen werde. Warum?
Sandra Quintela: Zunächst einmal ist das keine „Reform“ der Rente. Es handelt sich vielmehr um ein Projekt, dass öffentliche Mittel privaten Interessen, vor allem der Banken, zuschaufelt. Denn es sind Mittel der Öffentlichen Hand, die zuvor nicht nur die Rentenzahlungen, sondern auch die Sozialprogramme und die Gesundheit von Millionen von Brasilianer*innen garantierten – also das, was den gesamten Bereich der Sozialsysteme umfasst. Ein Angriff auf den ganzen Strukturrahmen, der die ganze Bandbreite an Sozialaufgaben des Staates umfasste – von Mutterschutz über Entgeltfortzahlungen im Krankheitsfall bis hin zu Sozialrenten bei begründet kürzerer Beitragszahlung oder Berufsunfähigkeit.
Wir Frauen werden davon am stärksten betroffen sein, da laut diesem Vorhaben das derzeit noch unterschiedliche Renteneintrittsalter bei Frauen und Männern nivelliert wird. Dies soll in Zukunft einheitlich bei 65 Jahren liegen. Ignoriert wird dabei aber die Ungerechtigkeit bei der Arbeitsteilung der Geschlechter, da den Frauen zusätzlich die Haushaltsarbeit sowie die Kindererziehung und Altenpflege auferlegt wird. Obwohl wir Frauen in Brasilien mit 51 Prozent in der Mehrheit sind, stellen wir nur 42,8 Prozent der offiziell als arbeitstätig Anerkannten dar. 57,2 Prozent belegen die Männer. Der Mangel an Horts und Kindergärten ist dabei einer der Hauptgründe, warum Frauen nicht im gleichen Maße eine Arbeitsstelle suchen können. Und obendrein erhalten Frauen bei gleicher Tätigkeit nur 76 Prozent des Lohnes, den Männer erhalten. In den vergangenen 20 Jahren stieg die Zahl der allein von Frauen geführten Familienhaushalte von 23 auf 40 Prozent. Solange diese Unterschiede nicht aufgehoben werden, wird nun ein einheitliches Renteneinstiegsalter die Missstände noch weiter verschärfen.

Worum geht es bei den geplanten Kürzungen des Rentenaufstockungsprogramms?
Dieses Programm sozialer Renten ist für jene Menschen gedacht, die aufgrund ihres Alters – 65 Jahre oder älter – oder aufgrund von Berufsunfähigkeit ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten können. Die Höhe beträgt einen gesetzlichen Mindestlohn. Dazu muss die betroffene Person nachweisen, dass ihr Haushaltseinkommen bei weniger als einem Viertel des Mindestlohns liegt. Laut der nun vorgelegten Verfassungsänderung PEC 287 soll das Mindestalter, ab dem überhaupt dieses Rentenaufstockungsprogramm beantragt werden könnte, auf 70 Jahre angehoben werden. Hinzu kommt, dass diese Sozialleistung gar nichts mit dem Rentenprogramm zu tun hat, denn es ist ein Sozialprogramm. Es ist vollkommen unbegründet, diesen Änderungsvorschlag im Rahmen dieser Renten-Konterreform einzubringen.

Welche Konsequenzen bringen die Änderungen für Arbeitende auf dem Land und für Kleinfischer*innen?
Nach den neuen Regeln der PEC 287 steigt auch für Landarbeiter*innen das Renteneinstiegsalter auf 65 Jahre. Und dies selbst dann nur, sofern sie zuvor mindestens 25 Jahre lang monatlich Beiträge in die Rentenkasse eingezahlt haben. Um aber überhaupt den vollen Rentenbetrag zu erhalten, müsste sie 49 Jahre Beiträge gezahlt haben.
Seit der Verfassung von 1988 ist das Sozialrentensystem das zentrale Mittel sozialer Umverteilung in Brasilien. Die Wirtschaft ganzer Kleinstädte basiert zu einem Großteil auf den Renten der Senior*innen. Mit zunehmender Verarmung auf dem Land, bei verschärfter Dürre wie zum Beispiel im Nordosten des Landes, muss man sich fragen: Wie sollen die Familien diese monatlichen Beitragszahlungen leisten, wenn sie schon heute von Sozialprogrammen wie dem Familienzuschuss Bolsa Família leben müssen?
Dieses Bild lässt sich fortzeichnen bei den Quilombolas, den Nachkommen entflohener Sklaven, und bei den Kleinfischer*innen. Also genau diejenigen traditionellen Bevölkerungsgruppen, die zuvor ohnehin schon unter der Entwicklungswalze der industriellen Großprojekte gelitten haben, die von ihrem Land verdrängt wurden und deren Lebenswelten zerstört wurden.

Warum sind die Militärs sind von den Plänen zur Rentenreform bisher ausgenommen?
Die Militärs werden in einem gesonderten Gesetzesvorhaben abgehandelt, nachdem die einzelnen Bundesstaaten die neuen Berechnungen für die Militärs durchführen sollen – also für die mit 50 Jahren in Rente gehenden männlichen Militärs und für die mit 45 Jahren in Rente gehenden Frauen beim Militär. Dahinter steckt das taktische Interesse der Regierung, einer unpopulären Regierung ohne Rückhalt in der Bevölkerung und die nie in Wahlen legitimiert worden war: Ohne sich taktisch politische Unterstützung bei Gruppen wie den Militär- oder Polizeikräften zu holen, hat diese Regierung keine politische Chance.

Die Befürworter*innen der Rentenreform verweisen auf die Defizite in der Rentenkasse. So habe dieser Wert 1997 bei 0,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukt gelegen, 2017 nun bei 2,7 Prozent. Die Brasilianer*innen lebten länger, mehr Alte bedeuteten mehr Rentner*innen und weniger Beitrags-Zahler*innen durch die alternde Bevölkerung. Die Financial Times frohlockte gar, um „Brasiliens Rentenlast zu reduzieren, hat Präsident Temer nun die Chance, eine Reform durchzusetzen, die Brasiliens Pleite abwendet“. Was entgegnen Sie solcher Argumentation?
Die Zahlen des brasilianischen Finanzministeriums sind klar: die Renten- und Sozialeinnahmen liegen über den Ausgaben. Brasiliens Sozialsystem erwirtschaftet sogar Überschüsse! 2012 lag der bei 82,7 Milliarden Reais, 2013 bei 76,2, 2014 bei 53,8 und 2015 bei 23,9 Milliarden Reais. Die von der Regierung in die Welt gesetzten Zahlen splittet die Konten der Rente und derer des Sozial- und Gesundheitswesens. Dies ist illegal, weil die Berechnung seit der Verfassung von 1988 zusammen erfasst wird. Dieses Splitten der Konten in zwei Bereiche ist ein klarer Versuch, die Banken zu privilegieren. Nicht umsonst stammt die PEC 287 aus der Feder des Finanzministers Henrique Meirelles, der zuvor bei der Bank of Boston gearbeitet hat. Vor kurzem hat eine Richterin der brasilianischen Bundesregierung gerichtlich untersagt, weiterhin Werbebotschaften dieser Form und Inhalts in die Welt zu setzen. Die Richterin sah es als erwiesen an, dass die Bewerbung der Rentenreform durch die Regierung den in der Verfassung Brasiliens festgeschriebenen Vorgaben für Werbemaßnahmen der Regierung widersprach: Sie dienten weder Zwecken der Bildung, noch der Information oder sozialer Orientierung.

Die Regierung Temer argumentiert zudem, die Rentenreform mache nur Sinn, wenn zugleich die große fiskalpolitische Haushaltssperre komme. Dies bei Inflationsraten von derzeit knapp fünf Prozent. Was ist von diesem politisch gesetzten Junktim zu halten?
Die große Haushaltsbremse, die die sogenannte PEC 55 vorgibt, friert die Höhe der Ausgaben für 20 Jahre ein. Eine Ausnahme ist dabei vorgesehen: die Kosten für Zins- und Zinstilgungen des Schuldendiensts. Dessen Ausgaben steigen von 42,43 Prozent 2016 auf 50,66 Prozent 2017. Obendrein hat der Putschpräsident Michel Temer den für Budgetverschiebungen erlaubten Rahmen von 20 auf 30 Prozent erhöht. Diese Erhöhung der Bandbreite um die Hälfte ermöglicht der Regierung, die vom Kongress bewilligten Haushaltslinien um bis zu 30 Prozent umzuschichten. So kann die Regierung von nun an, dem Sozialhaushalt oder dem Bildungshaushalt einfach so je 30 Prozent wegnehmen. So erleichtert das der Regierung, dieses Geld dem Schuldendienst zuzuschlagen. Tag für Tag tritt klarer zutage, dass der im August 2016 orchestrierte Putsch von den Eliten, den Medien und dem Justizsektor durchgezogen wurde, um alle sozialen Errungenschaften des zwanzigsten Jahrhunderts und der ersten Jahre dieses Jahrhunderts zu schleifen. Mit unabsehbaren Folgen. Das fängt mit der Reform der Rente und des Arbeitsgesetzes an und geht über den Ausverkauf der Landflächen an ausländische Investor*innen und reicht bis hin zur Schleifung der Umweltgesetzgebung. Brasilien wird so den Interessen des internationalen Finanzwesens untergeordnet. Dieser Putsch richtet sich gegen die Klasse der Arbeitenden.

 

ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT

„Vor vielen, vielen Monaten, als ich noch Vize-Präsident war, haben wir ein Dokument herausgebracht, das ‚Eine Brücke in die Zukunft‘ hieß. Wir hatten festgestellt, dass es unmöglich wäre, den von der Regierung eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Wir haben sogar vorgeschlagen, dass die Regierung unsere Vorstellungen, die wir in dem Dokument aufzeigten, übernehmen könnte. Weil dies nicht möglich war, leiteten wir den Prozess ein, der nun in meiner Amtsübernahme als Präsident der Republik gipfelte“, sagte Michel Temer Ende September während eines Vortrages vor Unternehmer*innen und Investor*innen in New York. Verbreitet wurde dieses Statement des amtierenden rechtskonservativen Präsidenten, einschließlich einer Videoaufnahme der Originalrede, von The Intercept Brasil unter der Leitung des US-amerikanischen Journalisten Glenn Greenwald.
Nur drei Wochen nach dem juristisch fragwürdigen Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff (siehe LN 507/508) bestätigte ihr Nachfolger damit den Verdacht, dass es bei dem Verfahren nicht um Haushaltstricks und „kriminelle Handlungen“ der Präsidentin ging, sondern darum, ein neoliberales Programm durchzusetzen, über das im Oktober 2014 nicht an den Wahlurnen abgestimmt worden war. Obwohl außer Frage steht, dass Temer diese Rede gehalten hat, wurde sie in den brasilianischen Leitmedien nicht aufgenommen, insbesondere der Medienriese Globo ignorierte die Meldung.
Das Programm „Eine Brücke in die Zukunft“ sieht unter anderem vor, Mittel für die öffentliche Gesundheitsversorgung, den staatlichen Bildungssektor und die Sozialprogramme zu kürzen. Das Alter für den Renteneintritt soll heraufgesetzt und die Renten von der Entwicklung der Höhe des Mindestlohns abgekoppelt werden. Kernstück des neoliberalen Programms ist die Förderung von „Partnerschaften“ mit dem privaten Sektor und eine allgemeine Öffnung des Landes für ausländische Investor*innen. Damit war „Eine Brücke in die Zukunft“ eine Blaupause für die Politik, die Temer seit Mai dieses Jahres umsetzt. Aktuellstes Beispiel ist die jüngste Entscheidung des Parlaments, die bisher vorgeschriebene Beteiligung des staatlichen Erölunternehmens Petrobras an der Förderung der Erdölvorkommen vor der Küste von Rio de Janeiro zu beenden. Dort liegen, in einer Tiefe von bis zu 7.000 Metern unter der Wasseroberfläche und einer kilometerdicken Salzkruste, die als pré-sal bezeichneten, auf 100 Milliarden Barrel Öl geschätzten Vorkommen – ein Riesengeschäft (siehe LN 426).
2010 hatte das brasilianische Parlament beschlossen, dass mit der Vergabe der Förderkonzessionen für das pré-sal die internationalen Erdölunternehmen nicht zu Eigentümer*innen des Öls werden, sondern das staatliche Erdölunternehmen Petrobras zu 30 Prozent an der Ausbeutung der Erdölvorkommen beteiligt werden muss und für die operative Durchführung der Bohrungen und Förderung verantwortlich ist. Die Milliardeneinnahmen aus der Erdölförderung, die sogenannten royalties, werden nach einem gesetzlich festgelegten Schlüssel unter den Bundesstaaten und Gemeinden mit Erdölvorkommen sowie an den Bundeshaushalt verteilt. Seit 2011 werden sie vor allem genutzt, um staatliche Ausgaben für Bildung und Gesundheitsversorgung zu finanzieren.
Am 5. Oktober entschied das Parlament mit 292 gegen 101 Stimmen und einer Enthaltung, dass die Beteiligung von Petrobras an der Ausbeutung und Förderung der Erdölvorkommen nicht länger verpflichtend ist. Die neue Regierung argumentierte, der durch den Lava-Jato genannten Korruptionsskandal schwer angeschlagene Erdölkonzern sei nicht länger in der Lage, die Förderung des pré-sal voranzutreiben. Die linke Opposition hatte seit dem 3. Oktober alle parlamentarischen Möglichkeiten ausgeschöpft, um die Abstimmung zu verhindern. Sie schätzt, dass dem Staat durch diese Gesetzesänderung umgerechnet rund 82 Milliarden Euro verloren gehen werden. Pikantes Detail ist in diesem Zusammenhang, dass der Originalentwurf für das Gesetz von Senator José Serra von der rechtskonservativen PSDB stammt. Nach der Veröffentlichung von Telegrammen des US-Außenministeriums aus dem Jahr 2010 durch Wikileaks wurde bekannt, dass US-amerikanische Konzerne mit dem brasilianischen Gesetz zur Erdölförderung ausgesprochen unzufrieden waren – und der damalige Präsidentschaftskandidat José Serra versprach, die gesetzlichen Regelungen rückgängig zu machen, sobald die PT nicht mehr an der Macht sei.
Schon durch ein am 22. September von Temer erlassenes Präsidial-Dekret, das den Lehrplan in der Sekundarstufe neu regelt, sollte die Finanzierung der staatlichen Bildungsprogramme ausgehöhlt werden. Neben Sport und Kunst sollten auch Soziologie, Spanisch und Philosophie nicht mehr zu den Pflichtfächern gehören. Temer bestritt, dass das Gesetz mit der geplanten Decklung der Sozialausgaben, der fiskalpolitischen Haushaltsbremse, in der heutigen Höhe für die nächsten 20 Jahre (ohne Inflationsausgleich) zusammenhänge. Das Dekret wurde weithin kritisiert, weil es ohne jede vorherige Absprache mit Vertreter*innen von Schulen, Lehrkräften oder Fachleuten des Erziehungsministeriums zustande kam. Am deutlichsten fiel die Kritik des Frontmannes Fausto Silva der beliebten Fernsehsendung Domingão do Faustão aus. Der ehemalige Sportreporter sagte während seiner Live-Sendung vor Millionen Zuschauern wörtlich: „Diese Scheiß-Regierung hat nicht mal angefangen, sie kann nicht kommunizieren. Sie macht eine Schnellreform, ohne sich mit irgendjemanden abzusprechen. Und, einfach so, streichen sie den Sportunterricht, der grundlegend für die Bildung der Bürger ist.“ Der Staatssekretär für Bildung, Rossieli Soares, reagierte auf die Kritik und behauptete, der in den Medien zirkulierende Text sei nicht korrekt. In der später im Amtsblatt der Regierung veröffentlichten offizielle Version werden die bisherigen Pflichtfächer beibehalten.
Die Kritik und der Protest auf der Straße gegen die Präsidentschaft von Michel Temer haben sich bei den Kommunalwahlen am 2. Oktober kaum an den Wahlurnen niedergeschlagen. Insgesamt hat sich vor allem die Zahl der Nichtwähler*innen erhöht, die bei bestehender Wahlpflicht ungültige oder nicht ausgefüllte Wahlzettel abgaben. In 18 der 50 größten Städte und Gemeinden war die Anzahl der ungültigen Stimmen höher als die der abgegebenen Stimmen, auch in den Megametropolen São Paulo und Rio de Janeiro.
Die Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung (PMDB) und die Partei der brasilianischen Sozialdemokratie (PSDB) gewannen bei den Wahlen die meisten Mandate. Die rechtskonservative PMDB wird zukünftig 7.568 Abgeordnete in den Kommunalparlamenten stellen, die neoliberale PSDB 5.731. Bei 213 der gewählten Kandidat*innen der PMDB ist allerdings bisher nicht geklärt, ob sie die Wahl auch annehmen werden können, weil gegen sie wegen Korruptionsvorwürfen ermittelt wird. Dies gilt auch für 146 Kandidat*innen der PSDB und 66 Kandidat*innen der Arbeiterpartei (PT). In den Großstädten schlossen vor allem die PMDB und PSDB Allianzen für die Bürgermeisterwahlen; in den vergangenen Jahren waren sie meist gegeneinander angetreten. Die PT verlor 60 Prozent der Bürgermeisterposten, in die bisher Parteimitglieder gewählt wurden: Waren es vor vier Jahren noch 638 gewählte PT-Bürgermeister*innen, so werden es ab 2017 nur noch 263 sein. In den Großstädten gewann die PT allein in Rio Branco, im nordwestlichen Bundesstaat Acre, mit Marcus Alexandre bereits den ersten Wahlgang mit 54 Prozent der Stimmen.
Besonders schwer wog die Niederlage in São Paulo: Dort erhielt der Millionär João Dória von der PSDB 53 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang. Er ist einer von 23 Millionär*innen, die als Bürgermeister der Großstädte gewählt wurden. Der PT-Kandidat und jetzige Bürgermeister Fernando Haddad erlitt mit nur 16 Prozent der Stimmen eine deutliche Niederlage. Haddad steht für eine eher fortschrittliche Stadtpolitik und erfreut sich gerade in der intellektuellen, alternativen Mittelschicht großer Beliebtheit. Der Sohn eines libanesischen Einwanderers hat außerdem, was die vielen Korruptionsskandale angeht, eine weiße Weste vorzuweisen.
In Rio de Janeiro erreichte der Kandidat der Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL), Marcelo Freixo, mit 18,4 Prozent der Stimmen überraschend deutlich die Stichwahl für das Amt des Bürgermeisters. Freixo engagiert sich seit vielen Jahren als Aktivist und Wissenschaftler für die Stärkung der Menschenrechte in allen Stadtteilen (siehe LN 433/434). Er lebte jahrelang unter Morddrohungen der sogenannten milícias, paramilitärische, bewaffnete Einheiten, oft mit evangelikalem Hintergrund und Verbindungen ins Drogengeschäft, die in Favelas Schutzgelder erpressen. Bei der Stichwahl am 30. Oktober steht ihm Marcelo Crivella von der Brasilianischen Republikanischen Partei (PRB) gegenüber, ein Bischof der evangelikalen Igreja Universal do Reino de Deus. Crivella kam im ersten Wahlgang auf 27,6 Prozent der Stimmen. In der amazonischen Millionenstadt Belém kam der Kanditat der PSOL, Edmilson Rodigues, mit fast 30 Prozent der Stimmen in die Stichwahl. Insgesamt geht die 2005 von PT-Dissident*innen gegründete PSOL auch mit Zugewinnen bei den Abgeordnetenwahlen gestärkt aus den Kommunalwahlen hervor. In der politischen Krise dieses Jahres ist es der PSOL gelungen, zahlreiche integre Persönlichkeiten aus der Zivilgesellschaft zu gewinnen.
Die starke politische Polarisierung und Personalisierung der Wahlen in Brasilien zeigte sich auch an den Ergebnissen für die Abgeordneten der Stadtparlamente, die in den größten Städten die meisten Stimmen erhielten. In Rio de Janeiro war dies der ultrareaktionäre Carlos Bolsonaro von der Sozialchristlichen Partei (PSC), vor Tarcísio Motta von der PSOL. In São Paulo erhielt der ehemalige PT-Senator Eduardo Suplicy die meisten Stimmen, obwohl seine Partei klar die Bürgermeisterwahl verlor. In Salvador de Bahia wurde der Konservative Antônio Carlos Magalhães Neto, Spross der Politikerdynastie Magalhães, mit 75 Prozent der Stimmen wiedergewählt.
Die Kommunalwahlen machten die tiefe Krise der ehemaligen Regierungspartei PT erneut deutlich. Kommentator*innen der Linken mahnten einen „Selbstreflektionsprozess“ der Partei an. Beigetragen zu dem schlechten Ergebnis hat aber vermutlich auch die spektakuläre Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft gegen den ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Silva und die Verhaftung seiner ehemaligen Finanzminister Antônio Palocci und Guido Mantega durch den im Korruptionsskandal Lava-Jato ermittelnden Richter Sérgio Moro. Die PT spricht von einer „Hexenjagd“ gegen die Partei – so wurde Mantega im Krankenhaus verhaftet, wo seine Frau gerade operiert worden war, und nur wenige Stunden später wieder freigelassen. Moro als ermittelnder Richter sei an Verfahren gegenüber Politiker*innen anderer Parteien, insbesondere der PSDB, wenig interessiert. Und auch ohne an die völlige Korruptionsfreiheit der Politik-Ikone Lula zu glauben, nähren die Aktionen der Staatsanwaltschaft den Verdacht, dass eine mögliche Wiederwahl Lulas 2018 um jeden Preis verhindert werden soll. Der „formvollendete parlamentarische Putsch“ in Brasilien ist bis heute alles andere als abgeschlossen – er setzt sich juristisch, wirtschafts- und sozialpolitisch und in der Repression gegen Medien und Proteste auf den Straßen fort.

„KANAILLEN! KANAILLEN! KANAILLEN!“

“Fora Temer” Überall Protest gegen die neue Regierung in Belo Horizonte am Nationalfeiertag am 7. September (Foto: Flavio Souza/Midia Ninja CC BY-SA 2.0)

War es ein Putsch? Eine „Farce“ sei es gewesen, heißt es immer wieder, in den sozialen Netzwerken, bei Protesten auf der Straße und in Interviews. Ein abgekartetes Spiel, dessen Ausgang am 31. August – die Amtsenthebung der gewählten Präsidentin Dilma Rousseff durch den Senat – von Anfang an feststand. Nur formal korrekt sei das „Impeachment“, das Amtsenthebungsverfahren, durchgeführt worden, um dem „kalten Putsch“ durch Parlament, Senat und Oberstem Gerichtshof einen demokratischen Anschein zu geben. Andere betrachten die Amtsenthebung vor allem als „Schurkenstück“: Einige wenige Oberschurken bedienten sich geschickt aller institutionellen und konstitutionellen Mechanismen, um die missliebige Regierung der Arbeiterpartei PT zu beenden und sich selbst vor der Verurteilung wegen Korruption zu retten. Viele sehen in der Entmachtung der gewählten Präsidentin und der Aussetzung ihres Regierungsprogramms ein Drama in mehreren Akten, in dem das Vertrauen in die Demokratie in Brasilien bereits verloren gegangen ist.
Ob Farce, Schurkenstück oder Drama – im letzten Akt der Amtsenthebung der 2014 gewählten Präsidentin Dilma Rousseff wurde im Senat jedenfalls nicht an Emotionen, persönlichen Stellungnahmen und Verweisen auf die historische Bedeutung der Entscheidung gespart. Vom 25. bis zum 31. August zog sich die Sitzung des Senats, unter der Leitung des Präsidenten des Obersten Gerichtshof (STF), Ricardo Lewandowski, in der über Rousseffs Amtsenthebung entschieden wurde. Am Montag dem 29. August hatte die Präsidentin erstmals seit ihrer Suspendierung am 12. Mai die Möglichkeit, sich zu den Vorwürfen gegen sie im Kongress zu äußern. In ihrer 45 Minuten langen Rede warnte sie vor einem Putsch: „Für eine Amtsenthebung ist zwingend vorgeschrieben, dass eine kriminelle Handlung nachgewiesen werden kann. Wenn es keine kriminelle Handlung gibt, dann darf es kein Impeachment geben. Wir sind nur einen Schritt von einem echten Staatsstreich entfernt.“
In den folgenden 13 Stunden beantwortete Rousseff Fragen von Senator*innen, darunter auch zu den technischen Details von drei Haushalts-Dekreten und des „Plano Safra“, ein Förderprogramm für die Landwirtschaft, auf die sich die Anklage wegen „krimineller Haushaltstricks“ bezog. Sie war ausgezeichnet vorbereitet, sprach teils ruhig und sachlich, teils kämpferisch, und zeigte auch am Ende des Redemarathons keine Erschöpfung oder Konzentrationsschwächen. Sie verließ den Senat nicht als Opfer, sondern erhobenen Hauptes.
Am nächsten Tag gaben, nach den Jurist*innen, 71 der 81 Senator*innen bis tief in die Nacht hinein persönliche Stellungnahmen ab. Der Redebeitrag von Roberto Requião sorgte für Furore, da der Senator seine Rede mit den Worten „Kanaille! Kanaille! Kanaille!“ begann. Ein historisches Zitat des damaligen Abgeordneten Tancredo Neves, der Auro de Moura Andrade in der Parlamentssitzung vom 2. April 1964 als „Schurke“ bezeichnete, in der Präsident João Goulart abgesetzt wurde – der Beginn der 21 Jahre andauernden Militärdiktatur. Requião ist Mitglied der PMDB, der Partei des Übergangspräsidenten Michel Temer, die bis Anfang dieses Jahres selbst als Koalitionspartnerin der PT an der Regierung beteiligt war. Requião stellte sich an die Seite der Regierung und gegen seine Partei: Er stimmte gegen das Impeachment.
Durch den politischen Prozess im Senat wurde sehr deutlich, dass die vermeintlichen Verstöße der Präsidentin gegen das Haushaltsrecht seit langem Regierungspraxis waren, aber nie juristisch verfolgt wurden. Schon andere Regierungen hatten Präsidialdekrete für zusätzliche Kredite ohne ausdrückliche Zustimmung des Parlaments erlassen. Juristisch ist dieses Verfahren zweifelhaft; es blieb aber strittig, ob dies rückwirkend als „kriminelle Handlung“ gelten kann.
Rousseff betonte immer wieder, dass die zusätzlichen Kredite das Gesamtdefizit des Haushalts nicht erhöht hätten: Mehrausgaben für einen Posten wurden durch Minderausgaben an anderer Stelle ausgeglichen. Dass durch die Dekrete der Haushalt im Wahlmonat Oktober 2014 besser aussah als ohne Zusatzkredite, war aber sicher kein unerwünschter Nebeneffekt. In Deutschland wird dies als „Kanzlerbonus“ bezeichnet.
Zum „Plano Safra“ argumentierten die suspendierte Präsidentin und die ehemalige Landwirtschaftsministerin Katia Abreu (PMDB), dass es sich dabei niemals allein um ein Kreditprogramm gehandelt habe, sondern um ein Programm zur Subventionierung der Landwirtschaft „wie es in jedem Land der Welt notwendig ist“. Es wurde bereits 1992 von dem konservativen Präsidenten Fernando Collor aufgelegt.
In den Reden vieler Senator*innen wurde deutlich, dass es ihnen grundsätzlich um Rousseffs Regierungsführung ging, vor allem in Bezug auf die sich ab Ende 2014 verschärfende wirtschaftliche Krise. Die Rohstoffpreise, insbesondere der Ölpreis, fielen deutlich und führten zu steuerlichen Mindereinnahmen. Zahlreiche Senator*innen warfen Dilma Rousseff vor, aus politischen Gründen die Staatsausgaben zu spät angepasst zu haben. Diese konterte, dass ihre ehemaligen Koalitionspartner*innen von der PMDB alle Ausgabenanpassungen blockiert hätten.
Bei der entscheidenden Abstimmung am 31. August fiel das Ergebnis überraschend deutlich aus: 61 Senator*innen stimmten für das Impeachment, 20 Senator*innen dagegen, es gab keine Enthaltungen.
Dilma Rousseff veröffentlichte nach der Senatssitzung eine kämpferische Stellungnahme: „Sie denken, dass sie uns besiegt haben, aber sie irren sich. Ich weiß, dass wir kämpfen werden. Es wird gegen sie die stärkste, unermüdlichste und energischste Opposition geben, unter der eine Putsch-Regierung leiden kann.“
Unmittelbar nach der Senatsabstimmung wurde Interimspräsident Michel Temer als Präsident vereidigt. Temer hatte ausdrücklich um eine „bescheidene Zeremonie“ gebeten. Er ist bereits der dritte Präsident der PMDB, der – ohne gewählt zu sein – als Vizepräsident an die Macht gelangt. Viel Anerkennung bekam er bisher nicht.
Im Gegenteil, Temer trifft überall auf Widerstand. Die Forderung „Fora Temer!“ – „Weg mit Temer!“ ist ständig präsent. In den sozialen Netzen kursiert eine Umdichtung der Nationalhymne mit „Fora Temer“, Straßennamen werden mit täuschend echt aussehenden „Rua Fora Temer“-Aufklebern umbenannt, Künstler*innen protestierten während der Biennale in São Paulo. Täglich fordern Menschen bei allen vorstellbaren Gelegenheiten den Rücktritt des nichtgewählten Präsidenten. Inzwischen reicht es schon, in ein Mikrofon das Wort „primeiramente“ (zuerst) zu sprechen, damit das Publikum lautstark „Fora Temer“ ergänzt.
Mittlerweile, so scheint es, meidet Michel Temer die Öffentlichkeit. Weil er schon bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in Rio de Janeiro ausgebuht wurde, war er zur Schlusszeremonie gar nicht erst erschienen. In der Eröffnungszeremonie der Paralympics gingen seine Worte komplett in den Buhrufen im Stadion unter.
Die brasilianische Öffentlichkeit zu meiden, fiel Temer zunächst auch leicht: Direkt nach seiner Amtseinführung flog er zum G-20 Gipfel nach China. Von dort aus versuchte er, die Massenproteste klein zu reden. Seine Aussage über „Mini-Demonstrationen mit vielleicht 30 bis 40 Vandalen, die Autos zerstören“, fällt ihm regelmäßig auf die Füße. Die Demonstrationen nehmen an Stärke und Häufigkeit seit der Senatsentscheidung deutlich zu. In São Paulo demonstrierten am 4. September mehr als 100.000 Menschen. Am 7. September, dem brasilianischen Unabhängigkeitstag, fanden in zehn Bundesstaaten und in der Hauptstadt Brasília Demonstrationen mit tausenden von Teilnehmer*innen statt.
Doch mit der steigenden Anzahl an Demonstrationen und Protesten nimmt auch die Repression der Militärpolizei (PM) zu, vor allem in São Paulo. Die Abschlusskundgebung am 4. September wurde von der Militärpolizei gezielt mit Tränengasbomben und Gummigeschossen aufgelöst, ohne dass es dafür einen Anlass gegeben hätte. Die Militärpolizei ging dabei mit äußerster Brutalität vor, die auch vor Minderjährigen nicht halt machte. Eine junge Studentin verlor die Sehkraft ihres linken Auges. Auch viele Journalist*innen werden trotz Kennzeichnung von der Militärpolizei vertrieben und geschlagen, darunter ein Reporter von BBC Brasil. Amnesty international hat deshalb eine Eilaktion unter dem Titel „Protest ist kein Verbrechen“ gestartet, die sich an die Militärpolizei richtet.
Doch nicht nur die Quantität, auch die Qualität der Demonstrationen verändert sich. In ihrem aktuellen Editorial hebt die linksliberale Zeitschrift Carta Capital hervor, dass die Massendemonstration in São Paulo am 4. September nicht parteigebunden war. Die Slogans, die bisher fast ausschließlich gegen die Regierung Temer gerichtet waren, fordern jetzt Neuwahlen und politische Reformen. Rund 93 Prozent von 190.000 Befragten befürworten inzwischen Neuwahlen, meldete die Zeitung Estadão am 6. September.
In der Tat wären Präsidentschaftswahlen der einzige demokratische Ausweg aus der politischen Krise. Zu schwammig und politisch motiviert war die Anklage, die zur Amtsenthebung der Präsidentin geführt hatten. Zu groß ist die Kluft zwischen 54 Millionen Wähler*innenstimmen für Dilma Rousseff und 81 Senator*innen, die sie abgesetzt haben. Zu sehr sind die Politiker*innen, die über das Impeachment entschieden haben, selbst belastet: Gegen 330 von 513 Abgeordneten und 50 von 81 Senator*innen werden Ermittlungen wegen Korruption und anderer Delikte geführt.
Zu sehr profitiert auch Michel Temer persönlich, denn als Präsident genießt er parlamentarische Immunität, die sich auf alle Verfahren außerhalb seiner Amtsführung bezieht. Temer ist in verschiedenen Korruptionsermittlungen schwer belastet worden. Zuletzt beschuldigte ihn der inhaftierte Unternehmer Marcelo Bahia Odebrecht am 7. August, eine Zahlung über zehn Millionen Reais (derzeit umgerechnet 2,7 Millionen Euro) für die Parteikasse der PMDB gefordert zu haben.
Doch Temer selbst kann sich in den nächsten acht Jahren nicht zur Wahl stellen. Ein Wahlgericht hatte ihn wegen illegaler Wahlspenden verurteilt und ihm das passive Wahlrecht entzogen. Davon abgesehen liegt seine Zustimmung bei Umfragen unter zehn Prozent.
Auch für sein Regierungsprogramm hat er kein Mandat des Wahlvolks. „100 Tage Temer – 100 verlorene Rechte“ titelte die Website Alerta Social und listete die bisherigen Gesetzesänderungen und Budgetkürzungen der neuen Regierung auf: Von der Verlängerung der Arbeitszeit, der Kürzung der Mittel für den sozialen Wohnungsbau und die familiäre Landwirtschaft, über den Verkauf wertvoller Ölressourcen im Meeresgrund an private Investor*innen bis zur Beteiligung der Kirchen bei der gesetzlichen Regelung von Abtreibungen reicht die Bandbreite. Ein großer Teil dieses gesellschaftlichen Umbaus liegt erst in Form von Gesetzentwürfen vor – noch ließe er sich stoppen.
Die tiefe politisch Krise in Brasilien bietet aber auch Chancen: für neue linke Bündnisse, dafür, sich intensiv mit den Versäumnissen der PT auseinanderzusetzen, die politischen Reformen mit Leben zu füllen und Kandidat*innen für die Kommunal- und Landesparlamente zu gewinnen, die nicht der dominierenden politischen Klasse angehören.
Doch zuallererst: Fora Temer!

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