EINGESCHLOSSEN UND RECHTLOS

Keine weniger Wir wollen uns lebend

Illustration: Agustina Di Mario, @aguslapiba

Nahomy Otero durchlebt einen neuen Lebensabschnitt. Sie ist 41 Jahre alt und betrachtet sich selbst als Überlebende. La Nahomy, wie sie von ihren engen Freund*innen genannt wird, ist seit über 15 Jahren Menschenrechtsverteidigerin und setzt sich in ihrem Geburtsland Honduras insbesondere für die Rechte von trans Frauen und HIV-infizierten Menschen ein. Seit Beginn der Covid-19-Ausgangssperre in Spanien, wo sie aktuell lebt, konnte sie nicht mehr gut schlafen. Seitdem sie erfuhr, dass die Pandemie Honduras erreicht hat, ist sie noch besorgter darüber, was dort passiert. Dort, wo das Gesundheitssystem schon seit vielen Jahren zusammengebrochen ist, waren trans Frauen bereits vor Covid-19 gefährdet, in ihrer Geschlechtsidentität nicht anerkannt und wurden in der Gesundheitsversorgung benachteiligt.

Kurz vor der Schließung der Grenzen bereitete Otero sich auf den Empfang mehrerer Kolleg*innen und Freund*innen vor, die wegen der Gewalt in Honduras Ende März 2020 das Land verlassen wollten. Sie ist beunruhigt, da die Europäische Union monatelang keine Flüge aus Mittelamerika zugelassen hat, und befürchtet, dass es angesichts der wirtschaftlichen Lage nach monatelangem Eingesperrtsein in den casas de seguridad (Frauenhäuser) für einige ihrer compañeras fast unmöglich sein wird, das Land zu verlassen.

Zwischen Juni 2009 und März 2020 wurden in Honduras 111 Transfemizide gemeldet. Das Alter der ermordeten Frauen liegt zwischen 12 und 34 Jahren, so ein Bericht über gewaltsame Todesfälle in der LGBTIQ*-Gemeinschaft, der vom Lesbischen Netzwerk Cattrachas (Red Lésbica Cattrachas) verfasst wurde. Dies ist eine der wenigen Organisationen, die die gewaltsamen Todesfälle innerhalb der LGBTIQ*-Bevölkerung auflistet. In der letzten Aktualisierung gab das Netzwerk an, dass allein im Jahr 2020 bisher sieben trans Frauen getötet wurden.

Nahomy Otero ist nach Spanien geflohen, um der Gefahr zu entkommen, in diese Statistik aufgenommen zu werden. Vor zwanzig Jahren, als Mitglieder einer mara (Jugendgang, Anm. d. Red.) sie entführten, um sie zu vergewaltigen und zu ermorden, überlebte sie. Danach versuchte sie, in Honduras zu bleiben, aber die Gewalt verfolgte sie. „Sie steckten mich in einen Raum, in der Nähe einer Pferdekoppel. Ich versuchte zu entkommen, aber dort bekam ich den ersten Messerstich. Ich fühlte, wie meine Seele aus meinem Körper entwich, ich fühlte diese Luft, diesen Seufzer, der aus mir herauskam, aber ich hörte auch eine Stimme, die mir sagte, dass ich so nicht sterben würde, dass ich aufstehen sollte. Und ich weiß nicht, wie, aber meine Füße waren losgebunden, als ich aufstand. Danach entschied ich mich, Teil der Veränderung zu werden. Ich wollte anderen Menschen helfen, Gott gab mir eine weitere Chance zu leben“, sagt sie und ergänzt, dass ihr diese Ereignisse eindeutig zeigten, was fortan ihren Lebenszweck ausmachen sollte.

Otero trat ein Jahr später einer Menschenrechtsorganisation bei. Im Jahr 2014 meldete sie der Staatsanwaltschaft den Mangel an antiretroviralen Medikamenten (diese kommen in der HIV-Therapie zum Einsatz, Anm. d. Red.) in den staatlichen Zentren zur Gesundheitsversorgung. Zu dieser Zeit arbeitete sie in der Betreuung HIV-Kranker. Im Nachgang zu dieser Beschwerde sagt sie, dass sie belästigt, verfolgt und aufgefordert wurde, nicht mehr darüber zu sprechen.

Jetzt ist es eine ihrer Freund*innen, die in Gefahr ist. Marlene (Name geändert) ist eine 37 Jahre alte Menschenrechtsverteidigerin, Erzieherin und Buchhalterin. Sie definiert sich außerhalb des Heteronormativen und kleidet sich gerne so, wie sie sich wohl fühlt, ohne sich an Schönheitsstandards irgendwelcher Art zu halten. Sie ist eine der Freund*innen, auf die Nahomy Otero Ende März in Spanien gewartet hat. Auch Marlene wurde Opfer eines transfeindlichen Angriffs. „Ich habe sechs Tage im Krankenhaus verbracht, ziemlich schlimm, 85 Stiche im Kopf“, schildert sie mit fester Stimme. Der Angriff auf Marlene schockierte ihre compañeras wegen der Brutalität des Geschehens. Sie reichten Beschwerde ein und beantragten Schutzmaßnahmen bei einer Gruppe verschiedener staatlicher Institutionen in Koordination mit Vertreter*innen der Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft, die sich der Entwicklung von Strategien zur Prävention und zum Schutz derjenigen widmen, die sich für die Verteidigung der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit einsetzen.

Nachdem sie erfahren hatte, dass ihre Freundin Ende 2019 brutal zusammengeschlagen und beinahe gestorben wäre, begann Nahomy Otero, sie zu unterstützen, damit sie nach Spanien kommen könne. Pläne, die die Pandemie bislang verhinderte. „Sie sagten mir, dass mein Fall abgelehnt wurde”, bemerkt Marlene. „Ich bin gerade dabei, internationale Hilfe zu suchen. Aufgrund der Covid-19-Situation war es nicht möglich, die Reise, die ich für den 31. März geplant hatte, anzutreten. Ich habe mich wirklich entschlossen, das Land zu verlassen, weil ich mein Leben riskiert habe und eine neue Lebensperspektive in einem anderen Land suchen wollte.“ Nach sieben Monaten des Wartens hat Marlene die Hoffnung verloren, im Jahr 2020 noch ausreisen zu können. Sie und andere trans Frauen versuchen, über Organisationen Asyl zu beantragen, um der Diskriminierung in Honduras zu entgehen. Sie erhalten jedoch keine Antworten. „Es scheint, dass man einen Teil seines Körpers verloren haben muss, um Asyl zu bekommen, man muss körperlich angegriffen worden sein, wobei manchmal auch verbale Aggression ausreicht. Der soziale Schaden und das psychologische Trauma, das die Gesellschaft ihnen in diesem Land zufügt und der Mangel an Möglichkeiten ist, wie lebendig begraben zu sein“, gibt Cristina Portillo, eine Freundin von Nahomy Ortero, zu bedenken.

Ein ähnlicher Fall ereignete sich mit Grey Anahí, einer trans Frau, die in San José de Comayagua, im Zentrum des Landes mit einer Machete angegriffen wurde. Die Behörden wollten ihrer Beschwerde nicht nachgehen. Diese Tatsache wurde bekannt, nachdem Luis Almendares, ein lokaler Journalist, den Fall veröffentlicht hatte. Die Nachricht ging viral und die Behörden reagierten mit der Veröffentlichung einer Klarstellung, in der sie den Vorfall dementierten und erklärten, Anahí wolle nur dem Ansehen der Institution schaden. Almendares wurde zwei Wochen nach dieser Äußerung ermordet und ist der dritte Journalist, der 2020 während der Quarantäne in Honduras getötet wurde. Nun fürchtet auch Anahí Repressalien.

In Honduras gibt es keine Gesetze, die die Menschenrechte der LGBTIQ*-Bevölkerung garantieren. Im Leitfaden der Empfehlungen für eine umfassende Gesundheitsversorgung für trans Frauen in Lateinamerika und der Karibik heißt es, die Lebenserwartung einer trans Frau in der Region betrage 35 Jahre. Portillo ist überzeugt, dass die einzige Möglichkeit, länger zu leben, darin besteht, das Land zu verlassen.

Wir schaffen Gerechtigkeit Keine mehr!

Illustration: Paulyna Ardilla, @paulyna_ardilla

Die aktuelle Ausgangssperre befördert die Gewalt. Die LGBTIQ*-Gemeinschaft ist von jeher mit dem endemischen Problem der Ausgrenzung und Unsichtbarkeit konfrontiert. Strukturelle Gewalt ist an der Tagesordnung. „Die Besorgnis ist groß, denn die Pandemie hat uns in einen Zustand größerer Verwundbarkeit versetzt. Während der Quarantäne haben die Menschenrechtsverletzungen zugenommen“, sagt Donny Reyes, Direktor der Asociación Arcoiris (NGO für die Rechte der LGBTIQ*-Gemeinschaft in Honduras) und Mitglied des honduranischen Komitees für sexuelle Vielfalt (CDSH). Die Restriktionsmaßnahmen, die der Staat während der Pandemie erließ, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern, unterbinden, dass Menschenrechtsverteidiger*innen sich frei zu den Orten bewegen können, an denen Vorfälle und Aggressionen gemeldet werden. Die Überprüfung der Fälle und die formelle Anzeige bei der Staatsanwaltschaft werden erschwert. In einer aktuellen Studie über LGBTIQ*-Personen dokumentierte das CDSH in Einzelinterviews Fälle von trans Frauen, die im Land während der Ausgangssperren Sexarbeit leisteten. Oftmals ist das die einzige Einkommensquelle der Betroffenen. „Sie gehen hinaus, um ihr Hotelzimmer oder ihre Unterkunft bezahlen zu können, um Essen zu bekommen. Viele von ihnen haben die Verantwortung für ihre Großmütter oder Neffen, die von ihnen abhängen und von dem leben, was sie beschaffen“, sagt Donny Reyes. Die Studie zeigte außerdem, dass 34 Prozent der befragten Personen das Militär als ihre Aggressoren identifizierten, während der Rest die National-, Verkehrs- und Gemeindepolizei angaben. Nur drei Prozent von ihnen haben formell eine Beschwerde eingereicht. Damit einhergehend sind Verhaftungen mit übermäßiger Gewalt durch Polizei und Militär zu verzeichnen.

Diese Realität ist eine Konstante im Leben vieler Frauen. Nahomy Otero erinnert daran, dass die Schläge, Demütigungen und Drohungen der Polizeibehörden Teil ihres Lebens und des Lebens ihrer Freund*innen waren, mit denen sie die Transition begann.

Seit Jahren setzt sich die LGBTIQ*-Community dafür ein, dass das Gesetz zur Geschlechtsidentität (Ley de Identidad de Género) und das Antidiskriminierungsgesetz vom Nationalkongress diskutiert und verabschiedet werden. Das erste Gesetz ist der Schlüssel zur Senkung der Sterblichkeitsrate von trans Frauen im Land, denn mit diesem Gesetz ist der Staat verpflichtet, der Pathologisierung der Betroffenen entgegenzuwirken und ihre soziale Anerkennung zu erleichtern. Die fehlende Anerkennung durch den Staat verschärft die Situation der LGBTIQ*-Bevölkerung. Ungeachtet der Tatsache, dass verschiedene nationale Organisationen und internationale Gremien wie der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (IACHR) den honduranischen Staat wiederholt aufgefordert haben, internationale Vereinbarungen zur Gleichberechtigung aller Personen einzuhalten und ihnen infolgedessen auch ihre verfassungsmäßigen Rechte zu gewähren, macht der Staat Honduras sie weiterhin unsichtbar. Unter anderem aus Gründen, die durch religiöse Doktrinen gerechtfertigt werden. Ein Bericht über den säkularen Staat und religiöse Fundamentalismen, der vom Netzwerk Cattrachas erstellt wurde, hält verschiedene Erklärungen hochrangiger staatlicher Behörden der Exekutive und Legislative gegen die Rechte der LGBTIQ*-Community fest, die auf religiöser Moral basieren.

Zu den juristischen Empfehlungen internationaler Organisationen, die vom Staat Honduras ignoriert wurden, gehören unter anderen die Streichung jeglicher Normen aus dem Rechtssystem, die eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung oder der Geschlechts-*identität darstellen, sowie das Verbot der Diskriminierung im öffentlichen und privaten Bereich. Für Nahíl Zerón vom Netzwerk Cattrachas ist das Vorgehen des honduranischen Staates widersprüchlich, da er sich nicht an die eigens unterzeichneten Empfehlungen und Abkommen hält, während die betroffenen Menschen noch leben, wohl aber, wenn sie getötet wurden. „Es ist überaus paradox, dass sie zwar unseren Tod anerkennen, aber nicht unsere Orientierungen und Identitäten, wenn wir noch am Leben sind. Damit bezieht sich Zerón auf die Tatsache, dass es in der Abteilung für gewaltsame Tode bei der Staatsanwaltschaft eine Einheit für Tode von Personen sozial schwacher Gruppen gibt. „Diese Einheit arbeitet nicht mit einem differenzierten Ansatz, sodass das Unverständnis zu sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität die Arbeit offensichtlich ineffizient macht. Auch die Rücknahme des Hassverbrechens als erschwerender Faktor im Strafgesetzbuch war für uns ein wenig beunruhigend, weil man beispielsweise den Mord, der aufgrund von Hass gegenüber einer LGBTIQ*-Person verübt wurde, nun nicht mehr damit begründen kann“, führt Zerón weiter aus. Der ambivalente Diskurs des Staates durch die Unterzeichnung und Ratifizierung internationaler Abkommen zu Menschenrechtsfragen einerseits und die legislative Realität im Land andererseits sind per se schon ein Gewaltakt gegenüber vieler LGBTIQ*-Personen.

Nahomy Otero träumt davon, zusammen mit anderen compañeras, die nach Spanien geflohen sind, ein Haus der Zuflucht zu eröffnen, um anderen Menschen zu helfen, die sich in ihrem Land nicht frei entfalten dürfen. Vorerst hofft sie, dass ihre Freundinnen Marlene und Cristina Honduras verlassen können, um an einen sicheren Ort zu gelangen.

 


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GEMEINSAM GEGEN TRANSFEINDLICHKEIT

Wir sind erschöpft, aber wir kämpfen weiter Plakat zum internationalen Frauentag am 8. März

Illustration: Denise Silva, @ise_camaleoa

Der aktuellste Bericht der Nationalen Vereinigung von Travestis und Transsexuellen (ANTRA), der am 31. August 2020 veröffentlicht wurde, zählt in den ersten acht Monaten des Jahres insgesamt 129 Morde an trans Personen. Dies entspricht einem Anstieg der Mordfälle um 70 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, also in der Zeit, in der die rechtsextreme Partei von Jair Bolsonaro die Präsidentschaft des Landes übernahm. Die Mordopfer waren alle trans Frauen oder Travestis (Travesti ist ein Eigenbegriff, der eine lateinamerikanische politische Identität von transfem transgender Personen beschreibt. Zur ausführlicheren Besprechung dieses Begriffs siehe LN 525, Anm. d. Red.).

In den letzten Jahren gab es grundlegende rechtliche Fortschritte in Brasilien, wie den Beschluss des Bundesgerichts vom 1. März 2018. Darin wurde das Recht von transgender Personen auf eine selbstbestimmte Berichtigung ihres Namens und Geschlechts, ohne eine vorherige Beurteilung durch medizinisches Personal oder eine Operation, anerkannt. Dennoch ist die trans Comunity in Brasilien weiterhin von starker struktureller Transfeindlichkeit betroffen. Trans Personen erfahren besonders beim Zugang zu grundlegenden sozialen Sicherungssystemen wie Bildung und Gesundheit oder dem Zugang zum Arbeitsmarkt, eine starke Diskriminierung. Als Folge dessen finden die meisten nur informalisierte Beschäftigungen, insbesondere im Bereich der Sexarbeit, und sind Ziel von Beleidigungen, Drohungen, Gewalttaten und Morden. Das Verhältnis der brasilianischen Gesellschaft zu trans Frauen und Travestis, überhaupt zu Personen, die sich nicht in die binäre Geschlechterordnung einordnen lassen, setzt sich aus einer Mischung von fetischisierender Faszination und Abneigung zusammen. Das spiegelt sich unter anderem im Markt für Pornographie wider, in dem Pornos mit trans Körpern einen großen Stellenwert einnehmen. Auch die öffentlichen Medien tragen ihren Teil zur Stereotypisierung von trans Personen bei, indem sie durch die Darstellung in der Presse oder auch in fiktiven Werken trans Personen entmenschlichen, sexualisieren und diskriminierende Geschlechterklischees reproduzieren.

Die NGO TransGender Europe (TGEU), die Daten über die Morde an trans Personen sammelt, stellt eine Verschränkung von Rassismus und Klassismus fest. Die Gewalt gegen Menschen aus von Rassismus betroffenen Gruppen und den unteren sozioökonomischen Klassen wird somit verstärkt. TGEU zeigt auf, dass Brasilien seit 2008 die Liste der Länder mit der höchsten absoluten Anzahl von Morden an trans Personen anführt. Zwischen Oktober 2018 und September 2019 wurden von weltweit insgesamt 331 Mordfällen 130 allein in Brasilien registriert. Bei 61 Prozent der Ermordeten handelte es sich um Sexarbeiter*innen.

Gemäß des Artikels II der Konvention der Vereinten Nationen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords kann die Ermordung von trans Personen angesichts der Zahl der Fälle sowie der historisch und kulturell verankerten Diskriminierung als Völkermord definiert werden. Da die Mehrheit der Opfer dieses trans Genozids in Brasilien Frauen und Travestis sind, wird auch von Transfeminiziden gesprochen. Dahinter steckt eine systematische Geschlechtergewalt, die von der gleichen Logik der ehelichen Gewalt wie bei Partner*innen in einer heteronormativen Beziehung durchdrungen ist. Hinzu kommt, dass den Betroffenen in nicht funktionierenden sozialen Unterstützungseinrichtungen wenig Glaubwürdigkeit zugesprochen wird. Für Transfeminizide ist der Staat durch Vernachlässigung oder stillschweigende Duldung mit verantwortlich. Ein Beispiel hierfür war die Ermordung von Dandara Kettley am 15. Februar 2017 in der nordöstlichen Stadt Fortaleza. Kettley wurde am helllichten Tag auf offener Straße von einer Gruppe Männer zusammengeschlagen, gesteinigt und zweimal in den Kopf geschossen. Dabei gab es mehrere Zeug*innen. Der Fall wurde international bekannt, da 16 Tage nach ihrer Ermordung zwei Videos des Vorfalls im Internet veröffentlicht wurden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte keine brasilianische Behörde das Ereignis untersucht.

Als Bolsonaro am 1. Januar 2019 als Präsident vereidigt wurde, war Brasilien bereits das Land mit den meisten Transfeminiziden weltweit. Bolsonaros LGBTIQ*-feindlichen Äußerungen haben zusätzliche Menschenrechtsverletzungen hervorgebracht, auch ein Anstieg der Selbstmordrate unter trans Personen war zu verzeichnen. In der ersten Jahreshälfte 2020 gab es 16 Selbstmorde von trans Personen, das ist ein Anstieg von 34 Prozent zum Vorjahr. Am 13. Juni 2019 sprach sich Bolsonaro öffentlich gegen den Beschluss des Bundesgerichts aus, Homo- und Transfeindlichkeit, genauso wie Rassismus als Verbrechen einzustufen. Hintergrund dazu war, dass der Nationalkongress, welcher in dieser Frage hätte gesetzgeberisch tätig werden müssen, seiner Pflicht nicht nachkam. Der Kongress wird derzeit von fundamentalistischen evangelikalen Abgeordneten angeführt, die die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und/oder Geschlechtsidentität als von der Meinungsfreiheit gedeckte Äußerung betrachten.

Der transfeministische Diskurs verbindet die Bewegungen

Das neue Coronavirus erreichte Brasilien inmitten dieser drastischen politischen Konjunktur, die die Vorurteile einer Gesellschaft verstärkt hat, die durch Jahrhunderte des Völkermordes an der indigenen Bevölkerung und der Versklavung von Afrikaner*innen sowie ihren Nachkommen geprägt ist. Die sozialen Auswirkungen der Pandemie verläuft in ähnlichen Dynamiken wie die der HIV-Epidemie. So führte die Covid-19-Pandemie in verschiedenen Teilen der Welt zur Verstärkung der stereotypen homo- und transfeindlichen Diskurse. Besonders in Brasilien, wo religiöse Führer*innen und Meinungsbildner*innen immer noch unwidersprochen ihre Auffassung verteidigen, Aids sei eine Krankheit, die mit sexuellen Beziehungen außerhalb der Cis-Heteronormativität zusammenhänge.

Angesichts der Ermordung von trans Personen in Brasilien setzt die betroffene Bevölkerung ihre Selbstorganisation fort, die ihr seit Jahrhunderten ein Minimum an physischer und psychischer Sicherheit garantiert. Außerdem schloss sie seit der Redemokratisierung des Landes in den 1980er Jahren Bündnisse mit anderen sozialen Bewegungen und einigen fortschrittlichen Regierungen.

Die Popularisierung des transfeministischen Denkens trägt zu einem immer offeneren Dialog zwischen trans Personen und von cisgender Frauen getragenen Bewegungen bei. Mit dem Austausch sollen Wissen und Strategien für eine Garantie des Rechts auf Leben und für die konkrete Einbeziehung von trans Personen in alle Bereiche der Gesellschaft entwickelt werden. Auch soll der abwertende Blick überwunden werden, dem trans Personen gewöhnlich auch von Verbündeten ausgesetzt sind. So sind trans Personen in Brasilien zunehmend kollektiv organisiert und nutzen digitale Ressourcen auf kreative und kraftvolle Weise, um sich der Objektifizierung ihrer Körper und dem Versuch, ihre Gedanken und ihr Begehren auszulöschen, entgegenzusetzen.


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“GLÜCKLICH ZU SEIN IST UNSERE RACHE”

Illustration: Pilar Emitxin, @emitxin

Sie haben kürzlich zusammen mit anderen queeren Aktivist*innen vor der Generalstaatsanwaltschaft in Mexiko-Stadt demonstriert. Worum ging es?

Kurz vor der Demonstration gab es im Land eine Welle an Hassverbrechen, die sich vor allem gegen trans Frauen gerichtet hat, die als Aktivistinnen für die Anliegen der trans Community kämpfen. Besonders der Mord an der trans Aktivistin Mireya Rodríguez Lemus aus Chihuahua hat die gesamte Community mobilisiert. Wir haben demonstriert, weil die Hassverbrechen weder auf Ebene der Bundesstaaten noch auf nationaler Ebene aufgeklärt werden. Mit den Protesten haben wir erreicht, dass wir mit den Verantwortlichen der Generalstaatsanwaltschaft und des Innenministeriums in Dialog treten konnten, um eine Vereinbarung zu treffen. Leider werden wir nur gehört, wenn wir zu extremen Mitteln greifen. Im Januar habe ich zum Beispiel eine der Hauptstraßen Mexiko-Stadts blockiert, indem ich mich auf symbolische Weise in einem Sarg auf die Straße gelegt habe.

Was fordern Sie von den zuständigen Behörden?
Viele der verantwortlichen Amtsinhaber kennen die Fälle nicht. Deshalb geht es darum, diese sichtbar zu machen. Wir fordern, dass der Haftbefehl im Fall des Transfeminizids von Paola Buenrostro ausgeführt und die Empfehlung der Menschenrechtskommission von Mexiko-Stadt von der Generalstaatsanwaltschaft der Stadt umgesetzt wird (in der Empfehlung wird das Fehlen einer geschlechtsspezifischen Perspektive in den Ermittlungen des mutmaßlichen Transfeminizids von Paola Buenrostro kritisiert und unter anderem empfohlen, Richtlinien für die Aufklärung und Strafverfolgung von Fällen, die Personen der LGBTTTIQA-Community betreffen, zu entwickeln, Anm. d. Red., siehe Kasten). Bis jetzt wurde keinem der Punkte der Empfehlung gefolgt. Neben dem Fall von Paola vertrete ich sechs weitere Fälle von Transfeminiziden in Mexiko-Stadt. Diese Fälle werden einfach liegen gelassen, weil es um die LGBTTT-Community geht.

Wenn du die Regierung fragst, wie viele Hassverbrechen begangen werden, antworten sie dir: Gar keine! Und warum keine? Weil die Fälle von trans Frauen als Morde geführt werden und die von anderen queeren Frauen als Feminizide. Aus diesem Grund möchten wir, dass eine landesweite Beobachtungsstelle eingerichtet wird, die erfasst, wie viele Hassverbrechen gegen die LGBTTT-Community begangen werden und wer am meisten betroffen ist. Ausgehend von diesen Daten können wir sowohl Maßnahmen zur Intervention gegen Diskriminierung entwickeln als auch solche, die trans Frauen, die sich in einer besonders verwundbaren Position befinden, empowern.

Die Menschenrechtskommission empfahl im Zuge des Falls Paola Buenrostro, Morde an trans Frauen als Transfeminizide zu untersuchen. Sie sprechen auch von Hassverbrechen gegen die LGBTTT-Community. Was halten Sie als juristische Kategorie zur Strafverfolgung sinnvoll?
Zuerst haben wir angestrebt, dass Transfeminizide auch als solche klassifiziert werden, aber wir haben diesen Begriff als juristische Kategorie überdacht, da es schon Widerstände gegen die Umsetzung der Kategorie des Feminizids gibt. Was hier zum Tragen kommt, ist der Machismus. Es gibt Vorgaben, wie derartige Verbrechen untersucht werden sollen, nichtsdestotrotz werden Fälle von Feminiziden nicht aus einer geschlechtsspezifischen Perspektive heraus untersucht. Solange die Verantwortlichen nicht ausgebildet werden, um eine inklusive und menschenrechts­orientierte Perspektive einzunehmen, wird sich dieses System nicht ändern. Deshalb verfolgen wir jetzt das Ziel, dass Transfeminizide als Feminizide mit dem Strafverschärfungsgrund der geschlechtlichen Identität oder des geschlechtlichen Ausdrucks untersucht werden. Das ist ein weniger radikaler Eingriff in das System und da der Straftatbestand Feminizid schon existiert, ist es effizienter.

Welche Rolle spielt Diskriminierung durch Polizei und Justiz in der Strafverfolgung von Transfeminiziden?
Staatlichen Funktionäre missbrauchen ihre Macht und lassen dich auf allen Ebenen ihre Überlegenheit spüren. Die Gewalt funktioniert hauptsächlich über Kriminalisierung. Allein aufgrund der Tatsache, dass du eine trans Frau bist, kriminalisieren sie dich, indem sie behaupten, dass du eine Diebin, eine Drogensüchtige, eine Hure wärst. Diese Sichtweisen führen dazu, dass die Rechte der trans Community durch die Institutionen der Justiz nicht gewährleistet werden. Das deutlichste Beispiel hierfür ist der Fall von Paola Buenrostro. Der Täter wurde am Tatort mit der Tatwaffe in der Hand von der Polizei festgenommen und ich habe gesagt, dass ich Zeugin des Vorfalls war. Als ich meine offizielle Aussage machen wollte, wurde ich behandelt, als wäre ich ein Mann und als Zeugin nicht anerkannt. Der Richter bat mich, den Saal zu verlassen, um diesen nicht zu verschmutzen. Mir wurde gesagt, dass niemand auf mich hören würde, weil ich eine Hure sei. Solche Sachen haben dazu geführt, dass der Prozess verloren wurde. Am Ende der Anhörung beschlossen sie, den Täter frei zu lassen. Das zeigt, wie Staatsbeamte, die sich um die Menschenrechte kümmern sollten, diskriminieren.

Das ist unglaublich. Was sollte der Staat tun, um diese Form von Diskriminierung und Transfeminizide überhaupt zu verhindern?
Das ist verdammt schwierig. Ich denke, dass es wichtig ist, Prävention durch Bildungs- und Sensibilisierungsprogramme zu leisten, um Trans-, Homo- und Lesbenfeindlichkeit in der Gesellschaft vorzubeugen. Damit es in der Folge auch weniger Transfeminizide gibt. So wie Kinder in der Grundschule lernen, dass zwei plus zwei vier ergibt, sollten sie auch lernen, dass es eine Diversität an Geschlechtern sowie unterschiedliche Formen gibt, ein bestimmtes Geschlecht auszudrücken. Sie sollten lernen, dass Bisexuelle, Homosexuelle und Transsexuelle Menschen sind und dass wir die Rechte von allen Menschen schützen sollten. Bei Erwachsenen ist es sehr schwierig, ihre Denkweisen zu verändern, aber wir müssen auch langfristig denken. Die Kinder werden diejenigen sein, die in der Zukunft in der Regierung, der Justiz und in den Behörden sitzen. Deshalb sollten sie schon mit einer geschlechtersensiblen Perspektive aufwachsen.

Wie organisiert sich die Community selbst, um trans Personen zu empowern?
Ich leite zum Beispiel eine Herberge, in der wir trans Frauen, die auf der Straße leben, Drogen nehmen, HIV haben, als Sexarbeiterinnen arbeiten oder Migrantinnen sind, eine umfassende Unterstützung anbieten. Das Ziel ist, dass die Frauen durch Bildungsmöglichkeiten und psychologische Begleitung wieder ein selbstbestimmtes Leben führen können. Es gibt eine Schule und Workshops, in denen es zum Beispiel um ökonomische Unabhängigkeit geht oder die darauf abzielen, berufliche Perspektiven außerhalb der Sexarbeit zu entwickeln. Ich möchte damit nicht sagen, dass Sexarbeit keine ehrbare Arbeit ist, aber es ist eine sehr riskante Arbeit für uns. Uns geht es darum, dass die Frauen die Möglichkeit haben, selbst zu entscheiden, was sie in ihrem Leben machen möchten und wie sie ihre Lebensqualität verbessern können. All das bauen wir gemeinsam mit den Frauen auf. Die Regierung hat sich nicht um diese Notwendigkeit gekümmert. Sie hat uns zwar ein Gebäude zur Verfügung gestellt, aber das war komplett leer und wir leben von Spenden.

Gibt es in der trans Community angesichts der strukturellen Gewalt, die trans Personen erfahren, konkrete Strategien der Self-Care oder Strategien, um sich gegenseitig zu unterstützen?
Richtige Strategien gibt es nicht. In den Kleingruppen des täglichen Zusammenlebens werden Umgangsweisen entwickelt, wie Whatsapp-Gruppen, wo wir uns gegenseitig Bescheid geben, wo wir gerade sind, in welches Auto wir steigen. Aber das passiert nur auf einer sehr oberflächlichen Ebene. Tatsächlich brauchen wir Strategien. Von Seiten des Vereins Casa de las Muñecas Tiresias möchten wir gern Empowerment-Trainings durchführen, damit auch die Jüngsten wissen, wie sie sich schützen und wie sie mit einer gewalttätigen Person umgehen können. Das heißt, Wege zu suchen, die ihnen mehr Sicherheit geben in ihrem Leben. Auch die Casa Hogar Paola Buenrostro ist ein Raum, in dem wir Netzwerke der gegenseitigen Unterstützung aufbauen. In der Herberge sind wir eine Familie. Ich möchte, dass im Interview steht, dass unsere größte Rache ist, dass wir glücklich sein werden.


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SICHTBAR, ENGAGIERT UND HARTNÄCKIG

Wettbewerb Miss America Continental in Tegucigalpa, Honduras // Fotos: Markus Dorfmüller

Die Regenbogenfahne ist natürlich dabei, wenn es am 17. Mai wieder auf die Straße geht. Sie hängt im Aufenthaltsraum von Arcoíris (Regenbogen) an der Wand. Im Zentrum von Tegucigalpa, nur ein paar Steinwürfe vom Busbahnhof, hat die 2003 gegründete LGBTI*-Organisation ihr Büro, zu dem auch Aufenthaltsräume gehören. Hier trifft sich die queere Szene der honduranischen Hauptstadt, organisiert Kampagnen, tritt für die eigenen Rechte ein und feiert hin und wieder auch Partys. „Bei unserem ersten Marsch gegen die Homophobie und für die Rechte unserer queeren Community waren wir gerade zwanzig, im letzten Mai immerhin rund tausend Personen“, erinnert sich Donny Reyes.
Der stämmige Mann Ende 40 ist Gründungsmitglied und Koordinator von Arcoíris, einer Organisation, die sich für die Menschenrechte der queeren Gemeinde engagiert. Um die ist es mies bestellt, denn Honduras gehört weltweit zu den gefährlichsten Ländern für LBGTI*-Aktivist*innen. 38 Morde wurden von den LGBTI*-Organisationen des Landes im Laufe des letzten Jahres registriert – ein Mord weniger als 2017. Alle anderen Angriffe summieren sich zu Hunderten. „Am sichtbarsten und am verwundbarsten sind trans Frauen“, so Donny Reyes. Die organisieren sich bei Arcoíris als Muñecas de Arcoíris, auf deutsch übersetzt Regenbogenpüppchen. Ein sarkastischer Titel, den die Frauen bewusst gewählt haben. Jeden Dienstag treffen sie sich im Büro in der dritten Avenida des Concepción, einem Handwerkerviertel am Rande des Zentralmarkts von Tegucigalpa. „Nur ein paar Blocks entfernt, rund um den Parque El Obelisco, befindet sich der trans Strich von Tegucigalpa“, so Donny Reyes. Viele der trans Frauen, die dort ihren Lebensunterhalt verdienen, haben keine Ahnung von ihren Rechten und das versuchen Reyes und seine Kolleg*innen zu ändern – mit Workshops, aufklärender Informationsarbeit und Beratung in den Räumen der Nichtregierungs­organisation.

Mit einem Musterprozess soll die Straflosigkeit beendet werden


Die beiden trans Frauen Bessy Ferrera und Paola Flores leiten und koordinieren die Arbeit der Muñecas de Arcoíris und haben selbst einschlägige Erfahrungen mit Diskriminierungen gemacht. Bessy Ferrera fährt sich mit dem Daumen über die Kehle. Dann deutet sie auf die wulstige rund fünfzehn Zentimeter lange Narbe unterhalb ihres Schlüsselbeins. „Ein Freier wollte nach dem Sex nicht zahlen und hat mir von hinten versucht die Kehle durchzuschneiden“, sagt die Frau von Mitte dreißig. „Nur weil er das Messer zu tief angesetzt hat, sitze ich noch hier“, sagt sie mit einem bitteren, rauen Lachen. Fast verblutet ist sie damals, konnte sich aus dem Hinterhof gerade so auf die Straße schleppen, wo jemand einen Krankenwagen rief. Die mit groben Stichen genähte Narbe erinnert sie bei jedem Blick in den Spiegel an den Angriff vor ein paar Jahren. In einem der Hinterhöfe rund um den „Parque El Obelisco“ im Zentrum von Tegucigalpa fand er statt, nur ein paar Steinwürfe von den Markthallen entfernt. Handwerksbetriebe und mobile Verkaufsstände dominieren das Ambiente tagsüber, nachts dreht sich alles um Sex. Trans- und Homosexuelle gehen mitten in der honduranischen Hauptstadt der Sexarbeit nach. Bessy Ferrera ist eine von ihnen. „In Honduras hat man als trans Frau keine Chance auf einen regulären Job. Was bleibt ist für viele von uns nur die Prostitution“, meint sie und streicht sich eine rotblondgefärbte Strähne aus der Stirn. Abfinden will sich Bessy Ferrera mit der alltäglichen Diskriminierung und Verfolgung aber nicht und deshalb engagiert sie sich bei Arcoíris.

Bessy Ferrera…
und Paola Flores leiten die Arbeit von Muñecas de Arcoíris

„Ein großes Problem ist, dass kaum jemand von uns genau weiß, was für Rechte wir eigentlich haben. Worüber frau nichts weiß, kann sie auch nicht verteidigen“, erklärt Bessy Ferrera mit einem koketten Grinsen. Daran will sie etwas ändern und ist deshalb bei Arcoíris eingestiegen . Erst als Freiwillige, mittlerweile als Stellvertreterin von Paola Flores. Die schmale trans Frau ist das Gesicht der Muñecas de Arcoíris. Vor ein paar Jahren hat sie angefangen rund um den „Parque El Obelisco“ trans Frauen anzusprechen, sie über ihre Rechte im Umgang mit Freiern, aber auch der Polizei aufzuklären. Die eigenen Rechte sind zentrales Thema bei den wöchentlichen Treffen, aber auch die Probleme, denen sich Trans- Bi-, Homosexuelle und die restliche Queer-Szene in Honduras gegenübersieht.

„Wir werden ausgegrenzt, diskriminiert, gedemütigt, vergewaltigt und ermordet“, zählt Paola mit leiser Stimme auf. „Honduras ist eine christlich verbrämte Macho-Gesellschaft in der Rechte der Anderen nicht geachtet werden“, schildert sie das Grundproblem. Hinzu kommt ein nicht funktionierendes Justizsystem. Straftaten gegen LGBTI*-Personen werden nicht geahndet, das monierte auch die Menschenrechtskommission der OAS (Organisation für Amerikanischer Staaten) bei ihrer letzten Visite im August 2018. Laut der Kommission habe es in den letzten fünf Jahren 177 Morde gegeben, von denen kaum einer aufgeklärt worden sei.
Das hat viele Gründe. Einer ist aber laut Paola Flores, dass bei den Verbrechen aus Hass nicht richtig ermittelt werde. „Das beginnt bei der Spurensicherung und endet im Gerichtssaal – wenn es denn überhaupt so weit kommt“, klagt Flores. Wie ein Musterprozess laufen sollte, worauf bei der Spurensicherung, bei der Gerichtsmedizin, aber auch bei der Zeug*innen­vernehmung und im Gerichtssaal geachtet werden muss, wollen die Muñecas anhand eines realen Falles aufzeigen. „Eines Kapitaldeliktes wie Vergewaltigung oder Mord“, so Flores, die derzeit mit Jurist*innen, Ermittler*innen und Gerichts­mediziner*innen im Gespräch ist, um das beispielgebende Tribunal vorzubereiten. Demnächst soll es in Tegucigalpa stattfinden, gefilmt und ins Netz gestellt werden, um so etwas wie einen Leitfaden für den Umgang mit Verbrechen gegen LGBTI*-Personen zu liefern. „Das ist überfällig und positiv ist, dass wir die Zusage über die Finanzierung aus einem EU-Justizfonds haben“, erklärt Flores. Weniger positiv ist allerdings, dass das Geld immer noch nicht eingegangen ist und die Vorbereitungen zum symbolischen Gerichtsprozess deshalb auf Sparflamme laufen. Nichts Neues für die Aktivist*innen von Arcoíris, die nur punktuell Spenden aus dem Ausland erhalten und bei ihren Bemühungen Vorurteile aufzubrechen oft auf sich allein gestellt sind. Journalist*innen, die Fotos rund um den „Parque El Obelisco“ machen, und sich nicht nur privat, sondern auch öffentlich über sie lustig machen, sind, so Bessy Ferrera, alles andere als selten. Oft werden Homo- genauso wie Bi- und Transsexuelle von ihren Familien verstoßen, ergänzt Paola Flores und reibt sich die narbige Wange. Sie hat seit ein paar Jahren die Unterstützung ihrer Familie, während ihre Kollegin Bessy Ferrera Waise ist und nach ihrem Outing von den Pflegeltern vor die Tür gesetzt wurde. So landete sie in der Prostitution und für sie ist Arcoíris so etwas wie ein zweites Zuhause.

Eine der schönsten Drag-Queens des Landes auf dem Laufsteg

Vor allem ihrer Mutter hat es hingegen Paola Flores zu verdanken, dass der Kontakt zur eigenen Familie nicht abriss, obwohl mehrere Familienangehörige evangelikalen Kirchen sowie der katholischen Kirche angehören. Die verteidigen die Heterosexualität als das Non plus Ultra und machen gemeinsam mobil gegen alle Anläufe die gleichgeschlechtliche Ehe in Honduras auf den Weg zu bringen. Folge dieser rigiden Positionierung sind tiefe Gräben, die sich durch viele Familien ziehen. So auch bei den Flores, wo die sexuelle Orientierung des jüngsten Kindes von den Älteren mit Unverständnis und Ablehnung quittiert wurde. „Nur meine Mutter hielt zu mir. Doch das änderte sich mit dem Überfall“. Der ereignete sich im Juni 2009 und Paola Flores hat ihn nur knapp überlebt. „Drei Männer haben mich in meiner eigenen Wohnung, dort wo ich mich sicher fühlte, überfallen. Mich zusammengeschlagen und mit Benzin übergossen und angezündet“, erinnert sich Flores und deutet auf die Transplantate die rechts und links vom Kinn zu sehen sind. Sie hat um ihr Leben gekämpft, sich gewehrt, geschrien und überlebt. Zwei Monate im Koma, neun Monate im Krankenhaus und schließlich ein Jahr im Exil in Mexiko. „Was mir passiert ist, kann auch allen anderen passieren. Dagegen kämpfe ich und deshalb bin ich zurückgekommen“, sagt sie mit fester Stimme und zupft das Halstuch zurück, welches die Narben am Hals verbirgt. Die drei Männer gingen genauso wie der Freier, der Bessy Ferrera umbringen wollte, bisher straffrei aus. Ein häufiges Geschehen in Honduras, wo deutlich über 90 Prozent der Gewaltdelikte gegen LGBTI* nicht geahndet werden. Die Fotos von ermordeten Arcoíris-Aktivist*nnen, die im Treppenhaus neben denjenigen hängen, die sich engagieren, zeugen davon.

Plakat gegen die Diskriminierung von Lesben in Tagucigalpa/Honduras // Foto: Knut Henkel

Die Straflosigkeit soll beendet und der Musterprozess der Muñecas de Arcoíris soll dazu beitragen. „Wir wollen einen Leitfaden publizieren, den Prozess mit der Kamera dokumentieren und zumindest Teile davon auf YouTube oder Facebook posten. Die Justiz darf nicht mehr weggucken“, fordern die beiden Frauen mit ernster Mine.
Dafür engagiert sich auch Donny Reyes, der im Rat der Menschenrechtsorganisationen mitarbeitet, den Kontakt zu Botschaften und Nichtregierungsorganisationen hält und die Events der LGBTI*-Szene vorbereitet. Nicht nur den für den 17. Mai anstehenden bunten Marsch durch die Hauptstadt von Honduras, sondern auch die Parties wie den alljährlich im Februar stattfinden Wettbewerb zur „Königin meiner Heimat“ (La Reina de mis Tierras). Dort laufen dann die schönsten Drag-Queens aus dem Land über den Laufsteg und werden prämiert. „Das ist Party und Polit-Event in einem, denn die Drag-Queens sind auch Botschafter*innen der Szene, engagieren sich für die Menschenrechte und haben eine Aufgabe.“
Doch nun steht als nächstes erst einmal die 17. Mai-Parade im Kalender. Ziel ist es mehr als die 1000 Menschen vom letzten Jahr auf die Straße zu bringen – in einem Ambiente, das alles andere als einfach ist.

 


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