Botschaft am Grenzzaun von Tijuana „Kein Hindernis kann uns daran hindern, unsere Träume zu erreichen; wir sind Mexikaner und nicht aufzuhalten“ (Foto: Wolf-Dieter Vogel)
Während des mexikanischen Herbstes der Migration vergangenen Jahres standen nicht etwa die Gewalt der organisierten Kriminalität, nicht die von extraktivistischen Projekten ausgelösten Vertreibungen, nicht die von einer strukturellen Armut gebeutelte Bevölkerung im Fokus der Öffentlichkeit. Stattdessen hat der zur Angst konvertierte Rassismus und die mediale und politische Scharfmacherei in den USA die Debatte bestimmt. Weil sich in sogenannten Karawanen von Migrant*innen (Caravanes Migrantes) tausende Menschen aus Zentralamerika gemeinsam auf den Weg gen Norden machten, gab sich der US-amerikanische Präsident Trump aggressiv, drohte und schickte das Militär an die Südgrenze des Landes. Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen teilte mit, dass am 19. und 20. Oktober vergangenen Jahres 7.233 Personen aus Guatemala, Honduras und El Salvador registriert wurden, die nach der mexikanischen Grenzbrücke Rodolfo Robles über den Fluss Suchiate eine Regierungsstelle für die Erstversorgung von Migrant*innen aufsuchten. Ein Großteil von ihnen begab sich anschließend auf den Weg durch Mexiko. Es fehlten noch immer tausend Kilometer zur US-Grenze. Trump kündigte an, 5.200 weitere Soldaten an die Grenze zu schicken – zusätzlich zu den bereits stationierten 2.092. Die Größe der ersten, von den Medien so breit rezipierten Karawane ließ sich zu diesem Zeitpunkt auf ungefähr 3.500 Menschen schätzen. Darunter 2.300 Kinder.
Fast zeitgleich kam eine zweite Karawane an die guatemaltekisch-mexikanische Grenze, knapp 2.000 Menschen aus Honduras. Auch aus El Salvador hatten sich mindestens 200 Personen auf den Weg Richtung Mexiko gemacht. Der offizielle Grenzübergang bei Tecún Umán wurde, wie zu erwarten war, auf mexikanischer Seite gesperrt . Die Bundespolizei schoss, obwohl sie es verneinte, mit Gummigeschossen auf die Verzweifelten. Henry Adalid Días Reyes wurde unterhalb des rechten Auges getroffen und starb.
Zwischen Guatemala und Mexiko verläuft der Grenzfluss Suchiate. Viele Migrant*innen versuchen immer wieder den Weg über den Fluss. Was dann passierte ist nur schwer an Maßnahmen der Verachtung für diese Menschen zu übertrumpfen. Die mexikanische Bundespolizei entsandte einen Helikopter, der mit den Rotorblättern die Menschen am Durchschwimmen hinderte. Kaltblütig wurde in Kauf genommen, dass hierbei Menschen, darunter viele Kinder, hätten ertrinken können.
Administrativer Irrsinn
Fast 2.500 Kilometer nördlich, an der Grenze zu den USA, wurde die mexikanische Polizei am Grenzübergang von Tijuana von den Migrant*innen der ersten Karawane ausgetrickst. Sie sprangen über Mauern und durchliefen einen Kanal, abseits des normalen Grenzübergangs. Auf ihren Versuch, die Grenze illegal zu überqueren, wurde mit Gummigeschossen und Tränengas seitens der US-Border Patrol geantwortet. Trump sagte zwei Wochen zuvor, während einer Pressekonferenz: „Wenn sie Steine auf uns werfen, wird unser Militär zurückschlagen. Wir werden die Steine als Waffe betrachten.“ Er zeigte damit, dass auf den rhetorischen Wahnsinn auch menschenfeindliche Akte folgen.
Mexikanische Behörden behaupteten zwar, es gäbe keine Verletzten, was allerdings die USA-Korrespondentin für TeleSur, Alina Duarte, auf ihrer Facebook-Seite dementierte: „Babies und Kinder, die wegen des Tränengases weinten. Frauen, die von den Gummigeschossen verletzt wurden. Mexikanische Bundespolizisten, die auf die Migrant*innen einschlugen. Vor allem aber sah ich Leute, die, wissend dass sie sterben könnten, weiterhin die Grenze zu überqueren versuchten.” Wenn die Not und die Verzweiflung der Antrieb sind, dann schreckt auch die militärisch stärkste Nation der Welt nicht ab.
Während sich die Augen der Welt damals auf die US-mexikanische Grenze konzentrierten, war mit Blick auf die mexikanische Südgrenze ersichtlich, dass sich dort auch zukünftig die Kristallisationspunkte einer verschobenen US-Grenzpolitik und dem Exodus aus Mittelamerika etablieren würden. Denn der Exodus würde weitergehen. Das verdeutlichten schon damals nicht nur die zwei, drei, vier Karawanen, die inzwischen kleiner wurden. Vielmehr zeigt es sich an der Menge der Menschen, die bisher medial und politisch meist unbemerkt fliehen. Von Januar bis September 2018 haben mexikanische Behörden 41.759 Menschen aus Honduras aufgegriffen; zusätzlich zu 9.503 aus El Salvador und 36.708 aus Guatemala. Abgeschoben wurden über 78.000. Und es ist noch lange nicht vorbei. Das ist auch der US-Regierung bewusst. Folglich vollzog sie einen schärferen Kurs in ihrem Migrationsregime und handelte mit Guatemala im Juli, El Salvador Mitte September und Honduras Ende September dieses Jahres Abkommen über eine sogenannte sichere Drittstaaten-Regelung aus. In allen drei Ländern wird zur Zeit heftige Kritik an der neuen Regierungsvereinbarung geübt, die zwar zwischen den Ländern bereits vertraglich festgehalten worden ist, von den gesetzgebenden Instanzen aber noch angenommen werden muss.
Das Konzept des sicheren Drittstaates sagt aus, dass, wenn eine Person ihr Heimatland verlässt, um in einem anderen Land Asyl zu beantragen, sich dieses zweite Land dem widersetzen und die Person stattdessen an einen dritten Staat weiter leiten kann, der als sicher verstanden wird. Zur Folge haben könnte dies, dass eine Honduranerin, die in den USA einen Asylantrag stellen will, an Guatemala oder El Salvador verwiesen wird, die als „sicher“ gelten. An sich grenzt die Regelung an einen administrativen Irrsinn, da aus allen drei „sicheren Drittstaaten“ die Menschen zuhauf fliehen. Gleichzeitig sind die Migrationspolitiken der letzten Jahrzehnte keineswegs dafür bekannt, zugunsten der fliehenden Menschen erarbeitet worden zu sein, sondern um die eigene restriktive Immigrationspolitik zu verschärfen. Nicht verwunderlich also, dass sich Donald Trump nun mit scheinheiliger Wertschätzung an seinen salvadorianischen Amtskollegen wendet.
Über 10.000 Soldat*innen sichern Mexikos Südgrenze
Diejenigen, die sich von der Regelung nicht abschrecken lassen und sich dennoch auf den Weg machen, treffen an der Grenze zwischen Guatemala und Mexiko seit Juni 2019 auf eine militarisierte Zone. Über 10.000 Soldat*innen hat Präsident Andrés Manuel López Obrador in den Süden seines Landes geschickt – und zollte damit seinem nördlichen Nachbarn Tribut, damit er nicht, wie zuvor angedroht, höhere Zöllen auf mexikanische Produkte erhob.
Sollte es dennoch Mittelamerikaner*innen geben, die all die tödlichen Strapazen der Reise überwinden und vor den Toren der USA stehen, dann warten an der über 3000 km langen Grenze, laut Trump, an die 27.000 Militärs, die López Obrador geschickt habe. Nicht umsonst frohlockte Scharfmacher Trump Ende Oktober und gab vor einigen Journalist*innen bekannt, was allen klar war: „Ich benutze Mexiko, um unsere Grenze zu sichern.“ Nebst der militärischen Drohung wartet seit Jahresanfang auch eine neue administrative Hürde auf die Schutzsuchenden. Die Verordnung (Migrant Protection Protocol) dient dazu, dass Personen, die aus Mexiko in die USA einreisen wollen und über keine ausreichenden Dokumente verfügen, in Mexiko auf die Bearbeitung ihres Antrags warten müssen. Der Theorie nach, so das US-Department for Homeland-Security, „wird Mexiko ihnen einen angemessenen humanitären Schutz während ihres Wartens gewähren.“ Diese Zusicherung sind die elektronischen Bytes nicht wert, mit denen sie auf der Internetseite zu lesen sind, bedenkt man die Gewalt- und vor allem Mordrate in den zwei mexikanischen Grenzstädten Tijuana und Ciudad Juárez.
Der Ausbau des Migrationsregimes zahlt sich für die Trumpsche Politik aus. Verhaftete der US-Grenzschutz noch 144.000 Menschen im Mai, waren es 82.000 im Juli und später im August nur noch 64.000, erklärte das Weiße Haus im September dieses Jahres. Dies geht zeitgleich einher mit einer höheren Zahl der Abschiebungen auf mexikanischer Seite. Bereits im Juli 2017 lag die Zahl der Abschiebungen an der Südgrenze Mexikos bei 700 pro Tag.
Wirkte in den vergangenen Jahren das Land Mexiko wie eine Mauer, aufgrund der Gefahren, denen sich die Migrant*innen zu stellen hatten, hat es sich unter dem vermeintlich linken Präsidenten López Obrador in den erweiterten US-Grenzschutz verwandelt.