EINE ANDERE SICHT

In den meisten Staaten Lateinamerikas wird die westliche Position zum Ukraine-Krieg nicht geteilt. Auch die These von der russischen Alleinschuld wird oftmals zurückgewiesen. So erklärte etwa Luiz Inácio Lula da Silva noch als Präsidentschaftskandidat, der ukrainische Staatschef Wolodimir Selensky sei „für den Krieg genauso verantwortlich wie Putin“ – eine Formulierung, die ihm zumindest im Westen viel Kritik einbrachte. Insbesondere die Sanktionen gegen Moskau werden in vielen Ländern Lateinamerikas abgelehnt. Im Januar erklärte Lula, diese bestraften nicht den russischen Präsidenten Wladimir Putin, sondern „viele verschiedene Länder, sie bestrafen die Menschheit.“ Auch dem Ruf, der Ukraine Waffen zur Verfügung zu stellen, verweigern sich die lateinamerikanischen Staaten. So erklärte der argentinische Präsident Alberto Fernández anlässlich des Besuchs von Scholz in Buenos Aires Ende Januar: „Argentinien und Lateinamerika denken nicht daran, Waffen an die Ukraine oder in einen anderen Konfliktherd zu liefern“. Auch Lula erteilte der Bitte von Scholz, Brasilien möge Kiew Munition für den Gepard-Flugabwehrpanzer liefern, eine Absage. Zuletzt fasste die kolumbianische Vizepräsidentin Francia Márquez die Stimmung auf der Münchner Sicherheitskonferenz mit den Worten zusammen: „Sicherheitsfragen lassen sich nicht mit Waffengewalt lösen.“

Zwar tobt der Ukraine-Krieg weit entfernt von Lateinamerika. Trotzdem sind seine Folgen auch dort stark spürbar. So bezogen etwa Brasilien, Argentinien und Mexiko vor Beginn des Krieges einen Großteil ihrer benötigten Düngemittel aus Russland, der Ukraine und Belarus. Der Zugang zu diesen ist nun infolge des Krieges sowie wegen der westlichen Sanktionen versperrt. Dadurch sind Grundnahrungsmittel in Lateinamerika deutlich teurer geworden, was bereits zuvor bestehende Versorgungskrisen weiter verschärft. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Nachfrage nach lateinamerikanischem Erdöl, Erdgas und Nahrungsmitteln im Westen gestiegen ist, was Geld in die klammen Kassen spült. Gerade die regionalen Schwergewichte Brasilien und Argentinien bemühen sich trotz des Krieges in der Ukraine um den Ausbau ihrer Wirtschaftsbeziehungen zu Moskau. Wichtig dafür ist unter anderem das BRICS-Bündnis, das Ende der 2000er Jahre von Russland, China, Indien und Brasilien ins Leben gerufen wurde und zu dem seit 2011 auch Südafrika gehört. Teil des Verbands der sogenannten Schwellenländer sind die New Development Bank als Gegengewicht zur Weltbank, ein eigenes Zahlungssystem als Entsprechung zur SWIFT und ein Währungsreservekorb. Trotzdem ist die wirtschaftliche Macht der Vereinigten Staaten in Lateinamerika weiter groß. So wurden nach Angaben der US-Notenbank FED zwischen 1999 und 2019 96 Prozent aller lateinamerikanischen Handelstransaktionen in US-Dollar abgewickelt.

Für Russland spielt die Region als Wirtschaftspartner eine wichtige Rolle

Es ist wahrscheinlich, dass das BRICS-Bündnis in naher Zukunft neue Mitgliedstaaten aufnehmen wird. Unter anderem rechnet sich Argentinien dabei gute Chancen aus. Der argentinische Botschafter in China, Sabino Vaca Narvaja, erklärte, ein Beitritt zur BRICS sei wichtig, um eine ausgewogenere globale Ordnung zu erreichen und neue Investitions- und Absatzmärkte zu erschließen. Tatsächlich unterhalten viele lateinamerikanische Staaten gute Wirtschaftsbeziehungen zu Peking und Moskau: So investiert die Volksrepublik massiv in die Region, beispielsweise im Rahmen der „Neuen Seidenstraße“ (Belt and Road Initiative). Auch für Russland spielt die Region als Wirtschaftspartner eine wichtige Rolle. Viele lateinamerikanische Staaten setzen darauf, so wirtschaftlich unabhängiger von den USA zu werden, was ihnen auch einen größeren politischen Handlungsspielraum ermöglichen würde. Ein solcher, so die Hoffnung, könnte es ermöglichen, einen eigenen gesellschaftlichen Entwicklungsweg einzuschlagen. Das gilt beispielsweise für Argentinien. Das Land befindet sich seit Jahren an der Leine des von Washington dominierten Internationalen Währungsfonds (IWF). Aus diesem engen Korsett möchte Buenos Aires lieber früher als später ausbrechen.

Verhindern, dass sich die Reigon zu einem Konfliktraum der Großmächte entwickelt

Die Staaten Lateinamerikas sind schon allein aus wirtschaftlichen Gründen an einem raschen Ende des Ukraine-Krieges interessiert. Nur allein dadurch lässt sich ihre Position allerdings nicht erklären. Auch politisch streben viele Länder der Region, insbesondere der in den vergangenen Monaten gestärkte Block linker Regierungen, eine Emanzipation vom Westen und stellvertretend für diesen von den USA an. Ein Ausdruck dieses Bestrebens ist die Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (CELAC), die auf ihrem Gipfel Ende Januar in Buenos Aires ihr Revival feiern konnte. Sie vereint alle Staaten des amerikanischen Doppelkontinents − außer den USA und Kanada − und steht für die Anstrengungen, eine eigenständige Politik im Rahmen einer multipolaren Welt zu spielen.

Kurz vor dem Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar 2023 stimmten 141 Mitglieder der UN-Generalversammlung für eine Resolution, die Moskau zum Rückzug seiner Streitkräfte auffordert – unter diesen der Großteil der lateinamerikanischen Staaten. Nicaragua stimmte gegen den Antrag, Kuba enthielt sich. Auch wenn westliche Medien darin eine Abkehr vom bisherigen Kurs sehen wollten: Trotz der Zustimmung zur UN-Resolution lehnen die lateinamerikanischen Regierungen Sanktionen gegen Russland weiter ab. Statt solcher setzen sie auf eine Verhandlungslösung des Krieges. So schlug der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador beispielsweise bereits im September des vergangenen Jahres einen fünfjährigen Waffenstillstand in dem osteuropäischen Land vor. Diese Zeit solle für direkte Gespräche zwischen Kiew und Moskau genutzt werden. Lula brachte im Januar Brasilien, China, Indien und Indonesien als Vermittler für Verhandlungen ins Spiel.

Auf Seiten der ukrainischen Regierung stoßen die Friedensinitiativen auf wenig Gegenliebe. Und auch die westlichen Staaten unterstützen die lateinamerikanischen Versuche nicht. Sie setzen stattdessen auf eine dauerhafte Schwächung Russlands: militärisch durch eine Niederlage auf dem Schlachtfeld, wirtschaftlich durch die Sanktionen. Dem Großteil der lateinamerikanischen Staaten geht es hingegen darum, einerseits zu verhindern, dass sich die Region zu einem Konfliktraum der Großmächte entwickelt. Zum anderen erhoffen sie sich eigene Vorteile im Bereich der internationalen Beziehungen – unabhängig von den USA. Denn: Der Ausgang des Ukraine-Krieges als Ausdruck des zugespitzten Machtkampfs zwischen den Machtblöcken USA und Westen, Russland und indirekt auch China wird daher auch Auswirkungen auf die Zukunft der Entwicklung auf dem Subkontinent haben.


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// ES HERRSCHT KRIEG

Viele Menschen werden grausam und skrupellos ermordet, noch mehr Menschen verlieren ihr Zuhause, packen das Notwendigste, um zu fliehen und hoffen darauf, dass ihnen irgendwo Schutz gewährt wird. Familien werden getrennt, Verzweiflung überall. Seit der russische Präsident Wladimir Putin seinen brutalen und völkerrechtswidrigen Angriffskrieg begonnen hat, passiert das nicht einmal zehn Autostunden von Deutschland entfernt in der Ukraine. Wir verurteilen die Aggressionen der russischen Führung und fordern ihre sofortige Beendigung.

Immerhin: Inmitten des Leids gibt es auch viele Bürger*innen, Unternehmen und staatliche Institutionen, die Solidarität zeigen – auch in Deutschland. Züge und Busse werden bereitgestellt, an den Bahnhöfen nehmen vor allem freiwillige Helfer*innen die Geflüchteten in Empfang. Auch wenn vieles chaotisch läuft – die Grundversorgung funktioniert. Ukrainer*innen erhalten vergleichsweise unbürokratisch einen Aufenthaltstitel, Sozialleistungen und eine Arbeitserlaubnis. Für die Betroffenen ein Lichtblick in ihrer schrecklichen Situation. Wir begrüßen es sehr, dass aktuell viel dafür getan wird, den geflüchteten Ukrainer*innen in ihrer Notlage zu helfen.

Wie schön wäre es aber, wenn allen Geflüchteten in einem solchen Maße Solidarität entgegengebracht würde. Auch in Afrika, im Mittleren Osten oder in Lateinamerika herrschen an vielen Orten dauerhaft kriegerische Konflikte. Sie werden meistens nicht als „Krieg” betrachtet, obwohl nationale sowie internationale Regierungen beteiligt sind. Diese Handlungen in der „Peripherie” gehen heute von bewaffneten staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen aus, die die Bevölkerung terrorisieren und den Betroffenen keine Chance lassen, sich wirksam vor ihnen zu schützen. Das individuell und gesellschaftlich verursachte Leid wird dadurch jedoch keineswegs kleiner.

In Mexiko, Kolumbien und Brasilien wurden in den vergangenen Jahren monatlich jeweils mehr als 1.000 Menschen getötet. Dort gelangen deutsche Waffen durch illegale Lieferungen, etwa von Heckler & Koch oder Sig Sauer, immer wieder auch in die Hände derjenigen, die Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen, Journalist*innen und Politiker*innen ermorden. Laut Schätzung des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte entspricht die Anzahl dieser Morde in etwa der Anzahl der nicht an den Kämpfen beteiligten Menschen, die in der Ukraine umgebracht wurden. Dennoch erfahren die Opfer dieser gewaltsamen Auseinandersetzungen unterschiedlich viel Aufmerksamkeit. Konflikte in Lateinamerika und anderswo finden nicht vor unserer Haustüre statt. Und im Unterschied zur Ukraine flüchten in aller Welt nicht vorwiegend weiße Europäer*innen, sondern oft Menschen mit einer anderen Hautfarbe und/oder Religion. Sie haben es unendlich viel schwerer, in der EU aufgenommen zu werden und meist kaum eine Chance auf ein Bleiberecht und eine Arbeitserlaubnis. Diese Ungleichbehandlung ist durch nichts zu legitimieren und verstößt gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, die eine Diskriminierung „aus Gründen der Rasse, der Religion oder des Herkunftslandes” verbietet.

Wir wollen nicht hinnehmen, dass es Geflüchtete „niedrigeren” und „höheren” Ranges gibt. Angesichts dieser Widersprüche in der Flüchtlingspolitik, die durch den russischen Angriffskrieg und seine Konsequenzen erneut deutlich werden, fordern wir, dass alle Menschen, die in ihrer Heimat von Krieg und Ermordung bedroht sind, nicht nur theoretisch, sondern auch in der Praxis das gebotene Maß an Hilfsbereitschaft erfahren – unabhängig von ihrer Herkunft. Russlands Invasion in der Ukraine ist grauenvoll. Zu wünschen bleibt, dass ihre Folgen ein Umdenken in Gesellschaft und Politik bewirken, zukünftig nicht mehr „Kapazitätsgrenzen” vorzuschieben, sondern allen Schutzsuchenden einen neuen Anfang und sicheren Zufluchtsort zu ermöglichen.


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ANNÄHERUNG ANS ERDÖL

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