„MEINE MUSIK HAT KEINEN SINN AUF EINEM TOTEN PLANETEN“

Sie sind zum zweiten Mal in Europa auf Tour und geben heute Ihr erstes Konzert in Deutschland. Wie waren Ihre Erfahrungen bisher?
Bisher haben wir nur gute Erfahrungen gemacht, vor allem in Spanien, wo wir den Menschen sprachlich verbunden sind. In Ländern zu spielen, in denen kein Spanisch gesprochen wird, ist eine Herausforderung, da der Text die Hälfte des Liedes ausmacht. Dann denkst du, okay, niemand versteht, was ich hier gerade singe, aber im Endeffekt ist Musik Musik, in jeder Sprache.

Loli Molina Es bewegt sich was in der Musikszene (Foto: Marcelo Quiñones)

Können Sie etwas über Ihren musikalischen Werdegang und Ihre Einflüsse erzählen?
Ich habe sehr früh damit angefangen, Instrumente zu lernen. Die Musik war etwas, das mich schon immer in meinem Leben begleitet hat, es ist etwas Gigantisches für mich. Ich bin eine Person, die alles wie ein Schwamm absorbiert: Alles, was ich gehört und gelernt habe, hinterlässt Spuren auf meiner inneren Festplatte und wenn ich meine eigene Musik mache, kommt diese Information auf mysteriöse Weise zu mir zurück.

Sie interpretieren einige klassische Lieder südamerikanischer Folklore sowie Lieder von bekannten Interpreten wie Luis Alberto Spinetta oder Fernando Cabrera. Waren dies auch Lieder, die Ihren musikalischen Werdegang begleitet haben?
Ja, es gibt Lieder, die sozusagen Teil der Enzyklopädie großer Musik sind und um die keine Person, die Lieder schreiben möchte, herumkommt. Sie zu lernen und zu interpretieren, um tiefgreifend zu verstehen, wie sie gemacht worden sind, ist wie zur Schule zu gehen.

Sie kommen aus Buenos Aires, wohnen aber seit einigen Jahren in Mexiko Stadt. Wie ist denn die Situation der unabhängigen Musikerinnen in Argentinien und Mexiko?
In Mexiko gibt es eine sehr große Szene, denn allein in Mexiko Stadt leben 25 Millionen Menschen, in Buenos Aires „nur“ 10 Millionen. Zudem ist Mexiko Treffpunkt vieler Immigranten aus Argentinien, Chile, Venezuela, Kolumbien, der Dominikanischen Republik… Es gibt also eine große Liedermacher-Szene aus all diesen Ländern, und die Sprache ist immer ein bisschen unterschiedlich: die Lieder von den Inseln sind tropischer, die aus dem Süden nostalgischer und kryptischer, die Mexikaner spielen eher Pop oder Folklore. Das ist sehr interessant, aber die Szene ist auch etwas übersättigt. In Buenos Aires ist die Szene viel kleiner und die Strömungen sind sich ähnlicher. In den Süden kommen nicht so viele Leute von außerhalb, die Szene nährt sich eher von sich selbst.

Ihre ersten beiden Alben wurden von einem großen Label veröffentlicht. Das dritte Album Rubí haben Sie selbst veröffentlicht. Wie kam es dazu?
Nach meinen ersten beiden Alben habe ich das Label verlassen. Ich war 25 oder 26 Jahre alt und dachte, es gäbe keine andere Möglichkeit. Danach begann ein langer Weg, in dem ich lernte, alles selbst zu machen, meine eigene Managerin zu sein, meine eigenen Videos zu machen und zu verstehen, wie die Musikindustrie funktioniert. Die Industrie verändert sich ständig, zum Beispiel durch Spotify. Es geht viel darum, wie viele Aufrufe und Likes ein Song hat. Das erzeugt einen sehr unfairen Konkurrenzkampf. Ein unabhängiger Künstler hat keine Chancen gegen jemanden, der Millionen von Aufrufen für sein Video kauft. Diese großen Strukturen sind nichts für mich.

Wie hat sich die Musikszene verändert? In einem anderen Interview meinten Sie, dass es wieder mehr vielversprechende Liedermacher*innen gibt, vor allem Frauen.
Da bewegt sich etwas, auf vielen Ebenen. Es gibt eine Art Aufstand der Frauen mit vielen feministischen Bewegungen. Der Diskurs hat sich verändert und es wird gefordert, Frauen mehr Raum zu geben. Das gab es noch nicht so sehr, als ich damit begann, Musik zu machen. Außerdem gibt es ja diese schon erwähnte Übersättigung: Jeder kann Musik aufnehmen und veröffentlichen. Es scheint mir, als gäbe es deswegen wenig wirklich besondere Projekte. Ich weiß selbst nicht, ob ich zu den Besonderen oder zu den Normalen gehöre.

In Argentinien hat der Senat vor kurzem das Ley del cupo femenino (zur Frauenquote auf Musikfestivals) verabschiedet, welches noch von der Abgeordnetenkammer beschlossen werden muss. Glauben Sie, dass das erwas ändern wird? Haben Sie sich auch schon von der „historischen Ungleichbehandlung und Diskriminierung, die Frauen auf den Bühnen der Festivals erleben“, wie es im Text heißt, betroffen gefühlt?
Ja, definitiv! Zudem komme ich aus einem Land, in dem die Figur des Gitarristen zutiefst männlich konnotiert ist. Die Gitarre, ein prägendes Instrument des Rocks und der Folklore, war immer in den Händen von Männern. In den letzten Jahren sind viele Gitarristinnen aufgetaucht, auch ich zähle mich dazu. Das ist sehr gut, denn es zeigt, dass Frauen nicht nur Sängerinnen sind, sie spielen auch Instrumente. Es ist sehr traurig, dass das nun per Gesetzt geregelt werden muss. Aber wie beginnen, wenn nicht so? Es gibt noch viel Widerstand in einigen rückständigen Sektoren, von alten Produzenten, alten Konzertorganisatoren oder alten Rockern, die sehr machistisch sind und nun sagen: „Jetzt müssen wir Frauen eine Bühne geben, nur weil sie Frauen sind.“ Nein: Sie müssen Frauen eine Bühne geben, weil sie genauso talentiert sind und weil wir den Raum verdienen!

Erstmals auf Europatournee Loli Molina live in Berlin (Foto: Jara Frey-Schaaber)

Auf Ihren Accounts in den sozialen Netzwerken unterstützen Sie soziale und feministische Bewegungen und zeigen Ihre Besorgnis für die Umwelt. Wie fühlen Sie sich mit diesen Kämpfen verbunden?
Ich glaube, das Rockigste und das Revolutionärste, was man in diesem Moment auf der Welt machen kann ist, mit seinem eigenen Beutel einkaufen zu gehen, den Müll zu trennen, und darum zu bitten, keine Plastiktüten zu bekommen. Ich glaube wirklich, dass das etwas Kritisches ist und genauso geht es mir bei sozialen Themen, ob sie Gewalt betreffen oder Frauenrechte. Es gibt viele Menschen, die mir folgen und mir zuhören, also versuche ich, von diesen Dingen zu sprechen. Ich sehe das als ein Werkzeug, um die Welt ein kleines bisschen besser zu machen. Wenn es nur eine Person gibt, die dank dem, was ich geschrieben habe, anders denkt und andere Möglichkeiten erwägt, ist das schon unglaublich. Das ist viel wichtiger, als nur von mir und meiner Musik zu reden oder Selfies zu veröffentlichen, um Likes zu bekommen. Meine Musik hat keinen Sinn auf einem toten Planeten, meine Musik hat keinen Sinn in einer Welt, in der meine Freundinnen auf der Straße geschlagen werden, das steht wirklich an erster Stelle.

Können Sie etwas zur politischen Situation in Mexiko sagen, wo seit über einem halben Jahr ein neuer Präsident an der Macht ist, und zu Argentinien, wo bald Wahlen anstehen?
Im Moment ist es auf politischer Ebene sehr aufgewühlt, überall auf der Welt. In fast allen Ländern gibt es eine Tendenz zum Rechtsruck, es werden Rechte beschnitten und Subventionen für Kultur zusammengestrichen. Ich bin nicht so gut über die politischen Hintergründe in Mexiko informiert, aber es gab fast 70 Jahre, die von ständiger Korruption geprägt waren, und auch wenn eine neue Person an die Macht kommt, ist es schwer, wieder neu zu beginnen. Die Macht müsste neu konstruiert werden, aber wir sollten Mexiko die Möglichkeit zugestehen, sich zum Besseren zu verändern. Was Argentinien betrifft: Das Land ist unter der Regierung von Macri in den letzten vier Jahren kollabiert. Es sieht schlecht aus, was die Bildung, die Kultur und die Wirtschaft betrifft. Ich hoffe, dass die Leute bei dieser Wahl eine gute Entscheidung treffen und nicht aus Wut wählen.

Was kommt nach dieser Tour? Sie haben von Alben gesprochen, die dieses Jahr herauskommen werden?
Ja, am Ende des Monats kehren wir nach Mexiko zurück und stellen zwei Alben fertig, eines kommt Ende des Jahres heraus und das andere im Februar. Also werde ich viel mit der Vorbereitung zu tun haben und nicht viele Konzerte geben können. Dazu kommt die persönliche Suche, wie wir eigentlich in dieser Welt leben wollen, die jeden Tag eine Herausforderung darstellt. Das ist der Plan, Musik machen, die Alben fertigstellen, alles ein bisschen ordnen… Das wird schon!

// OFFENBARUNGSEID DER EU

Der Fortschritt steht wieder einmal nur auf dem Papier: „Die EU und der Mercosur verpflichten sich zur wirksamen Umsetzung des Pariser Klimaschutzübereinkommens“. So verlautet es aus der EU-Kommission über das Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur (siehe S. 6), das seit 1999 verhandelt wurde.
Im Juni 2019 wurde es von den Verhandlungsdelegationen in Brüssel unter Dach und Fach gebracht, während fernab in Osaka der G20-Gipfel abgehalten wurde. Dort vernahmen Brasiliens rechtsradikaler Präsident Jair Bolsonaro und Argentiniens neoliberaler Präsident Mauricio Macri die frohe Kunde. Beide versprechen sich einen Zuwachs bei den Agrarexporten in die EU und erhoffen sich dadurch einen Ausweg aus der tiefen Wirtschaftskrise. Noch bei seinem Amtsantritt hatte Bolsonaro jedoch beim Thema Mercosur und Freihandel verächtlich die Nase gerümpft und „Primeiro Brasil” (Brasilien zuerst) propagiert. Nun wurde er von seinen neoliberalen Wirtschaftsberatern vom Segen eines erweiterten Marktzugangs in die EU überzeugt. Dass auch Uruguay und Paraguay zum Mercosur gehören, vom suspendierten Venezuela ganz zu schweigen, ging in den Jubelmeldungen unter.

Nirgends werden mehr Pestizide eingesetzt als in Brasilien – und diese stammen nicht selten aus Deutschland

Es ist beschämend, dass der scheidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ein Abkommen „historisch“ nennt, das offensichtlich sozialen und ökologischen Belangen entgegensteht. Wie stolz war die EU auf die Menschenrechtsklausel – der ersten ihrer Art –, die im Freihandelsabkommen mit Mexiko 2000 verankert wurde. Doch was wurde seitdem getan, um die Menschenrechte in Mexiko zu stärken? Dazu fällt einem nicht viel mehr ein als die illegale Lieferung von fast 5.000 Sturmgewehren von Heckler & Koch samt Zubehör in mexikanische Unruheprovinzen.
Mit dem Mercosur-Abkommen soll Brasilien nun zur Bekämpfung der Entwaldung verpflichtet werden. Gleichzeitig ist laut Greenpeace die Abholzung des Amazonas-Regenwaldes im Juni um 88 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Und gleichzeitig werden nirgends mehr Pestizide eingesetzt als in Brasilien – und diese stammen nicht selten aus Deutschland. Bolsonaro hat gerade noch 239 weitere Pestizide zugelassen, von denen viele von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als toxisch bzw. hochtoxisch eingestuft werden.
Dass die EU 20 Jahre verhandelt, um dann ausgerechnet mit den reaktionärsten Präsidenten Brasiliens und Argentiniens das Abkommen zu unterzeichnen, zeigt ihre neoliberale Fratze: Wenn es um den erleichterten Export von Autos geht, ist auch die forcierte Abholzung von Regenwald und der Einsatz von gefährlichen Pestiziden in Kauf zu nehmen. Schließlich stehen Umweltklauseln und die Einhaltung der EU-Standards für Lebensmittelsicherheit ebenso im Dokument wie damals die Menschenrechtsklausel beim Abkommen mit Mexiko. Diese wurde in 19 Jahren übrigens nicht einmal aktiviert. Man kann davon ausgehen, dass auch die Sanktions- und Kontrollmechanismen des EU-Mercosur-Abkommens nur eine leere Hülle bleiben werden.
Der Zivilgesellschaft bietet das Abkommen eine aktive Rolle bei der Überwachung seiner Umsetzung an. 340 Organisationen, darunter die LN-Schwesterorganisation Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL), haben im April die EU-Kommission in einem offenen Brief aufgefordert, die Verhandlungen abzubrechen. Darin heißt es: „Bolsonaro macht zum Entsetzen der Welt klar, dass ihm Menschenrechte, der globale Wert von Regen- und Trockenwäldern und deren Bedeutung für den Erhalt der Artenvielfalt gleichgültig sind.“
Der offene Brief sowie Bolsonaros menschenverachtende Politik ist der EU offenbar egal. Im Ausland Märkte zu öffnen, um für die Konzerne aus der EU Profite zu sichern, ist die Richtschnur der realen Politik. Umwelt und soziale Belange stehen ja auf dem Papier. Das Abkommen ist ein Offenbarungseid für die EU-Kommission. Es bedarf noch der Ratifizierung des EU-Rates und des EU-Parlaments, der 28 EU-Staaten sowie der vier Mercosur-Staaten. Und wenigstens das ist nicht gesichert.

DAS GUTE LEBEN, NUR EIN DISKURS



Foto: Privat

Oscar Campanini
ist Direktor der Nichtregierungsorganisation CEDIB aus Bolivien. CEDIB arbeitet für mehr Transparenz im Bergbau und anderen Großprojekten in Bolivien und beschäftigt sich unter anderem mit dem Thema Lithium.


 

Herr Campanini, Sie kritisieren Demokratiemangel in Boliviens Bergbau- und Rohstoffpolitik. Wie hat sich diese in den letzten Jahren verändert?
So wie die meisten lateinamerikanischen Länder ist auch Bolivien historisch mit dem Rohstoffexport verbunden. Die Wirtschaft des Landes basiert größtenteils auf Extraktivismus und birgt somit eine hohe Rohstoffabhängigkeit. Anstatt die Wirtschaft zu diversifizieren, wurden politische Machtstrukturen innerhalb des Rohstoffsektors geschaffen, welche Armut und Diskriminierung bis heute begünstigen. Die Hoffnung auf eine Transformation dieser Strukturen wurde nach fast 14 Jahren Amtszeit des Präsidenten Evo Morales enttäuscht.
Rohstoffausbeutung wurde mit einer Kapitalanlagenmaximierung für eine stärkere Sozialpolitik gerechtfertigt. Auch der Wunsch nach Entwicklung trieb diesen Prozess immer weiter voran.
Mit der Politik des Wachstums sind enorme sozio-ökologische Auswirkungen verbunden. Besonders betroffen sind indigene Gruppen, die direkt unter den ökologischen Auswirkungen des Bergbaus leiden. Um Widerstand zu unterbinden, wendet die bolivianische Regierung verschiedene Strategien an. Die Betroffenen werden zum Schweigen gebracht, Menschenrechte werden missachtet.

Die Auswirkungen auf Menschen − insbesondere wenn sie Sorgearbeit verrichten, welche traditionell Frauen zugeschrieben wird − werden in der Beschäftigung mit dem Extraktivismus und seinen Folgen nur selten beleuchtet.
Die Auswirkungen sind für Frauen auf jeden Fall anders, aber es gibt auch viele Gemeinsamkeiten. Wenn extraktivistische Projekte geplant werden, geht das oftmals mit großen Versprechen für die Regionen einher, wie zum Beispiel Arbeitsplätzen oder anderen wirtschaftlichen Vorteilen, die nicht immer eingehalten werden. Zuallererst zerstören diese Projekte die produktiven und organisatorischen Strukturen der Gemeinschaften. Wenn eine Gemeinde beispielsweise von der Landwirtschaft lebte, wird diese dann nur noch spärlich betrieben, um sich stattdessen extraktivistischen Projekten zu widmen. Dadurch profitieren die Familien zwar erst einmal wirtschaftlich, aber die Produktion von Lebensmitteln funktioniert nicht mehr und die Lebensgrundlage der Gemeinde verändert sich vollkommen. Auch die Organisation der Gemeinschaften ist am Ende nicht mehr dieselbe. Die Gemeinschaft ist traditionell am Wohlergehen aller Mitglieder orientiert. Die Unternehmen, die extraktivistische Projekte planen, nehmen jedoch Einfluss auf deren Repräsentanten und sorgen dafür, dass diese die unternehmerischen Belange wiederum nach innen hin vertreten und Einfluss auf die Gemeinden nehmen, um sie von den Projekten der Unternehmen zu überzeugen. So werden die organisatorischen Strukturen der Gemeinden völlig unterlaufen und ihre Strukturen für die Zwecke des Extraktivismus instrumentalisiert. Verheerend sind auch die Auswirkungen auf die Umwelt, insbesondere auf das Wasser, und das bekommen leider ganz besonders Frauen zu spüren. Männer, welche meistens ökonomischen Tätigkeiten nachgehen, bekommen davon wenig mit, weil sie außerhalb der Haushalte arbeiten und diese Probleme nicht selbst erleben.

Haben Frauen deswegen auch eine besondere Rolle im Widerstand gegen diese Praktiken?
Ganz genau. In den letzten 15 Jahren des sozialen Widerstands waren es vor allem Frauen, die auf fundamentale Probleme aufmerksam gemacht haben. Es hat seine Vor- und Nachteile, dass Frauen traditionell enger mit den Familien leben und daher besorgter um die Zukunft ihrer Kinder und die ihrer Gemeinde sind. Deswegen übernehmen Frauen immer häufiger die Rolle von Anführerinnen ihrer Gemeinden und gehen die Probleme anders an als Männer, die wegen ihrer ökonomischen Perspektive und aufgrund von Sexismus die Dinge nicht so klar sehen wie sie. In vielen wichtigen Organisationen sind Frauen jetzt die wichtigsten Akteurinnen und die Anführerinnen des Widerstands geworden.

Wie beurteilen Sie die Idee eines Entwicklungsmodells, welches Wohlstand durch die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen erreichen will? Braucht Bolivien überhaupt eine „Entwicklung“?
Seit einiger Zeit gibt es in Bolivien eine Debatte darüber, was Entwicklung eigentlich ist. Auch in Deutschland gibt es ein Bewusstsein für diese Fragen, was man zum Beispiel am Thema der Elektroautos sehen kann. Dabei geht es aber nur um eine Transformation im Bereich der Energiequellen, das System des Konsums jedoch bleibt bestehen, die Idee der Entwicklung unangetastet. In Bolivien diskutieren wir die Frage, welche Entwicklung wir eigentlich wollen, und wissen auch, dass wir in jedem Fall ökonomische Ressourcen brauchen, die wir besonders leicht aus dem Handel mit anderen Ländern beziehen können. Die Frage ist vor allem, was wir dann mit diesen Ressourcen anstellen. Natürlich brauchen wir Bildung, ein funktionierendes Gesundheitssystem und viele andere Dinge, die die entwickelten Länder haben. Aber zu welchem Preis? Das verhandeln und analysieren wir aktuell in Bolivien.

Lithium, das in Bolivien im großen Stil abgebaut wird, wird derzeit in vielen Ländern des Globalen Nordens als Wegbereiter für eine internationale Energiewende gefeiert und findet Einsatz im Bereich der Elektromobilität. 2018 hat Bolivien einen 1,3-Billionen-Dollar-Deal mit der deutschen Firma ACI im Bereich der Lithiumausbeutung geschlossen. Zu welchem Preis bekommt Deutschland die vermeintlich saubere Energie?
Deutschland und die EU sorgen sich um die Erhaltung der eigenen Energiesicherheit. Von Bolivien brauchen sie Rohstoffe, um die eigene nationale Industrie und Entwicklung voranzutreiben. Die Umwelt nimmt nur insofern eine wichtige Rolle ein, da sie die Rohstoffe bereitstellt. Die Ökosysteme, in denen dieser Rohstoff auffindbar ist, sind mit indigenen Territorien verbunden. Das ist die Lebensgrundlage der ansässigen Menschen, und umgekehrt wird das Land auch von seinen Bewohnern instand gehalten. Deutschland interessiert sich für den Rohstoff, jedoch nicht für die auf dem Fördergrund lebende Bevölkerung. Landvertreibung und die Beschneidung von Menschenrechten sowie die Beschädigung der Ökosysteme hängen also mit der vermeintlich nachhaltigen Energie zusammen. Die damit zusammenhängende Ausbeutung von Rohstoffen, in diesem Fall Lithium, führt zu erhöhtem Abbau im Sinne von weiterem Wachstum.

51 Prozent des Umsatzes soll Bolivien erhalten − dient dieser Gewinn zum Aufbau einer eigenen Industrie? Welche Folgen hätte dies?
Seit vielen Jahren gibt es bereits Pläne zur Industrialisierung Boliviens. In der Vergangenheit investierte die Regierung in viele verschiedene Sektoren, um diese weiter voranzubringen. Aufgrund des bisherigen Scheiterns der Industrialisierung anderer Sektoren, gilt Lithium derzeit als vielversprechendster Bereich. Es wurde bereits viel Geld aus der bolivianischen Staatskasse, aber auch durch ausländische Investoren bereitgestellt, um diese Industrie zu entwickeln.
Der 2018 mit Deutschland geschlossene Vertrag verspricht ein innovatives Projekt zur Lithiumgewinnung, in dem es bisher so scheint, als ob von diesem alle profitieren könnten. Es gibt jedoch Unstimmigkeiten. Ein Problem sind die genannten ökologischen Folgen. Die Wassermengen, die von den Kraftwerken benötigt werden, sind trotz neuer Technologien riesig. Der Verbrauch der Wasserreserven wird sich nicht nur auf Salar de Uyuni auswirken, sondern die gesamte Region betreffen und das Ökosystem stark beschädigen. Diese drastischen Folgen hat Bolivien bisher noch nicht erkannt. Eine weitere Sorge ist, ob die Wertschöpfungskette wirklich in Bolivien bleibt. Das Versprechen nationaler Wertschöpfung ist zwar Teil des Vertrags zwischen ACI und Bolivien, jedoch gibt es viele alarmierende Signale, dass dies nicht wirklich so sein wird. Es ist bereits bekannt, dass Deutschland einen aktuellen Fond mit mehreren Millionen Euro bereitstellt, um eine eigene Lithiumverarbeitungsindustrie aufzubauen. Das lässt natürlich Raum für Sorge, ob das Interesse an einer nachhaltigen Wertschöpfungskette innerhalb Boliviens wirklich besteht.

Wenn wir uns Ihre bisherige Bilanz der Rohstoffpolitik Boliviens ansehen, drängt sich die Frage auf, was eigentlich aus dem Vivir Bien geworden ist.
Leider ist all das bloß ein Diskurs geblieben. So, wie die Idee des Vivir Bien eigentlich konzipiert wurde, ist sie konträr zum Entwicklungsbegriff − und doch wurde sie in diesem Gesetz einfach zum Grundstein einer „integralen“ Entwicklung erklärt und so in eine Entwicklungsagenda integriert. Die natürlichen Ressourcen stehen deswegen immer noch im Dienst einer ökonomischen Entwicklung von Wachstum durch den Export von Rohstoffen. Eine richtige Transformation hat nie stattgefunden. Was wir sehen ist lediglich eine Transformation von Diskursen über das Vivir Bien.

Bolivien ist im Moment der letzte Staat, der den socialismo del siglo 21 (Sozialismus des 21. Jahrhunderts) mit einer gewissen Stabilität weiterführt. Was denken Sie über die Entwicklung der Linken in Lateinamerika?
Ich verstehe diese Welle progressiver Regierungen als Produkt von sozialen Bewegungen, die sich gegen den Neoliberalismus auf dem Kontinent zur Wehr gesetzt haben und nach politischen Alternativen suchten. Im besten Fall haben diese jedoch ein paar Umverteilungsmaßnahmen erreicht – mehr nicht. Es gab einige Versuche von Verstaatlichungen, in Bolivien beispielsweise von Gas, aber dieses wird von transnationalen Unternehmen kontrolliert, deswegen konnte das Projekt nicht gelingen. Die Erträge wurden zwar umverteilt, die größten Gewinne blieben jedoch noch immer bei den transnationalen Unternehmen. Strukturelle Veränderungen haben aber leider keine der progressiven Regierungen wirklich erreicht, und deswegen sind sie gescheitert. Momentan schlägt die Rechte zurück. Das ist die logische Konsequenz des Versagens der Linken. Diese Entwicklung beunruhigt uns sehr. Was zum Beispiel gerade in Venezuela geschieht, wird mit Sicherheit einen Einfluss auf ganz Lateinamerika haben.

 

WENN DIE STILLE KOMMT

Bild der Zerstörung Die Wassermassen reißen alles mit sich (Foto: Vinicius Mendonca/Ibama (CC BY-SA 2.0)

„Am schlimmsten wird es werden, wenn die Stille kommt“, sagt Cleiton Cândido da Silva, Einwohner der Gemeinde Córrego do Feijão in der Gemeinde Brumadinho. Brumadinho liegt im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais, wo am 25. Januar 2019 der Sicherungswall des Rückhaltebeckens Nummer 1 der Erzbergmine Córrego do Feijão brach. Der Dammbruch verursachte min­destens 310 Todesopfer. Jetzt, einen Monat später, wurden noch immer nicht alle Leichen geborgen, die sich unter teils meterhohen Schlammbergen befinden. Der Bruch von Brumadinho gilt bereits jetzt als die schlimmste menschliche Katastrophe der letzten 33 Jahre im Bergbauwesen und als der größte Arbeitsunfall in Brasilien. Die Menschen suchen noch immer verzweifelt nach ihren Angehörigen, während die Rettungskräfte seit Wochen unermüdlich arbeiten, um nach den sterblichen Überresten der Menschen zu suchen. Mundschutz für die Rettungskräfte wurde bereits nach wenigen Tagen Pflicht, da die unzähligen, bisher noch nicht gefundenen Leichen Verwesungsgeruch ausströmen. Und die Menschen sind neben ihrem Schmerz und ihrer Verzweiflung wütend. Denn der Dammbruch von Brumadinho war nicht der erste Großbruch.

Der jetzige Dammbruch erfolgte drei Jahre nach der größten Umweltkatastrophe in Brasilien, als damals am 5. November 2015 der Damm des Rückhaltebeckens Fundão der Firma Samarco Mineração S.A. brach, ein Joint Venture von Vale S.A. und BHP Billiton. In der Nähe der Stadt Mariana gelegen, ebenfalls in Minas Gerais, wurden durch den Dammbruch 62 Millionen Kubikmeter Erzrückstände freigesetzt, die sich in einem Tsunami durch mehrere Dörfer und anschließend durch Flusstäler bis hin zur Mündung in den Südatlantik frästen. Der Bruch von „Mariana“, wie er fortan in den Medien genannt wurde, zerstörte den Bezirk Bento Rodrigues vollständig, begrub Häuser, Kirchen, Schulen, Brücken, Plantagen unter sich, tötete 19 Menschen, traf auf den Rio Doce, eines der größten Flussbecken Brasiliens, und alle Gemeinden entlang des Flusses in den Bundesstaaten Minas Gerais und Espírito Santo, bevor er 700 Kilometer entfernt den Atlantik erreichte und dort die Fisch- und Molluskenbestände ebenso wie die einzigartige Korrallenwelt von Abrolhos zerstörte. Immer noch kämpfen die betroffenen Bevölkerungsgruppen um ihr Überleben und um Gerechtigkeit. „Was wir am meisten wollen, ist, dass wir in unser Haus, zu unseren Nachbarn, zurückkehren“, sagt Mauro Marques da Silva, Bewohner des zerstörten Bento Rodrigues. „Es ist lange her, dass wir so gelitten haben, und wir wissen immer noch nicht, ob wir bezahlt werden oder ob es dann eben dabei bleiben würde, dass wir ganz leer ausgehen“, erzählt er. Zwischen Minas Gerais und Espírito Santo sind insgesamt mehr als 500.000 Menschen betroffen, und sie sind es noch immer, denn die Trinkwasserversorgung basiert auf Flusswasser, das nun aufbereitet werden muss. Vertrauen in dieses Wasser haben die Anwohner*innen jedenfalls nicht.

Drei Jahre sind seit dem Dammbruch von Mariana vergangen, und die Flussanwohner*innen, Fischer*innen und kleinen Landwirt*innen haben noch immer keine ausreichende Entschädigung für den kompletten Verlust ihres Lebenseinkommens erhalten. Dabei gehen die Verantwortlichen für den Dammbruch von Mariana bis heute straffrei aus. Wie Marli de Fátima Felício Felipe, die ihre Mutter bei der Tragödie verloren hat, betroffen sagt: „Ich denke, alle werden sie straffrei davonkommen. Das Unternehmen (Samarco) ist sehr stark. Nur Gott ist größer.“ Dabei haben die beiden gebrochenen Dämme, Fundão und Córrego do Feijão, auffällige Gemeinsamkeiten. Die Betreiberfirma von Fundão bei Mariana gehörte zur Hälfte dem brasilianischen Bergbauriesen Vale. Córrego do Feijão gehörte Vale komplett. Beide Minen belieferten unter anderem auch deutsche Stahlkocher. 52 Prozent der Eisenerzimporte nach Deutschland kommen aus Brasilien, größter Lieferant: Vale S.A. Doch wegen der mangelnden Pflicht zur Offenlegung der Lieferkette reden die deutschen Hüttenwerke sich immer gern mit Verschwiegensheitsklauseln aus der Affäre. Hinterher will niemand mehr etwas damit zu tun gehabt haben. Beide Minen hatten deutsche Versicherer und Rückversicherer, unter ihnen die Marktführer Allianz, Hannover Rück und Münchener Rück, wobei letztere jüngst eine Debatte unter den Versicherern anstrengt hat, die Versicherungspolicen bei den extrem bruchgefährdeten Dämmen strikter zu handhaben. Es wird wohl auch ihnen mittlerweile zu teuer.

Einsparungen bei Sicherheitsfragen führten direkt zu den Dammbrüchen von Mariana und Brumadinho

Beiden Brüchen war auch gemein, dass sie während des Abwärtszyklus der Mineralpreise geschahen, bekannt als Boom und Bust-Boom der mineralischen Rohstoffe. Laut Rodrigo Santos, Professor an der Bundesuniversität von Rio de Janeiro UFRJ, bezieht sich der Rohstoff-Boom auf die Zeit des deutlichen Preisanstiegs bei standardisierten Mineralgütern, die im Zeitraum von 2003 bis 2011 auf den Weltmärkten gehandelt wurden. Auf der anderen Seite ist der Bustzyklus gekennzeichnet als ein Szenario von Überangebot, gefolgt von einem Rückgang der Nachfrage und der Perspektive niedriger Preise auf lange Sicht, die in der Lage sind, einen Strategiewechsel bei den Bergbauunternehmen herbeizuführen. Diese beginnen dann, die Produktionskosten zu senken, während sie die Förderung erhöhen, um die Verluste des negativen Szenarios auszugleichen. Und genau das hat, so die Wissenschaftler, schwerwiegende Konsequenzen.
Denn bei sinkenden Weltmarktpreisen steigt der Kosteneinsparungsdruck und die erste Maßnahme besteht nahezu immer darin, die Betriebskosten zu senken. Wie Bruno Milanez, Professor an der Bundesuniversität von Juiz de Fora UFJF, betont, ist es nicht ungewöhnlich, dass die ersten Einschnitte bei der Sicherheitsüberwachung, darunter die der Dämme, stattfinden. Im gleichen Sinne zitiert Milanez die Arbeit der kanadischen Forscher Michael Davies und Todd Martin, die einen Zusammenhang zwischen den Zyklen der Erzpreise und dem Bruch der Rückhaltedämme darstellt. Für Milanez ist die Sache klar: Einsparungen bei Sicherheitsfragen infolge des Preisverfalls führten direkt zu den Dammbrüchen von Mariana und Brumadinho.

Im Fall Brumadinho zeigt sich die kalte Arroganz und Inkompetenz der Firmen

Dieser gleichsam systemimmanente Zwang zur Kosteneinsparung zeigt sich auch beim Bau der Dammanlage für die Rückhaltebecken. Die Dammkonstruktionen von Mariana und Brumadinho waren beides sogenannte Upstream-Dämme, das heißt, dass dort der Damm errichtet wird und die Erzschlammreste dahinter gelagert werden. Wenn die Dammkrone erreicht ist, gehen die Ingenieur*innen davon aus, dass das abgelagerte Untermaterial mittlerweile ausreichend ausgehärtet ist, sodass man auf die alte Dammkrone und den Rand des Erzschlammmaterials einfach eine Dammerhöhung draufsetzt. Beim nun gebrochenen Damm von Brumadinho wurde dies zwischen 1976 und 2006 allein zehn Mal durchgeführt, bis zu einer Höhe von 86 Meter. Es gibt solche Dämme bis zu einer Höhe von über 250 Meter. Der nun gebrochene Damm wurde 1976 in erster Stufe von den Ingeneur*innen der damaligen Besitzerin, Thyssen, errichtet. Deren brasilianische Tochterfirma Ferteco Mineração verkaufte ThyssenKrupp dann im Jahre 2001 an Vale S.A. Auch Mariana war ein solcher Damm. Beide sind nun gebrochen. Diese Upstream-Dämme sind die billigste Methode – und die gefährlichste. Chile beispielsweise hat die bei Mariana und Brumadinho verwandte Dammbaumethode verboten. Im Gegensatz dazu sind Downstream-Dämme (also eine Erhöhung der Dämme immer nur in Fließrichtung abwärts) doppelt so teuer, und die vorherige Bearbeitung der Erzschlämme durch Trocknung kostet noch viel mehr − Kosten, die die Bergbaufirmen nicht aufbringen wollen. So steht dann die Sicherheit bei der Überwachung dieser Strukturen nicht im Vordergrund.

Gedenken an die Opfer Mindestens 310 Menschen kamen bei der Katastrophe ums Leben (Foto: Romerito Pontes CC BY 2.0)

 

Medienberichte deckten auf, dass Vale über die Risiken des Einsturzes des Brumadinho-Staudamms seit No­vember 2017 Bescheid wußte und dass Vale S.A. auf die Ingenieur*innen des deutschen Beratungsunternehmen TÜV-Süd Druck ausgeübt hat, um die Stabilitätserklärung des zusammengebrochenen Staudamms – offenkundig wider eigener Fachexpertise und Einschätzung– abzu­geben.Vale selbst versucht seit dem Dammbruch von Mariana sein Image von der größten Umweltkatastrophe in Brasilien zu lösen. Fabio Schvartsman, seit Mai 2017 Präsident der Vale S.A., erklärte in seiner Eröffnungsrede, dass das Motto des Unternehmens „Mariana never again“ lauten würde. Es wurde jedoch offenkundig nichts unter­nommen, um die Sicherheit der Anlagen zu gewährleisten oder die Folgen der Katastrophe im Rio-Doce-Becken effektiv zu beseitigen. Auch nach dem, was am 25. Januar in Brumadinho geschah, sagt Schvartsman weiter: „Vale ist eines der besten Unternehmen, das ich in meinem Leben je gesehen habe. Es ist ein brasilianisches Juwel, das nicht für einen Unfall in seinem Staudamm verurteilt werden kann, egal wie tragisch die Tragödie gewesen sein mag.“ Diese Aussage offenbart die ganze Arroganz des Unternehmens, indem es nicht die gebührende Verantwortung für die Fakten übernimmt und sich selbst als Saubermann darstellt.

Die Verantwortlichen für den Dammbruch von Mariana gehen bis heute straffrei aus

Was die Brüche aber auch mit ermöglicht hat, ist die mangelnde Kontrolle seitens der zuständigen Behörden. Die Unternehmen kontrollieren sich in dem Maße zunehmend selbst, wie der Staat neoliberaler Ideologie folgend den Abbau des staatlichen Kontrollapparats befördert. Die Selbst­kontrolle ermöglicht es Unternehmen, direkt vermeintlich unabhängige Auditor*innen zu beauftragen, die die Sicherheit ihrer Geschäftstätigkeit zertifizieren. Diese direkte Beziehung birgt einen inhärenten Interessenkonflikt, da diejenigen, die die Sicherheit bezeugen, von denen bezahlt werden, die keine Probleme haben wollen. In einer Branche, die keine Toleranz erlauben darf, weil ein Fehler sofort tödlich ist, darf es nicht sein, dass die Unternehmen sich selbst überwachen.In Bezug auf die gezielte Demontage der Staatsapparatur darf die Antwort nicht nur darin bestehen, eine weitere Flexibilisierung und/oder Vereinfachung des Umweltgenehmigungsverfahrens zu verhindern. Es ist vielmehr notwendig, die staatliche Einmischung in den Prozess zu verstärken, die Kapazität des staatlichen Handelns in Bezug auf die Anzahl der Fachleute und Technologien zu erhöhen und die Zivilgesellschaft als wirksamen Teil der Entscheidungen über Bergbaubetriebe wirklich einzubeziehen, fordert das internationale Netzwerk der von der Firma Vale Betroffenen.

Vom eigentlich kollektiven Gut profitieren nur wenige

Der Bergbau ist ein öffentliches Gut und sein Gewinn erfolgt aus einer staatlichen Konzession. Durch die Einführung einer Mineralienexportpolitik profitiert Brasilien von den Gewinnen der Unternehmen zum Nachteil derjenigen Gebiete, die auf allen Folgeschäden des Bergbaus sitzenbleiben. Zu diesen gehören die Zerstörung der Wasserressourcen, Bodenverunreinigung, Luftverschmutzung, Zerstörung diverser Ökosysteme, Erstickung lokaler wirtschaftlicher Alternativen und der Zerfall von Gemeinschaften und traditionellen Völkern, die täglich mit dem Bergbau leben und oft ihrer Territorien beraubt werden. In diesem Szenario führt ein öffentliches und kollektives Gut dazu, dass einige wenige Gewinne erzielen und diese eine Spur von Leid und Tod in den Territorien hinterlassen.Angesichts der weltweit wachsenden Nachfrage nach Erzen und angesichts des Umfangs der sozialen und ökologischen Auswirkungen, die Bergbauunternehmen verursachen, ist es dringend erforderlich, über das Ausmaß und die Geschwindigkeit der Rohstoffgewinnung nachzudenken, insbesondere in den Ländern, die diese Erze liefern, die aber deren soziale und ökologische Auswirkungen erben, wobei die Risiken und Schäden stärker und deutlicher auf die schwächsten ethnischen Gruppen entfallen und Ungleichheiten produzieren und reproduzieren. So lange dies nicht geschieht, bleibt den Menschen vor Ort meist nicht viel anderes als den Tag zu fürchten, der die Stille bringen wird.

 

 

ORT DER ENTWICKLUNG ODER OPFERZONE?

“Retten wir den Fluss Ñuble, nein zum Stausee!” Protestaktion am Fluss      Foto: Ñuble Libre

Die schlechten Nachrichten rund um das Stauseeprojekt Punilla reißen nicht ab. Am 9. Februar wurde bekannt, dass im Rahmen der Zwangsräumungen und Abrisse der Häuser, die im November 2018 aufgrund des Beginns der ersten Konstruktionsphase durchgeführt wurden, ein Haus zerstört wurde, das auf einem nicht enteigneten Grundstück stand. Der Besitzer, Juan Enrique Caro Quezada, der damals selbst nicht vor Ort war, hat inzwischen Klage eingereicht, wie das Nachrichtenportal San Carlos Online berichtet. Doch auch die Menschen, die „fristgerecht“ enteignet wurden, kommen nicht zur Ruhe. Einige von ihnen leben in provisorischen Zeltunterkünften am Straßenrand, wo vor allem ihre psychischen Leiden und Sorgen zunehmen: „Meinen Vater haben sie psychisch getötet“, so Clara*, eine Betroffene der Zwangsräumungen im November. Sie ist nicht die Einzige, die über die Zunahme von Depressionen und Erschöpfungszuständen innerhalb der betroffenen Bevölkerung berichtet, die durch die Ungewissheit der Lebens- und Wohnsituation und den psychischen Druck ausgelöst werden. Um wie geplant mit dem Bau des Stausees Anfang 2019 beginnen zu können, waren am 21. November 2018 die ersten Häuser der insgesamt 87 enteigneten Familien zwangsgeräumt worden. Noch in derselben Nacht wurden die Häuser von fünf Familien zerstört. Die Menschen, die dort größtenteils von der andinen Viehzucht lebten, sehen dies als Zerstörung ihrer Lebensgrundlage an. Noch heute, drei Monate nach der Räumung, sind keine alternativen Unterkünfte für sie gefunden. In sozialen Medien wie Facebook und Instagram kursieren außerdem Videos und Fotos, die die nicht-artgerechte Haltung der beschlagnahmten Tiere dokumentieren, die sich seit der Räumung in der Obhut der italienischen Firma Astaldi befinden, welche die Konzession zum Bau des Stausees besitzt.
„Alle sind Feinde,“ waren die ersten Worte, die Clara* im Gespräch über das Stauseeprojekt äußerte. Sie selbst ist in dem Gebiet aufgewachsen, das im November geräumt wurde. Die erste Konstruktionsphase für den Stausee soll noch im ersten Quartal 2019 anlaufen. Die jahrelangen Konflikte um dessen Bau, die teilweise auch der komplexen Situation durch mehrere gleichzeitig in der Konstruktion befindlichen Infrastrukturprojekte geschuldet sind, haben den sozialen Zusammenhalt in der 4.000 Personen-Gemeinde nachhaltig beeinträchtigt.

„Wir existieren für die doch gar nicht“


Der Stausee, der eine Fläche von 1.700 Hektar fluten und der zweitgrößte Chiles werden soll, führt zu der Enteignung von etwa 87 Familien, der Rodung von 17,7 Hektar Naturwald und der Auslöschung von fünf Ortsteilen. Das Ziel ist einerseits die Sicherung des Wassers zur landwirtschaftlichen Nutzung, andererseits soll gleichzeitig Energie per Wasserkraft erzeugt werden – ein Konflikttreiber, der viele Menschen von einem inhärenten Interessenkonflikt ausgehen lässt: Wasser für die Landwirtschaft wird hauptsächlich in den Sommermonaten gebraucht, wohingegen die Stromnachfrage für Heizung und Warmwasser in den Wintermonaten ansteigt.
Doch darüber hinaus wird von den Betroffenen insbesondere das Vorgehen der italienischen Firma Astaldi und der lokalen Politik kritisiert: „Wir existieren für die doch gar nicht“, so Pedro*, ein Gegner des Projekts, der durch den Stausee seine Existenzgrundlage bedroht sieht, da er im Tourismus tätig ist und der Stausee Punilla den Ort als Tourismusziel unattraktiv werden lasse. Er hat die letzten zehn Jahre Tag für Tag dafür gearbeitet, um mit seinem Sportverein eine alternative Nutzungsweise des Flusses als Ressource aufzuzeigen und zu beweisen, dass auch nicht-extraktivistische Tätigkeiten ökonomisch sinnvoll sind. Er fordert von den lokalen politischen Entscheidungsträger*innen die Unterstützung kleiner und mittelständischer Unternehmen, die die Region nachhaltig attraktiv machen sollen.
Doch die Politiker*innen hätten das Volk verkauft, so Clara*. Die Menschen in dem etwa 400 km südlich der Hauptstadt Santiago de Chile liegenden Ort seien nicht ausreichend in die Planung mit einbezogen und die sozialen Asymmetrien – 70% der Betroffenen seien Analphabet*innen oder maximal funktionale Alphabet*innen und somit nicht in der Lage, die ihnen zur Unterschrift vorgelegten Dokumente zu lesen – ausgenutzt worden. Die Betroffenen kritisieren auch die Erstellung von Personenregistern und die daran gemessenen Entschädigungs- und Ausgleichszahlungen: Es seien nur diejenigen Familien registriert worden, die am Tag der Zählung auf ihren Grundstücken anwesend waren. Darüber hinaus seien diese Register seit 2004 nicht aktualisiert worden, sodass viele Menschen, die seitdem neue Familien gegründet haben und dort leben, gar nicht gelistet seien. Außerdem würden alternative Formen von Arbeit ignoriert. So werden beispielsweise informelle Arbeit sowie Autosubsistenzformen in den Prüfungen, die ein solches Infrastrukturprojekt durchlaufen muss um dessen Angemessenheit zu beweisen, nicht als Arbeit anerkannt.
Neben diesen Kritikpunkten, die eher ökonomisch argumentieren, werden aber auch Versäumnisse in der Umweltverträglichkeitsprüfung des Stauseeprojekts beklagt. Beispielsweise sei die Gefahr eines Wiedererwachens des nahegelegenen Vulkans und die geologischen Veränderungen des starken Erdbebens von 2010 nicht in die Prüfungen aufgenommen worden. Diese waren bereits im Zeitraum von 2004 bis 2010 durchgeführt worden und beachteten nachträgliche Veränderungen nicht ausreichend, so die Gegner*innen des Vorhabens.
Große Bauvorhaben wie das Stauseeprojekt Punilla sind keine Einzelerscheinung in Chile und symbolisieren ein Verständnis von Wachstum und Fortschritt, das lediglich auf ökonomischen Überlegungen fußt. Alternative Vorstellungen von Natur und einer Zukunft, die weniger auf extraktivistischen Tätigkeiten beruhen, erfahren wenig Gehör. Dagegen wehrt sich in San Fabián de Alico ein Bündnis an Nachbarschaftsvereinen (AOSI), die gemeinsam einen territorialen Gestaltungsplan vorlegten, der das Stauseeprojekt nicht per se ablehnt, aber die Respektierung der Gemeinschaften und ihrer Lebensweise fordert. Auch die Aktivist*innengruppe Ñuble Libre, die in San Fabián de Alico aktiv ist, kämpft gegen die Realisierung des Stausees. Der Name der Gruppe leitet sich aus der Forderung nach einem freien Fluss Ñuble, der für das Projekt gestaut werden soll, ab. Hierbei setzt Ñuble Libre insbesondere auf die Sicht- und Hörbarmachung der Direktbetroffenen und versucht gleichzeitig, Alternativen im Umgang mit der Natur und den natürlichen Ressourcen zu stärken.
Derweil gestalten sich auch die personellen Verstrickungen bezüglich des Stausees komplex und intransparent. Der Mitbegründer des Aktivist*innenbündnisses und ehemalige Verde-Politiker Claudio Almuna Garrido etwa ist inzwischen Mitglied im Parteienbündnis des rechtskonservativen Präsidenten Piñera und unterstützt den Bau des Stausees. Almuna Garridos Seitenwechsel führte zu starker Kritik und dem Vorwurf der Korruption, des Machtmissbrauchs und Verrats seitens der Betroffenen sowie einer klaren Distanzierung seitens des Aktivist*innenbüdnisses.
Die Zukunft San Fabiáns ist ungewiss. Wird das Dorf teilhaben an der Entwicklung, die der Region durch den Stausee zugute kommen soll oder verwandelt es sich in eine Opferzone (zona de sacrificio), derer es in Chile immer mehr gibt? In den letzten Jahrzehnten mussten dort verschiedensten Landschaften und die dort lebenden Menschen extraktivistischen oder touristischen Großprojekten weichen. Vielerorts regt sich aber – wie auch in San Fabián – Protest gegen solche Vorhaben, zuletzt etwa in Coñaripe (siehe LN 528). Die Zwangsräumungen in San Fabián Ende 2018 wurden nachträglich von Seiten des Umweltgerichts in Valdivia für illegal erklärt – da zunächst eine alternative Wohnmöglichkeit für die Betroffenen gefunden werden müsse, bevor die Räumung durchgeführt werden dürfe. Die italienische Firma, die den Stausee gemeinsam mit dem Ministerium für öffentliche Bauten durchsetzen will, hält jedoch an ihrem Vorhaben fest, schon innerhalb der nächsten Wochen mit dem Bau zu beginnen.

IRRWEG EXTRAKTIVISMUS

Welche Positionen konntet ihr bei der Klimakonferenz einbringen?
An erster Stelle ist es sehr wichtig, dort als Vertreter der Zivilgesellschaft hinzufahren und zu hören, was unsere Regierung sagt. Was verlangt sie? Bekommt sie Geld und wenn ja, wofür? In unserer Geschichte hat unsere Regierung uns nie erlaubt, Teil ihrer Delegation zu sein. Die mexikanische Delegation hat die Tradition, fünf NGO-Abgesandte in ihre Delegation aufzunehmen. Da unsere Regierung das nicht macht, versuchen wir mit Kollegen aus anderen Staaten wie Deutschland, Niederlande, Belgien oder Parteien wie zum Beispiel den Grünen, zu sprechen. Sie informieren uns über die Verhandlungen. Außerdem arbeiten wir mit anderen NGOs zusammen, besonders Fraueninitiativen aus Lateinamerika oder der Internationalen Vereinigung der ökologischen Landbaubewegungen in Bonn (IFOAM).

Was war die offizielle nicaraguanische Position?
Die Delegation bestand nur aus zwei Männern, die Vertreter der Regierung Paul Oquist und Javier Gutiérrez. Die zwei haben wir nicht gesehen, im Plenum blieb der Platz für Nicaragua unbesetzt. Man war anscheinend die ganze Zeit mit dem Green Climate Fund (GCF) beschäftigt. Dieser ist sehr wichtig, da er die Gelder des Pariser Klimaabkommens für Klimaprojekte in den ärmeren Ländern verwaltet. Die Entscheidungen des GCF werden sehr intransparent getroffen, obwohl dort über die Verwendung mehrerer 100 Millionen US-Dollar entschieden wird. Zur Einordnung der Rolle unseres Landes: Nicaragua hatte das Pariser Klimaabkommen zunächst nicht unterschrieben und sich auf das Anklagen der großen Klimasünder USA und EU beschränkt. Dadurch bekam Nicaragua politische Aufmerksamkeit. Nach dem Umschwenken Nicaraguas und der Unterzeichnung des Abkommens 2017 wurde ihr Delegationsleiter Oquist dann zum Vize-Präsidenten des GCF gemacht.

Nutzt die nicaraguanische Regierung Klimagelder für andere politische Interessen?
Ich denke schon. In erster Linie will sie Werbung für die eigene Regierung machen und sich gegen die internationale Isolierung wehren. Nicaragua hat in den letzten Jahrzehnten viel Geld bekommen – von europäischen Staaten, von der UNESCO – aber mit der Umwelt geht es ständig bergab. Politiker sind straflos in Umweltskandale verwickelt: Das staatliche Unternehmen Alba Forestal fuhr 2017/2018 ununterbrochen wertvolles Holz aus den Naturschutzgebieten des Nordens ab, dem Besiedeln dieser Naturschutzgebiete in Nord- und Süd-Nicaragua wird kein Riegel vorgeschoben. Im Gegenteil, illegale Siedler werden beim Rauben von indigenem Land noch unterstützt, teilweise mit Waffengewalt.

Wird das Ergebnis der Klimakonferenz einen Einfluss auf den Umweltschutz in Nicaragua haben?
Kattowitz könnte einen negativen Einfluss auf Nicaragua haben, denn die Konferenz bedeutet Macht und Geld für die Regierung und nicht für die Zivilgesellschaft. Die Klimagelder werden an die Regierung überwiesen und kommen bei den Basisinitiativen, die tatsächlich für Umwelt und Klima arbeiten, nicht an. Diese werden sogar verfolgt oder verboten.

Welche Relevanz hat dabei insebsondere der Klimaschutz in der Region?
Natürlich trägt Nicaragua zur globalen Erwärmung ungeheuer wenig bei, aber das befreit uns nicht von der Pflicht, auch unser Verhalten entsprechend zu ändern. Vor allem aber geht es für die betroffenen, armen, äußerst verletzlichen Länder wie den mittelamerikanischen darum, die nicht mehr aufhaltbaren Folgen abzumildern. Ein Beispiel ist, die Bewaldung zu erhalten, die Landwirtschaft auf Agroforstwirtschaft umzustellen und vieles mehr. Stattdessen erlaubt die Regierung das Abholzen, die Verschwendung, die Vergiftung und das Versiegen der Gewässer. Auch in diesem ungeheuer wichtigen Bereich zur Erhaltung der Lebensgrundlagen ist das Regime unwillig und unfähig. Die neoliberalen Vorgängerregierungen konnten wir durch unsere Kritik stark unter Druck setzen. Die jetzige schießt.

Kannst du uns mehr über eure Arbeit als Umwelt-NGO in Nicaragua erzählen?
Wir sind schon lange als Umwelt-NGO in Nicaragua aktiv – schon seit mehr als 30 Jahren. Verschiedene NGOs haben sich nun zusammengetan, um zum Beispiel auf die Folgen des geplanten Kanalprojekts aufmerksam zu machen und auf den generellen Irrweg des Extraktivismus. Wir versuchen, die Bauernfamilien zu unterstützen, sie zu informieren und praktische landwirtschaftliche Widerstandsarbeit mit ihnen zu initiieren. Deswegen sind wir auch in Gefahr, da die Regierung unsere Arbeit als Anstiftung zum Aufruhr wertet.

Wie hat sich der politische Druck auf euch in den letzten Jahren verändert?
Die Bauern haben seit dem Gesetz zum Kanalbau mit Protesten angefangen, sich organisiert und mit uns zusammengearbeitet. Wir haben die gesamten wissenschaftlichen Informationen und Forschungsergebnisse, aus denen hervorgeht, warum vorherige Vorhaben für einen Kanal durch Nicaragua nicht umgesetzt wurden, gesammelt, analysiert und den Bauern gegeben. Die Bauerngruppen haben sich zu einem Dachverband zusammengeschlossen, 25 Vertreter von Kommunen bilden diesen Rat. Von ihnen sind heute sechs Anführer im Gefängnis, andere leben im Exil oder verstecken sich. Sie hatten protestiert und sind mit LKWs von ihren Dörfern bis Managua gezogen. Auf die Demonstrationen antwortete die Regierung mit Polizeigewalt. Der politische Druck hat sich 2018 in einen polizeilichen, militärischen bewaffneten Druck verändert und das bei der Außerkraftsetzung aller anwendbaren Gesetze und Vorschriften.

Was wäre eine Forderung an Deutschland und europäische Staaten, wie eure Arbeit unterstützt werden könnte?
Wir als NGOs kriegen zum Teil Geld von europäischen Regierungen durch Stiftungen. Dieses Geld bekommen bisher nur Organisationen, die den Status einer juristischen Person haben. Immer mehr nicaraguanische NGOs verlieren diesen Status durch aktuelle Maßnahmen der Regierung. Sie werden enteignet, von den Bankkonten über die Büroeinrichtung bis zu ihren Gebäuden. Aktivisten werden verfolgt, immer mehr müssen fliehen oder sich verstecken. Wie können wir als „nicht eingetragene Vereine“ weiterhin Geld und Unterstützung aus Europa bekommen? In Zukunft müssen die Verwalter der Gelder für NGOs natürliche Personen sein – gegenseitiges Vertrauen und neue Methoden des Transfers und der Abrechnung müssen her. Aus den Erfahrungen mit anderen Diktaturen – wie unter Pinochet, während der Apartheid oder DDR – und der Hilfe für die Widerstandsarbeit gibt es sicher einiges zu lernen. Für Nicaragua bräuchten wir Solidarität, dass Unterstützer in Deutschland, die deutsche Regierung und andere in Europa uns helfen. Denn wenn es so weitergeht, können wir nicht nur enteignet werden, sondern auch als „Terroristen“ im Gefängnis landen. Wir brauchen größtmögliche Aufmerksamkeit, direkte materielle Hilfe sowie politischen und ökonomischen Druck auf das Regime. Die zurückgewiesene „Einmischung in interne Angelegenheiten” ist nur ein Trick des Regimes, um die Solidarität aufzuhalten.

 

„WIR WISSEN NICHT, OB WIR NOCH IM LAND ARBEITEN KÖNNEN.”

Darci Frigo, Gründer undKoordinator der Organisation Terra de Direitos und Vizepräsidentdes brasilianischen Nationalen Rates für Menschenrechte (Foto: Cleia Viana_Câmara dos Deputados)

Ihre Organisation Terra de Direitos leistet juristische Unterstützung in Landkonflikten. Insbesondere ist sie im Bundesstaat Pará aktiv, wo es die meiste Gewalt im ländlichen Raum gibt. Der rechtsradikale Präsidentschaftskandidat Jair Bolsonaro hat angekündigt, dass er die Aktionen der Landlosenbewegung MST wie terroristische Taten behandeln wird. Am Sonntag vor der Wahl hat er erklärt, dass er das Land von linken Aktivist*innen „säubern“ will. Wie bewerten sie die Situation ihrer Organisation, Terra de Direitos, und der Menschen, die sie verteidigen, sollte Bolsonaro gewinnen?
Die Drohungen Bolsonaros gegen alle linken Aktivisten sind sehr ernst zu nehmen. Er hat ja schon einzelne Organisationen benannt, gegen die er vorgehen will. Er will die zivilgesellschaftlichen Kräfte isolieren, um Wirtschaftsprojekten, die gegen die Verfassung und die Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte verstoßen, Tür und Tor zu öffnen. Insgesamt ist das eine sehr beunruhigende Situation, die alle Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen im Land betrifft. Es handelt sich um einen Angriff, der in der brasilianischen Demokratie noch vor zwei oder drei Jahren unvorstellbar war. Mit dem Impeachmentverfahren gegen Dilma Rousseff kamen diese Kräfte auf und wurden immer stärker. Durch die Korruptionsskandalen der letzten Jahre haben die traditionellen rechten Politiker ihre Glaubwürdigkeit verloren. Angesichts der sozialen, ökonomischen und politischen Krise, die Brasilien durchlebt, will die Bevölkerung einen Kandidaten, der verspricht, alles anders zu machen. Und so hat sich Bolsonaro immer präsentiert: Als der Kandidat, der es anders machen wird. Aber was er anbietet ist eine schreckliche Veränderung: Er hat mehrfach erklärt, dass er die demokratischen Institutionen nicht respektiert. Wir in den Menschenrechtsorganisationen sind nun sehr besorgt, sowohl um das Leben der Menschen, die sich in Konfliktsituationen befinden, als auch um das Fortleben unserer Organisationen.

Gewalt gegen linke Aktivist*innen und in Landkonflikten gab es in Brasilien ja auch in den letzten Jahrzehnten. Was ist das Neue an der Gewalt, die nun mit Bolsonaro droht?
Seit dem Impeachment von Dilma versucht das Agrobusiness jede Politik, die weitere Territorien von indigenen und andere traditionellen Bevölkerungsgruppen anerkennt, zu verhindern. Nach der Absetzung von Dilma Rousseff hatten die Farmer weniger Hemmungen, um im Landkonflikten Gewalt einzusetzen. In den Jahren 2012 und 2013 gab es pro Jahr um die 30 Morde im Kontext von Landkonflikten; also Morde an Aktivisten, Gemeindeanführern und so weiter. Im Jahr 2017 waren es 70 Morde. Mit dem Impeachment hat sich also die Gewalt auf dem Land praktisch verdoppelt. 80 bis 85 Prozent dieser Morde fanden im südlichen Teil Amazoniens statt, in den Bundesstaaten Rondônia, dem Norden von Mato Grosso, Pará und Tocantins, also dort, wohin die Agrarindustrie expandiert, dort wo es viele ungelöste Landkonflikte gibt und die meisten Rodungen stattfinden.
Die Gewalt in dieser Region ist bereits jetzt sehr extrem. Aber Bolsonaro beschimpft die staatlichen Kontrollbehörden wie das Umweltministerium IBAMA als linke Extremisten, die nur die Agrarindustrie behindern. Er behauptet, sie würden die Farmer und die Leute, die Wald roden, verfolgen. Bolsonaro will der Agrarindustrie die totale Freiheit geben, um den Amazonas-Regenwald zu zerstören.

Brasiliens Wirtschaft hängt zu 49 Prozent vom Export von Rohstoffen ab. Hauptsächlich handelt es sich um Erze und Soja: Das sind ja auch die Waren, die Amazonien am meisten bedrohen. Die geplanten Staudämme am Fluss Tapajós sollen ja auch eine Wasserstraße herstellen, um diese Rohstoffe aus dieser Region besser abtransportieren zu können. Ende 2016 wurde ja der Bau des größten dort geplanten Staudamms, São Luiz do Tapajós, durch das Umweltministerium IBAMA und die Indigenenbehörde FUNAI verhindert. Glauben Sie, dass diese Pläne mit Bolsonaro wieder auf den Tisch kommen?
Es reicht schon, wenn das Wirtschaftswachstum in Brasilien wieder anzieht, und diese Pläne kommen erneut auf den Tisch. Dann steigt wieder der Energiebedarf und dann kann das Thema wieder aktuell werden. Derzeit wird ja weiterhin die Fernverkehrsstraße BR-163 asphaltiert, die von den Sojaanbaugebieten in Mato Grosso zum Hafen Miritituba am Río Tapajós im Bundesstaat Pará führt. Von dort können die Rohstoffe aus dem Süden Parás und Mato Grosso über den Hafen Santarém verschifft werden. Man sagt, das sei der beste logistische Knotenpunkt für das Landesinnere, weil man über diese Route besser die Absatzmärkte in Nordamerika, Asien und Europa erreicht, als über die bisherige Route, über den Hafen von Santos in São Paulo. Diese ganzen Pläne fußen aber auf der Vorstellung, dass die brasilianische Wirtschaft Rohstoffe exportieren muss, um sich zu entwickeln, anstatt die Binnennachfrage anzukurbeln. Und dieses Entwicklungsmodell führt zu massiver Gewalt bei Landkonflikten und der Zerstörung des Regenwaldes in dieser Region. Insbesondere der Bergbau in dieser Region ist die größte Bedrohung für die ländliche Bevölkerung dort, für Indigene und andere traditionelle Bevölkerungsgruppen. Diese Pläne sehen praktisch vor, die ganze Region in einen einzigen Tagebau zu verwandeln, so viele Projekte liegen bereits vor. Dieser relativ kleine, aber sehr weit verbreitete Bergbau ist meines Erachtens eine größere Gefahr als die großen Wasserkraftwerke, denn er breitet sich auf dem ganzen Territorium aus.

Was denken Sie, wie sieht Brasiliens Zukunft mit Bolsonaro als Präsidenten aus?
Wie sich Bolsonaro konkret als Präsident verhalten wird, kann keiner sagen. Er nimmt an keinen Debatten teil, seine Forderungen sind sehr allgemein gehalten. Er erklärt nicht, wie er sie konkret umsetzen will. Er propagiert einen Antikommunismus wie aus Zeiten des Kalten Kriegs und predigt Hass, damit mobilisiert er die Leute. Dass er damit Erfolg hat, ist auch dem Versagen der bisherigen demokratischen Regierungen geschuldet, die die Verbrechen der Militärdiktatur, die militärische Struktur der Polizei und so weiter aufgearbeitet haben. Es scheint so, als ob sich diese alten Kräfte dafür rächen wollen, dass es eine Redemokratisierung gab und die Armen auf einmal mehr gesellschaftlich teilhaben. Die Armen werden als Feinde dargestellt, und man weiß nicht mal, Feinde von was oder wem sie sein sollen. Die Demokratisierung war in Brasilien abgeschlossen. Die Armen wurden der Gnade des organisierten Verbrechens überlassen. Und die Mafias, wie Comando Vermelho und Primeiro Comando da Capital, drängen immer mehr aus ihren angestammten Gebieten, in Rio de Janeiro und São Paulo, in den Norden des Landes. Die arme Bevölkerung wird so praktisch zu Geiseln dieser Verbrecher. Und diese Bevölkerung wählt dann Bolsonaro, denn der verspricht ihnen einen leichteren Zugang zu Waffen und dass er mit Gewalt gegen diese Kriminellen vorgehen wird. Aber jetzt redet Bolsonaro kaum noch davon, mit Gewalt gegen das Verbrechen vorzugehen. Er redet nur noch über die Gewalt, die er gegen linke Aktivisten anwenden will. Das ist ernst zu nehmen! Auf Whatsapp verabreden sich bereits Bolsonaro-Anhänger, um nach der Wahl Aktivisten zu terrorisieren.

Wenn er wirklich gegen den Drogenhandel vorgehen wollte, müsste er gegen die Farmer*innen vorgehen…
Da besteht ein eindeutiger Widerspruch bei Bolsonaro. Sein Sohn hat sich mehrfach mit Politikern in Rio de Janeiro getroffen, die mit der Mafia in Zusammenhang stehen. Und auf dem Land ist die Situation schon dramatisch. Viele Farmer haben bereits Milizen, die in Landkonflikten die arme Landbevölkerung terrorisieren. Bolsonaro möchte ihnen den Zugang zu Waffen noch erleichtern und verspricht ihnen, mit totaler Freiheit zu agieren. Keine Polizei der Welt tötet mehr Menschen im Einsatz, als die brasilianische und Bolsonaro will der Polizei noch die Lizenz zum Töten erteilen. Er will die Möglichkeit abschaffen, dass ein Polizist, der im Einsatz jemanden tötet, dafür belangt wird. Das alles zusammen ergibt eine explosive Mischung für Brasilien.

Wenn man das alles berücksichtigt, wie bewerten Sie die Möglichkeit für einen effektiven Widerstand gegen Bolsonaro? Und wie können wir hier in Deutschland Solidarität leisten?
Wir haben sehr wenig Zeit, um uns darauf vorzubereiten. Wir können nicht bis Januar abwarten, wenn Bolsonaro das Amt übernimmt. Alles weist darauf hin, dass die zu erwartende Explosion der Gewalt früher beginnt. Die jetzige Regierung ist sehr schwach. In Wirklichkeit wird sie von General Sergio Etchegoyen aufrecht erhalten.
Wir haben sehr wenig Zeit, um zu überlegen, wie wir Menschenrechtsverteidiger schützen können. In den letzten Tagen haben wir den Führungspersönlichkeiten von sozialen Bewegungen mitgeteilt, dass sie nicht mehr alleine herumlaufen sollen, dass sie darauf acht geben müssen, welche Informationen sie von sich preisgeben und so weiter. Der ganze zivilgesellschaftliche Aktivismus ist gefährdet. Am Sonntag vor der Wahl hatte Bolsonaro in einer Rede ja angekündigt, „mit dem Aktivismus Schluss zu machen“. Die Zivilgesellschaft in Brasilien mobilisiert schon den Widerstand dagegen, aber die Gefahr für einzelne Personen ist groß. Wir haben bereits die UNO und die Organisation Amerikanischer Staaten über die besorgniserregende Situation informiert. Es besteht die Gefahr, dass wir wieder in die Militärdiktatur zurückfallen. Wir werden auf jeden Fall sehr viel internationale Solidarität brauchen. Die internationalen Menschenrechtsorganisationen müssen Komitees für Nothilfe gründen, um Menschen zu unterstützen, die Angriffen ausgesetzt sind. Die Drohung Bolsonaros, alle auszuweisen, die anderer politischer Ansicht sind als er, ist nicht rhetorisch zu verstehen. Es ist eine reale Bedrohung. Sie könnte sogar schlimmer werden, als in der Rhetorik. Es droht die physische Auslöschung der Aktivisten. Deshalb bin ich ja gerade in Berlin, um die hiesigen Hilfsorganisationen über diese Bedrohung zu informieren, damit diese Nothilfemaßnahmen einrichten.

NOTSTAND IN QUINTERO UND PUCHUNCAVÍ

„Schluss mit den Opferzonen, Schluss mit der Verschmutzung“, fordern wieder einmal Anwohner*innen der beiden Städte Quintero und Puchuncaví, die nördlich von Valparaíso gelegen sind. In der letzten Augustwoche häuften sich Fälle von Schüler*innen verschiedener Schulen, die wegen Kopfschmerzen, Übelkeit und teils auch gestörter Sensibilität der Gliedmaßen in den örtlichen Notfallaufnahmen behandelt wurden. Die Symptome sind mögliche Anzeichen für eine Vergiftung, die durch das Einatmen von flüchtigen Kohlenwasserstoffverbindungen verursacht werden kann. Bis heute steigt die Anzahl der von den Symptomen Betroffenen. Anfang Oktober lag sie bei über 600 und Ende Oktober schon bei etwa 1000 Personen. Das regionale Ministerialsekretariat für Gesundheit rief zwei Tage nach dem Auftreten der ersten Vergiftungssymptome die mittlere Warnstufe aus. Diese Aktion hatte die zeitweise Schließung der Schulen zur Folge, sowie Sofortmaßnahmen zur Einstellung des Betriebs einiger Unternehmen, um über dem Grenzwert liegende organische Verbindungen in der Luft zu reduzieren. Die zuständigen staatlichen Stellen, in erster Linie das Umwelt- und das Gesundheitsministerium, reagierten zwar medienwirksam, aber insgesamt völlig unzureichend bei der Ergründung und Aufklärung der Vorkommnisse. So kommentierte der Pressesprecher des Ministeriums im Moment des Ausbruchs der Symptome vor dem überfüllten Krankenhaus, dass alles in bester Ordnung sei. Weiterhin wurden keinerlei Maßnahmen für statistische Erhebungen ergriffen, um auf ein Krankheitsbild und damit auf mögliche Ursachen schließen zu können. Wodurch die Symptome also tatsächlich hervorgerufen werden, wurde bislang offiziell nicht festgestellt.

Eine vom Umweltministerium erst im Februar angeschaffte „Wundermaschine“ konnte auch nicht weiterhelfen. Sie wurde zur Messung der in der Luft gelösten, flüchtigen organischen Verbindungen vor Ort eingesetzt, aber von Angestellten bedient, die die entsprechende Einweisung noch nicht erhalten hatten. Die Ergebnisse der Messung konnten daher nicht fachgerecht ausgewertet werden. Trotzdem wurde ein Teil dieser Rohergebnisse direkt an die Medien gefiltert, worauf ein weiteres Beispiel staatlicher Inkompetenz folgte: Die Nachricht wurde von Präsident Piñera und dem Gesundheitsminister kommentiert, als sei sie ein ernstzunehmendes Ergebnis der Messung des Umweltministeriums. Das offizielle Ergebnis „Kohlenwasserstoffverbindungen würden in der Luft liegen“, war schließlich so genereller Art, dass es keine weiterführende Erkenntnis brachte. Fakt ist, dass die Bevölkerung der Region seit mindestens 50 Jahren der Luft-, Boden- und Wasserverschmutzung des unzureichend kontrollierten Industriegebiets ausgesetzt ist. Dieses entstand in den sechziger Jahren, als Chile wie andere lateinamerikanische Staaten seine Wirtschaft zu diversifizieren versuchte. In dieser Phase galten selbst hoch verschmutzende Industrien als Fortschrittsmotor. Aber innerhalb der Arbeitsplätze, die dadurch geschaffen wurden, nehmen die Anwohner*innen Quinteros und Puchuncavís die prekärsten Posten ein, während Ingeneur*innen und anderes hochqualifiziertes Personal es sich finanziell leisten kann, weit abseits der belasteten Gegenden zu leben. In dem Industriegebiet ist eine ganze Bandbreite von Industrien vertreten, die durch ihre Emissionen nicht nur das einst hohe touristische Potenzial der Region einschränken, sondern auch Landwirtschaft und Fischerei. Den Anfang machte das schon genannte staatliche Unternehmen zur Ausbeutung der Kupfervorkommen Codelco. Daneben gibt es auch Firmen wie Enap und Gasmar, die Erdöl verarbeiten, sowie die Raffinerie Copec und den Chemieproduzenten Qxiqium.

Alle Einwohner*innen sind einem ernsten gesundheitlichen Risiko ausgesetzt

„Das Problem an dem Industriegebiet ist, dass die Umweltverschmutzung vielfältig ist und der Ansiedlungsprozess schrittweise stattfand“, erklärt Aníbal Vivaceta, Umweltaktivist und Facharzt für öffentliche Gesundheit sowie ehemaliger Ministerialsekretär für Gesundheit in der Region. Es gebe verschiedene, teils nachgewiesene Schadstoffbelastungen in Boden, Wasser und Luft, die kurzfristige sowie langfristige Schäden nach sich ziehen. Kohlenstoffverbindungen und Schwefeldioxide haben eher unmittelbare, nicht ganz so schwerwiegende Effekte. Schwermetalle wie Arsen sind hingegen für tiefgreifende gesundheitliche Schäden verantwortlich. Keiner dieser Schadstoffe ist allerdings auf die leichte Schulter zu nehmen, denn, so Vivaceta:„Hohe Konzentrationen an Kohlenmonoxid beeinträchtigen nachgewiesenermaßen die schulischen Leistungen und Schwefeldioxid führt zu allergieähnlichen Symptomen. Damit stellen beide eine erhebliche Einschränkung des täglichen Lebens dar.“ Die ansässigen Unternehmen selbst garantieren nur die Überwachung einiger Schadstoffe und dies machen sie auch noch unvollständig. Von den staatlichen Plänen zur Dekontaminierung wurde bislang keiner durchgeführt.

In Zukunft könnte sich die Lebensqualität der ansässigen Bevölkerung sogar noch verschlechtern, denn es stehen nach offiziellen Plänen weitere 500 Hektar für die Ausdehnung des Industriegebietes zur Verfügung. Diesen Ausbauplänen und den Emissionen der bestehenden Industrieunternehmen stellt sich, verstärkt seit 2011, eine vielfältige Widerstandsbewegung entgegen. Sie setzt sich aus Anwohner*innen selber zusammen, die von Umweltaktivst*innen, Akademiker*innen und Studierenden unterstützt wird. 2011 entzündete sich der Zorn der Bevölkerung, weil zahlreiche Schüler*innen einer Schule mit Schwermetallen vergifteten worden waren, 2014 aufgrund einer Ölpest in der Bucht. Doch noch nie war die Mobilisierung so stark und anhaltend wie jetzt. Höhepunkt war bislang eine Demonstration, die einen Teil der Überlandstraße und Zubringerwege stilllegte. Zwischenzeitlich besetzen Schüler*innen zeitgleich fünf Schulen der Orte, um ihren Protest auszudrücken. Greenpeace prägte den Begriff des „chilenischen Tschernobyl“, um die Tragweite der Situation zu verdeutlichen, die landesweit Schlagzeilen macht. Im Bewusstsein, jahrzehntelang Kontaminierungen ausgesetzt gewesen zu sein, tun die Anwohner*innen ihre Sorge um ihre Gesundheit und der ihrer Familien kund. In offenen Bürgerversammlung wurde unter anderem auch eine bessere örtliche medizinische Versorgung gefordert. Es ist möglich, dass die aktuelle Mobilisierung die Änderung einiger Umweltnormen zur Folge haben wird, aber „ob diese dann umgesetzt werden, ist eine ganz andere Frage“, so Vivaceta. Da das Zusammenleben von Industriepark und Menschen langfristig unmöglich scheine, müsse es in absehbarer Zeit entweder zu einer Umsiedlung der Betroffenen oder zu einem Strukturwandel, beispielsweise durch umweltschonendere Technologien, kommen, fügt er hinzu.

Quintero-Puchuncaví, das ist „nur“ eine von vielen sogenannten „Opferzonen“ Chiles, in deen Umweltregulierungen in höchstem Maße die Unternehmen übervorteilen. Wie ein roter Faden durchziehen diese Zonen den neoliberalen Staat und bringen unverschleiert seine Vorgehensweise zum Ausdruck.

AUF DEN KLIMAWANDEL REAGIEREN

Eine der Kleinbauern und -bäuerinnen der NARANDINO-Kooperative beim Kaffeepflücken (Foto: Narandino)

Wie macht sich der Klimawandel für die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern bemerkbar, die in Ihrer Kooperative Mitglied sind?

ANAPQUI Bolivien: Seit ungefähr zehn Jahren bekommen wir den Klimawandel verstärkt zu spüren – er verändert die Anbaubedingungen einschneidend: Die Dürren im Januar und Februar werden länger, mittags prallt die intensive Sonne auf die Quinoa-Felder, und die Winde wehen heftiger. Als Folge sinken die Ernteerträge. Zudem sind wir von wiederholten Kälteeinbrüchen, Hage

lstürzen und Überschwemmungen betroffen. Die Hochebenen der Anden sind sensible Ökosysteme, deren Böden von Wind- und Wassererosion bedroht sind. Mangelnder Regen ist eine große Herausforderung.

COSATIN Nicaragua: Seit 2011 haben unsere ProduzentInnen durch den in Lateinamerika grassierenden Kaffeepilz „Roya“ erhebliche Ernteeinbußen erlitten – so verloren wir rund 60 Prozent unserer Pflanzungen. Das zeigte uns auf dramatische Weise die Notwendigkeit, unsere Anbaukulturen zu diversifizieren. Wir mussten mühsam neue Flächen für den Anbau von Ingwer und Kurkuma suchen, wo früher Kühe weideten. In unseren Baumschulen hatten wir zum Glück Kaffeepflänzchen in verschiedenen Entwicklungsstadien, die nicht alle vom Pilz betroffen waren. Diese haben wir nachgepflanzt und behandeln sie nun präventiv mit biologischen Fungiziden aus Kalk und Schwefel. Zudem haben wir in Fortbildungen gelernt, Mikroorganismen in den Bergen zu suchen. Das sind nützliche Bakterien oder Pilze, die wir aus dem Boden ausgraben und daraus Pflanzenstärkungs-Präparate herstellen. Langfristig sind die zunehmende Trockenheit und Wasserknappheit ein großes Problem.

NORANDINO Peru: Seit einigen Jahren spielt das Wetter in unserer nördlichen Region Piura verrückt. Ein Jahr regnet es viel, dann wieder drei Jahre gar nicht. Die Böden sind erschöpft, so dass die Kaffeepflanzen vertrocknen und unsere Erträge sinken. Auch treten bislang ungekannte Schädlinge und Pflanzenkrankheiten auf. Wir sind gezwungen, nach neuen Flächen in höheren Lagen zu suchen. Die Starkregen letztes Jahr in Piura – die schlimmsten seit 1983 – haben immense Schäden angerichtet: durch Überschwemmungen ging exportfertige Panela (Rohrzucker) im Wert von 200.000 US-Dollar verloren.

Wie versuchen die Mitglieder der Kooperative ihre Produktion dem Klimawandel anzupassen?

ANAPQUI Bolivien: Wir pflanzen Windbarrieren um die Quinoa-Felder herum und wenden bei der Feldarbeit und Ernte verschiedene Bodenschutztechniken an, um Erosion zu verhindern. Zudem stellen wir Kompost aus Lamadung her, um die Bodenfruchtbarkeit und -struktur zu verbessern. Durch die Anpflanzung verschiedener einheimischer Baumarten ernten wir Früchte und Brennholz und erweitern dadurch unsere Ernährungs- und Einkommensquellen.

COSATIN Nicaragua: Wir versuchen, unsere Anbauprodukte zu diversifizieren: Neben Kaffee und Honig investieren wir zunehmend in Kräuter, Ingwer und Chili. Durch die Pflanzung verschiedener Bäume gewinnen wir Zitrusfrüchte und Nutzholz und mindern das Ernteausfallrisiko, weil die Kaffeepflanzen beschattet werden und die Böden weniger austrocknen. Außerdem haben wir eine Biodüngeranlage gebaut und in Gruppen gelernt, mit Gesteinsmehl Dünger zu präparieren, und säen Leguminosen (Pflanzen, die an ihren Wurzeln Luftstickstoff fixieren), um die Bodenfruchtbarkeit zu erhöhen. Dazu führen wir auch kleine Kampagnen durch, um konventionelle Produzent*innen zu sensibilisieren und unser Wissen weiterzugeben. Also alles an unsere Realität und unser Klima angepasste Methoden ökologischer Landwirtschaft.

NORANDINO Peru: Wir forsten im Hochland von Piura 500 Hektar Wald mit Hilfe internationaler Umwelt-NGOs wieder auf. Dadurch wird Feuchtigkeit im Wassereinzugsgebiet oberhalb der Kaffee- und Kakaopflanzungen auf 3.000 m Höhe gespeichert. Für das Projekt erhält NORANDINO internationale Klimaschutzgelder, die in Armutsbekämpfung und Maßnahme

n zur Anpassung an den Klimawandel investiert werden. Die lokalen Dorfgemeinschaften haben Komitees zur Wiederaufforstung gebildet und Baumschulen angelegt, wo sie die Setzlinge selbst ziehen. Das schafft kurz- und mittelfristig Arbeitsplätze und Einkommen, ein lokales Naturschutzgebiet und langfristig auch die Möglichkeit, nachhaltig Holz zu ernten.
Außerdem bauen die Kleinbauern neben den Exportkulturen Kaffee, Kakao und Zuckerrohr eine Vielzahl an Grundnahrungsmitteln wie Kartoffeln, Bohnen, Bananen, Mais und Obstbäume für den eigenen Bedarf an, um das Risiko von Ernteausfällen und Hunger zu reduzieren. Zudem wandeln wir degradierte, nicht-nachhaltige Reis­anbau-Flächen in ein ökologisches Agroforst­projekt um, bei dem Bananen, Kakao und Nutzholz-Baumarten kombiniert werden. Hierdurch werden Treibhausgasemissionen der Landwirtschaft wie Methan reduziert und Kohlen­dioxid gebunden.

In der herkömmlichen Landwirtschaft werden Pestizide eingesetzt. Wie gehen ihre ökologisch wirtschaftenden Kooperativen damit um?

ANAPQUI Bolivien: Die genannten Windbarrieren und Bäume sind auch ein wichtiger Schutz vor einer Kontaminierung durch konventionelle Nachbarbetriebe, die oft nur 30 Meter entfernt liegen. Wir schützen unsere eigenen Feldfrüchte durch die Herstellung biologischer Pflanzenstärkungspräparate, die die Anbaukulturen widerstandsfähig gegen Insekten und Pflanzen­krankheiten machen. So sind zum Beispiel Jauchen aus Lamadung, aus Bitterkräutern, aber auch aus Amaranth prima Abwehrmittel gegen Insekten; zudem pflanzen wir am Feldrand die Anden-Lupine, eine Leguminose, die Schädlinge fernhält.

COSATIN Nicaragua: Es gibt benachbarte, große konventionelle Betriebe. Manche sehen, wie die KleinproduzentInnen ökologischen produzieren, während sie selbst die Umwelt schädigen. Ein großer Kaffeebauer ahmt sogar schon einige unserer Öko-Praktiken nach. Zum Beispiel züchten wir einen Pilz, um einen schädlichen Käfer name

ns „Broca“ zu bekämpfen. In anderen Regionen Nicaraguas ist der Pestizideinsatz ein sehr großes Problem, zum Beispiel in den Zuckerrohrplantagen. Dort gibt es viele Leukämie- und andere Krebserkrankungen bei Farmarbeitern und Kindern. Wir dagegen setzen im Öko-Kaffeeanbau auf natürliche Prävention und Schädlingsbekämpfungsmittel, wie zum Beispiel ein auf die Blätter versprühtes Bio-Pflanzenstärkungsmittel und natürliche Fungizide aus Kalk und Schwefel. Wir stellen auch aus den Kaffee-Ernteabfällen Biodünger her und nutzen die Abwässer wieder.

NORANDINO Peru: Im Kaffeeanbau ist es leicht, auf Pestizide zu verzichten, im Kakaoanbau ist das schon schwieriger. Unsere Zertifizierer achten aber sehr darauf, dass es keine Kontaminierung gibt, zumal unsere Kakao- und Schokoladensorten bereits mehrfach international preisgekrönt wurden. Im andinen Hochland besteht in vielen Dörfern ein hoher traditioneller Zusammenhalt: die Bauern kennen sich und haben ein System interner wechselseitiger Öko-Kontrollen aufgebaut.

Welche Botschaft vermitteln Sie auf Ihrer Rundreise deutschen Verbraucher*innen?

ANAPQUI Bolivien: Wir alle können etwas dazu beitragen, um die Erderwärmung zu bekämpfen! Obwohl wir in Bolivien nur zu einem geringen Anteil den Klimawandel verursachen, sind wir besonders von ihm betroffen. Alle Menschen sollten Produkte aus nachhaltiger, ökologischer Landwirtschaft konsumieren, um den Klimawandel abzumildern.

COSATIN Nicaragua: Wir sind froh, dass wir diese Gelegenheit haben, um für unsere Produkte aus nachhaltiger Erzeugung und faire Preise zu werben, weil sich dadurch unsere Lebensqualität sehr verbessert hat. Früher waren wir sehr verletzlich und mussten teilweise als saisonale Tagelöhner zur Ernte auf großen, pestizidintensiven Kaffeeplantagen arbeiten gehen. Dank des Ökolandbaus und des Fairen Handels erzielen wir höhere Preise und können selbst ärmere Dorfmitglieder solidarisch unterstützen und ihnen Anstellung bieten. Der Konsum fair gehandelter Produkte in Deutschland ist aber

leider noch sehr niedrig! Wir hoffen, dass wir hier viele Kontakte knüpfen und Erfahrungen austauschen können, um deutsche Verbraucher zu animieren, mehr faire gehandelte Produkte zu konsumieren.

NORANDINO Peru: Bei NORANDINO haben wir viel gelernt und lernen weiterhin, es ist für uns in erster Linie eine Schule für das Leben. Hier machen wir die Dinge gut, und wir schützen die Umwelt, weil die Erde der einzige Ort ist, auf dem wir leben können.

FERIENGLÜCK UM JEDEN PREIS

Fotos: David Rojas Kienzle

Eine meterbreite Schneise der Verwüstung zieht sich durch den Wald. Auf dem Boden sind noch die Spuren des schweren Geräts zu sehen, das hundert Jahre alte Bäume umgewalzt hat. Rechts und links sind abgesägte Stämme achtlos in den verbleibenden Wald fallengelassen worden. Die von den Kettensägen ausgespuckten Späne liegen zwischen meterlangen Baumstücken. Auf den Pfützen, die sich im von Bulldozern gepflügten Pfad bilden, schimmert ein farbenfroher Ölfilm. Carla Amsteins (27) und Cristobal Punolef (26) führen uns durch Chankafiel, ein Feuchtgebiet, das nördlich am Dorf Coñaripe anschließt und das südlich vom Llancahuefluss begrenzt wird. „Spannend ist hier, dass der Fluss ursprünglich wegen der Bewegung der Erde und des Vulkans nicht so weit in diese Richtung verlief. Deswegen ist die Vegetation hier anders.“, erklärt Amsteins. „Vor 60 Jahren verlief der Fluss anders, dort wo das Schilf wächst“, ergänzt Punolef und zeigt auf eine von hohem Gras überwucherte Lichtung im Wald.

Amsteins und Punolef sind Teil eines Protestcamps, das am Rand von Chankafiel aufgebaut wurde, als Dorfbewohner*innen entdeckten, dass das Feuchtgebiet dabei war zerstört zu werden. Das gute Dutzend Aktivist*innen hat Zelte aufgeschlagen und dokumentiert diese Zerstörung, aber auch das einzigartige Ökosystem, das bedroht ist. Fischotter, Eisvögel, monitos del monte, ein vom Aussterben bedrohtes, in Chile endemisches Beuteltier, Frösche, Kröten und zahllose Pflanzenarten haben sie hier schon gesehen. „Hier werden traditionell auch changuis, eine Pilzsorte, gesammelt. Neben allem anderen hat das hier also auch eine Bedeutung für die Ernährung“, meint Punolef. „Mit den Führungen, die wir hier anbieten, machen wir gleichzeitig auch Kontrollgänge und überwachen, ob neu interveniert wurde“, ergänzt Amsteins. Bis jetzt waren die Aktivist*innen erfolgreich. Nachdem sie das Camp eingerichtet hatten, haben die Bau- und Zerstörungsmaßnahmen fürs Erste aufgehört.
Chankafiel hat neben der Bedeutung als Ökosystem auch eine besondere Bedeutung für die in der Region lebenden Mapuche. In mapuzungun, der Sprache der Mapuche, bedeutet der Name „kollektive Heilung“. Es ist ein Ort, an dem Heilpflanzen wachsen, aber auch kollektive Rituale durchgeführt werden. „Der Ort hat eine spirituelle Bedeutung, die eng mit der Biodiversität verbunden ist. In der Weltanschauung der Mapuche haben alle Lebensformen ohne Ausnahme eine Bedeutung“, meint Punolef. Neben der großflächigen Zerstörung von Wald wurde auch ein rewe, ein Totempfahl, umgepflügt und zerstört. Mittlerweile hat die Mapuchegemeinde Antimilla diesen wieder aufgestellt, um der Bedeutung des Chankafiel nochmals Nachdruck zu verleihen.

Vom Tourismus wollen alle ein bisschen abhaben

Ohnehin wurde die Schneise im Wald illegal geschlagen. Die Eigentümer*innen des Landes, auf dem das Feuchtgebiet steht, haben das Grundstück in Parzellen aufgeteilt und verkauft. Als puerto Coñaripe – Hafen Coñaripe wird das Immobilienprojekt beworben, mit privatem Zugang zum See, für Boote und Jetskis. Das Land, auf dem das passieren soll, ist rechtlich betrachtet allerdings nicht Bauland, sondern Agrarfläche. Das allerdings stört kaum im dünn besiedelten Süden Chiles. Wo kein Richter ist, ist auch kein Henker. Dabei sind nicht einmal die Eigentumsverhältnisse hundertprozentig sicher geklärt. Ganz Coñaripe ist auf Land gebaut, dessen Landtitel eigentlich Mapuchegemeinden zusteht. Nachdem das Dorf allerdings 1964 nach einem Ausbruch des Villarica-Vulkans von einem Schlammstrom vollständig zerstört wurde, wurde es etwas versetzt neu aufgebaut. „Coñaripe ist quasi illegal gebaut“, erklärt Punolef.

Dort wo heute Coñaripe steht, lebten schon seit Menschengedenken Mapuche. Wie üblich existiert das Dorf aber offiziell erst, seit weiße Siedler Ende des 19. Jahrhunderts dort ihre Hütten und Häuser bauten, um in der Holzindustrie zu arbeiten. Knapp 1.500 Einwohner*innen leben das ganze Jahr dort. In den Ferienmonaten Januar und Februar sieht die Sache ganz anders aus. Zu Zehntausenden strömen Familien aus ganz Chile in die Region. Das verschlafene Nest sowie die an Seen und Flüssen angrenzenden Nachbardörfer werden von Tourist*innen überrannt. Die Gäste selbst sind höchst willkommen, bilden sie doch die Einkommensgrundlage für die meisten Bewohner*innen. Ferienhäuser werden vermietet, der Einzelhandel boomt und einmal im Jahr, Mitte Februar, gibt es mittlerweile sogar ein Festival mit Schlagersänger*innen und Feuerwerk. Von diesem Kuchen wollen alle ein Stückchen abhaben. Scheinbar um jeden Preis. Deswegen soll auch das Ökosystem in Chankafiel zerstört werden, zahlungskräftige Käufer*innen sollen sich dort eine gated community bauen können. „Entwicklung“ ohne Rücksicht auf Verluste.

Dieses Entwicklungskonzept vertreten allerdings nicht nur lokale Eigentümer*innen von Land oder Dorfbewohner*innen. Die ganze Region scheint vom Glauben erfasst zu sein, dass der Tourismus der ökonomische Heilsbringer sein wird. So ist geplant, eine Landstraße quer durch den Nationalpark Villarrica zu bauen. Das Schutzgebiet, das bereits 1940 um den Vulkan Villarrica herum eingerichtet wurde, grenzt an einem Ende an Coñaripe, am anderen an den international bekannten Abenteuertourismushot-spot Pucón, der Tourist*innen aus der ganzen Welt anzieht, die dort raften, Ski fahren, klettern und wandern gehen. Die Hoffnung ist, dass mit der neuen Landstraße, die eben bis nach Pucón reichen soll, mehr zahlungskräftige Tourist*innen den Weg nach Coñaripe finden und dort mehr Geld hängen bleibt. Auch die Anbindung für Notfälle soll verbessert werden.

Wer am Ende von den Tourist*innen profitieren soll, ist allerdings nicht ganz klar. „Was passieren wird, ist, dass die Landstraße kommen wird. Es werden Parzellen am Rand der Straße für die Tourismusindustrie vergeben werden. Es werden Leute mit viel Kapital und technischem Wissen kommen, die schnell Projekte aufziehen können. Und für die Leute von hier, die weder Kapital, noch technisches Wissen haben, ist es drei Mal so schwierig, so ein Projekt auf die Beine zu stellen“, meint Patricio Alfari Antimilla von der Mapuchegemeinde Antimilla. Die Befürchtung ist, dass Coñaripe auch weiterhin innerchilenische Peripherie bleibt. Profite werden abgeschöpft und der lokalen Bevölkerung bleibt die Rolle der Angestellten. Schließlich werden für die Läden während der Saison billige Arbeitskräfte benötigt und die Gärten der gated community müssen ja auch noch gepflegt werden.

Rücksicht auf ökologische Belange tritt, beim Vorantreiben touristischer Entwicklung immer weiter in den Hintergrund, selbst im Nationalpark. Schon jetzt sind Teile des Parks auf der Seite von Pucón privatisiert. Kioske und Skigebiete reichen bis tief ins eigentliche Schutzgebiet hinein. Wirklich interventionsarm sind die wenigsten Bereiche. Nationalparks werden von der CONAF verwaltet, der dem Landwirtschaftsministerium unterstellten nationalen Waldbehörde. Mit einer Reform der letzten linksliberalen Regierung wurden die geschützten Bereiche, also Nationalparks, dem Umweltministerium unterstellt. „Eine der größten Kritiken an diesem Gesetz ist, dass Konzessionen für Tourismus privatisiert werden“, sagt Amsteins. „Was am Ende mit Tourismus zu tun hat, ist dem Wirtschaftsministerium unterstellt. Und das chilenische Wirtschaftssystem basiert auf Neoliberalismus und der Privatisierung von Gemeingütern.“

Die Aktivist*innen im Chankafiel haben die Hoffnung, zumindest dieses kleine Gebiet vor der vermeintlichen Entwicklung retten zu können und dem ein anderes Konzept von Tourismus entgegenzusetzen, das des kommunitären Basistourismus. „Das Konzept wurde aus Bolivien und Peru adaptiert, wo es ein Netz von indigenen Völkern gibt, die Schutzgebiete selber verwalten und Besucher empfangen“, so Amsteins. Ziel ist es, eine Form von Tourismus zu schaffen, die nicht zur Ausbeutung und Zerstörung der Natur und bestehenden Gemeinschaften führt. Das Konzept steckt allerdings noch in den Kinderschuhen. Ob sich das Projekt gegen das finanzstarke Entwicklungsmodell durchsetzen kann, ist mehr fraglich.

Der Aufbau von Strukturen und die physische Präsenz im Chankafiel sind aber nur ein Teil der Auseinandersetzung. Auch auf juristischer Ebene gehen die Aktivist*innen gegen das Projekt vor. In der Provinzhauptstadt Valdivia haben sie einen Schutzantrag gestellt. Das Gericht hat daraufhin alle Baumaßnahmen auf dem Gelände solange untersagt, bis abschließend geprüft ist, ob diesem Antrag stattgegeben wird oder nicht. Cristobal Punolef meint: „Die Leute kommen wegen der Landschaft und der Natur. Den Wald zu zerstören, das Feuchtgebiet trocken zu legen, das ist doch ein Teufelskreis. Und das alles ist Teil einer absurden Logik.“ Vielleicht bleibt es am Ende ja zumindest in Chankafiel bei lediglich einer Schneise der Zerstörung.

WEISSE SIND KRANK

In dem Buch Der letzte Herr des Waldes zeigt Madarejúwa dem Deutschen seine Welt. Es ist eine Welt der Tiere und der Jagd, eine Welt alter Bräuche und Sagen. Madarejúwa spricht durch Fischermann zu den Leser*innen. Der wenig präzise Titel dient wohl eher dem Verkauf des Buches. Fischermann betrachtet die Geschichten unter anderem „als eine Gebrauchsanweisung für den Regenwald“. Madarejúwa scheint grenzenlose Kenntnisse über Pflanzen- und Tierarten zu haben, aber auch kulinarisch weiß er bescheid: vom Raubfisch Trairá bis zum Skalare aus der Gattung „Pterophyllum“. Ausführliche Anmerkungen, inklusive Verweise auf wissenschaftliche Literatur, erklären vieles und unterziehen manche Aussagen Madarejúwas oder anderer Tenharims einer kritischen Überprüfung.

Es gelingt Fischermann dabei, nicht in ein eurozentrisches Muster des aufgeklärten Europäers zu fallen. Er macht das Unrecht und die Bevormundung deutlich. Dass das Buch vereinzelt von der zeitgemäßen Wortwahl „indigene Völker“ abweicht, wird so erklärt: Der Begriff „índio“, also Indianer, habe im Portugiesischen, anders als im Spanischen, keine negative Konnotation. Die staatliche Behörde für den Schutz der indigenen Völker heißt tatsächlich „Fundacao Nacional do Índio“. Madarejúwa sage „índio“ und manchmal „Indigener“. Er betrachte keines der Wörter als abwertend.

Fischermann ist nicht der erste Weiße, der in das Gebiet der Tenharim eindringt, wenn gleich einer der wenigen, die dies mit friedlicher Absicht tun. Als Anfang der 1970er Jahre unter Brasiliens Militärdiktatur der Bau der Transamazonica-Straße quer durch den Regenwald begann, starben viele Tenharim. „Die Transamazonica brachte die Krankheiten der Weißen. Ein Verwandter nach dem anderen wurde mit Masern, Keuchhusten, Malaria und Lungenentzündung angesteckt, sie starben nach fünf oder sechs Tagen. Diese Krankheiten hatte es vorher nie gegeben, und wir hatten keine Medizin, nicht die Medizin der Weißen“, sagt Madarejúwa.

Seit dieser Zeit haben die Tenharim keine Schamanen mehr. Der letzte konnte sein Wissen nicht weitergeben, bevor er starb. „Es bedeutet, dass wir nie wieder einen Schamanen haben werden, denn Schamanen werden nicht einfach geboren“, sagt Madarejúwa. Jetzt gebe es nur noch einen, „der die Geister sehen kann“: Topeí, „ein Enkel von Ariu’vi, dem größten Schamanen der Tenharim. Topeí sollte der nächste Schamane werden, doch am Ende blieb keine Zeit.“

Madarejúwa ist Anfang 20. Er kennt die Außenwelt,ist eine Weile in der Stadt zur Schule gegangen und spricht Portugiesisch. Die naturverbundene Lebensart vermischt sich mit der von draußen. Früher hätten die Tenharim mit Hilfe einer Schlingpflanze namens Y’po Feuer gemacht. Heute kauften sie Streichhölzer von den Weißen.

Madarejúwas Großvater sei darüber verärgert, dass viele Tenharim sich der Kultur der Weißen annäherten. „Er sagt, dass die Weißen krank sind und die Welt anstecken, dass sie selber eine Krankheit sind. Sie bestehe darin, „dass sie die Erde zerstören und dann verscherbeln.“ Bis eines Tages selbst die Mücken nicht mehr sicher sind…

„WO DIE VON OBEN ZERSTÖREN, BLÜHEN WIR UNTEN“

Foto: Tamara Kaschek

„Wir Bäuerinnen und Bauern sind vereint, obwohl die Regierung und ihre Agenten versuchen, unseren Kampf für die Verteidigung unserer Erde und unserer Souveränität zu zerstören“, sagt Francisca Ramírez. Die auch als Doña Chica bekannte Aktivistin ist eine wichtige Akteurin der Bäuerlichen Bewegung gegen den interozeanischen Kanal. Ein Kanal der bereits 2018 fertig sein sollte. Obwohl der erste Spatenstich bereits 2014 war, wurde mit dem Bau des Kanals bisher jedoch noch nicht begonnen. Tatsächlich glaubt heute fast keine*r mehr daran, dass sich tatsächlich eine neue Handelsroute vom Atlantik quer durch das Land hin zum Pazifik ziehen wird und dem Panamakanal Konkurrenz macht. Dennoch gibt es weiterhin entschiedenen Protest von der Bewegung.

Denn obwohl eine Fertigstellung des Kanals immer unwahrscheinlicher wird, bedroht das Projekt die ansässige Bevölkerung. Bereits 2012 stimmte das nicaraguanische Parlament im Schnellverfahren dem Gesetz 840 zu, das den Kanalbau und die Einzelheiten der Investitionen der chinesischen HKND Group regelt. Mit diesem Gesetz erhielt der chinesische Investor nicht nur eine 50-jährige Konzession für den Betrieb des Kanals, sondern auch das Recht auf die Bodenschätze in einem Korridor entlang der geplanten Kanalroute. Zudem ermöglicht es, dass die Konzession und somit die Landrechte in dem Gebiet an andere Investor*innen weiterverkauft werden können. Infrastrukturprojekte wie Häfen und Brücken sowie eine chinesische Freihandelszone sind ebenso Teil des neoliberalen Jahrhundertprojektes (siehe LN 504). Diese Privatisierung von Land und Regenwald, auf dem und von dem viele Menschen leben, ist ein Grund für den anhaltenden Widerstand. Die Anti-Kanal-Bewegung kämpft nicht nur gegen ökologische Schäden von möglichen Großprojekten, sondern auch gegen die Landnahme im großen Stil.

Bei diesem Kampf verteidigt die Bevölkerung ihre Rechte und Interessen gegen die Ausbreitung einer ausbeuterischen Wirtschaftsordnung. Die regierende Partei der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN) versucht derweil, den zivilgesellschaftlichen Widerstand zu unterbinden und die wirtschaftliche Interessen zu sichern. Dazu scheinen alle Mittel recht. Mit der Verbreitung von Gerüchten oder dem Versand von gefälschten Nachrichten soll zwischen den Bäuerinnen und Bauern, die entlang der geplanten Route des Kanals leben, Misstrauen geschaffen werden, um die Bewegung zu spalten.

Im Fokus stehen dabei zentrale Akteure der Bewegung, wie Doña Chica und die Anwältin Mónica López Baltodano. Für die rechtliche Aufklärung von Unregelmäßigkeiten bei der Konzessionsvergabe und ihr unermüdliches politisches Engagement für die Rechte der Gemeinden haben die Aktivistinnen auch international Anerkennung erhalten.

Bereits im Dezember 2017 verkündeten López Baltodano und Doña Chica mittels der nicaraguanischen Menschenrechtsorganisation CNIDH, dass sie mit einer Verleumdungs­kampagne der Regierung und ihren lokalen Verbündeten diskreditiert werden sollen. Beide fürchten auch um ihre physische Integrität. Die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH) hat daher entschieden, dass Doña Chica und ihre Familie durch den Staat geschützt werden müssen. CENIDH fordert, dass die CIDH beim nicaraguanischen Staat auch den Schutz von López Baltodano einfordert. Die Diffamierung der Aktivistinnen reiht sich in eine Liste von Repressionsmaßnahmen gegen kritische Umweltorganisationen ein (LN 523).

Mitte Januar legte López Baltodano ihre aktivistische Tätigkeit als Rechtsberaterin der Bewegung nieder. Sie ist auf die Themen Klimawandel und Umweltrecht spezialisiert und ficht die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes 840 rechtlich an. Ihre Entscheidung begründete sie damit, dass sich ein Teil des Rates der Bäuerlichen Bewegung gegen den Kanal von der Regierung hat kooptieren lassen, und dass einige Mitglieder die politischen Ziele der Bewegung ihren persönlichen und parteilichen Interessen untergeordnet hätten. In den in El Tule, La Unión und La Fonseca einberufenen Territorialversammlungen kritisierte sie, dass eine Zusammenarbeit nicht möglich sei, solange die parteiliche Unabhängigkeit nicht gewährleistet werde und die Gemeinden bei der Entscheidungsfindung nicht konsultiert würden.

Für die Bewegung war diese Entscheidung ein herber Schlag, aber Doña Chica und viele andere in der Bewegung solidarisierten sich mit der Anwältin. Während der Koordinator des nationalen Rates der Bewegung Medardo Mairena ihre Anschuldigungen abwies, gaben neun von 16 Leitungsmitglieder eine Erklärung heraus, in der sie ihre Genoss*innen in der Bewegung baten, die Verleumdungskampagne gegen die beiden Aktivistinnen einzustellen und die demokratischen Regeln der Bewegung zu wahren. Am 12. Februar unterzeichneten 100 territoriale Anführer*innen ein Schreiben, in dem sie Mairena nicht mehr als Koordinator anerkennen.

López Baltodano verfasste zum Jahresende eine persönliche Analyse über die Verleumdungskampagne der Regierung: „Mir sind viele Machos bekannt, die hartnäckig versucht haben, die wunderschöne Arbeit zu zermahlen, die wir in gemeinsamer Arbeit mit der bäuerlichen sozialen Bewegung in hunderten Nächten erträumt und in hunderten von Tagen realisiert haben“, schrieb sie in den sozialen Medien. Die Umweltaktivistin ist sich ihrer Stärke bewusst und beschreibt die spalterischen Taktiken: „Sie werfen mit Dreck um sich, um unsere, den Ameisen anmutende Arbeit aus dem bäuerlichen Bewusstsein zu streichen. Mit Abscheu wollen sie in meiner Freundschaft mit Doña Chica Zwietracht säen, damit wir aufhören, eine geeinte weibliche Faust zu sein.“

Doña Chica und López Baltodano lassen sich nicht einschüchtern und starten eine Gegenkampagne. 2018 möchten sie sich im Rahmen der Ruta de la Arrechura („Die Rute des Ärgers“) mit den sozialen Bewegungen in Nicaragua austauschen, weiterbilden und vernetzen, um sich gegenseitig zu stärken. Damit reagieren sie auf die sich 2017 verschärfte allgemeine politische Situation im Land: Das Misstrauen der Bevölkerung in das Wahlsystem, die zunehmende Repression, Polizeigewalt und machistische Gewalt sowie die Menschenrechts­verletzungen an der indigenen und ländlichen Bevölkerung und in den Autonomen Regionen an der Atlantikküste. Außerdem analysiert die Kampagne die zuneh­mende Straflosigkeit im Land.

Die Regierung stärkt ein ökonomisches Modell zugunsten transnationaler Konzerne und dem Kapital und zulasten der natürlichen Ressourcen des Landes. Dem möchten Doña Chica und López Baltodano mit der Diskussion eines alternativen Entwicklungsmodells und einer mutigen sozialen Bewegung entgegentreten. López Baltodano schloss ihre persönliche Analyse der Situation mit einer entschlossenen Ansage ab: „Da, wo die von oben zerstören, blühen wir unten. Uner­schütterlich werden wir weiter zusammen mit den Bäuerinnen und Bauern voranschreiten, die bereits wissen, dass, wenn die Gegenwart kämpferisch ist, die Zukunft unsere ist.“

PARALLELE ERMITTLUNGEN

Als Berta Cáceres in der Nacht vom 2. auf den 3. März 2016 ermordet wurde, bestand sofort der Verdacht, dass das Energieunternehmen DESA (Desarrollos Energéticos) in die Tat verwickelt sein könnte. Die Morddrohungen gegen Berta Cáceres und die indigene Nichtregierungsorganisation COPINH waren im Laufe der Protestaktionen gegen den Bau des Staudamms Agua Zarca immer massiver geworden. Sicherheitskräfte der DESA gingen gewaltsam gegen die Protestierenden vor, drei Mitglieder von COPINH waren bereits ermordet worden.

Die Staatsanwaltschaft in Honduras ermittelte ebenfalls in diese Richtung und stellte acht Honduraner unter Mordanklage, darunter zwei Angestellte von DESA und einen Militär. Doch auch acht Monate nach der Tat gab es keine Hinweise, dass die Staatsanwaltschaft nicht nur gegen die direkten Täter, sondern auch gegen die Auftraggeber des Mordes ermittelte. Gleichzeitig wurde der Familie die Einsicht in Akten und gesicherte Beweismittel trotz Rechtsanspruchs als Nebenklägerin verweigert.

Im November 2016 nahm daher ein Team von fünf internationalen Anwält*innen aus den USA, Kolumbien und Guatemala, die das Vertrauen der Familie von Berta Cáceres besitzen, eigene Ermittlungen auf. Die internationale Expert*innenkommission GAIPE (Grupo Asesor Internacional de Personas Expertas) sichtete rund 40.000 WhatsApp-Nachrichten, Anrufe und Videos eines Telefons aus dem Büro der DESA sowie von zwei Telefonen der Angeklagten, interviewte mehr als 30 Beteiligte auf vier Reisen nach Honduras und erhielt Zugang zu Teilen der Beweisen der Staatsanwaltschaft. Die Expert*innen kamen zu dem Schluss: „Die vorhandenen Indizien beweisen eindeutig die Beteiligung von zahlreichen staatlichen Vertretern (Polizei, Militär, Beamte) sowie ranghohen Managern und Angestellten von DESA an der Planung, Durchführung und Vertuschung des Mordes.“ Ziel der Operation seien die Auflösung von COPINH und das Ende des Widerstandes gegen das Wasserkraftwerk Agua Zarca gewesen.

GAIPE dokumentierte außerdem zahlreiche Unregelmäßigkeiten bei der Untersuchung des Mordes und kritisierte die bis heute nicht erfolgte Weitergabe von Informationen an die Nebenklage, die im Gegensatz dazu an Teilhaber*innen und Direktoren von DESA weitergeleitet wurden. GAIPE konstatiert auch eine „vorsätzliche Fahrlässigkeit“ der Finanzpartner, darunter die holländische Entwicklungsbank FMO und Finnfund. Diese hätten vorab Kenntnis der Strategien von DESA erhalten, Studien von Menschenrechtler*innen und internationalen Berater*innen aber ignoriert. Angemessene Maßnahmen zum Schutz der Rechte der indigenen Gemeinden, die von dem Staudammbau betroffen sind, hätten sie nicht ergriffen. FMO und Finnfund wiesen öffentlich „jede Behauptung von Ungesetzlichkeit in unserer Beteiligung an irgendeinem Projekt“ zurück.
Die strafrechtlichen Ermittlungen sind weiterhin nicht abgeschlossen. Die Staatsanwaltschaft in Honduras bestätigte, dass die Auftraggeber des Mordes noch nicht identifiziert wurden. DESA reagierte nicht auf den Bericht von GAIPE, wies aber bisher jede Verantwortung für die Gewalt gegen COPINH und den Mord zurück. Der Bau des Staudamms ist seit Juli 2017 für unbestimmte Zeit ausgesetzt, nachdem sich Finnfund und FMO von dem Projekt zurückgezogen hatten.

 

“VIELE ALTERNATIVEN ENTSTEHEN MITUNTER GANZ UNSPEKTAKULÄR”

Die Bilder des mit Giftschlamm verseuchten Rio Doce gingen um die Welt. Im November 2015 war der Damm eines Bergwerkdeponiebeckens im brasilianischen Bundesstatt Minas Gerais gebrochen, die Minenfirma Samarco musste sich dafür verantworten (siehe LN 504). In dem neu erschienenen Buch von Ulrich Brand und Markus Wissen ist Brasiliens größte Umweltkatastrophe ein anschauliches Beispiel für die zerstörerischen Bedingungen und Folgen unserer Produktionsweise. „Imperiale Lebensweise“ ist der Titel und zugleich der zentrale Begriff, der der kritischen Analyse der Autoren zugrunde liegt. So ist die sozial-ökologische Katastrophe vom Rio Doce exemplarisch für die verschleierten Kosten unserer Automobilität. Deutschlands Eisenerzimporte stammten 2014 zu 56 Prozent aus Brasilien. Und die deutsche Autoindustrie ist einer der größten industriellen Endverbraucher von metallischen Rohstoffen.

Mitte März berichteten zahlreiche Medien, dass im Jahr 2016 in Deutschland fast 906 Millionen Tonnen Treibhausgase freigesetzt wurden. Die Emissionen stiegen damit im Vergleich zum Vorjahr um etwa vier Millionen Tonnen laut dem Umweltbundesamt. Insbesondere der Verkehrssektor emittierte mehr: Die Emissionen liegen in dem Sektor inzwischen zwei Millionen Tonnen über dem Wert von 1990. Dabei möchte Deutschland im Jahr 2020 eigentlich 40 Prozent weniger Kohlendioxid freisetzen als 1990. Dass Industrie und Politik fundamental etwas ändern müssen, ist offensichtlich. Die Grünen-Politikerin Annalena Baerbock fordert einen Masterplan für den Verkehrsbereich: Der Warenverkehr solle von den LKWs auf die Schienen verlagert werden und Elektro-Autos müssten gefördert werden. Reicht das?

Die negativen Konsequenzen der hegemonialen Lebensweise werden ausgelagert.

Angesichts der multiplen Krisen, die uns weltweit begegnen, finden in unserer Gesellschaft zwangsläufig Veränderungen statt. Im Mainstream gewinnt die Idee einer sozial-ökologischen Transformation an Glanz. Auf den Straßen sollen zum Beispiel, so ja auch Baerbock, Elektro-Autos rollen. Brand und Wissen demaskieren die diesem Transformationsbegriff zugrundeliegende Logik: Mensch und Natur würden weiterhin zerstört und ausgebeutet. Sie sagen, unsere Lebensweise war und ist imperial. Um das deutlich zu machen, legen die Autoren in einem Kapitel den Schwerpunkt auf die „imperiale Automobilität“. Es ist aufschlussreich, was der Geländewagen-Boom in Deutschland über ungleiche Klassen- und Geschlechterverhältnisse aussagt. Aber auch eine „ökologisch modernisierte“ Automobilität mit Elektro-Autos, die an unseren Mobilitätskonzepten nichts ändert, sondern weiter Neukäufe von Privatfahrzeugen fördert, statt viel mehr aufs Fahrrad und öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen, externalisiert soziale und ökologische Kosten. Solche marktförmigen und technologischen Lösungen stellen nämlich nicht die Frage nach gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen und der notwendigen Suffizienz.

Was steckt hinter dem Begriff „imperiale Lebensweise“? Brand und Wissen fragen sich, warum eine emanzipatorische Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse trotz der sich zuspitzenden Krisen und Konflikten so schwerfällt. Stattdessen zeigten rassistische und nationalistische Reaktionen auf Migration besonders drastisch, wie der Wohlstand des globalen Nordens, der auf Kosten anderer erreicht wurde, gegen die Teilhabeansprüche Anderer gewaltsam verteidigt wird. Diese Beständigkeit ausbeuterischer Verhältnisse versuchen die Autoren mit der imperialen Lebensweise zu erklären. Sie soll vor allem die normalerweise verschleierten Grundlagen unserer alltäglichen Handlungen sichtbar machen, das heißt, die externalisierten Kosten unser Produktions-, Distributions- und Konsumnormen. In dem Buch wird dabei vor allem die imperiale Lebensweise der Bevölkerung des globalen Nordens beleuchtet, aber auch die im globalen Süden.
Allerdings sollten Leser*innen aufgrund des Titels keine tiefgehende Auseinandersetzung mit der klassischen Imperialismustheorie erwarten. In der skizzierten Geschichte der imperialen Lebensweise wird der historische Imperialismus ab 1870 benannt. Auf die Theorie beziehen sich Brand und Wissen lediglich, wenn sie erklären, dass der Kapitalismus eines nicht-kapitalistischen Außens bedarf. „Imperial“ beschreibt bei den Autoren vor allem, dass die Grundlagen und negativen Konsequenzen der hegemonialen Lebensweise ausgelagert werden. Deren globaler und ökologischer Dimension wird im Buch besonders Rechnung getragen, die Analyse der aktuellen globalen Verallgemeinerung und Vertiefung der imperialen Lebensweise gelungen mit diversen Daten fundiert. Hierzu werden vor allem die globalen Mittelklassen betrachtet.

Zerstörung und Ausbeutung halten an: Unsere Lebensweise war und ist imperial.

Brand und Wissen zeigen, warum weder eine ausschließliche Fixierung auf strukturelle Ungleichheitsverhältnisse noch einseitige Konsumkritik für eine emanzipatorische Perspektive ausreichen. Zugleich öffnet der Fokus auf die alltäglichen Handlungen – vom Autofahren über das Essen in der Schulkantine bis zur Fürsorge für die Mitmenschen – auch den Blick für Alternativen, die mitunter ebenso ganz unspektakulär im Alltag entstehen. Die Perspektive auf sozialen Widerstand, die sich durch das Buch zieht, ist ein weiterer wertvoller Beitrag zur politischen Debatte.

Dieser Blick für die „kleinen“ Handlungen hat glücklicherweise nicht zur Folge, dass die Autoren die Strukturebene aus dem Blick verlieren. Sie erläutern, wie Transformationen dem Kapitalismus inhärent sind und warum die Logik der Transformation dafür entscheidend ist, ob Veränderungen emanzipatorisch sind. Verschiedene neue Mechanismen der Inwertsetzung und Externalisierung, zum Beispiel in Form der Bioökonomie, werden erklärt (siehe LN-Dossier Nr. 13). Somit wird klar, warum „grüne Ökonomie“ die existierenden Widersprüche herrschaftskonform bearbeitet und ein grün-kapitalistisches Projekt befeuert.
Gegenhegemonie gegen die imperiale Lebensweise bedeute, strukturelle und alltägliche Alternativen zu formulieren. Brand und Wissen appellieren, in den umkämpften gesellschaftlichen (Natur-)Verhältnissen den Konflikt zu suchen und der imperialen eine solidarische Lebensweise entgegenzusetzen. Wiederholt beziehen sie sich auf (gewerkschaftliche) Arbeitskämpfe im globalen Süden und globalen Norden, auf den Widerstand indigener Gruppen oder von Feminist*innen. Somit schließt das Buch auch mit einem Blick auf andere Logiken der sozial-ökologischen Reproduktion und Akteur*innen, die die soziale Frage stellen. Ob „Ende Gelände“ für den sofortigen Kohleausstieg, Suffizienz-Debatten auf Klimacamps oder geschlechtergerechte Reproduktionsarbeit durch die „Care-Revolution“ – das letzte Kapitel inspiriert, das Buch einzupacken und aktiv zu werden.

SIEG ÜBER BERGBAUINDUSTRIE IN EL SALVADOR

Jahrelang haben soziale Bewegungen in El Salvador erbittert dafür gekämpft: für das Verbot des umweltschädlichen Bergbaus. Bis vor kurzem hat kaum einer erwartet, dass das Parlament das Anti-Bergbaugesetz noch verabschieden würde. Dann ging aber alles sehr schnell: Vor einigen Wochen hatte die Kommission für Umwelt und Klimawandel des Parlaments einen Gesetzentwurf erarbeitet. Am 29. März verabschiedete dann das Plenum einstimmig das elf Artikel umfassende Gesetz. Einen kurzen Moment lang unterbrachen die linke Regierungsbank der FMLN und die rechte Oppositionspartei ARENA ihre Streitigkeiten, um „eine einstimmige Entscheidung für den Schutz der Wasservorkommen zu treffen“, laut dem Twitter-Account des Parlaments. Im Gesetz wird das Verbot der Erkundung und des Abbaus von Metallen im Tage- und Untertagebau sowie die Nutzung der im Goldbergbau verwendeten Chemikalien Zyanid und Quecksilber unter anderem folgendermaßen begründet: “Der metallische Bergbau stellt ein Attentat gegen die Gesundheit der Einwohner El Salvadors dar und birgt ernsthafte Risiken für die Umwelt, indem er durch die Auswaschung von Schwermetallen und hochgiftigen Abfällen (…) Wälder, Böden und Wasservorkommen gefährdet.”

Es gab Freudentränen nach der Verabschiedung des Gesetzes.

Für viele Umwelt- und Menschenrechtsaktivist*innen hat die Verabschiedung eine hohe Bedeutung. Viele von ihnen haben die Abstimmung live im Parlament verfolgt: „Als wir heute hinter den Glasscheiben des Parlaments standen, haben sich viele von uns umarmt und Tränen der Freude vergossen. Das Gesetz ehrt all jene, die unzählige schlaflose Nächte in Angst verbrachten oder aufgrund ihres Widerstandes ermordet wurden“, schreibt Pedro Cabezas, Mitarbeiter von CRIPDES, einer Partnerorganisation der Christlichen Initiative Romeros (CIR), auf seiner Facebook-Seite. Die Partner*innen von CRIPDES haben die Menschen in den betroffenen Gemeinden mobilisiert und lokale Volksbefragungen gegen Bergbau organisiert.

Die sozialen Konflikte rund um den Bergbau in El Salvador haben sich in den vergangenen Jahren verschärft. Der kanadische Konzern Pacific Rim (später OceanaGold) reichte 2009 eine Klage auf 301 Millionen US-Dollar Schadensersatz beim Schiedsgericht der Weltbank (ICSID) ein. Die Regierung hatte dem Unternehmen aufgrund von Umweltbedenken und fehlender Landrechte nach einer Erkundungsphase keine Abbaulizenz erteilt. Gleichzeitig versuchte das Unternehmen, die Bevölkerung im Verwaltungsbezirk Cabañas für das Projekt zu gewinnen beziehungsweise sie zu spalten. Mit dem Versprechen, zahlreiche Arbeitsplätze und vermeintlich wohltätige Projekte zu schaffen, brachte das Unternehmen viele in den Gemeinden auf seine Seite. Die Spaltung der Gemeinden gipfelte in der Ermordung von fünf Umweltaktivist*innen, die sich für den Schutz des Gebiets vor dem hochgiftigen Goldbergbau einsetzten.

Aufwind bekam das Gesetzesprojekt erst, nachdem das ICSID im Oktober 2016 die Klage des Unternehmens ablehnte und die Rückzahlung von acht Millionen US-Dollar Prozesskosten an die Regierung El Salvadors forderte. Der Erzbischof Escobar Alas von El Salvador schloss sich der Antibergbau-Bewegung an und reichte Anfang März eine erneute Gesetzesinitiative beim Parlament ein. Es folgten zahlreiche Demonstrationen vor dem Parlament. Am 29. März stimmten dann 69 Abgeordnete (drei enthielten sich, drei waren abwesend) für die Verabschiedung und wiesen damit 16 Anträge transnationaler Konzerne auf Konzessionen zurück. Das Gesetz spiegelt die Mehrheit in der Bevölkerung wider. Laut einer Umfrage von 2015 der Zentralamerikanischen Universität in San Salvador lehnen 77 Prozent der Bevölkerung den metallischen Bergbau ab.

Das Schiedsgericht der Weltbank lehnte die Klage des Unternehmens ab.

Mit der Verabschiedung des Gesetzes ist das Thema für die Zivilgesellschaft aber noch nicht vom Tisch. Die in der Region Cabañas ansässige Stiftung El Dorado von OceanaGold hat ihre PR-Arbeit in den vergangenen Monaten intensiviert, indem sie zahlreiche vermeintlich gemeinnützige Projekte in den Gemeinden förderte oder Protestmärsche organisierte. Dabei sprach sie stets von „verantwortungsvollem Bergbau“. Kurz vor der Abstimmung veröffentlichte OceanaGold noch eine Stellungnahme und forderte die Parlamentarier*innen auf, die Modernität und Vorteile des Projekts für die Region zu bedenken. Vor einigen Tagen hat OceanaGold Arbeiter*innen nach San Salvador geschickt, um vor dem Parlament gegen das Bergbauverbot zu demonstrieren. „Wir verfolgen diese Aktivitäten mit Sorge, da es wieder zu Gewalt gegen Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen kommen könnte“, sagt Pedro Cabezas von CRIPDES. Die sozialen Bewegungen fordern nun vom Konzern, die Prozesskosten des Schiedsgerichtsverfahrens zu erstatten und sein Tochterunternehmen Minerales Torogoz sowie die Stiftung El Dorado aus dem Land abzuziehen.

Auch ein neuer Konflikt beschäftigt Organisationen wie CRIPDES. Das Gesetz sieht ein vollständiges Verbot des metallischen Bergbaus in El Salvadors vor und somit nicht nur des industriellen sondern auch des sogenannten kleinen Bergbaus. Im Verwaltungsbezirk La Unión suchen einige Hundert Kleinschürfer*innen in selbst gegrabenen Tunneln informell nach Gold. Sie befürchten nun eine Kriminalisierung und den Verlust ihrer Einkommensquelle. Es kam bereits zu ersten Streitigkeiten zwischen Aktivist*innen und Kleinschürfer*innen in der Region. Das Gesetz sieht für Kleinschüfer*innen einen Übergangszeitraum nach Inkrafttreten von zwei Jahren vor, in denen sie sich einer neuen Einkommensquelle widmen können. Der Staat will ihnen dafür Beratung sowie finanzielle und technische Unterstützung anbieten.

Das Gesetz ist nicht zuletzt ein beispielloser Erfolg internationaler Solidarität. Die “International Allies against Mining in El Salvador” mit Mitgliedsorganisationen unter anderem in Kanada, den USA, Australien und Deutschland haben die Zivilgesellschaft in El Salvador durch Delegationsreisen, Petitionen und offene Briefe an Entscheidungsträger*innen unterstützt. Die CIR hat sich aktiv an diesen Solidaritätsaktionen beteiligt.
Der „Runde Tisch gegen Bergbau“ in El Salvador hat auch immer wieder den Austausch mit betroffenen Gemeinden in anderen Ländern – auch in entlegenen Erdteilen – gesucht. Zuletzt besuchte der Gouverneur der philippinischen Provinz Nueva Vizcaya das mittelamerikanische Land. Die Regierung der Philippinen suspendierte kürzlich ein Bergbauprojekt von OceanaGold. Der Gouverneur fand bei seinem Besuch deutliche Worte: „Die Realität des sogenannten ‘verantwortungsvollen Bergbaus’ von OceanaGold auf den Philippinen ist ein Desaster. Urteilt nach dem Verhalten von OceanGold in meinem Land, nicht nach ihren Versprechen!“

Das Gesetz könnte auch den Antibergbaubewegungen in den mittelamerikanischen Nachbarländern, in Lateinamerika und weltweit Rückenwind verleihen. Auch Protestbewegungen, die sich für eine faire Handels- und Investitionspolitik weltweit einsetzen, sollten sich auf den Fall berufen: Schließlich zeigt er, dass internationale Schiedsgerichtsverfahren zu Investitionsstreitigkeiten nicht nur Konflikte anheizen, sondern auch demokratische Prozesse behindern. Das Gesetz konnte nämlich erst verabschiedet werden, nachdem eine hohe Strafzahlung wegen einer vermeintlich investitionsfeindlichen Politik El Salvadors abgewendet werden konnte.

 

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