(ÖL-)SCHLAMMSCHLACHT IM AMAZONAS

(Foto: Privat)

Es war der siebte Unfall in diesem Jahr. Am 25. September berichtete der Dorfvorsteher der indigenen Gemeinde Monterrico in der nordöstlichen Tieflandregion Loreto, Pastor Dahua, von einer erneuten Ölpest. Diesmal trat das Öl etwa zwei Stunden entfernt von der Gemeinde Nueva Alianza aus der Pipeline aus. Über einen Kilometer lang und etwa eineinhalb Meter tief ist der Ölsee, der entstanden ist. In angrenzenden Gewässern sind bereits tote Fische gefunden worden. Die Gefahr ist groß, dass das Öl in den nahegelegenen Marañón-Fluss eindringt und so noch größeren Schaden anrichtet. Viele umliegende Gemeinden sorgen sich um ihre Gesundheit und fürchten die Umweltverschmutzung. Pastor Dahua, der in Kontakt mit nationalen Umweltorganisationen steht, wurde telefonisch von der Gemeinde Nueva Alianza über den Unfall benachrichtigt. Kurz zuvor hatte er einen Helikopter zweimal über das Gebiet fliegen sehen. Danach machten sich einige Dorfbewohner*innen auf den zwei Stunden langen Weg, um den entstandenen Schaden zu begutachten.
Immer wieder gibt es im amazonischen Tiefland – nicht nur in Peru, auch in Bolivien, Brasilien oder Ecuador – Unfälle bei der Erdölförderung. Doch, was in den vergangenen Monaten in Peru geschieht, ist besorgniserregender. Praktisch jeden Monat seit Dezember ereignet sich ein ähnlicher Vorfall, bei dem Erdöl aus der Nordperuanischen Ölpipeline austritt.
Vor einigen Wochen, anlässlich des fünften Erdölunfalls in diesem Jahr, veröffentlichte die rechte, neoliberal orientierte Zeitung El Comercio am 4. September ein Editorial, in dem sie die „Modernisierung“ des staatlichen Erdölkonzerns Petro Peru verlangte. Laut El Comercio gebe es für das Staatsunternehmen zu wenige Anreize, etwas zu ändern. So werde es „anfällig dafür, die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen, um eine langfristig durchführbare Operationalität zu gewährleisten, schleifen zu lassen.“ Auf diese Weise arbeite Petro Peru allein durch Steuern und auf Kosten aller Peruaner*innen weiter. Insbesondere diejenigen, die im Staatsunternehmen „die letzte Bastion der unternehmerischen Tätigkeit des Staates“ sehen, würden sich gegen Modernisierungsversuche aber wehren. Der Text nannte namentlich den Abgeordneten für die linke Frente Amplio, Manuel Dammert, und den Präsidenten der Nationalen Koalition der Gewerkschaften von Petro Peru, Juan Castillo More. Sie sähen in den Modernisierungsplänen, die das Kabinett des neu gewählten Präsidenten Pedro Pablo Kuczynski präsentiert hatte, eine „verdeckte Privatisierung“.
Gewerkschaftschef Castillo More schrieb zu dem Editorial einen Antwortbrief, der am 15. September auch in der Zeitung publiziert wurde. Darin erklärte er, El Comercio zeige mit dem Editorial, dass es auch in der neuen Regierung wieder „seine Rolle als Nabelschnur“ für diejenigen einnehmen wolle, die weitere Privatisierungen fordern. „Sie wollen, wie schon früher, die Agenda der neuen Regierung diktieren“, warf Castillo More dem Blatt vor. „Hohe Funktionäre von Petro Peru, die nur aus politischen Überlegungen an ihre Posten gekommen sind und die weder Erfahrung in der Materie noch Sachkenntnis besitzen, erklären, die Ölaustritte seien die Folge davon, dass in den vergangenen 16 Jahren weder Inspektionen noch Wartungsarbeiten durchgeführt worden sind“, schrieb er weiter. Das seien alarmistische Aussagen, die von einer sensationslüsternen Presse aufgegriffen würden und an der Realität vorbeigingen. Bewusst werde so versucht, das Image des Staatskonzerns zu beschädigen, um weitere Privatisierungen von Ölfeldern vorzubereiten. El Comercio arbeite dazu mit einer Lobby Hand in Hand, die in dem Staatskonzern eine Beute sehe, warf Castillo More dem Blatt vor.
Etwa ein Viertel aller Vorfälle gingen auf direkte Sabotage zurück, erklärte Castillo More. Auch am 25. September in der Gemeinde Nueva Alianza wurde kurz vor der Entdeckung des Lecks ein unbekannter Hubschrauber gesichtet – viele sehen in solchen Ungereimtheiten Hinweise auf Sabotageaktionen. Aber Erdölunfälle kommen in der Region schon seit langem immer wieder vor. Und seit Jahrzehnten ist die Art, wie der peruanische Staat auf solche Umweltkatastrophen reagiert, mangelhaft.
Wenn man sich jedoch anschaut, wie Privatunternehmen im peruanischen Amazonasgebiet Öl fördern und mit Unfällen umgehen, wird deutlich, dass weitere Privatisierungen keine Lösung für die sich häufenden Ökokatastrophen sind. 2011 wurde Edwin Alejandro Berrospi als Umweltspezialist angefragt, um die Folgen eines Öllecks zu untersuchen, das in der indigenen Gemeinde Pucacuro in der Provinz Trompeteros in Loreto vorgefunden wurde. Dort war aus den Förderanlagen des argentinischen Unternehmens Plus Petro Öl ausgelaufen und hatte eine cocha, einen abgeschnittenen Flussarm im Amazonasgebiet, verschmutzt.
„Für die Bevölkerung ist das größte Problem, dass die Fische und das Wasser verseucht werden. Die indigenen Gemeinschaften im Tiefland leben vor allem von Fisch und haben auch keinen anderen Zugang zum Wasser als über die cochas und die Flüsse“, sagte Berrospi den Lateinamerika Nachrichten. Er ist Umweltingenieur aus dem zentralperuanischen Pasco und arbeitet für die Umweltorganisation Muqui, die sich unter anderem für Menschen einsetzt, die von den Folgen von Bergbau und Erdölförderung betroffen sind.
„Der See war voller Ölschlamm. Alle Fische in dieser cocha wurden vergiftet, unglaublich viele sind gestorben“, erzählte Berrospi über den Vorfall an der cocha Atiliano von 2011. Das hatte auch Folgen für die Gesundheit der Anwohner*innen: „Diese cocha ist die wichtigste Nahrungsquelle für die Menschen aus der nahegelegenen Siedlung der Indigenen. Die Menschen des Dorfes haben diesen Fisch gegessen und davon gesundheitliche Beeinträchtigungen davongetragen.“
Auf den Unfall habe das private Unternehmen aus Argentinien völlig unangemessen reagiert, erklärt Berrospi: „Die Indigenen beschwerten sich, aber die Firma blieb untätig. Die Produktion ging weiter. Vertreter der Firma sagten: Das sind nur Zwischenfälle, eigentlich arbeiten wir sauber weiter! Aber das stimmte nicht, es trat ständig Öl aus.“
Grund für den Unfall war die fahrlässige Steuerung der Anlage durch Plus Petro: „Um die Produktivität der Förderanlage zu erhöhen, haben sie mehr gepumpt als vorgesehen. Durch die größere Menge gab es mehr Reibung in den Rohren und die Temperatur in der Pipeline erhöhte sich. So stieg der Druck, die Rohre bekamen Risse und Öl trat aus.“
Das argentinische Unternehmen Plus Petro sei beileibe nicht das einzige, das durch mangelhafte Wartung seiner Anlagen die Gesundheit der amazonischen Bevölkerung aufs Spiel setze und Umweltkatastrophen in Kauf nehme, erzählt Berrospi weiter: „Ein ähnlicher Fall, den ich untersucht habe, ereignete sich 2012 in der Region Ucayali, in der Caanan de Cachiyacu. Dort ging der Unfall vom kanadischen Unternehmen Maple Gas aus. Der ganze Ucayali-Fluss (zusammen mit dem Marañón ein Quellfluss des Amazonas; Anm. d. Red.) war vom Unfall betroffen.“
Seit Beginn der Ölförderung im Amazonasgebiet kommt es regelmäßig zu Unfällen. Als in den 1990er Jahren unter der Regierung Fujimori zahlreiche staatliche Ölquellen privatisiert worden waren, änderte sich die Situation aber nicht: Auch private Erdölunternehmen verschmutzen die Umwelt. Die kanadische Firma Maple Gas ist beispielsweise seit über 40 Jahren in Peru aktiv. Entschädigung für die zahlreichen Umweltschäden, die in den Jahrzehnten entstanden sind, fordern Indigene, die um ihre Fördergebiete herum leben, vergeblich.
Denn auch ohne Unfälle sind die Folgen der Erdölforderung im Tiefland enorm: „Viele Dörfer werden für die Ölindustrie umgesiedelt. Und da viele indigene Dorfgemeinschaften keine legalisierten Landtitel haben, ist es für die Ölfirmen ein leichtes, sie einfach zu vertreiben“, erzählt Berrospi. Hinzukommen massive Umweltprobleme, gibt Berrospi zu bedenken: „Für die Förderanlagen werden große Waldflächen gerodet. Dadurch ist viel Bodenverlust zu beklagen. Wenn die Vegetation verschwindet, sind die Erosionsschäden nach Regenfällen auch viel schlimmer.“
Auch beim staatlichen Unternehmen Petro Peru kommt es zu diesen Problemen sowie zu Unfällen, zuletzt sogar vermehrt. Sind Forderungen nach einer Modernisierung bei Petro Peru somit nicht auch berechtigt? Das bejaht Berrospi, doch er gibt etwas anderes zu bedenken: „Einige Spezialisten vermuten, dass hinter den häufigen Ölunfällen bei Petro Peru eine Mafia steht, die Sabotage begeht. Es wird vermutet, dass man mit den häufiger aufkommenden Unfällen argumentieren kann, dass private Unternehmen vorsichtiger sind und weniger Unfälle produzieren. Damit wollen interessierte Parteien dann weitere Privatisierungen legitimieren.“ Berrospi steht in der Debatte mit El Comercio auf der Seite Manuel Dammerts und Castillo Mores: „El Comercio hat sich noch nie für die Interessen der indigenen Gemeinschaften interessiert, die von der Erdölförderung betroffen sind. Sie haben nur ihre ökonomischen Interessen im Kopf. Sie wollen, dass der Erdölsektor privatisiert wird. Sie haben schon früher die neoliberale Politik des Fujimorismus unterstützt.“
Doch wie würde eine Politik aussehen, die angemessen auf die aktuelle ökologische Krise in Peru reagiert? „Ich glaube, dass Petro Peru weiter als Staatsunternehmen operieren sollte. Aber die Infrastruktur muss modernisiert werden, viele Werkteile sind veraltet. Aber es ist keine Lösung, das Unternehmen zu verkaufen“, meint Berrospi. Doch eines ist ihm am wichtigsten: „Petro Peru sollte seine Mechanismen in der Umweltkontrolle verbessern, insbesondere was die Partizipation der betroffenen Bevölkerung angeht. Sie sollten in wichtigen Fragen mitentscheiden müssen.“
Glaubt Berrospi, dass die neue Regierung eine solche Politik durchsetzen wird? Darauf antwortet er mit einem klaren „Nein“ und führt aus: „Wir erwarten nichts von Pedro Pablo Kuczynski, im Gegenteil. Er ist ein Neoliberaler, der die selbe Politik verfolgt wie seine Vorgängerregierungen, Fujimori, Alan García oder Ollanta Humala und so weiter. Sein politisches Modell basiert auf Extraktivismus. Er will die Wirtschaft ausschließlich über den Abbau und Export von natürlichen Rohstoffen beleben. Die Bevölkerung ist ihm dabei völlig egal.“

EXTRAKTIVISMUS OHNE ENDE

VANESSA SCHAEFFER
Manrique ist Juristin, Umweltaktivistin und stellvertretende Direktorin des bergbaukritischen peruanischen Netzwerks CooperAcción. Anfang Juni besuchte bei einer politischen Rundreise Deutschland und die Schweiz und informierte über die sozio-ökologischen Auswirkungen des Bergbaus in Peru. (Foto: Jonas Seufert)

Pedro Pablo Kuczynski hat die Wahlen knapp gewonnen. Was bedeutet das für den Bergbau in Peru?
PPK‘s (übliche Abkürzung für Kuczynski, Anm. d. Red.) neoliberales Programm für den Bergbau ist nicht neu. Das gibt es mindestens seit den 1990ern, seit Alberto Fujimori. Fast die Hälfte des Landes war in kollektivem Besitz von Bauern und Bäuerinnen. Alle Präsidenten haben seitdem Bergbauunternehmen aggressiv angeworben und den Menschen Land weggenommen. Das wird sich nicht ändern. Aber wir hoffen, dass PPK zumindest die internationalen Standards achtet. Wie wir ihn kennengelernt haben, ist ihm das internationale Ansehen Perus wichtig. Das bedeutet erst mal eine größere Garantie für den Umweltschutz und Menschenrechte.

PPK hat bereits angekündigt, dass er „mit Keiko ins Gespräch kommen“ will. Ihre Partei hat ja die Mehrheit im Kongress. Welche Auswirkungen hätte eine Allianz der beiden?
Das wäre eigentlich keine Überraschung. Beide verfolgen das gleiche neoliberale Modell. In dem Fall müssen wir genau beobachten, welche Vereinbarungen sie treffen. Der „Fujimorismus“ steht für einen direkten Angriff auf die Menschenrechte und für Korruption. Es gibt enge Verbindungen zur Armee und zum Drogenhandel.

Intensiver Bergbau bedeutet auch immer Umweltschäden. Welche Probleme sind diesbezüglich am gravierendsten?
Zunächst ist da das Wasser. Schwermetalle, die zur Extraktion von Gold gebraucht werden, verpesten Quellen und schädigen Menschen und Tiere. Firmen bekommen Wassernutzungsrechte in Regionen zugesprochen, in denen Landwirtschaft betrieben wird. Sie leiten Flüsse um oder legen Quellen trocken. Die Menschen, die vorher das Land bewirtschaftet haben, verlieren ihre Einnahmequelle.

Das schafft natürlich Konflikte …
In Peru gibt es keine funktionierenden Institutionen, die die Menschen vor Ort einbeziehen. Alle Entscheidungen werden in Lima getroffen. Es gibt Alibi-Konsultationen, oft mit sehr technischen Daten und in einer Sprache, die die Leute nicht verstehen. Um sich zu beschweren, treten die Betroffenen einen regelrechten Leidensweg durch die Institutionen an. Alle sagen, sie seien nicht zuständig. Wenn der Konflikt dann ausbricht, kommt die Regierung und sagt: Jetzt müssen wir uns kümmern.

Kümmern in welchem Sinne? Immer wieder reagiert sie auch mit Repressionen.
Sie unterdrücken Demonstrationen nicht nur vor Ort, sondern auch durch die Gesetzgebung. 2014 wurde ein Gesetz verabschiedet, dass Polizisten vor Strafverfolgung schützte, sollten sie ihre Waffen in Konfliktsituationen nutzen. Das war eine Lizenz zum Töten. Es gab zahlreiche Verletzte und Tote rund um die Minen. Durch den Druck der Zivilgesellschaft hat die Regierung dieses absurde Gesetz zurückgenommen. Momentan werden Hunderte Menschen wegen ihrer Teilnahme an Protesten strafrechtlich verfolgt und ins Gefängnis gesteckt. In Las Bambas, einer der großen Minen, sind es 80 Leute. Sie sprechen Quechua und müssen sich ohne Anwalt einem Prozess stellen, der auf Spanisch geführt wird.

Seit geraumer Zeit sind die Rohstoffpreise im Keller – auch für Kupfer und Gold, welche besonders in Peru gefördert werden. Inwiefern schlägt sich das auf die Situation der Menschenrechte nieder?
Da gibt es einen indirekten Zusammenhang. Ein niedriger Preis heißt weniger Einnahmen für den Staat. Also hebt er die Fördermengen an. Dafür musst du Prozesse beschleunigen: bei der Vergabe, bei den Umweltanalysen, bei der Konsultation der Bevölkerung. Umwelt- und soziale Standards werden aufgeweicht.

Das ist aber auch eine Entscheidung der jeweiligen Regierung. Was müsste sich in der Regierungszeit von PPK ändern?
Wir brauchen rechtliche Instrumente, um die Betroffenen an Entscheidungen zum Bergbau teilhaben zu lassen. Hier hoffen wir auf einen Dialog mit Kuczynski. Die Konfliktzonen sind vom Bergbau abhängige Regionen, weswegen die dort lebenden Menschen eine Art Hassliebe zum Bergbau entwickelt haben. Er ist momentan die einzige Geldquelle – für Straßen, Licht und für Telefonanschlüsse. An dieser Stelle müssen wir wirtschaftliche Alternativen schaffen. Wir versuchen in den Abbaugebieten Familienbetriebe zu stärken, die nicht im Bergbau aktiv sind. Aber das braucht Zeit.

Der Bergbau ist ein globales Geschäft. Wie finden wir eine globale Antwort auf seine negativen Folgen?
Viele industrialisierte Staaten unterstützen Bergbauunternehmen finanziell. Wir müssen gemeinsam feststellen: Wer bekommt unter welchen Umständen wie viel Geld? Dann müsste es zivil- und strafrechtliche Normen in den Ländern geben, in denen solche Firmen ihren Hauptsitz haben. Eine Klage in einem Land wie Deutschland wirkt stärker als eine Klage in Peru. (In Deutschland können Firmen für Menschenrechtsverletzungen im Ausland nicht zur Rechenschaft gezogen werden, Anm.d.Red.)

Im April dieses Jahres hat die Anti-Bergbau-Aktivistin Maxima Acuña den Goldman-Umweltpreis gewonnen. Das hat für viel Wirbel in den internationalen Medien gesorgt. Wie wichtig ist das für die Arbeit vor Ort?
Das ist ein Erfolg für die sozialen Bewegungen und ein Stein im Schuh der Unternehmen. Den Fall von Maxima haben wir alle unterstützt. Die Unternehmen werden in Zukunft mit mehr Vorsicht arbeiten müssen. Kein anderes Unternehmen will eine Maxima.

AM BITTERSÜSSEN FLUSS

Fotos: Christian Russau
Fotos: Christian Russau

Beim Dammbruch der Bergwerkdeponie Fundão der Firma Samarco Mineração S.A. bei Mariana im Bundesstaat Minas Gerais gab es weder Alarm noch Notfall-Richtlinien. Als die Katastrophe passierte, schrien die Menschen: „Die Deponie ist gebrochen! Der Schlamm kommt gleich! Weg hier!“. Die Menschen rannten um ihr Leben. Dies berichtet Paula Geralda Alves aus dem kleinen Ort Bento Rodrigues, der durch die Schlammwelle dem Erdboden gleichgemacht wurde. Sie zeigt auf ihr rotes Moped, das sie zärtlich „Berenice“ nennt. „Als ich den Dammbruch mitbekam, raste ich mit Berenice durchs Dorf, lud meinen sechsjährigen Sohn João Pedro und weitere Familienmitglieder aufs Moped und brachte sie da weg.“ Dann fuhr sie zurück und holte weitere Dorfbewohner*innen, die deshalb heute noch alle leben. Warnsirenen gab es beim Bergwerk keine.
„Bis April ist der Fluss wieder sauber!“ Dies hatte der Wasserökologieforscher Paulo Rosman der Bundesuniversität Rio de Janeiro drei Wochen nach dem Dammbruch der BBC gesagt. Die Regenzeit werde dafür sorgen, dass der Schlamm über den Fluss ins Meer ausgewaschen werde.
Viel zu viel Zuversicht, wie die Sachlage heute zeigt. Denn mittlerweile zeigt sich die Schlammblase allerorten. In Bahia, 250 Kilometer nördlich der Mündung des Rio Doce, liegt das Unterwasserschutzgebiet Abrolhos. Es hat unzählige Riffe, viele Korallenarten und ist bevorzugtes Laichgebiet der Fische der Region. Die damalige Umweltminsterin Izabella Teixeira hatte wenige Wochen nach dem Dammbruch verkündet, die Schlammwalze werde sich im Meer verteilen, aber niemals so weit, dass sie Unterwasserschutzgebiete wie beispielsweise Abrolhos erreiche. Nun ist sie da. Im Rio Doce ist sie auch noch. Und aus der Samarco-Mine fließt noch weiter täglich der Klärschlamm.
Die Terra Indígena Piraquê-Açu liegt rund fünfzig Kilometer Luftlinie südlich der Atlantikmündung des Rio Doce. Piraquê-Açu heißt auf Guaraní „Großer Fisch“. Laut Behördenangaben hätte die Schlammblase auch hierhin niemals gelangen können. „Die Leute von Samarco kamen hier mit einem Lastwagen an, sprangen raus, nahmen Wasserproben und nahmen auch den verendeten boto cinza, den Guayana-Delfin, mit. Dann waren sie wieder weg und wir haben nichts mehr von ihnen gehört.“ Pedro, der Kazike der Terra Indígena Piraquê-Açu im Bundesstaat Espírito Santo, zeigt aufs Wasser. „Dort unten ist seit zwei Monaten so eine komische dickflüssige Schlammschicht. Die kannten wir vorher nicht“, sagt er. Der Schlamm sei eines Tages nach der Flut im Fluss gewesen. Ist daran der Delfin gestorben? Pedro weiß es nicht.

Was ist da bloß drin? Der Kazike Pedro beäugt jeden Morgen das Wasser in der Terra Indigena Piraquê- Açu
Was ist da bloß drin? Der Kazike Pedro beäugt jeden Morgen das Wasser in der Terra Indigena Piraquê- Açu

Er schickt seinen Sohn Rodrigo zum Tauchgang in fünf Meter Wassertiefe, um Proben dieser Schlammschicht hochzuholen. Als Rodrigo wieder auftaucht, zeigt er die dickflüssige Schlammmasse. „Wir wissen nicht, was das ist, und niemand redet mit uns.“ Pedro und Rodrigo sagen, sie haben Angst um ihr Gewässer. Angst um die Fische. Sie befürchten, dass dieser Schlamm, „von dem Bergwerk da in Minas Gerais“, wie Pedro sagt, zu ihnen gekommen ist. Sie wissen es nicht, weil niemand mit ihnen über die Wasserproben gesprochen hat.
Eine halbe Autostunde weiter liegt der kleine Küstenort Coqueiral, 30 Kilometer südlich der Mündung des Rio Doce. Die Palmen wehen im Wind, bieten Schatten auf dem Weg zum ehemaligen Firmensitz der Eukalyptusplantage, der nun ein wissenschaftliches Institut beherbergt. Hier befindet sich die ozeanografische Forschungsstation der staatlichen Universität von Espírito Santo. In der Aula hören zwei Dutzend Anwesende dem Professor Alex Bastos zu, der mit Kolleg*innen mehrerer Fachbereiche die Wasserdaten im Meer untersucht hat. Es ist das erste Mal, dass solche genauen Daten für den Mündungs- und Küstenbereich vorgestellt werden. Nach Ankunft der Schlammblase, sagt Bastos, sei der Eisengehalt im Meerwasser um den Faktor 20 angestiegen, bei Aluminium ging es um den Faktor 10 nach oben, bei Chrom und Mangan um den Faktor 5. Sehr besorgt zeigt er sich über die Folgen für die Artenvielfalt im Benthos, also im unteren Gewässerbereich. Dort sei die Zahl der Algenarten von 60 auf 25 zurückgegangen, und dies habe Auswirkungen auf die gesamte Nahrungskette.
Es gebe ja noch andere Daten, hebt Bastos an und wirft einen kurzen Blick in die vorletzte Reihe des Auditoriums. „Die Daten des Marineforschungsschiffs Vital de Oliveira, das als erstes vor Ort war und umfangreiche Datenerhebungen zu Wasser- und Sedimentqualität getätigt hat.“ Das Marineschiff verfüge über die beste Ausrüstung in Brasilien und habe Ende des Jahres die Wasserdaten der Region erhoben. „Die Daten aber sind unter Verschluss.“ Geheimhaltungsfrist: Fünf Jahre.
Bastos schaut wieder in die vorletzte Reihe, so dass die im Saal Anwesenden, die Wissenschaftler*innen, die Journalist*innen und die um ihre Existenz besorgten Fischer*innen, sich umdrehen. In der vorletzten Reihe sitzt ein Herr in Marineuniform. Er macht sich Notizen und verzieht sonst keine Miene. Auf der Anwesenheitsliste hat er sich nicht eingetragen.
Zwei Monate später. Der Druck in den Medien über die Verschlusssache wurde so groß, dass die Marine die Daten schließlich freigab. Diese zeigen, dass sich in 25 Meter Wassertiefe eine zwei Zentimeter große Schlammlache abgesetzt hat. Eine Todeszone, die sich über hunderte Quadratkilometer erstrecken könnte, so genau weiß das niemand. Die Marinedaten bestätigen zudem die Befürchtungen der Fischer: Bei Arsen, Mangan, Selen und Blei liegen die Messwerte über den zulässigen Grenzwerten.
Ortswechsel. Das Fischerdorf Regência liegt an der Mündung des Rio Doce. Eigentlich tummeln sich hier in der Brandung Surfer*innen, eine von Brasiliens wichtigsten Schildkrötenschutzzonen befindet sich hier und die kleinen Fischereiboote fahren im Fluss und aufs Meer, um Wolfsbarsche, Meeräschen, Snooks, Buntbarsche, Tigersalmler oder Krebse zu fangen.
Das Meer bei Regência ist tiefrot. Erst weit am Horizont bricht das Licht im Wasser und lässt es dort wieder bläulich schimmern. Im kleinen Hafen liegen die Boote verwaist. Ein Schild warnt vor dem Wasser. „Gebiet temporär fürs Baden ungeeignet“, steht da. Temporär?
„Ich war sieben Jahre alt, als ich anfing zu fischen. Und nun das.“ Seu Arnoilton kämpft mit den Worten. „Ich habe die Schlammwelle kommen sehen, ich war gerade mit dem Boot auf dem Fluss. Erst kam sie scheinbar langsam näher, und dann, ein paar Minuten später, war ich von ihr komplett umgeben.“ Die Fische seien aus dem Wasser gesprungen und vor dem Schlamm geflohen. Richtung Meer. „Überlebt haben nur die auch an Salzwasser angepassten Fische. Alle anderen: tot.“
Zwei Boote sind am Horizont zu sehen. Zwei Fischer entnehmen Wasserproben, damit die vor Ort entsandten Mitarbeiter*innen von Samarco die Qualität prüfen, erläutert an der kleinen Mole der Fischer Seu Zé do Sabino. Er und seine Frau Sônia sagen, kurz nachdem die Klärschlammwelle hier ankam, hätten sie viel zu tun gehabt. „Da haben wir für nicht wenig Geld die toten Fische für Samarco eingesammelt.“ 150 Reais am Tag, umgerechnet 35 Euro, hätte Samarco bezahlt, berichtet der Mittfünfziger. „Eigentlich dürfte ich das ja nicht erzählen, aber einige von uns sagten, dass da ruhig vier, fünf solche Dammbrüche kommen könnten, wenn sie dann jedesmal so ein gutes Auskommen haben.“ Aber man müsse auch sehen, dass das Samarco-Geld doch wenigstens ein wenig Kaufkraft hierher nach Regência gebracht habe. Zé zögert. Dann wird er nachdenklich und ergänzt, wie um sich zu entschuldigen. „Tourismus gibt es hier nicht mehr.“ An etlichen der pousadas, den Hostels, hängen Verkaufsschilder. Viele kleine Geschäfte haben dichtgemacht.
Es trifft die Kleinen. Sagt der Präsident der Fischer*innenvereinigung von Espírito Santo, Manuel Bueno. Alle kennen ihn unter dem Namen Nego da Pesca. Er ist wütend. Denn die Justiz hier in Espírito Santo hat am Tag zuvor den Fischfang im Meer vor der Mündung des Rio Doce komplett verboten. „Das regt mich so auf!“, sagt Nego da Pesca. Das Gericht verbot die Fischerei in drei Munizipien: In Aracruz, Linhares und einem Teil von São Mateus. Und das Verbot reicht bis in die Gegenden mit einer Wassertiefe von 25 Metern. „Damit haben sie der Kleinfischerei den Fischfang verboten.“ Denn die größeren Trawler können weiter aufs Meer hinausfahren, die kleinen nicht.

Wasserprobe in der Mündung des Rio Doce. Der Fischer Zé do Sabino hat einige Zeit lang tote Fische für Samarco eingesammelt.
Wasserprobe in der Mündung des Rio Doce. Der Fischer Zé do Sabino hat einige Zeit lang tote Fische für Samarco eingesammelt.

„Und das Kurioseste ist: Im Fluss dürfen wir fischen, im Meer nicht.“ Denn das Gericht hatte nur die Frage zu klären, ob der Fischfang im Meer verboten werden sollte. Im Fluss galt zuvor ein Fisch- und Angelverbot. Aber nicht wegen der Schlammwelle aus dem Bergwerk, sondern wegen der piracema. So heißt in Brasilien die Laichzeit der Fische von Oktober bis März, in der das Fischen verboten ist, um die Erholung der Bestände zu ermöglichen. Die Piracema lief im April aus, also ist der Fischfang im Fluss wieder automatisch erlaubt. Hat ein Gericht sich mit dieser Frage befasst? „Nein“, sagt der Fischer.
„Wir Fischer haben hier am Anfang zwei Sachen gemacht: Vor Ankunft der Schlammwelle haben wir die noch lebenden Fische eingefangen, um sie in Sicherheit zu bringen“, berichtet der Fischer Lazaro Roldão. „Das war unsere Aktion Arche Noah.“ Der junge Mann Anfang 20 erklärt, danach habe Samarco die Fischer angestellt, um die verendeten Fische einzusammeln. Die habe Samarco vergraben lassen, er wisse aber nicht, wo dies geschehen sei. Er dachte zuerst, sie würden die Fische untersuchen, um zu verstehen, woran sie gestorben seien, sagt Lazaro. „Als ich dann erfuhr, dass Samarco die Fische vergräbt, habe ich mich geweigert, mitzumachen. Ich werde doch nicht das Essen meiner Familie beerdigen.“ Und überhaupt: „Wir müssen doch wissen, was mit den Fischen nun los ist. Woran sie gestorben sind?“ Aber niemand sage ihnen etwas.
Die Firma Samarco sagt, sie hätte tausenden Kleinfischer*innen eine Kreditkarte zur Verfügung gestellt. Mit der erhalten sie jeden Monat den Gegenwert eines Mindestlohns in Höhe von umgerechnet 220 Euro. Hinzu kommt ein Aufschlag von zehn Prozent für Grundnahrungsmittel. Um diese Karte gibt es Streit. Denn nicht alle haben sie bekommen. In Regência haben von 80 Fischer*innen 20 keine Karte erhalten. „Verantwortlich war Samarco“, meint Seu Arnoilton. Er habe seinen Namen bereits im November registrieren lassen. Monatelang hielten sie hin. Letzte Woche war er wieder da, und auf einmal fanden sie seinen Namen nicht mehr auf der Liste. „Und das, obwohl mich hier alle kennen“, sagt Seu Arnoilton.
Der Fischer Frango und seine Frau Itamar sind auch zornig. Den größten Groll hegt Fischer Frango aber gegen die Fischer*innenvereinigung. Die habe im Auftrag der Samarco die Karten verteilt. Nicht alle, die Anspruch darauf haben, hätten eine bekommen. Einige aber, die nicht mal Fischer*innen seien, hätten Karten bekommen. Er selbst, Frango, hätte eigentlich Anspruch, aber die Vereinigung habe ihm mitgeteilt, seine Frau habe ja einen Job, im Heimatmuseum. Und die Karte von Samarco sei nur für die Alleinverdiener*innen von Familien gedacht.
Einig sind sich die Fischer*innen von Regência trotz allen Streits in einer Sache: Sie müssen einen Protest organisieren. Denn die Karte von Samarco gilt bis Ende April. Was danach geschieht, hängt einzig davon ab, ob die Fischer*innen genügend Proteste auf die Beine stellen können.
Hundert Kilometer weiter flussaufwärts. Seu Toninho und Dona Maria wohnen am Rio Doce, nahe Colatina. Seu Toninho ist Fischer, kann im Moment aber nicht auf den Fluss hinausfahren. Vor ein paar Tagen hat er sich die Hand verletzt, sie hat sich daraufhin entzündet. Er muss warten, bevor er wieder Fischen gehen kann. „Bevor ich mich an der Hand verletzt habe, bin ich da raus gefahren, trotz all dieses Klärschlamms“, erzählt Seu Toninho. „Ich habe am Abend zuvor immer bei der Polizeidienststelle angerufen und gefragt, ob sie neue Informationen oder Anordnungen hätten. Sagte ihnen, ich nähme das Gespräch hier auf, zur Absicherung. Morgen fahre ich raus und fische.“ Die Tonaufnahmen des Gesprächs will Seu Toninho für den Fall nutzen, dass irgendwer ihn verklagen sollte, falls er von dem Fisch krank werde.
Ein paar wenige Fische seien da noch. Bei weitem nicht so viele wie zuvor, sagt Seu Toninho. „Die meisten Fische sind kurz nach Ankunft der Schlammwelle gestorben. Die haben alle nach Luft geschnappt, so wie bei totem, verfaultem Wasser“, berichtet er. Seine Fischzucht in dem kleinen Teich, zehn Meter oberhalb des Flusses, musste er aufgeben. „Da waren 300 Kilo Fische drin, das Wasser hatte ich immer aus dem Fluss genommen“, erklärt Seu Toninho und zeigt, wo seine Pumpen sind. „Nach zehn Tagen waren alle tot. Ich musste unten den Abfluss aufmachen und alles in den Fluss ableiten.“
Auf der anderen Seite des Flusses hebt in der Ferne ein Rattern an. Es sind die Züge von Vale, die das Eisenerz an den Hafen von Vitória bringen. Der Schall bricht sich im Echo.
Seine Nachbarin habe ein neugeborenes Baby, sagt Seu Toninho. Er habe erst vor ein paar Wochen erfahren, dass sie ihr Baby mit Wasser aus dem Fluss wusch. Sie hatte kein anderes. Das Baby habe am ganzen Körper Ausschlag gehabt. Jetzt nicht mehr, denn Seu Toninho schickt seinen Sohn täglich hinüber mit mehreren Gallonen Wasser aus dem kleinen Bach, der bei seinem Grundstück vorbeifließt. „Dieser kleine Bach mit frischem Wasser ist ein Segen“, sagt er. Und verweist auf die Menschen in Colatina flussabwärts oder in Governador Valadares flussaufwärts. „Die kriegen von den Wasserbetrieben das Wasser aus dem Fluss geliefert. Sie sagen, es sei aufbereitet, aber dem traue ich nicht“. Will er bleiben? „Nein“, sagt Seu Toninho. Hier sei der Fluss tot, als Fischer könne er hier nicht mehr leben. Er sagt, er wolle hier alles verkaufen und mit seiner Familie nach Minas Gerais ziehen, wo er herstamme. Seine Frau sei von hier, der falle das wesentlich schwerer. „Aber ich denke, es geht nicht anders.“
Die indigenen Krenak leben und arbeiten auf 4.900 Hektar indigenen Territoriums in Resplendor im Osten von Minas Gerais, nahe der Grenze zu Espírito Santo. Itamar Krenak und seine Mutter Dona Deja freuen sich über den Besuch. Doch Itamars Miene ist ernst. „Ihr habt ja da unten den Fluss gesehen.“ Der Fluss hat jetzt Niedrigwasser, in den Gesteinswölbungen haben sich die Reste des Januarhochwassers angesammelt. Es ist knallorange. Beim Blick darauf wirkt es eher wie eine bemalte Wand, ganz oben ein silbriger Schimmer. Auf der anderen Seite des Flusses wieder die Eisenerz-Transporte. „Mehrmals die Stunde, tagein, tagaus, rattern die Züge“, berichtet Itamar.
Eigentlich darf man hier nicht sein. Denn Samarco hat hier einen zweistaffeligen Drahtzaun zwischen das Land der Krenak und den Fluss gezogen. „Sie sagten, das Wasser sei gefährlich für uns“, berichtet weiter unten am Wasser Irani Krenak. „Das wissen wir. Aber wir wissen nicht, wie viele und welche Schadstoffe in dem Wasser sind.“ Die Mittvierzigerin schaut auf den Fluss. Für die Krenak ist er zentraler Bezugspunkt, wirtschaftlich und kulturell. Sie nennen ihn seit altersher Watu Nek. „Wir Krenak sind traurig, denn Watu Nek ist gestorben”, erläutert Itamar. Und er fragt, woher sie die Fische zur Nahrung bekommen sollen? Woher das Trinkwasser nehmen? Das Wasser bringe das carro-pipa, der Tankwagen. „Aber die Fische?“
Die Krenak wollen nach Rio de Janeiro. Um dort ihren Protest in die Öffentlichkeit zu tragen. Denn im April treffen sich dort die Konzernchefs und -chefinnen der Vale, Miteigentümerin der Firma Samarco, auf der jährlichen Hauptversammlung.
Einige Wochen später. Das Kloster der Schwestern von der Himmelfahrt liegt auf den Hügeln von Santa Teresa, unten breitet sich Rio aus. Der Blick streift die Christus-Statue auf dem Corcovado, die Favelas, das Maracanã-Stadion, die Guanabara-Bucht, die Zona Norte und die Weiten der Baixada Fluminense, am Horizont die Bergketten der Serra. Auf der anderen Seite des Gebäudes liegt eine Aula, die an einen Sportplatz grenzt. Ein fünfköpfige Gruppe macht dort im Schatten Capoeira-Übungen, die Sonne steht schon tief. Drinnen in der Aula brüten zehn Aktivist*innen über das weitere Vorgehen. Es sind nur noch wenige Tage bis zur Aktionärsversammlung des Bergbaukonzerns Vale. Die Aktivist*innen haben sich alle eine Aktie der Firma gekauft. Damit können sie auf der Versammlung reden und den Konzernchefs die Leviten lesen. Denn der Dammbruch hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Die einzelnen Protestreden müssen aufeinander abgestimmt werden, geklärt werden, wer sich wann zu Wort meldet. Denn Redelisten gibt es nicht. Über jeden Tagesordnungspunkt wird abgestimmt. Bei der Stimmabgabe haben die Aktivist*innen dann die Möglichkeit, ihr Abstimmungsverhalten zu begründen. Und dafür haben sie drei Minuten. Und für den Höhepunkt heben sie sich eine ganz besondere Überraschung für die Vale-Konzernchefs auf.
Es ist der 25. April. Heute tagt in Rio de Janeiro, im Stadtviertel Barra da Tijuca, die Aktionärsversammlung von Vale. Zwei handvoll Aktionär*innen sind da – und die Aktivist*innen, die sich durch den Kauf einer Aktie Rederecht verschafft haben. Nach mehreren kritischen Redebeiträgen, bei denen der Versammlungsleiter mehrmals droht, ihnen das Mikrofon abzustellen, lassen die Aktivist*innen die Überraschung aus dem Sack. Die Anwältin Raphaela Lopes beantragt die Entlassung von Vorstand, Aufsichtsrat und Finanzbeirat. Die Aktivistin erläutert den geschockten Firmenvertreter*innen, dass ihnen die Kontrolle über die Firma entglitten und der Umgang mit den Folgen des Dammbruchs skandalös sei.
Das hatte es so bei Vale noch nicht gegeben. Entsprechend schmallippig reagiert Vale. Der Vorsitzende weigert sich, den Antrag entgegenzunehmen, er sei nicht Teil der Tagesordnung. Den Aktivist*innen gelingt es nach der Versammlung dennoch, den Antrag auf Entlassung ins offizielle Protokoll der Vale-Jahreshauptversammlung aufnehmen zu lassen. Immerhin.
Zeitgleich zur Aktionärsversammlung der Vale fand im Zentrum von Rio de Janeiro, am Largo da Carioca, ein Straßenprotest statt. Anwesend war auch Douglas Krenak, der aus Resplendor aus Minas Gerais nach Rio gereist war. „Wasser ist Leben“, spricht Douglas Krenak in das Mikrofon. „Und wir alle haben jetzt kein Wasser mehr.“ Der Watu Nek, der heilige Fluss, „das war der Fluss, der uns Krenak Nahrung gegeben hat, der uns gesund gemacht hat, wenn wir krank wurden.“ Watu Nek sei nun tot. „Unser Leben ist dadurch komplett zum Stillstand gekommen. Wegen dieser Art von Rohstoffausbeutung.“
Ein paar hundert Kilometer weiter nördlich rattern noch immer die Züge, schwerbeladen mit Eisenerz aus den Minen von Minas Gerais. Tagein, tagaus.

AN DEN UFERN DES KANALS

Zu Pferde Im ländlichen Nicaragua haben typische Fortbewegungsmittel vier Hufe (Fotos: Fabian Grieger)
Zu Pferde: Im ländlichen Nicaragua haben typische Fortbewegungsmittel vier Hufe (Fotos: Fabian Grieger)

Es ist ruhig am Rio Punta Gorda. Ein laues Lüftchen schiebt das Wasser in sanften Wellen Richtung Atlantik und wer genau hinsieht, kann erkennen, wie ein paar Fische ihre Bahnen durch das klare Wasser ziehen. Nicht einmal eine Brise des großen Sturms, der sich seit zweieinhalb Jahren anbahnt, lässt sich erahnen.
Seit der ersten Pressekonferenz von Präsident Daniel Ortega und dem chinesischen Investor und Milliardär Wang Jing wehen zwei Worte durch das Land, in dessen Süden nur wenige Kilometer den Pazifik und den Atlantik trennen: El canal – der Kanal. Es war im Juni 2013, als die sandinistische Regierung den Beginn des Jahrhundertprojekts verkündete und erste Einzelheiten aus dem Gesetz 840, dem Gesetz zum Bau des Kanals, bekannt wurden. Darin sichert sich die Hongkong Nicaragua Canal Development Investment Co-Group die Betreiberrechte des Kanals für 50 Jahre mit Verlängerungsoption um weitere 50 Jahre. Diese beinhalten das Recht auf die Bodenschätze, die sich auf nicaraguanischem Boden in einem Korridor um den Kanal befinden.
Laut offiziellen Angaben soll der Kanal eine Länge von 278 Kilometern und eine Breite von 530 Metern haben. Die Baukosten werden auf 50 bis 100 Milliarden US-Dollar geschätzt. Zum Vergleich: das nicaraguanische Bruttoinlandsprodukt liegt derzeit bei 11,3 Milliarden Dollar. Zusätzlich wurden Verträge mit chinesischen Interessensvertretern über die Schaffung einer chinesischen Freihandelszone und über den Bau von zwei Häfen, eines Flughafens, einer Bahnstrecke sowie diverser Autobahnen und Brücken durch chinesische Baufirmen geschlossen. Ortega zufolge schaffe dies 1,2 Millionen direkte und indirekte Arbeitsplätze. Der Investor Wang Jing spricht allerdings lediglich von 50.000 Arbeitsplätzen, von denen nur die Hälfte für Nicaraguaner*innen vorgesehen sei. Durch den Bau würden 400.000 Hektar Regenwald gerodet sowie zahlreiche Dorfbewohner*innen und Mitglieder indigener Gemeinschaften enteignet und vertrieben. Im Falle einer Verzögerung des Kanalbaus durch Widerstände in der Bevölkerung würde der nicaraguanische Staat für entstehende Einbußen gegenüber dem chinesischen Investor haftbar gemacht, ebenso für mögliche Umweltschäden.
Im Dezember 2014 gab es den ersten Spatenstich. Seitdem wurde nicht mehr weiter gegraben, der Bau liegt derzeit auf Eis. Allerdings wird allein die Diskussion um das Kanalprojekt das Land nachhaltig verändern.
Die politischen Vorgaben kommen dabei aus der Pazifikregion des Landes. Das hat bereits Tradition: Mit der Hauptstadt Managua, der Revolutionsstadt León und der Touristenmetropole Granada liegen die politischen Zentren und wichtigsten Städte des Landes im Westen. Der Kanal ist ein Projekt der Sandinist*innen, nicht zu verwechseln mit jener revolutionären Volksbewegung aus den 1970er Jahren. Es handelt sich lediglich um die übriggebliebene politische Klasse, die Ortega und seiner Partei der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN) treu geblieben ist.
Einige dieser Veteranen betreiben heute das Revolutionsmuseum in León. Ältere Männer mit vernarbten Gesichtern zeigen Schwarzweißfotos von den Straßenkämpfen und huldigen den Gründervätern der Nation. Den Kanal finden sie gut: Er bringe Wohlstand ins Land. Endlich realisiert sich ein nicaraguanischer Traum. Es sind die Worte des Präsidenten.
Nur wenige Straßen vom Stadtzentrum mit seiner Kathedrale und seinen Fassaden im Kolonialstil entfernt lebt die Familie von Vladimir Sánchez. Gemeinsam mit seiner Frau, seinem Sohn, seiner Tochter und seinen Enkeln bewohnt er zwei Zimmer. Das Wohnzimmer ist zweigeteilt: Hinten stehen ein Fernseher und drei Stühle, im vorderen Teil lagern Chips, Zahnpasta, Kaugummi und Waschmittel – Waren, die sie durch ihr Fenster zur Straße hin in Form eines Kiosks vetreiben. „Weißt du, warum ich gegen den Kanal bin?“, fragt Vladimir, um dann selbst die Antwort zu geben: „Was nützt mir ein Kanal, der erst in 100 Jahren Geld bringt? Ich werde dann schon tot sein, mein Sohn auch und meine Enkel auch.“ Von Montag bis Sonntag betreiben Eltern und Kinder den Kiosk. Besonders gut verkauft sich die Bananenmilch gegen die Hitze. Die Einnahmen eines Tages reichen, um für den nächsten Tag einzukaufen: Mittelstand in Nicaragua. Tagesgeschäft statt langjährige Zukunftsinvestitionen. Die Vorstellung, dass sich der Kanal lohnen könnte, ist fremd.
Überhaupt scheint dieser Kanal weit weg zu sein, die großen Städte tangiert er kaum.
Die entscheidende Frage bleibt: Wem bringt der Kanal etwas? Für die Regierungselite wird er sich jedenfalls lohnen, so hat Politik hier immer funktioniert. Aber für wen noch? Die Antworten fallen je nach Region sehr unterschiedlich aus.
Die durch den Kanalbau entstehende Dynamik steht in der Tradition der Besiedlungsgeschichte des einst dicht bewaldeten Landes. Wer im Westen keine Perspektive sah, zog weiter ins Landesinnere. Bäume wurden gefällt, Fincas gegründet, Dörfer entstanden. Nueva Guinea, sieben Busstunden von Managua gelegen, ist mittlerweile eine Kleinstadt. In diesen Tagen feiert der Ort, der bei der Gründung Luz de la Selva – Licht des Dschungels – hieß, 51-jähriges Jubiläum. Dschungel findet sich rund um Nueva Guinea kaum noch, dafür hat die Stadt heute einen Supermarkt, drei Bankautomaten, einen Busbahnhof und ein Baseballstadion. In der Woche des Jubiläums präsentiert sie sich von ihrer besten Seite. Beim hípico führen Pferdebesitzer ihre edelsten Hengste und Stuten vor, beim Rodeo kämpfen Cowboys in Jeans, Gummistiefeln, Hemden und mit großen Hüten mit dem Stier, um ihre vermeintliche Männlichkeit unter Beweis zu stellen. Nueva Guinea ist eine Stadt unter den Dörfern.
Der bisher größte Protestmarsch gegen den Kanal nahm hier seinen Anfang. 3.000 Bäuerinnen und Bauern zogen bis in die Hauptstadt Managua. Seit geraumer Zeit hatte es einen solchen, öffentlichen Protest gegen die Regierung nicht mehr gegeben. Politik ist kein Thema, über das gerne geredet wird: Der Bürgerkrieg hat seine Spuren hinterlassen, ebenso die Korruptionsskandale der letzten Jahrzehnte. Kaum jemand traut der Politik noch zu, die Lebensbedingungen der Bevölkerung verbessern zu können. Außerdem gibt es da noch diese Dinge, die jeder weiß, aber nicht öffentlich aussprechen mag. Die Rolle von Rosario Murillo beispielsweise, Ehefrau von Daniel Ortega. Seit einem Missbrauchsskandal um die Tochter Ortegas habe Murillo ihren Gatten in der Hand. Der Präsident regiere nicht wirklich. Überhaupt – die Sandinisten konnten ihre Versprechen an die Bevölkerung nicht einhalten. Allerdings gelang es ihnen, an der Macht zu bleiben – das „Wie“ ist umstritten.
In Nueva Guinea glauben nur wenige, dass die amtierende FSLN-Bürgermeisterin vor zwei Jahren tatsächlich die Mehrheit der Stimmen erhielt. Der politische Entscheidungsprozess zum  Kanalbau ist im Endeffekt nur die Spitze des Eisbergs.

Kampf um Lebensformen: Der Kanalbau ist für Bauern wie Don Alfonso nur die Spitze des Eisbergs
Kampf um Lebensformen: Der Kanalbau ist für Bauern wie Don Alfonso nur die Spitze des Eisbergs

Doch selbst in Nueva Guinea, dem Zentrum der sich zu Protesten organisierenden Landbevölkerung, ist die Besorgnis um den Kanalbau und seine negativen Folgen geringer geworden. Zu unsicher scheint die Finanzierung: Die erhofften Investoren bleiben aus und der Hauptgeldgeber Wang Jing hat während der jüngsten Turbulenzen an der chinesischen Börse wohl einen Großteil seines Vermögens verloren.
Am größten bleiben die Sorgen jener geschätzt 30.000 Menschen, die durch den Bau des Kanals umgesiedelt werden sollen. Doña Charito ist eine von ihnen: „Ich sage Nein, die Regierung sagt Ja. Was soll ich machen?“ Die 52-jährige betreibt ein kleines Restaurant in Polo am Rio Punta Gorda. Ihr Arbeitstag beginnt bei Sonnenaufgang und endet mit ihrem Untergang. Im Dorf gibt es einen großen Fußballplatz, um den sich ein paar Häuser reihen. Handyempfang gibt es keinen. Immer wieder reiten Bäuerinnen und Bauern auf dem Weg zu ihren Fincas ein und aus. Auf dem Fußballplatz trottet ein Maultier an einigen spielenden Hunden vorbei, beladen mit einem Tisch. Typische Transport- und Fortbewegungsmittel haben hier nunmal vier Hufe. Eine von der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) gebaute Hängebrücke, die bereits zum zweiten Mal nach vorangegangenen Zerstörungen wieder aufgebaut wurde, verbindet die beiden Flussufer.
Schon damals dachten Ausländer*innen, sie müssten der Entwicklung der Region auf die Sprünge helfen.
An der Stelle, wo heute der Rio Punta Gorda verläuft, soll der Kanal gebaut werden. Das Dorf Polo würde verschwinden. Die Regierung hat angekündigt, den Menschen ihr Gut abzukaufen, zu einem von ihr selbst bestimmten Preis. Aber: kein Landtitel, kein Geld. Ein Großteil der Menschen ginge leer aus.
Während der Trockenzeit quält sich ein mit Passagieren beladener Lastwagen auf einem Trampelpfad durch die Hügel, um nach Polo zu gelangen. Während der Regenzeit versorgen kleine Motorboote das abgelegene Dorf über den Fluss. Dieses Jahr hat die Trockenzeit einen Monat früher eingesetzt. Bereits seit Jahren sinkt der Wasserspiegel. Dadurch fiel die Bohnenernte bedeutend geringer aus, zum Entsetzen der Bäuerinnen und Bauern, deren Hauptnahrungsmittel nunmal Bohnen sind. Im ländlichen Nicaragua ist der Klimawandel keine graue Theorie, sondern gelebte Erfahrung.
Einer von Polos ersten Bewohnern ist Don Alfonso. Kraftvolle Augen verbergen sich unter seinem grauen Cowboyhut. Er ist dünn, sehr dünn, doch über seinen Arm laufen Muskelstriemen als Zeugen von fast dreißig Jahren Arbeit auf der Finca. Die Nachbarn haben gewechselt, er ist geblieben und seine Vision auch: Ökologischer Anbau. Die Natur bearbeiten, aber nicht ausbeuten. Stolz präsentiert er auf einem Tisch eine Auswahl seiner Ernte. Besondere Sorten von Kochbananen und Kartoffeln, Hibiskus, Kaffee, Kakao sowie weiteres Gemüsesorten, für die es keine deutsche Bezeichnung gibt. Manches wächst nur hier in dieser besonderen Klimazone. Don Alfonsos Finca ist ein Dschungel aus Farben, der sich über knapp 50 Hektar erstreckt. Wo sein Land endet, beginnt die Wiese des Nachbarn, über die schmatzende Rinder streifen. „Früher lebten hier fünf Familien und rundherum war Regenwald. Noch vor 15 Jahren gab es bis Puerto Principe kaum eine Finca. Heute hupt sich der Lastwagen einen Weg durch Kuhherden“, sagt Don Alfonso. „Ich würde nicht einen einzigen Baum meiner Finca gegen die beste Kuh tauschen.“ In Polo sieht das kaum jemand so wie er. „Die Leute denken, Nahrungsmittelproduktion sei von gestern und die Rinderzucht die moderne Wirtschaft“, erklärt Don Alfonso. Der Regenwald weicht den ganaderos – den Viehzüchtern.
Als sei sein Kampf um den Erhalt der Natur nicht schon hart genug, so muss er nun auch noch gegen den Kanal kämpfen. „Eines Tages hörte ich ein Geräusch, so laut, wie ich es noch nie gehört hatte.“ Ursache war ein Helikopter chinesischer Ingenieure, der auf dem Fußballplatz landeten. Sie führten Vermessungsarbeiten durch und entnahmen Bodenproben. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Bewohner von Polo nur aus dem Fernsehen vom Kanal gehört. Bis heute kam niemand von der Regierung, um mit ihnen zu sprechen. „Der Dialog ist wichtig für unser Zusammenleben. Aber mit uns redet keiner“, bemerkt Don Alfonso.
Etwas später führt er in einen kleinen Raum und zeigt seinen Schatz: eine Sammlung von Mineralien, Kristallen und prähistorischen Steinfiguren, die er in der Gegend gefunden hat. Ein Museum aus Managua wollte sie ihm abkaufen – er hat abgelehnt. Zwischen den Zeugnissen früher indigener Kulturen liegen Fundstücke aus dem Bürgerkrieg. Seit neuestem haben sich Überreste der Gesteinsproben der chinesischen Ingenieure hinzugesellt. Zeugen einer neuen Epoche? „Ich hoffe, dass ich Sie nochmal hier empfangen darf“, sagt Don Alfonso zum Abschied. 2018 soll der Kanal nach offiziellen Plänen fertiggestellt werden. Im selben Jahr würde seine Finca 40-jährigen Geburtstag feiern. Es wäre auch ihr Todestag.
Etwas weiter flussabwärts gibt es eine weitere Finca. Als das Boot anlegt, kommt jemand angeritten. Vicente Reyes, ein Mann mit festem Händedruck und sicherer Stimme, steigt vom Pferd. Von den Bäumen aus beobachten Leguane das Treiben. „Die sind auch weniger geworden“, sagt Reyes. Genau wie die Affen, die sich früher auf seiner Finca tummelten. „Nun habe ich schon lange keinen mehr gesehen“, sagt der Landwirt und lädt zum Mittagessen. Im Fernsehen schaut sein Sohn einen Animationsfilm. Er handelt von dem König eines bunten, lebendigen Waldreiches. Es wird bedroht von Termiten, die den Wald abholzen. Im Haus Fiktion, vor der Tür Realität.
Der Kampf um den Kanal ist auch ein Kampf der Lebensformen: ein auf Extraktivismus basierendes Entwicklungsmodell mit Öffnung zum Weltmarkt gegen die Subsistenzwirtschaft von Kleinbauern, die die Umwelt erhalten statt ausbeuten wollen. Die Vorstellungen gehen so weit auseinander, dass ein Dialog schwierig scheint.
Letztes Jahr verbreitete sich das Gerücht, ein Chinese sei in Polo ermordet worden. Hier sagen sie, er sei ertrunken. Allerdings hat eine Gruppe aus dem Dorf die Häuser der Chinesen niedergebrannt. „Wenn ein Chinese über den Fluss wollte, hat ihn keiner von uns mitgenommen“, sagt Reyes. Die Selbstorganisation der Bauern geht weiter, mittlerweile sind sie bewaffnet. Sollte einer enteignet werden, kommen alle zu Hilfe um das Grundstück zu verteidigen. Reyes ist die Wut anzusehen: „Die Regierung sagt, wir hätten hier nichts zu essen. Aber uns geht es gut!“
Etwas weiter im Landesinneren, nur wenige Kilometer von Polo entfernt, befindet sich eine Sperrzone, die man seit diesem Monat nicht mehr betreten darf. Was dort vor sich geht, weiß keiner so genau. Im Dorf wird gemunkelt, Guerillagruppen, die sich seit längerem im Norden des Landes formieren, befänden sich nun in der Gegend, um die Bevölkerung für ihren Kampf gegen die Regierung zu rekrutieren. Einige der ganaderos hätten sich ihnen angeschlossen. Diesen Monat hat die Regierung ihre Militärpräsenz noch einmal verstärkt.
Der Widerstand gegen den Kanal verläuft währenddessen weitestgehend friedlich. Es ist ein Paradoxon, dass die Protestbewegung hauptsächlich durch die Bevölkerung der ärmeren Teile des Landes getragen wird, die angeblich maßgeblich durch den Bau profitieren soll.
Das sind die sichtbaren Konflikte. Weitere Konflikte am Kanal bleiben derweil nicht aus. Europäische NGOs starten Petitionen um den Regenwald zu erhalten. China festigt mit und ohne Kanal seine geostrategischen Interessen in Nicaragua. Die nicaraguanische Regierung sucht den schnellen wirtschaftlichen Aufschwung. Indigene Gruppen klagen vor internationalen Gerichten gegen die Einschränkung ihrer Rechte und die Beschlagnahme ihres Territoriums.
In Polo hoffen sie, dass das vereinte „Nein“ stark genug ist. Es geht um das Grundrecht, sich durch die Erde, die man bewirtschaftet, selbst ernähren zu können. Kurz: Es geht ums Überleben.

ROTE FLUT

Kein Auslaufen Die vielen Fischerboote Chiloés bleiben in den Häfen vor Anker (Fotos: Caroline Kassin)

 

Fünf Kilometer lang und über einen Kilometer breit ist der Streifen toter Macha-Muscheln, der sich am Strand entlangzieht. Es sind Millionen solcher toter Muscheln, Fische, Krebse und anderer Meerestiere, die dieser Tage an die Küsten des südchilenischen Archipels Chiloé gespült werden. Die Rote Flut ist auf Chiloé nichts Ungewöhnliches, seit Jahren wird die Region von dieser Algenplage heimgesucht, aber dieses Jahr ist es extrem. Von offizieller Seite wird die Algenplage mit dem Klimawandel und dem dieses Jahr besonders stark ausgefallenem Wetterphänomen El Niño begründet. Aber die Chilotes sind sich sicher: Das Wetter ist höchstens teilverantwortlich für die Katastrophe. Sie geben die Hauptschuld den großen Lachsfarmen, die in großer Zahl in den Gewässern um Chiloé produzieren.

Auch verschiedene zivilgesellschaftliche Organisationen halten eine Überproduktion durch die Lachsindustrie für die Ursache; diese hätte das Ökosystem derart stark aus dem Gleichgewicht gebracht und somit ein massives Fischsterben in den Farmen ausgelöst. Um dem zu begegnen, kamen Unmengen von Antibiotika zum Einsatz – 450.000 Kilo im Jahr 2013, laut der chilenischen Fischereibehörde Sernapesca. Die Fischexkremente aus den riesigen Lachsfarmen und die Entsorgung von insgesamt fast 40.000 Tonnen toter Fische haben am Meeresgrund einen perfekten Nährboden für die giftige Alge geschaffen. Und die Regierung, so der Vorwurf, habe die Unternehmen gewähren lassen – es gibt keine wirksamen Regulierungen und Umweltstandards zum Schutz des Meeres und der Menschen. Die Entsorgung von etwa 4.000 Tonnen toter Lachse auf einen Schlag im März, unter Aufsicht und mit Hilfe der Marine und Sernapesca, gilt für viele als der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.

„Das Meer ist keine Mülldeponie“ heißt es auf einem Banner, das Greenpeace-Aktivist*innen Ende Mai vor der Lachsfarm Marine Harvest aufspannten. „Wir sind hier, um auf die Folgen aufmerksam zu machen, die die Ausweitung der Lachsindustrie auf die Umwelt und die Bewohner Chiloés hat. Diese Industrie ist überhaupt nicht effektiv reguliert und wir sehen keinen politischen Willen, dies zu ändern, um so dem Grundproblem zu begegnen, das hinter dieser Katastrophe steht“, sagt Estefanía González, Koordinatorin der Kampagne von Greenpeace Chile. Die Behörden hätten selbst zugegeben, dass sie die Entsorgung im Meer autorisiert hätten, weil man nicht wusste, wohin mit den als gefährlich eingestuften Massen an verwestem Fisch. „Wer kam denn überhaupt auf die Idee, eine Industrie zu erlauben, die 37.000 Tonnen vergammelten Fisch produziert, ohne dafür angemessene Entsorgungspläne zu haben?“, fragt Estefanía González.

dscn2311Es ist bereits das zweite große Fischsterben um Chiloé innerhalb eines Jahrzehntes. 2007 verursachte ein Virus die größte sozio-ökonomische und gesundheitliche Krise in der Geschichte des Archipels – es entstanden Kosten in Höhe von fünf Milliarden US-Dollar, die Lachsproduktion brach um 60 Prozent ein und 26.000 Beschäftigte wurden entlassen. Eine der ersten Maßnahmen der damaligen Regierung Michelle Bachelets waren Kredite in Höhe von 450 Millionen US-Dollar für die Lachsindustrie, die damals schon unter Verdacht stand, das Fischsterben mit ihrer unverantwortlichen Produktion selber verursacht zu haben. Und das, obwohl die Unternehmen trotz der Einbrüche Exporte über 2,4 Milliarden US-Dollar verbuchen konnten. Maßgeblich beteiligt an diesem Prozess war auch Felipe Sandoval, damals Staatssekretär für Fischerei und Aquakultur – heute ist er Vorsitzender der Lobbygruppe SalmónChile, der Interessensvertretung der lachsexportierenden Unternehmen Chiles. Mit seinen direkten Kontakten in die Regierung soll er die Unternehmen auch dieses Mal aus dem Schlamassel ziehen.

Während die milliardenschwere Lachsindustrie auch dieses Mal auf die Hilfe vom Staat hoffen kann, stehen die Menschen auf Chiloé vor dem Nichts. Viele wissen nicht, wie sie sich und ihre Familien in den nächsten Monaten ernähren sollen. Deswegen fordern sie Unterstützung von der Regierung, doch diese gibt sich zögerlich. Aber auf Chiloé kann und will man nicht warten. Seit Wochen protestieren die Chilotes mit Demonstrationen und Straßenblockaden, mehrere Zufahrtswege auf die Insel sind blockiert. Viele zivilgesellschaftliche Organisationen und Bewegungen haben sich mit ihnen solidarisiert. Auch Anführer*innen der Studierendenbewegung sind trotz der eigenen Großproteste auf die Insel gereist. „Wir als Studenten rufen zur Solidarität mit der Bevölkerung Chiloés auf. Dieses Problem betrifft nicht nur Chiloé, sondern das ganze Land!“, sagte Marta Matamala, Sprecherin des Studierendenverbands CONFECH. Solidaritätsdemonstrationen in der Hauptstadt Santiago, bei der Aktivist*innen auch tote Lachse in die Wasserbecken vor dem Regierungspalast La Moneda warfen, wurden von der Polizei gewaltsam zerschlagen.

Mit den Protesten soll der Druck auf die Regierung erhöht werden, aber die Verhandlungen gehen nur langsam voran. Umgerechnet etwa 130 Euro Entschädigung wurde den Fischer*innen von der Regierung Bachelets angeboten – zu wenig, wie die meisten finden. Eine Familie lässt sich in Chile davon jedenfalls nicht ernähren. Die Fischer*innen fordern mindestens das Dreifache für die kommenden sechs Monate. „Wenn es um die armen Leute geht, werden alle Finanzreserven mit einem doppelten Schloss versehen, aber sobald es die Industrie und Politik zu entschädigen gilt, öffnen sich die Kassen plötzlich“, sagte Humberto Paredes, der für die Fischer*innen mit der Regierung verhandelt gegenüber CNN Chile. „Seit Jahren beobachten wir, wie der Staat die Lachsindustrie mit Millionen entschädigt. Aber heute sind sie nicht einmal in der Lage zu sagen: ‚Das ist, was wir haben, um das Problem zu lösen‘“, kritisierte er das Verhalten der Regierung nach einem Gespräch mit Wirtschaftsminister Céspedes und Fischereistaatssekretär Súnico. Wegen der offenbaren Inkompetenz der beiden, forderte Paredes die direkte Intervention Michelle Bachelets: „Ich glaube, wenn die Präsidentin nicht eingreift, wird es zu Blutvergießen kommen“.

Die Situation auf Chiloé zeigt wieder einmal, welche Folgen das neoliberale Entwicklungsmodell Chiles für Mensch und Umwelt hat. Die Krise um die Rote Flut steht für viele Krisen im ganzen Land. Ein Land, das einem System unterworfen wurde, das Wirtschaftswachstum um jeden Preis fordert und in dem alle Regierungen seit der Militärdiktatur Pinochets die extraktivistischen Industrien privilegiert haben – ob Lachs-, Forst-, Bergbau- oder Energieunternehmen. Die Privatisierung aller Ressourcen und Lebensbereiche und die Nichtregulierung der Wirtschaft ist zum Vorteil einiger weniger und zum Nachteil vieler. Anhaltende Proteste, wie jetzt auf Chiloé oder die gleichzeitig stattfindenden Großproteste der Studierenden im ganzen Land, zeigen aber auch, wie immer größere Teile der Gesellschaft sich diesem System entgegenstellen – fest entschlossen, sich das Land wieder zu eigen zu machen. Auf ruhiges Fahrwasser kann sich die Regierung Bachelets also auch nach der Roten Flut nicht freuen.

 

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