Ein Hauch von Hoffnung

Q’ equchi’ Maya gegen den Staat Proteste gegen Repression in Guatemala (Foto Aj Ral Ch’och’)

Das Strafverfahren gegen dich läuft seit 2017. Was ist der aktuelle Stand?

Damals wurde ich gemeinsam mit elf weiteren Personen angeklagt. Es ging um meine Recherchen zu den Verfärbungen im Izabal-See. Aktuell sind noch vier Personen angeklagt: Die Fischer Tomás Che, Cristobal Pop, Vicente Rax und ich. Wir hoffen, dass das Verfahren aus Mangel an Beweisen eingestellt wird, da die Anklage auf falschen Behauptungen beruht.

Ich muss alle 30 Tage bei der Staatsanwaltschaft erscheinen und mich melden. Das ist eine Kontrollmaßnahme, die mich daran hindert, mich für längere Zeit an einem anderen Ort aufzuhalten und die mich zudem in meiner Arbeit einschränkt.

Im Jahr 2021 wurdest du ein weiteres Mal angeklagt.

Da ich trotz der Umstände weiter gearbeitet habe, unter anderem in dem Projekt „Mining Secrets“, hat der Staat ein weiteres Mal versucht, mich rechtlich zu verfolgen. Im Oktober 2021 war ich im Rahmen meiner journalistischen Tätigkeit auf einer Demonstration. Sie verlief friedlich, bis die Polizei die Autoritäten des consejo ancestral (dt. Ältestenrat) und auch mich angriff. Danach behaupteten die Polizist*innen, ich und weitere elf Personen hätten sie angegriffen und zeigten uns an. Im Januar 2022 wurde Haftbefehl gegen uns erlassen. Als im darauffolgenden März „Mining Secrets“ veröffentlicht wurde, sollte der Haftbefehl gegen mich vollzogen werden. Das war sehr belastend. Bei einer Gerichtsverhandlung im September legten meine Anwält*innen Beweise vor, dass ich die Polizist*innen auf der Demonstration nicht angegriffen habe: In einem Video, das wir vor Gericht zeigten, war zu sehen, wie Polizist*innen zu mir kamen, als ich gerade eine Live-Übertragung machte. Sie nahmen mir mein Handy weg, schlugen und traten mich. Ich erinnere mich, dass die Polizist*innen gerade dabei waren, Schusswaffen auszupacken, als ich mich ihnen damals während der Berichterstattung näherte. Sie wollten also kein Tränengas mehr verschießen, sondern hatten offenbar vor, das gleiche zu tun wie 2017, als Carlos Maaz erschossen wurde. Als ich mit einem Polizisten diskutierte und sie versuchten, mir meine Kamera wegzunehmen, kam jedoch ein Journalist hinzu und fotografierte mich. Das hat an diesem Tag wahrscheinlich Schlimmeres verhindert.

Was ist aus der Anzeige gegen dich geworden?

Bei dem Gerichtstermin im September 2022 fragte meine Anwältin die Staatsanwältin nach den Aussagen der Zeug*innen, auf denen die Anklage gegen mich beruhte und in denen die Namen derjenigen, die die Polizist*innen angeblich angegriffen haben sollen, genannt wurden. Doch weder in den von der Staatsanwältin verlesenen Aussagen noch in der entsprechenden Polizeiakte wurden Namen genannt. Sie haben sich die Namen also einfach ausgedacht. Als meine Anwältin fragte, wo die entsprechenden Aussagen seien, antwortete die Staatsanwältin, sie habe die Aussagen verlesen, so wie es von ihr verlangt worden sei. Es war unglaublich, was wir da hörten, aber in Guatemala leider möglich. Der Richter Edgar Aníbal Arteaga, der übrigens auch in dem anderen Strafverfahren gegen mich eingesetzt ist, war wütend, weil er auch in diesem Verfahren nicht so gegen mich vorgehen konnte, wie er wollte. Die Verhandlung dauerte höchstens acht Minuten und endete aufgrund mangelnder Beweise mit meinem Freispruch, also mit der Aufhebung des Haftbefehls gegen mich.

Du hast das Projekt „Mining Secrets“ erwähnt. Worum geht es dort?

Der kommunitäre Maya-Journalismus ist meine Leidenschaft, es geht mir um die Inhalte. Ich bin überzeugt, dass meine Arbeit dazu beiträgt, Geschichte zu schreiben und dass sie nicht nur einer Gruppe oder meiner Gemeinschaft helfen wird, sondern darüber hinausgeht, wie bei den Projekten „Mining Secrets“ und „Green Blood“ (Anm. d Red.: diese wurden von dem journalistischen Netzwerk Forbidden Stories durchgeführt und thematisieren die Geschichten von Journalist*innen, die über Umweltzerstörung in Folge von neoliberalen Großprojekten, wie durch die Rohstoffindustrie, berichten und deswegen kriminalisiert werden). „Green Blood“ wurde 2019 veröffentlicht, dort geht es um Skandale, die in Verbindung mit der Umwelt stehen, das „grüne Blut“ sozusagen. Es wird gezeigt, wie Journalist*innen leben, die Recherchen über Umweltzerstörung betreiben, vor allem im Bereich der Rohstoffindustrie. An dem Projekt waren Journalist*innen aus Tansania, Indien und Guatemala beteiligt. Die Journalist*innen erhielten Drohungen, einer wurde verbrannt, eine Journalistin musste ins Exil gehen. Und meine Geschichte in Guatemala war, dass ich meiner Arbeit in einer Situation der rechtlichen Verfolgung weiterhin nachging, aber verdeckt. Ich hatte einen Fuß im Gefängnis und den anderen draußen. Ich habe trotzdem meine Arbeit fortgeführt, weil es wichtig ist, sich zu äußern, Dinge aufzuzeigen und Einfluss zu haben. Für eine glaubwürdige Berichterstattung bedeutet dies, Beweise zu erbringen, damit es auch bei schwierigen Themen Informationen gibt. Es ist auch wichtig, dass die Geschichten nicht nur an einem Ort erzählt werden und dort verbleiben, sondern dass sie sich verbreiten. Ich denke, dass die Veröffentlichung von „Green Blood“ 2019 auch dazu beigetragen hat, die mediale Zensur zu dem Thema zu umgehen.

Am 25. Juni gab es in Guatemala allgemeine Wahlen. Wie schätzt du die Wahlergebnisse ein?

Zunächst ging man in Izabal und in anderen municipios (Großgemeinden) davon aus, dass es Unruhen geben würde. Denn ein Großteil der Bevölkerung ist unzufrieden mit dem System, mit der Regierung und mit dem Wahlbetrug, der sich seit langem abgezeichnet hat. Das ist die Meinung in den Gemeinden. Denn zunächst wurde die Präsidentschaftskandidatin Thelma Cabrera von der Bewegung für die Befreiung der Völker (MLP) durch Anzeigen aus dem Wahlprozess ausgeschlossen, dann folgten weitere Kandidat*innen.

Als ich in den Gemeinden unterwegs war, sagten sehr viele Leute, dass sie ungültige Stimmzettel abgeben wollten. Ich habe versucht, ihnen deutlich zu machen, dass diese Strategie uns nicht weiterhilft und sie dazu animiert, für die Würde zu stimmen. Denn es gab weiterhin Alternativen wie die sozialdemokratische Partei Semilla oder auch das linke Bündnis von URNG und Winaq. Die Wahlen wurden am Ende von viel Unmut seitens der Bevölkerung begleitet. Sandra Torres von der Partei der Nationalen Hoffnung (UNE) belegte den ersten und Bernardo Arévalo von Semilla den zweiten Platz.
Seit diesem Moment gibt es einen Hauch von Hoffnung, denn der Kandidat Arévalo hat eine politische Laufbahn und politische Kenntnisse vorzuweisen. Und zugleich ist es traurig, dass das MLP vom Wahlprozess ausgeschlossen wurde. Auch wurden in drei municipios Wahlzettel verbrannt. Es war die Absicht des Staates, die Stimmen für das politische Establishment zu verteidigen, aber die Menschen waren wütend und gingen dagegen auf die Straße. Auch in der Hauptstadt haben sie sich organisiert und dabei versucht, dass der Protest gewaltfrei verläuft. Die Menschen wollen, dass ihre Wahl respektiert wird. Denn so wie bisher können wir nicht weitermachen.

Wie hat die Regierung darauf reagiert?

Sie hat Polizei und Militär eingesetzt, zum Beispiel dort, wo Unternehmen sind, die Bergbau, Monokultur und Wasserkraftwerke betreiben. In Alta Verapaz zum Beispiel wurden Militär, Marineinfanterie und Luftwaffe eingesetzt. Die Streitkräfte dienen nicht der Bevölkerung oder dem Schutz des Lebens, sondern sie beschützen das Establishment. Ich denke, dass sich die Dinge verändern und dass sich gerade etwas bewegt, aber dass es dafür noch mehr bedarf. Am 20. August findet die Stichwahl der Präsidentschaftswahlen statt und am 21. August unsere Gerichtsverhandlung. Wir hoffen, dass das Verfahren eingestellt und der Termin nicht verschoben wird.

NICHT NACH PROTOKOLL

6.000 Barrel Öl Verseuchter Strand in Ancón (Foto: Ministerio de Defensa del Perú via Flickr, Ausschnitt, CC BY 2.0)

Am 15. Januar 2022 verursachte starker Wellengang durch den Vulkanausbruch in Tonga die schlimmste Ölpest in der Geschichte Perus. Nach dem Entladen von Rohöl von einem Schiff an der Repsol-Raffinerie Pampilla waren 6.000 Barrel Öl ausgelaufen. Mittlerweile erstreckt sich die Ölpest über 7,1 Millionen Quadratmeter des Meeres, so das peruanische Umweltministerium. Von der Katastrophe sind bis zu 3.000 Arbeitsplätze betroffen, hauptsächlich in der Fischerei. Der geschätzte Verlust für die Tourismusbranche beläuft sich auf 52 Millionen US-Dollar. Die ökologische Katastrophe dagegen ist bisher noch nicht abschätzbar. Sicher ist, dass zwei Naturschutzgebiete und zahlreiche geschützte Tierarten unmittelbar betroffen sind.

Repsol wird von Seiten der Regierung und Umweltorganisationen vorgeworfen, den für solche Unfälle vorgesehenen Notfallplan nicht ordnungsgemäß und schnell genug umgesetzt zu haben. Zudem soll das Unternehmen falsch informiert haben: So hatte der Ölkonzern zu Beginn behauptet, es seien nur 25 Liter Rohöl ausgelaufen, nicht einmal ein Prozent der tatsächlichen Menge. Der Präsident von Repsol Peru, Jaime Fernández-Cuesta, gestand das verspätete Eingreifen zwar ein, versuchte diesen Umstand gegenüber Latina TV mit einer Fehleinschätzung seitens der Schiffbesatzung zu rechtfertigen: „Es ist eine optische Einschätzung, es gab einen Wahrnehmungsfehler“.

Nun ermittelt die peruanische Marine, welche Vorgänge zu dem Ausmaß der Katastrophe geführt haben. Gleichzeitig kündigte am 22. Januar Julio Guzmán, der Staatsanwalt des Umweltministeriums, gegenüber dem Umweltportal Mongabay an, dass die peruanische Regierung eine Zivilklage gegen Repsol vorbereite. In mehreren Städten, darunter der Hauptstadt Lima, fanden zudem Protestkundgebungen gegen den Ölkonzern statt.

Fischereigewerkschaften streben bereits Verhandlungen zu Entschädigungszahlungen für sämtliche betroffene Fischer*innen an. „Gestern boten sie an, den Fischern einen Scheck über 500 Soles (umgerechnet etwa 116 Euro, Anm. d. Red.) zu geben, aber das entschädigt sie überhaupt nicht“, so Alejandro Bravo, Generalsekretär der Föderation für Integration und Vereinigung der handwerklichen Fischer Perus (Fiupap) am 23. Januar gegenüber der digitalen Plattform Salud con lupa.

„Wir haben in Peru etwa drei- bis viertausend Lecks pro Jahr“, berichtet Guillermo Martínez Pinillo, ehemaliger Leiter der NGO Instituto Ambientalista Natura in Chimbote. „In Cabo Blanco in Piura beispielsweise wird eigentlich konstant auf die Umweltverschmutzung hingewiesen, dort bestehen kleinere Lecks seit Jahren, ohne dass etwas passiert.“ Erwartungen, dass sich nun grundsätzlich etwas ändert, hat er daher wenig.

Die Raffinerie La Pampilla war bereits aus den vergangenen Jahren für Fehlinformationen hinsichtlich entstandener Schäden bekannt. Das Portal Salud con lupa hat zwischen 2009 und 2021 32 Verstöße gegen die Vorschriften gezählt. Die verhängten Strafen sind angesichts eines Konzerns, der im Jahr 2020 in 29 Ländern einen Umsatz von fast 57 Milliarden US-Dollar verzeichnete, minimal. So wurde 2013 gegen die Raffinerie ein Bußgeld von 65.000 US-Dollar verhängt, da sie falsche Angaben über die Menge des beim Entladen eines Schiffes ausgelaufenen Kraftstoffs gemacht hatte. Damals meldete die Raffinerie, dass nur sieben Fässer ausgelaufen waren, tatsächlich waren es jedoch 190.

KEIN ENDE DER ÖLPEST IN SICHT

Dauernde Gefahr Ölplatform in der Guanabara-Bucht westlich von Rio de Janeiro (Foto: Alex Guerrero via flickr.com CC BY 2.0)

Anfang September tauchten die ersten schwarzen Klumpen auf, mittlerweile sind mehr als 340 Strände in neun Bundesstaaten betroffen. Anfang November erklärte das brasilianische Bundesumweltamt (IBAMA), dass an betroffenen Stränden bereits 4.000 Tonnen Ölrückstände gesammelt wurden.
Pedro Luiz Côrtes, Geologe und Professor an der Universität von São Paulo (USP), sagte den LN, dass es sich um die schlimmste Umweltkatastrophe in der Küste in der Geschichte Brasiliens handele. Gerade die Reinigung der Korallenriffe werde Jahre dauern. Es drohen irreparable Schäden des Ökosystems. Außerdem bedroht die Ölpest die Lebensgrundlage von 144.000 Fischer*innen. Da viele Urlaubsstrände betroffen sind, droht ein Einbruch des Tourismus. Die Ölpest erreichte inzwischen auch den bekannten Touristenstrand Morro de São Paulo im Bundesstaat Bahia.
Die Herkunft des Öls ist bisher unklar. Jüngste Vermutungen der brasilianischen Behörden legen nahe, dass der Öltanker Bouboulina des griechischen Unternehmens Delta Tankers für die Umweltkatastrophe verantwortlich ist. Delta Tankers weist jedoch jegliche Verantwortung von sich. Der Öltanker Bouboulina habe die im Juli in Venezuela geladenen Fracht vollständig in seinem Zielhafen in Malaysia entladen. Die Marine informierte, dass insgesamt 30 Öltanker im entsprechenden Zeitraum die Region durchquerten, in der sich das Öl ausgebreitet haben könnte. Der anfängliche Verdacht, das Rohöl stamme von brasilianischen Offshore-Ölplattformen, wurde nach Untersuchungen des halbstaatlichen Erdölkonzerns Petrobras verworfen. Die These, es sei aus einem gesunkenen deutschen Frachtschiff aus dem Zweiten Weltkrieg entlaufen, hält der Geologe Côrtes für unwahrscheinlich. Die brasilianische Regierung verdächtigte zunächst auch Venezuela. Der Nachbar weist jegliche Verantwortung von sich und erklärt, dass es keine Lecks bei Tankern oder auf Plattformen gegeben habe. Jedoch könnte das Öl beim Umfüllen von venezolanischen Schmuggelschiffen auf hoher See ausgelaufen sein. Auch Côrtes hält dies für möglich. Durch die Embargo-Politik gegen Venezuela floriert der illegale Handel mit Öl.
Der brasilianischen Regierung wird Untätigkeit vorgeworfen. Bolsonaro besuchte weder die betroffenen Regionen, noch traf er sich mit den Gouverneur*innen oder rief den Notstand aus. „Die Bundesregierung hat bei der Bekämpfung der Ölpest versagt und uns mit dem Problem alleingelassen“, sagte José Berotti, Umweltsekretär des Bundesstaats Pernambuco für die Kommunistische Partei von Brasilien (PCdoB) den LN. Erst 41 Tage nach dem ersten Ölfund trat das gesetzlich vorgeschriebene Notfallprotokoll bei Umweltkatastrophen in Kraft. Außerdem schlägt Bolsonaro Kritik entgegen, weil er im April zwei Komitees zur Bekämpfung von Ölkatastrophen schließen ließ.
Umweltminister Ricardo Salles reiste in den Bundesstaat Pernambuco und versprach Hilfe. Am gleichen Tag begannen Soldaten damit, bei der Reinigung der Strände zu helfen. Zum ersten Mal in der Geschichte Brasiliens wurde die Armee für eine solche Aufgabe eingesetzt. Nach Kritik von Greenpeace deutete Salles an, dass die Umweltorganisation selbst hinter der Ölpest im Nordosten stehen könnte. Zuvor hatte Salles erklärt, nicht mit der Umweltschutzorganisation zusammenarbeiten zu wollen und diese als „Terroristen“ bezeichnet.
Laut Côrtes sehe es nicht so aus, als ob die Katastrophe ihren Höhepunkt erreicht habe. In den kommenden Tagen könnte das Öl auch an die Strände des zentral gelegenen Bundesstaates Espirito Santo und Rio de Janeiro gelangen.

 

WENN DIE STILLE KOMMT

Bild der Zerstörung Die Wassermassen reißen alles mit sich (Foto: Vinicius Mendonca/Ibama (CC BY-SA 2.0)

„Am schlimmsten wird es werden, wenn die Stille kommt“, sagt Cleiton Cândido da Silva, Einwohner der Gemeinde Córrego do Feijão in der Gemeinde Brumadinho. Brumadinho liegt im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais, wo am 25. Januar 2019 der Sicherungswall des Rückhaltebeckens Nummer 1 der Erzbergmine Córrego do Feijão brach. Der Dammbruch verursachte min­destens 310 Todesopfer. Jetzt, einen Monat später, wurden noch immer nicht alle Leichen geborgen, die sich unter teils meterhohen Schlammbergen befinden. Der Bruch von Brumadinho gilt bereits jetzt als die schlimmste menschliche Katastrophe der letzten 33 Jahre im Bergbauwesen und als der größte Arbeitsunfall in Brasilien. Die Menschen suchen noch immer verzweifelt nach ihren Angehörigen, während die Rettungskräfte seit Wochen unermüdlich arbeiten, um nach den sterblichen Überresten der Menschen zu suchen. Mundschutz für die Rettungskräfte wurde bereits nach wenigen Tagen Pflicht, da die unzähligen, bisher noch nicht gefundenen Leichen Verwesungsgeruch ausströmen. Und die Menschen sind neben ihrem Schmerz und ihrer Verzweiflung wütend. Denn der Dammbruch von Brumadinho war nicht der erste Großbruch.

Der jetzige Dammbruch erfolgte drei Jahre nach der größten Umweltkatastrophe in Brasilien, als damals am 5. November 2015 der Damm des Rückhaltebeckens Fundão der Firma Samarco Mineração S.A. brach, ein Joint Venture von Vale S.A. und BHP Billiton. In der Nähe der Stadt Mariana gelegen, ebenfalls in Minas Gerais, wurden durch den Dammbruch 62 Millionen Kubikmeter Erzrückstände freigesetzt, die sich in einem Tsunami durch mehrere Dörfer und anschließend durch Flusstäler bis hin zur Mündung in den Südatlantik frästen. Der Bruch von „Mariana“, wie er fortan in den Medien genannt wurde, zerstörte den Bezirk Bento Rodrigues vollständig, begrub Häuser, Kirchen, Schulen, Brücken, Plantagen unter sich, tötete 19 Menschen, traf auf den Rio Doce, eines der größten Flussbecken Brasiliens, und alle Gemeinden entlang des Flusses in den Bundesstaaten Minas Gerais und Espírito Santo, bevor er 700 Kilometer entfernt den Atlantik erreichte und dort die Fisch- und Molluskenbestände ebenso wie die einzigartige Korrallenwelt von Abrolhos zerstörte. Immer noch kämpfen die betroffenen Bevölkerungsgruppen um ihr Überleben und um Gerechtigkeit. „Was wir am meisten wollen, ist, dass wir in unser Haus, zu unseren Nachbarn, zurückkehren“, sagt Mauro Marques da Silva, Bewohner des zerstörten Bento Rodrigues. „Es ist lange her, dass wir so gelitten haben, und wir wissen immer noch nicht, ob wir bezahlt werden oder ob es dann eben dabei bleiben würde, dass wir ganz leer ausgehen“, erzählt er. Zwischen Minas Gerais und Espírito Santo sind insgesamt mehr als 500.000 Menschen betroffen, und sie sind es noch immer, denn die Trinkwasserversorgung basiert auf Flusswasser, das nun aufbereitet werden muss. Vertrauen in dieses Wasser haben die Anwohner*innen jedenfalls nicht.

Drei Jahre sind seit dem Dammbruch von Mariana vergangen, und die Flussanwohner*innen, Fischer*innen und kleinen Landwirt*innen haben noch immer keine ausreichende Entschädigung für den kompletten Verlust ihres Lebenseinkommens erhalten. Dabei gehen die Verantwortlichen für den Dammbruch von Mariana bis heute straffrei aus. Wie Marli de Fátima Felício Felipe, die ihre Mutter bei der Tragödie verloren hat, betroffen sagt: „Ich denke, alle werden sie straffrei davonkommen. Das Unternehmen (Samarco) ist sehr stark. Nur Gott ist größer.“ Dabei haben die beiden gebrochenen Dämme, Fundão und Córrego do Feijão, auffällige Gemeinsamkeiten. Die Betreiberfirma von Fundão bei Mariana gehörte zur Hälfte dem brasilianischen Bergbauriesen Vale. Córrego do Feijão gehörte Vale komplett. Beide Minen belieferten unter anderem auch deutsche Stahlkocher. 52 Prozent der Eisenerzimporte nach Deutschland kommen aus Brasilien, größter Lieferant: Vale S.A. Doch wegen der mangelnden Pflicht zur Offenlegung der Lieferkette reden die deutschen Hüttenwerke sich immer gern mit Verschwiegensheitsklauseln aus der Affäre. Hinterher will niemand mehr etwas damit zu tun gehabt haben. Beide Minen hatten deutsche Versicherer und Rückversicherer, unter ihnen die Marktführer Allianz, Hannover Rück und Münchener Rück, wobei letztere jüngst eine Debatte unter den Versicherern anstrengt hat, die Versicherungspolicen bei den extrem bruchgefährdeten Dämmen strikter zu handhaben. Es wird wohl auch ihnen mittlerweile zu teuer.

Einsparungen bei Sicherheitsfragen führten direkt zu den Dammbrüchen von Mariana und Brumadinho

Beiden Brüchen war auch gemein, dass sie während des Abwärtszyklus der Mineralpreise geschahen, bekannt als Boom und Bust-Boom der mineralischen Rohstoffe. Laut Rodrigo Santos, Professor an der Bundesuniversität von Rio de Janeiro UFRJ, bezieht sich der Rohstoff-Boom auf die Zeit des deutlichen Preisanstiegs bei standardisierten Mineralgütern, die im Zeitraum von 2003 bis 2011 auf den Weltmärkten gehandelt wurden. Auf der anderen Seite ist der Bustzyklus gekennzeichnet als ein Szenario von Überangebot, gefolgt von einem Rückgang der Nachfrage und der Perspektive niedriger Preise auf lange Sicht, die in der Lage sind, einen Strategiewechsel bei den Bergbauunternehmen herbeizuführen. Diese beginnen dann, die Produktionskosten zu senken, während sie die Förderung erhöhen, um die Verluste des negativen Szenarios auszugleichen. Und genau das hat, so die Wissenschaftler, schwerwiegende Konsequenzen.
Denn bei sinkenden Weltmarktpreisen steigt der Kosteneinsparungsdruck und die erste Maßnahme besteht nahezu immer darin, die Betriebskosten zu senken. Wie Bruno Milanez, Professor an der Bundesuniversität von Juiz de Fora UFJF, betont, ist es nicht ungewöhnlich, dass die ersten Einschnitte bei der Sicherheitsüberwachung, darunter die der Dämme, stattfinden. Im gleichen Sinne zitiert Milanez die Arbeit der kanadischen Forscher Michael Davies und Todd Martin, die einen Zusammenhang zwischen den Zyklen der Erzpreise und dem Bruch der Rückhaltedämme darstellt. Für Milanez ist die Sache klar: Einsparungen bei Sicherheitsfragen infolge des Preisverfalls führten direkt zu den Dammbrüchen von Mariana und Brumadinho.

Im Fall Brumadinho zeigt sich die kalte Arroganz und Inkompetenz der Firmen

Dieser gleichsam systemimmanente Zwang zur Kosteneinsparung zeigt sich auch beim Bau der Dammanlage für die Rückhaltebecken. Die Dammkonstruktionen von Mariana und Brumadinho waren beides sogenannte Upstream-Dämme, das heißt, dass dort der Damm errichtet wird und die Erzschlammreste dahinter gelagert werden. Wenn die Dammkrone erreicht ist, gehen die Ingenieur*innen davon aus, dass das abgelagerte Untermaterial mittlerweile ausreichend ausgehärtet ist, sodass man auf die alte Dammkrone und den Rand des Erzschlammmaterials einfach eine Dammerhöhung draufsetzt. Beim nun gebrochenen Damm von Brumadinho wurde dies zwischen 1976 und 2006 allein zehn Mal durchgeführt, bis zu einer Höhe von 86 Meter. Es gibt solche Dämme bis zu einer Höhe von über 250 Meter. Der nun gebrochene Damm wurde 1976 in erster Stufe von den Ingeneur*innen der damaligen Besitzerin, Thyssen, errichtet. Deren brasilianische Tochterfirma Ferteco Mineração verkaufte ThyssenKrupp dann im Jahre 2001 an Vale S.A. Auch Mariana war ein solcher Damm. Beide sind nun gebrochen. Diese Upstream-Dämme sind die billigste Methode – und die gefährlichste. Chile beispielsweise hat die bei Mariana und Brumadinho verwandte Dammbaumethode verboten. Im Gegensatz dazu sind Downstream-Dämme (also eine Erhöhung der Dämme immer nur in Fließrichtung abwärts) doppelt so teuer, und die vorherige Bearbeitung der Erzschlämme durch Trocknung kostet noch viel mehr − Kosten, die die Bergbaufirmen nicht aufbringen wollen. So steht dann die Sicherheit bei der Überwachung dieser Strukturen nicht im Vordergrund.

Gedenken an die Opfer Mindestens 310 Menschen kamen bei der Katastrophe ums Leben (Foto: Romerito Pontes CC BY 2.0)

 

Medienberichte deckten auf, dass Vale über die Risiken des Einsturzes des Brumadinho-Staudamms seit No­vember 2017 Bescheid wußte und dass Vale S.A. auf die Ingenieur*innen des deutschen Beratungsunternehmen TÜV-Süd Druck ausgeübt hat, um die Stabilitätserklärung des zusammengebrochenen Staudamms – offenkundig wider eigener Fachexpertise und Einschätzung– abzu­geben.Vale selbst versucht seit dem Dammbruch von Mariana sein Image von der größten Umweltkatastrophe in Brasilien zu lösen. Fabio Schvartsman, seit Mai 2017 Präsident der Vale S.A., erklärte in seiner Eröffnungsrede, dass das Motto des Unternehmens „Mariana never again“ lauten würde. Es wurde jedoch offenkundig nichts unter­nommen, um die Sicherheit der Anlagen zu gewährleisten oder die Folgen der Katastrophe im Rio-Doce-Becken effektiv zu beseitigen. Auch nach dem, was am 25. Januar in Brumadinho geschah, sagt Schvartsman weiter: „Vale ist eines der besten Unternehmen, das ich in meinem Leben je gesehen habe. Es ist ein brasilianisches Juwel, das nicht für einen Unfall in seinem Staudamm verurteilt werden kann, egal wie tragisch die Tragödie gewesen sein mag.“ Diese Aussage offenbart die ganze Arroganz des Unternehmens, indem es nicht die gebührende Verantwortung für die Fakten übernimmt und sich selbst als Saubermann darstellt.

Die Verantwortlichen für den Dammbruch von Mariana gehen bis heute straffrei aus

Was die Brüche aber auch mit ermöglicht hat, ist die mangelnde Kontrolle seitens der zuständigen Behörden. Die Unternehmen kontrollieren sich in dem Maße zunehmend selbst, wie der Staat neoliberaler Ideologie folgend den Abbau des staatlichen Kontrollapparats befördert. Die Selbst­kontrolle ermöglicht es Unternehmen, direkt vermeintlich unabhängige Auditor*innen zu beauftragen, die die Sicherheit ihrer Geschäftstätigkeit zertifizieren. Diese direkte Beziehung birgt einen inhärenten Interessenkonflikt, da diejenigen, die die Sicherheit bezeugen, von denen bezahlt werden, die keine Probleme haben wollen. In einer Branche, die keine Toleranz erlauben darf, weil ein Fehler sofort tödlich ist, darf es nicht sein, dass die Unternehmen sich selbst überwachen.In Bezug auf die gezielte Demontage der Staatsapparatur darf die Antwort nicht nur darin bestehen, eine weitere Flexibilisierung und/oder Vereinfachung des Umweltgenehmigungsverfahrens zu verhindern. Es ist vielmehr notwendig, die staatliche Einmischung in den Prozess zu verstärken, die Kapazität des staatlichen Handelns in Bezug auf die Anzahl der Fachleute und Technologien zu erhöhen und die Zivilgesellschaft als wirksamen Teil der Entscheidungen über Bergbaubetriebe wirklich einzubeziehen, fordert das internationale Netzwerk der von der Firma Vale Betroffenen.

Vom eigentlich kollektiven Gut profitieren nur wenige

Der Bergbau ist ein öffentliches Gut und sein Gewinn erfolgt aus einer staatlichen Konzession. Durch die Einführung einer Mineralienexportpolitik profitiert Brasilien von den Gewinnen der Unternehmen zum Nachteil derjenigen Gebiete, die auf allen Folgeschäden des Bergbaus sitzenbleiben. Zu diesen gehören die Zerstörung der Wasserressourcen, Bodenverunreinigung, Luftverschmutzung, Zerstörung diverser Ökosysteme, Erstickung lokaler wirtschaftlicher Alternativen und der Zerfall von Gemeinschaften und traditionellen Völkern, die täglich mit dem Bergbau leben und oft ihrer Territorien beraubt werden. In diesem Szenario führt ein öffentliches und kollektives Gut dazu, dass einige wenige Gewinne erzielen und diese eine Spur von Leid und Tod in den Territorien hinterlassen.Angesichts der weltweit wachsenden Nachfrage nach Erzen und angesichts des Umfangs der sozialen und ökologischen Auswirkungen, die Bergbauunternehmen verursachen, ist es dringend erforderlich, über das Ausmaß und die Geschwindigkeit der Rohstoffgewinnung nachzudenken, insbesondere in den Ländern, die diese Erze liefern, die aber deren soziale und ökologische Auswirkungen erben, wobei die Risiken und Schäden stärker und deutlicher auf die schwächsten ethnischen Gruppen entfallen und Ungleichheiten produzieren und reproduzieren. So lange dies nicht geschieht, bleibt den Menschen vor Ort meist nicht viel anderes als den Tag zu fürchten, der die Stille bringen wird.

 

 

NOTSTAND IN QUINTERO UND PUCHUNCAVÍ

„Schluss mit den Opferzonen, Schluss mit der Verschmutzung“, fordern wieder einmal Anwohner*innen der beiden Städte Quintero und Puchuncaví, die nördlich von Valparaíso gelegen sind. In der letzten Augustwoche häuften sich Fälle von Schüler*innen verschiedener Schulen, die wegen Kopfschmerzen, Übelkeit und teils auch gestörter Sensibilität der Gliedmaßen in den örtlichen Notfallaufnahmen behandelt wurden. Die Symptome sind mögliche Anzeichen für eine Vergiftung, die durch das Einatmen von flüchtigen Kohlenwasserstoffverbindungen verursacht werden kann. Bis heute steigt die Anzahl der von den Symptomen Betroffenen. Anfang Oktober lag sie bei über 600 und Ende Oktober schon bei etwa 1000 Personen. Das regionale Ministerialsekretariat für Gesundheit rief zwei Tage nach dem Auftreten der ersten Vergiftungssymptome die mittlere Warnstufe aus. Diese Aktion hatte die zeitweise Schließung der Schulen zur Folge, sowie Sofortmaßnahmen zur Einstellung des Betriebs einiger Unternehmen, um über dem Grenzwert liegende organische Verbindungen in der Luft zu reduzieren. Die zuständigen staatlichen Stellen, in erster Linie das Umwelt- und das Gesundheitsministerium, reagierten zwar medienwirksam, aber insgesamt völlig unzureichend bei der Ergründung und Aufklärung der Vorkommnisse. So kommentierte der Pressesprecher des Ministeriums im Moment des Ausbruchs der Symptome vor dem überfüllten Krankenhaus, dass alles in bester Ordnung sei. Weiterhin wurden keinerlei Maßnahmen für statistische Erhebungen ergriffen, um auf ein Krankheitsbild und damit auf mögliche Ursachen schließen zu können. Wodurch die Symptome also tatsächlich hervorgerufen werden, wurde bislang offiziell nicht festgestellt.

Eine vom Umweltministerium erst im Februar angeschaffte „Wundermaschine“ konnte auch nicht weiterhelfen. Sie wurde zur Messung der in der Luft gelösten, flüchtigen organischen Verbindungen vor Ort eingesetzt, aber von Angestellten bedient, die die entsprechende Einweisung noch nicht erhalten hatten. Die Ergebnisse der Messung konnten daher nicht fachgerecht ausgewertet werden. Trotzdem wurde ein Teil dieser Rohergebnisse direkt an die Medien gefiltert, worauf ein weiteres Beispiel staatlicher Inkompetenz folgte: Die Nachricht wurde von Präsident Piñera und dem Gesundheitsminister kommentiert, als sei sie ein ernstzunehmendes Ergebnis der Messung des Umweltministeriums. Das offizielle Ergebnis „Kohlenwasserstoffverbindungen würden in der Luft liegen“, war schließlich so genereller Art, dass es keine weiterführende Erkenntnis brachte. Fakt ist, dass die Bevölkerung der Region seit mindestens 50 Jahren der Luft-, Boden- und Wasserverschmutzung des unzureichend kontrollierten Industriegebiets ausgesetzt ist. Dieses entstand in den sechziger Jahren, als Chile wie andere lateinamerikanische Staaten seine Wirtschaft zu diversifizieren versuchte. In dieser Phase galten selbst hoch verschmutzende Industrien als Fortschrittsmotor. Aber innerhalb der Arbeitsplätze, die dadurch geschaffen wurden, nehmen die Anwohner*innen Quinteros und Puchuncavís die prekärsten Posten ein, während Ingeneur*innen und anderes hochqualifiziertes Personal es sich finanziell leisten kann, weit abseits der belasteten Gegenden zu leben. In dem Industriegebiet ist eine ganze Bandbreite von Industrien vertreten, die durch ihre Emissionen nicht nur das einst hohe touristische Potenzial der Region einschränken, sondern auch Landwirtschaft und Fischerei. Den Anfang machte das schon genannte staatliche Unternehmen zur Ausbeutung der Kupfervorkommen Codelco. Daneben gibt es auch Firmen wie Enap und Gasmar, die Erdöl verarbeiten, sowie die Raffinerie Copec und den Chemieproduzenten Qxiqium.

Alle Einwohner*innen sind einem ernsten gesundheitlichen Risiko ausgesetzt

„Das Problem an dem Industriegebiet ist, dass die Umweltverschmutzung vielfältig ist und der Ansiedlungsprozess schrittweise stattfand“, erklärt Aníbal Vivaceta, Umweltaktivist und Facharzt für öffentliche Gesundheit sowie ehemaliger Ministerialsekretär für Gesundheit in der Region. Es gebe verschiedene, teils nachgewiesene Schadstoffbelastungen in Boden, Wasser und Luft, die kurzfristige sowie langfristige Schäden nach sich ziehen. Kohlenstoffverbindungen und Schwefeldioxide haben eher unmittelbare, nicht ganz so schwerwiegende Effekte. Schwermetalle wie Arsen sind hingegen für tiefgreifende gesundheitliche Schäden verantwortlich. Keiner dieser Schadstoffe ist allerdings auf die leichte Schulter zu nehmen, denn, so Vivaceta:„Hohe Konzentrationen an Kohlenmonoxid beeinträchtigen nachgewiesenermaßen die schulischen Leistungen und Schwefeldioxid führt zu allergieähnlichen Symptomen. Damit stellen beide eine erhebliche Einschränkung des täglichen Lebens dar.“ Die ansässigen Unternehmen selbst garantieren nur die Überwachung einiger Schadstoffe und dies machen sie auch noch unvollständig. Von den staatlichen Plänen zur Dekontaminierung wurde bislang keiner durchgeführt.

In Zukunft könnte sich die Lebensqualität der ansässigen Bevölkerung sogar noch verschlechtern, denn es stehen nach offiziellen Plänen weitere 500 Hektar für die Ausdehnung des Industriegebietes zur Verfügung. Diesen Ausbauplänen und den Emissionen der bestehenden Industrieunternehmen stellt sich, verstärkt seit 2011, eine vielfältige Widerstandsbewegung entgegen. Sie setzt sich aus Anwohner*innen selber zusammen, die von Umweltaktivst*innen, Akademiker*innen und Studierenden unterstützt wird. 2011 entzündete sich der Zorn der Bevölkerung, weil zahlreiche Schüler*innen einer Schule mit Schwermetallen vergifteten worden waren, 2014 aufgrund einer Ölpest in der Bucht. Doch noch nie war die Mobilisierung so stark und anhaltend wie jetzt. Höhepunkt war bislang eine Demonstration, die einen Teil der Überlandstraße und Zubringerwege stilllegte. Zwischenzeitlich besetzen Schüler*innen zeitgleich fünf Schulen der Orte, um ihren Protest auszudrücken. Greenpeace prägte den Begriff des „chilenischen Tschernobyl“, um die Tragweite der Situation zu verdeutlichen, die landesweit Schlagzeilen macht. Im Bewusstsein, jahrzehntelang Kontaminierungen ausgesetzt gewesen zu sein, tun die Anwohner*innen ihre Sorge um ihre Gesundheit und der ihrer Familien kund. In offenen Bürgerversammlung wurde unter anderem auch eine bessere örtliche medizinische Versorgung gefordert. Es ist möglich, dass die aktuelle Mobilisierung die Änderung einiger Umweltnormen zur Folge haben wird, aber „ob diese dann umgesetzt werden, ist eine ganz andere Frage“, so Vivaceta. Da das Zusammenleben von Industriepark und Menschen langfristig unmöglich scheine, müsse es in absehbarer Zeit entweder zu einer Umsiedlung der Betroffenen oder zu einem Strukturwandel, beispielsweise durch umweltschonendere Technologien, kommen, fügt er hinzu.

Quintero-Puchuncaví, das ist „nur“ eine von vielen sogenannten „Opferzonen“ Chiles, in deen Umweltregulierungen in höchstem Maße die Unternehmen übervorteilen. Wie ein roter Faden durchziehen diese Zonen den neoliberalen Staat und bringen unverschleiert seine Vorgehensweise zum Ausdruck.

SCHMUTZIGES GESCHÄFT

In Ihrem Dokumentarfilm betreten Sie die Stadt Rinconada und erzählen uns, wie wenig Kontrolle es in der Region gibt. Sie führen uns auch in verschiedene Gemeinden, die von starker Umweltverschmutzung durch den Bergbau betroffen sind. Was ist die Antwort des Staates darauf?
Der Staat verhält sich genauso wie in anderen lateinamerikanischen Ländern: Er versucht Profit aus dem Rohstoffabbau zu schlagen und denkt in keiner Weise an diejenigen, die unter dessen Folgen leiden, nämlich an die Bewohner der Region. Wenn es in Peru zu einem Konflikt zwischen Anwohnern und Bergbauunternehmen kommt, scheint der Staat den Vermittler zu spielen. Am Ende schenkt dieser Vermittler den Opfern jedoch kein Gehör, weil es in seinem Interesse liegt, dass weiterhin Rohstoffe abgebaut werden. Bevor er als Vermittler auftritt, sollte der Staat als Erstes den Aussagen der Opfer zuhören – das geschieht in Peru aber nicht.

Dieses Auftreten lässt sich in Ihrem Film an einem Beamten nachvollziehen, der bei einem Konflikt zwischen dem Staat und Menschen, die von der Umweltverschmutzung durch den Bergbau betroffen sind, vermittelt. Wie haben sich die Gespräche in diesem Fall entwickelt?
Bei der Ortschaft, die wir zeigen, handelt es sich um Llallimayo. Die Bewohner dort protestieren seit 2006. Elf Jahre schon dauert ihr Protest und immer noch hört niemand zu. Martín Carbajal vermittelte bei den Gesprächen als Vertreter des Bergbauministeriums. Im Film kann man sehen, wie er das Gespräch mit den Bewohnern beendet. Man merkt, dass diese Person eigentlich nicht geeignet ist, um als Vermittler aufzutreten. Ich frage mich, ob die Beamten, die der Staat schickt, die nötige Ausbildung für diese Aufgabe besitzen. Es könnte ja sein, dass sie einfach unfähig sind. Aber nach so vielen Jahren stellt man fest, dass etwas nicht stimmt. Es scheint, als würde der Staat ein Programm verfolgen, mit dem er die Gemeinden beruhigt und die Konflikte weitestgehend eindämmt, während der Bergbau fortgesetzt wird.

Außer den Gebieten, in denen Sie für diesen Film recherchiert haben, gibt es sicherlich noch weitere Regionen, die ebenfalls betroffen sind. Gibt es einen Fall, der Ihre besondere Aufmerksamkeit erregt?
Natürlich, es gibt Bevölkerungsgruppen, die noch viel stärker betroffen sind als diejenigen, die wir im Film gezeigt haben, wie zum Beispiel die Uros. Die Uros teilen sich in zwei Gruppen: die Händler, die auf den touristischen Inseln arbeiten, aber auf dem Festland leben, und die Uros, die nur auf den Inseln leben. Letztere wohnen in San Pedro de Ccapi, und der See ist der einzige Ort, wo sie einen Wasserzugang haben. Zu ihrer Ernährung gehört die tontora, eine Pflanze, die im See wächst. Die Uros essen also all die Schadstoffe mit, die zusätzlich zum Abwasser, das aus Juliaca in den See gelangt, durch den Bergbau hineingespült werden.

Neben einer Stadt wie Juliaca mit ihren fast 300.000 Einwohner*innen leiden auch viele kleine Gemeinden unter der Verschmutzung der Flüsse. Gibt es eine Organisation oder ein gemeinsames ökologisches Interesse in diesen betroffenen Gebieten?
Ökologisches Interesse gibt es wenig, dafür viel Korruption. Die Gemeinden flussabwärts von Juliaca haben sich organisiert, in Juliaca dagegen geht es nur ums Kaufen und Verkaufen. Juliaca ist eine Stadt des Handels, also total chaotisch. Sie ist in ständiger Bewegung, die Leute kommen aus Puno, Bolivien, Chile und der ganzen dortigen Andenregion. Es ist eine sehr schmutzige Region und das ökologische Bewusstsein der Peruaner ist nicht sehr ausgeprägt. Man kann beobachten, wie sie den Müll in die Flüsse kippen und diese damit verseuchen. Die meisten derjenigen, die sich für die Umwelt interessieren, sind dagegen Indigene. Die, die sich nicht dafür interessieren, wohnen flussaufwärts. Schließlich sind es ja auch die, die flussabwärts leben, zu denen der Fluss seine Schadstoffe trägt.

Ein Teil Ihrer Recherchen führte Sie auch nach Köln, genauer gesagt nach Hambach. Warum wollten Sie diese Mine in Ihre Dokumentation mit aufnehmen?
Damit wollte ich versuchen, mit dem Klischee zu brechen, dass die Menschen im Süden die Unterentwickelten seien, die die Umwelt verschmutzen. Aber es ist festzustellen, dass das so nicht stimmt: Auch hier gibt es massive Umweltverschmutzung. Natürlich geschieht das nicht auf die gleiche Weise, aber die Brutalität, mit der die Erde verschmutzt wird, ist die gleiche. Da gibt es keinen Unterschied zwischen dem Norden und dem Süden – bewusst oder unbewusst zerstören wir alle zusammen den Planeten. Deutschland ist eines der führenden Länder, was ökologische Praktiken angeht, aber gleichzeitig führt es die Liste der Länder an, die die Umwelt am meisten verschmutzen. Das ist doch ein Widerspruch! Peru und andere lateiname= rikanische Länder zählen dagegen nicht zu den Spitzenländern bei Umweltverschmutzung. Deutschland muss Braunkohle in Kolumbien kaufen, um sie mit der Braunkohle aus Hambach zu vermischen, weil der Brennwert der deutschen Braunkohle niedriger ist – das ist aber noch umweltschädlicher. Und das ist noch nicht alles: Die deutschen Unternehmen könnten Filter einbauen, damit die Kraftwerke weniger Quecksilber ausstoßen. Aber es wird einfach nicht gemacht.

„SEIEN SIE KEINE KOMPLIZEN!“

Im letzten Jahr verzeichnete die Kohleproduktion einen Rekord  – 90 Millionen Tonnen. Im Verwaltungsbezirk Cesar im Nordwesten Kolumbiens wurde fast die Hälfte davon abgebaut. Nur die privaten Großkonzerne Drummond, Prodeco, ein Tochterkonzern der schweizerischen Unternehmensgruppe Glencore, und Murray Energy exportieren. Hat Cesar davon profitiert?
Es ist nicht zu ignorieren, dass die Kohlenindustrie nicht nur im Verwaltungsbezirk Guajira irreversible Spuren hinterlassen hat. Der Bergbausektor in Cesar ist immens wichtig für Kolumbien, circa 98 Prozent der im Land abgebauten Kohle werden exportiert. Doch wir haben errechnet, dass nur ein bis zehn Prozent der Bevölkerung, die in der Nähe der Minen wohnt, im Kohleabbau Beschäftigung findet. Die Arbeiter haben keine stabilen Arbeitsbedingungen oder Zugang zu entsprechenden Sozialversicherungen. Die Minen zerstören die Lebensräume der Menschen, den traditionellen Anbau von Nahrungsmitteln und den Fischfang. Einige wenige haben Zugang zu Arbeit, aber im Endeffekt werden die meisten Menschen arbeitslos. Wenn die privaten Bergbauunternehmen so die Natur verändern, ist die Zerstörung der lokalen Wirtschaft die Folge.

Tierra Digna unterstützt die Gemeinde Boquerón, die an den Bergbaukomplex La Jagua Ibirico grenzt und wegen der untragbaren Umweltverschmutzung seit 2010 umgesiedelt werden soll. Noch verhandeln die Gemeinden mit den Unternehmen. Wie konnte es erst soweit kommen?
Die aus dem Bergbau hervorgebrachten Umweltschäden und Menschenrechtsverletzungen häufen sich Jahr für Jahr, werden aber nie im vollen Umfang wahrgenommen oder bekämpft. Diese Industrie ist durstig, 17 Flüsse und Bäche wurden in Cesar für die Minen umgeleitet, die Wasservorkommen in der Region sind schrittweise verschwunden. Die Verschmutzung von Luft, Boden und Wasser durch den Kohlenstaub und sonstige freigesetzte Chemikalien sind das gravierendste Problem in der Gemeinde Boquerón. Noch heute ist die Qualität der Grundnahrungsmittel, die Gesundheit, schlicht das Leben der Bevölkerung der Region gefährdet. Wegen der ständigen Sprengungen, um die Gruben zu vergrößern, haben vieler Häuser in den am Bergbaukomplex La Jagua Ibirico angrenzenden Gemeinde Risse bekommen und drohen einzustürzen. Bereits vor der Niederlassung der Unternehmen vor 24 Jahren wurde in Cesar das Recht der Bevölkerung auf Beteiligung und Information verletzt. Als 2010 die Umweltbehörde Kolumbiens die untragbare Verschmutzung in Boquerón feststellte und die Umsiedlung anordnete, hatten die Bewohner keinen Handlungsspielraum mehr.

Kümmert sich die Regierung um die Umsiedlung der Betroffenen?
Die Regierung ordnete die Vertreibung der Gemeinden an, erlaubte den weiteren Abbau von Kohle und zog sich auch noch aus den Verhandlungen zwischen Unternehmen und den Gemeinden zurück. Damit hat der Staat einen Raum geschaffen, um über die Menschenrechte zu diskutieren – aber Menschenrechte dürfen nicht verhandelt, sie müssen geschützt werden. Der Bergbausektor wird als ein öffentliches Interesse des Staates betrachtet, weshalb die Regierung vor 2010 auf die Umweltlizenzen und Minderungsmaßnahmen der Unternehmen hinwies und nichts tat. Als deutlich wurde, dass diese in allen drei Minen nicht umgesetzt wurden, gründete die Umweltbehörde ein Überwachungspanel zu den ohnehin asymmetrischen Verhandlungen, beteiligte sich aber nicht daran.
 
Tierra Digna ist Teil des internationalen Netzwerks Red Sombra, welches die Aktivitäten der schweizerischen Unternehmensgruppe Glencore beobachtet. Das weltweit größte Rohstoffhandelsunternehmen hat die Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte unterschrieben, welche 2011 vom Menschenrechtsrat der UN ratifiziert wurden. Trotzdem werden die Klagen seitens der Zivilgesellschaft lauter. Wo genau liegt das Problem?
Bis jetzt wird nicht richtig eingesehen, dass im Rahmen des Kohleabbaus nicht nur der Staat, sondern auch ausländische Unternehmen zu Menschenrechtsverletzungen beitragen. Seit vielen Jahren haben Menschenrechtsorganisationen auf die Notwendigkeit aufmerksam gemacht, die Macht der Konzerne und deren Verantwortung im Rahmen des Völkerrechts anzuerkennen. Dafür reichen die Leitprinzipien nicht aus. Einerseits thematisieren die Prinzipien die Missachtung der Menschenrechte durch Konzerne, doch das Wort Verletzung, das im Rechtssystem Sanktionen, die Wiedergutmachung und Garantien der Nicht-Wiederholung impliziert, wurde bewusst ausgelassen.
Ein weiteres Problem ist der Mechanismus zur Wiedergutmachung. Nach dem Modell von John Ruggie (dem Sonderkommissar des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen, Anm. d. Red.) müssen die Konzerne die Beschwerden der betroffenen Gemeinden sammeln, bewerten und entsprechende Forderungen nachgehen. Sprich: die Unternehmen sind Beteiligte und Richter, können also frei entscheiden, ob und wie eine Entschädigung angemessen ist.

Ein anderer Kritikpunkt betrifft die Verantwortung der Länder, wo diese Unternehmen ansässig sind beziehungsweise jener Nationen, die Kohle aus Kolumbien importieren. Laut offiziellen Zahlen der Bundesregierung stammte 16 Prozent der im letzten Jahr nach Deutschland importierten Kohle aus Kolumbien. Was erwarten Sie von der deutschen Regierung und der  Bevölkerung?
Seien Sie keine Komplizen! Wir müssen unbedingt die Verantwortungskette deutlich machen. Denn die Kohle, die Glencore und Drummond abbauen, wird beispielsweise an Vattenfall verkauft und in Deutschland unter anderem zum Heizen genutzt. Ich kann nicht behaupten, dass die Endverbraucher bewusste Mittäter sind, aber ich kann erwarten, dass sie mit dem, was sie konsumieren, bewusst umgehen. Es reicht nicht aus, sich zu informieren und sich für die Realität anderer Menschen zu sensibilisieren. Man muss Position beziehen und im Rahmen der eigenen Möglichkeiten aktiv werden. Viele gravierende Menschenrechtsverletzungen entlang des Abbaus und Exports von Kohle sind unsichtbar und werden mit dem jetzigen Handel normalisiert. Die Idee, dass man von Menschenrechtsverletzungen befleckte Kohle kaufen kann, gehört abgeschafft. Es reicht aber auch nicht, neue Standards zu entwickeln – wir müssen aufhören, Kohle abzubauen.

Doch setzt Kolumbien seit Jahren auf nichts anderes…
Die Energiepolitik Kolumbiens zielt darauf ab, das Land an der Spitze der weltweiten Exporteure von Kohle und anderer fossiler Brennstoffe zu positionieren, bei gleichzeitiger Profilierung durch die Anwendung von „sauberer Energie“. Ein Jahr nach der Ratifizierung des Pariser Klimaabkommens von 2015 hat Kolumbien seine Strategie für die Reduzierung von Emissionen präsentiert – sie war heuchlerisch. Die Regierung warb dafür, dass die kolumbianische Bevölkerung mit Energie aus Wasserkraftwerken versorgt werde und daher im Vergleich zu anderen Industrienationen kaum zum Klimawandel beitrage. Doch einerseits sind die Megaprojekte, die der Staat als saubere Energie verteidigt, in Wirklichkeit nicht sauber. Auch sie verletzten Landrechte und belasten die Umwelt. Andererseits wurde in den Programmen der Regierung die 30-Jahre-Planung der Kohleindustrie nicht berücksichtigt. Man versucht, Anerkennung für die Einhaltung des internationalen Abkommens zu erhalten, gleichzeitig wird der eigene Beitrag zum Klimawandel als Kohleexporteur unsichtbar gemacht.

Die staatliche Antwort auf die Kritik verweist immer auf die Steuereinnahmen durch die Rohstoffindustrie. Doch in Regionen wie La Guajira wird es immer offensichtlicher, dass kaum Gelder in die Haushalte der Verwaltungsbezirke fließen. Ist das eine Folge der allgegenwärtigen Korruption?
Eine Analyse der Obersten Rechnungsprüfungsbehörde des Jahres 2013 belegt, dass der Staat durchaus Gelder für die Abbaurechte einkassiert. Abhängig von der Größe der Mine bezahlen die Bergbauunternehmen zwischen fünf und zehn Prozent der Gewinne für diese Abbaurechte. Jedoch sind die Gebühren im Vergleich zu anderen Ländern verhältnismäßig niedrig. Dazu kommt, dass das kolumbianische Unternehmensrecht eine Reihe von strukturellen Problemen aufweist, denn Unternehmen erhalten sehr einfach steuerliche Begünstigungen oder billige Abbaulizenzen, wodurch die Investitionen im Land attraktiver gemacht werden. Nach unseren Recherchen bezahlen derzeit zehn Bergbauunternehmen gar kein Steuern. Von welchem Geld kann also die Rede sein? Der Staat verzeichnet Rekorde in der Produktion, die Konzerne profitieren von laxen Regelungen und die Gemeinden bleiben die größten Verlierer.

Welche Verbindungen sehen Sie zwischen dem bewaffneten Konflikt und den Bergbausektor in Kolumbien?
Gerade wird der offensichtliche Konflikt mit den bewaffneten Akteuren beendet, doch die Strukturen, welche die Gewalt hervorgerufen haben, bleiben. Vorher war das Land in den Händen einiger Großgrundbesitzer, nun ist es in den Händen von Großkonzernen, welche der Bevölkerung den Zugang zum Land versperren. Dies findet in Cesar, La Guajira, in Cordoba und Antioquia statt. Die Bergbauprojektion Kolumbiens basiert beispielsweise auf der Auftragsvergabe von Bergbaukomplexen. Damit wurden 20 Prozent des Territoriums, sprich 22 Million Hektar, für den Abbau fossiler Brennstoffe reserviert! Dank einer Klage von Tierra Digna und anderen Organisationen wurde die Vergabe dieser Gebiete vorübergehend gestoppt, noch laufen die Untersuchungen des Verfassungsgerichts.

Haben sie Aufsicht auf Erfolg, mit solchen Maßnahmen die Energiepolitik zu ändern?
Das wird sich zeigen, denn wir sehen eine Vertiefung jener Ursachen, die die politisch motivierte Gewalt seit 60 Jahren ernähren. Im Auftrag der Regierung wird gerade eines von vielen Verständnissen der Landnutzung propagiert. Es ist besorgniserregend, dass Präsident Santos die Energiepolitik Kolumbiens nicht zu Debatte stellt, nur um Investoren nicht zu verschrecken. Das Gegenteil würde dem angestrebten dauerhaften Frieden viel mehr dienen.

OFFENER BRIEF DER SHUAR

shuar_cidhEin Shuar-Vertreter vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte / Foto: CIDH (CC BY 2.0)

An meine Shuar-Brüder, an die Indigenen des Amazonasbeckens und der Anden, an die Männer und Frauen aus Ecuador und der Welt.

Wie viele von Euch wissen, waren die vergangenen Tage sehr gefährlich für unsere Leute. Und die Gefahr ist noch nicht vorbei. Das ist vermutlich erst der Anfang einer großen territorialen Auseinandersetzung, die die nationale Regierung gegen die Shuar Arutam eingeleitet hat.

Unser Urwald wurde mit Tränen, Angst und Blut befleckt. Die Pfade, die wir in Frieden begingen, sind unsicher und gefährlich geworden. Es ist nun fast 30 Jahre her, dass die Ecuadorianer uns als Helden des Cenepa (Krieg um die Landesgrenze mit Peru Anm. d. Red.) anerkannten, als die Verteidiger von Ecuador, dem Land, dem wir angehören.

Nun ist es an der Zeit, dass die Leute aus unserem eigenen Mund erfahren, wer wir sind. Viele haben in unserem Namen gesprochen, ohne uns zu fragen: die Regierung, Politiker, soziale Aktivisten – manche mit guten, manche mit schlechten Absichten.

Wir sind hier geboren, in diesem riesigen Urwald, der die Cordillera del Cóndor und die Flüsse Zamora und Santiago umfasst. Stacheldraht und Privatbesitz kannten wir nicht. Bis der Staat unser Land zu Brachland erklärte und seine Besiedelung organisierte, mit dieser Überzeugung und Selbstlegitimierung, die allen Siedlern zueigen ist. Als die Siedler dann kamen, haben wir sie freundlich empfangen, weil wir wussten, dass sie arme, hart arbeitende Leute sind, die nur eine Chance für sich und ihr Leben suchen. Ganze Landstriche gehörten uns von einem Tag auf den anderen nicht mehr, weil Besitztitel auf die Namen von Leuten ausgestellt worden waren, die wir zum Teil nicht einmal kannten.

In den 60er Jahren mussten wir die Interprovinzielle Shuar-Vereinigung FICSH gründen, die wir bis heute als unsere Mutter betrachten, damit der Staat endlich anerkannte, was immer unseres gewesen war: das Territorium, unsere Lebensräume und unsere Kultur. Erst in den 80er Jahren wurden dann Gemeinschaftstitel auf unser Land ausgestellt. Wir erhielten nicht nur aufgrund des Cenepa-Kriegs Anerkennung, sondern auch weil wir diese jahrtausendealten, riesenhaften Wälder erhalten hatten, in Frieden und zum Schutz der Landesgrenze.

Im Jahr 2000 bereiste eine Gruppe von Shuar-Anführern dieses Land und gründete das Shuar Arutam Territorium, so wie die Verfassung es vorschrieb. Das war nicht einfach; es gab hunderte von Versammlungen und Diskussionen, bis sich schließlich sechs Verbände mit ihren 48 Gemeinden zusammentaten, um so ein zusammenhängendes Territorium von 230.000 Hektar in der Provinz Morona Santiago an der Grenze zu Peru zu schaffen.

„Über 38 Prozent unseres Lands sind dem Mega-Bergbau überschrieben  worden.“


Die FICSH eröffnete uns ihr Pilotprojekt, innerhalb des ecuadorianischen Staates eine neue Form indigener Selbstregierung auszuprobieren, eine Art Spezialregime in den Grenzen dieses Shuar-Gebiets. Im Jahr 2003 entwickelten wir unseren Lebensplan, der das Rückgrat unserer Organisation darstellt. Er ist der Kompass, der uns die Richtung weist, der uns sagt, welche Flüsse wir befahren können und wo wir unsere Nase besser heraushalten. Unser Lebensplan behandelt grundlegende Fragen wie Gesundheit, Bildung, den Erhalt und die Kontrolle des Waldes und seiner Ressourcen, Wirtschaft und Umweltschutz. Wir sind praktisch die einzige Gruppe des Landes, die ihr Territorium nach Kategorien nachhaltiger Nutzung eingeteilt hat. 120.000 Hektar haben wir zum strikten Schutzgebiet erklärt, zum Nutzen aller Ecuadorianer.

Im Jahr 2006 wurden wir vom Entwicklungsrat der Nationalitäten und Völker Ecuadors CODENPE als Shuar Arutam Volk legalisiert. Zwei Jahre später unterzeichneten wir einen Vertrag mit der Regierung, um unseren Wald 20 Jahre lang in perfektem Zustand zu erhalten und dafür Zuschüsse zu bekommen, die uns helfen würden, unseren Lebensplan umzusetzen. Dieser Vertrag heißt Socio Bosque – Waldpartner.

Im Jahr 2014 haben wir unseren Lebensplan aktualisiert. Einmal mehr sprach sich unsere Generalversammlung dagegen aus, dass innerhalb unseres Gebiets Bergbau im mittleren oder industriellen Maßstab betrieben wird. Wir haben zu Präsident Correa gesagt: Kommen Sie uns nicht damit, dass Sie Bergbau betreiben, um uns aus der Armut zu holen. Denn wir fühlen uns mit unserer Lebensweise nicht arm.  Sagen Sie uns lieber, wie Sie uns als Volk und unsere Kultur schützen werden.

In dieser Situation brach der Konflikt von Nankins aus. Schon seit dem Jahr 2008 bieten wir der Nationalregierung einen institutionalisierten Dialog an, doch trotz all unserer Bemühungen ist es uns nicht gelungen, im Rahmen des plurinationalen Staates ein ernsthaftes, ehrliches, aufrichtiges Gespräch auf Augenhöhe herzustellen. Das ist der Grund für das mangelnde Verständnis und die Fehlinterpretationen der Bedürfnisse der Shuar.

Im Namen eines „nationalen Interesses“, und indem die Vorfälle in Nankints zum Einzelfall erklärt werden, ignoriert die Regierung andere Rechte und Dinge, die laut Verfassung ebenfalls im nationalen Interesse liegen sollten: die Plurikulturalität und der Naturschutz. In Nankints benimmt sich die revolutionäre Regierung wie jeder x-beliebige Kolonisator und vergisst sogar die internationalen Verpflichtungen, die sie selbst eingegangen ist.

Das Problem liegt nicht in dem Stück Land um Nankints, das wir mit den Siedlern teilen. Von dem die Leute glauben, dass es niemals den Shuar gehört hat. Es lag außerhalb unserer Vorstellungswelt, dass einmal ein Bergbauunternehmen einfach das Land unserer Vorfahren vom Staat und von ein paar Siedlern kaufen könnte. Die Regierung ist vergesslich, und da sie viele Medien besitzt, um sich Gehör zu veschaffen, setzt sie ihre eigenen Wahrheiten durch. Unser Gebiet umfasst nicht nur Nankints. Über 38 Prozent unseres Lands sind dem Mega-Bergbau überschrieben worden. Die gesamten Flussläufe des Zamora und des Santiago wurden an den Klein-Bergbau konzessioniert. Und ein riesiges Wasserkraftwerk ist im Begriff, gebaut zu werden. Unsere Frage lautet: Wo sollen wir Eurer Ansicht nach leben?

„Warum lassen sie uns nicht in Frieden leben?“


Aus diesem Grund haben wir vor neun Jahren dem Unternehmen gesagt, es soll unser Land verlassen, und uns Nankints zurückgeholt. Neun Jahre später hat irgendjemand den Präsidenten manipuliert, damit er uns gewaltsam vertreibt, noch bevor er abtritt. Weil wir uns das nicht gefallen lassen, kommt es zu Gewalt. Sie haben uns die Schuld für die Tragödie mit dem ermordeten Polizisten gegeben, aber wir haben keinerlei Befehl ausgegeben, jemanden umzubringen. Die Regierung hingegen schickt, anstatt mit uns zu sprechen, tausende von Polizisten und Militärs in unsere Häuser, auf unser Land, terrorisiert und bedroht unsere Kinder. Soweit ich weiß, ist keiner von uns Scharfschütze, noch besitzen wir Feuerwaffen, die einen Polizeihelm durchschlagen würden. Warum ermitteln sie nicht gründlich, bevor sie uns verfolgen, bevor sie Haftbefehle für all unsere Familienväter ausstellen? Warum verkünden sie bei uns den Ausnahmezustand, anstatt mit uns zu reden um zu ermitteln, um die Gewalt zu stoppen, um den dunklen Kräften die Türen zu verschließen? Warum dringen sie in unsere Häuser ein? Warum lassen sie uns nicht in Frieden leben? Die Antwort, die wir erhalten, ist, dass wir angesichts des nationalen Interesses nur eine Handvoll folkloristischer und terroristischer Indios sind und nicht verstehen, was Buen Vivir bedeutet. Und schon gar nicht Sumak Kawsay oder das Projekt der Bürgerrevolution.

In diesem ersten Kommuniqué aus den Wäldern der Cordillera del Cóndor sagen wir tausend Familien Euch, dass wir es unter keinen Umständen zulassen werden, dass die Gewalt und die Macht der Regierung unser Haus, Dein Haus, das Haus der Welt zerstört.

Präsident Rafael Correa muss ein Klima des Friedens schaffen, seine Truppen zurückziehen, den Ausnahmezustand in unserer Provinz aufheben sowie die Haftbefehle gegen unsere Anführer und Angehörigen. Der einzig richtige Weg, um diesen Weg der Zerstörung zu beenden – der einzelne Shuar zu isolierten Widerstandsaktionen treibt, um ihr Gebiet zurückzuerobern –, ist der Dialog, der Respekt, das gegenseitige Verständnis.

Wir fordern alle Bewohner Ecuadors und Morona Santiagos auf, sich unserer Forderung nach Frieden, der Beendigung der Gewalt und einem ernsthaften Dialog mit der Regierung anzuschließen; einem Dialog, der unser Leben als Ureinwohner respektiert.

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