Zwischen Erwachen und Erwachsenwerden

Foto: Plan B Entertainment

Eines Nachmittags vertraut Cecilia (Andrea Suárez Paz) ihrem Sohn Olmo an, sich um seinen Vater Néstor (Gustavo Sánchez Parra) zu kümmern. Der ist mit Multipler Sklerose bettlägerig und zum Überleben auf seine Familienmitglieder angewiesen. Auch sonst geht es der Familie nicht wirklich gut: Sie sind drei Monatsmieten schuldig, es gibt weder Zeit noch Geld für selbstgekochtes Essen (außer der Tiefkühl-Lasagne, die der Vater nicht essen will) und die Stereoanlage ist kaputt. All das hält den 14-jährigen Olmo aber nicht davon ab, sich für seine Nachbarin Nina (Melanie Frometa) zu interessieren. Seiner älteren Schwester Ana (Rosa Armendáriz) geht es ähnlich wie ihm: Sie will ihre Jugend abseits von Verpflichtungen erleben. Währenddessen versucht ihre überforderte Mutter, ihren häuslichen und finanziellen Verpflichtungen nachzukommen, indem sie Doppelschichten in einem Restaurant arbeitet.

Fernando Eimbckes Film Olmo wurde in der Sektion Panorama der Internationalen Filmfestspiele Berlin 2025 uraufgeführt. Es ist Eimbckes vierter Film und das zweite Mal, dass der mexikanische Regisseur an der Berlinale teilnimmt. Das erste Mal war er 2008 mit Lake Tahoe vertreten, einem Film, der mit dem Silbernen Bären für den Alfred-Bauer-Preis ausgezeichnet wurde. Sein Regiedebüt gab er 2004 mit Temporada de Patos, der in Cannes uraufgeführt wurde und in seinem Heimatland mehrere Preise gewann. Im Jahr 2013 präsentierte er Club Sandwich, seinen dritten Spielfilm, der beim 61. Internationalen Filmfestival von San Sebastian unter anderem mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet wurde.

Olmo spielt 1979 in New Mexico und schildert auf humorvolle Weise den komplexen Übergang vom Heranwachsen zum Erwachsenwerden in einem von Unsicherheit geprägten Umfeld. Aivan Uttapa spielt darin den Protagonisten: Olmo ist ein junger Mann, der versucht, den Härten seines Zuhauses zu entkommen, indem er sich in seine Freundschaft mit Miguel (Diego Olmedo) und seine romantischen Träume zurückzieht.Sein Freund nimmt dabei im Laufe des Films die Rolle des treuen Helfers für ihn ein, fast wie Sam Gamdschie für den Helden Frodo in der Fantasy-Saga Herr der Ringe. Unter anderem unterstützt er ihn dabei, seinen Schwarm Nina dazu zu bringen, ihn zu einer Party einzuladen. Aber die Sache hat einen Haken: Die Eintrittskarte dafür ist, sich die Stereoanlage der Familie auszuleihen. So muss sich Olmo zwischen der Verantwortung für seine Angehörigen und dem Wunsch, seine Jugend zu leben, entscheiden. Auf diese Weise zeigt der Film eine unausweichliche Wahrheit: Erwachsenwerden bedeutet, schwierige Entscheidungen zu treffen.

Doch Olmo ist mehr als nur eine Coming-of-Age-Geschichte, sondern auch ein intimes Porträt einer Migrant*innenfamilie, in der die Eltern auf Spanisch kommunizieren und die Kinder auf Englisch antworten. Einer Familie, die durch die Krankheit von Néstor zerbrochen ist, der als Vater, obwohl körperlich eingeschränkt, immer noch versucht, seiner Rolle mit Anekdoten und Ratschlägen gerecht zu werden, auf die seine Kinder nicht immer hören wollen. Das fehlende Gleichgewicht in seiner Familie hinterlässt Olmo in einem großen Dilemma: Inwieweit soll er mit Aufgaben belastet werden, die seinem Alter nicht entsprechen? Während seine Mutter und seine Schwester versuchen, auf ihre Weise zu entkommen, sehnt auch er sich nach einer solchen Pause. So erinnert uns der Film daran, dass das Erwachsenwerden nicht nur ein Prozess der Selbstfindung ist, sondern auch ein Akzeptieren der familiären Bindungen, mit all der Last, die sie mit sich bringen.

Olmo ist kein effekthascherischer Film, aber wenn er erst einmal angefangen hat, überzeugt er mit seinen Charakteren, einer soliden Geschichte und einem sorgfältigen Setting. Er handelt vom Aufwachsen und von Beziehungen in einer unvollkommenen Familie und erinnert uns daran, dass das Leben wie ein Film sein kann. In dieser Geschichte ist die Familie kein idealisierter Zufluchtsort, sondern ein komplexes Band, das von Opfern und kleinen täglichen Kämpfen aufrechterhalten wird. Jede Figur geht auf ihre eigene Weise mit der Realität um, aber alle sind durch eine gemeinsame Wahrheit verbunden: Trotz ihrer Brüche bleiben sie ein Team, in dem Verantwortung und Zuneigung in einem fragilen Gleichgewicht koexistieren.



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Das Leben ist nicht immer schön

Rihanna und Benin, zwei Kinder sitzen auf einem Wagen, sie haben den Mund offen, als ob sie singen oder schreien würden. Das kleine Mädchen hält einen Ball in der Hand. Der kleine Junge hat eine Mütze auf. Vor dem Wagen befindet sich eine Lautsprecherbox.
© Aline Arruda

Von oben gesehen sieht oft alles viel schöner aus. So auch der Müllwagen von Gal, den sie zu Fuß über das Labyrinth der Stadtautobahnen von São Paulo zieht. Doch als die Kamera in Anna Muylaerts Film A melhor mãe do mundo (Die beste Mutter der Welt) von der furiosen Drohnenaufnahme auf das Straßenlevel wechselt, wird klar: Müllsammler*in zu sein, ist eine schweißtreibende, staubige Knochenarbeit. Die zweifache Mutter Gal (stark: Shirley Cruz) steuert ihr Gefährt dennoch mit scheinbar unerschütterlicher Energie und Fröhlichkeit durch die Peripherie. Ohne Jammern und Klagen werden vor allem recycelbare Plastikflaschen auf den Wagen geladen und später sortiert und gewogen. Die Bezahlung reicht zum Leben, aber nicht für eine Mietwohnung für drei. Und hier beginnt Gals Problem: Denn wer dafür zahlt, ist ihr Partner Leandro (Seu Jorge), ein gewalttätiger Alkoholiker, der sie regelmäßig schlägt. Als auch die Sozialberatung, bei der Gal ihn anzeigt, keine schnelle Hilfe bietet, packt sie kurzerhand ihre beiden Kinder auf den Wagen. Los geht es auf eine mehrtägige Fahrt zum Haus ihrer Cousine, die am anderen Ende der Megalopolis lebt.

Regisseurin Anna Muylaert hat ein großes Herz für die Außenseiter*innen der Gesellschaft.  Que horas ela volta (Der Sommer mit Mamá) gewann 2015 mit einer Geschichte über eine Hausangestellte den Panorama Publikumspreis auf der Berlinale. Nun ist sie mit A melhor mãe do mundo zurück auf dem Festival. Im Zentrum ihres Films steht wieder eine Frau in einem Job, der trotz seiner Relevanz für die Gesellschaft nicht ausreichend gewürdigt wird. Muylaert zeigt vor allem zu Beginn Gals Alltag, die verschiedenen Schritte des Müllsammelns, Sortierens und Recyclings, was zu Verständnis und Respekt für ihre Tätigkeit beiträgt. Daneben kommt in kleinen Szenen und Dialogen immer wieder Solidarität in der Working Class zum Vorschein: Unter anderem leihen die Müllarbeiter*innen sich gegenseitig Kleidung oder es wird ein Essen für die Kinder spendiert. So entsteht ein warmherziges Porträt der Menschen, die im wahrsten Sinne des Wortes täglich die Drecksarbeit für die Zwölfmillionenstadt  São Paulo erledigen.

Für Gals Flucht vor den Schlägen ihres Ehemanns hat sich Muylaert dann am Drehbuch von Roberto Benignis Oscar-prämiertem Film „Das Leben ist schön“ von 1997 orientiert. Denn die beste Mutter der Welt verkauft ihren Kindern die Obdachlosigkeit während ihrer Fahrt durch São Paulo als großes Abenteuer: Schlafen im Park labelt sie als Camping, in der Fußgängerzone wird getanzt und ein Brunnen kurzerhand zum Schwimmbecken. Während der junge Benin mit herzerwärmender Begeisterung bei allen Aktivitäten voll dabei ist, beginnt die ältere Tochter Rihanna irgendwann, Fragen zu stellen. Denn auf dem Weg lauern Gefahren und selbst manche vertrauten Personen sind plötzlich nicht so liebenswürdig, wie sie vorher schienen.

Der Plot von A melhor mãe do mundo verliert durch die Benigni-Vorlage natürlich ein wenig an Originalität und auch das Ende ist schon weit vor der Hälfte der Laufzeit absehbar. Dafür ist der Film aber nicht nur unterhaltsam, sondern erfüllt auch als Empowerment für Frauen aus der Arbeiter*innenklasse, die gegenüber häuslicher und struktureller Gewalt besonders vulnerabel sind,  eine wichtige Funktion. Schicksale wie das von Gal sind in Brasilien und anderswo leider immer noch viel zu normal und haben es deshalb verdient, auf der großen Bühne Aufmerksamkeit zu erhalten.


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