PC Farias: Tangotänzer und Mafioso

Mit der finanziel­len Unter­stützung des Multimillionärs Paulo Cesar Farias­, im Volks­mund PC, gewann Collor de Mello 1989 die Präsident­schaftswahlen. Aber auch nach der Wahl ver­sorgte PC seinen Präsidenten, der 1992 wegen Korrup­tion und Machtmiß­brauch seines Am­tes enthoben wurde, mit reich­lich Geld (siehe LN 222). “Wegen Mangels an Be­weisen” 1994 in ei­nem offen­sicht­lich politisch motivier­ten Kor­ruptionspro­zeß frei­ge­spro­chen, lebt Collor heute in Miami. PC be­kam sieben Jah­re, die er größtenteils höchst kom­fortabel im of­fe­nen Straf­vollzug von Ma­ceio / Alagoas absaß. Damit könnte die Geschichte ein Ende haben.

PCs Comeback

Als ihn 1996 in seiner Wo­chenendvilla im Nord­oststaat Ala­goas der tödli­che Schuß traf, hatte PC Farias gerade sein poli­tisches Co­meback, die Gründung einer Tageszeitung angekündigt. Der zu­ständige Po­lizeichef gab noch am selben Tag bekannt, der fünfzigjährige kahl­köpfig-char­man­te Tangotän­zer sei wegen Be­ziehungspro­ble­men von seiner Freundin Suzana Mar­colino er­schossen wor­den, die anschlie­ßend an seiner Seite Selbst­mord be­gangen habe. – Spott und Iro­nie war der Tenor von Brasiliens Leitar­tikeln. Als Tat­motiv wurde allgemein Quei­ma de Archivo, die Vernichtung von Archiven angenom­men, da PC exzellenter Kenner der brasi­lianischen Kor­ruptionsme­chanismen war und streng­gehütete Geheim­nisse der jünge­ren Politik mit ins Grab nahm. Zur allgemei­nen Ver­blüf­fung be­stätigte zwei Mo­nate später der bis dahin landes­weit hoch­ange­sehene Gerichts­me­di­zi­ner Badan Palhares nach vor Ort an­gestell­ten Untersu­chungen die Ver­sion des Polizei­chefs. Für die Re­gie­rung schien der Fall damit er­le­digt.
Von Anfang an hatte der ala­goanische Gerichtsmedi­ziner und Militärpolizei­oberst George San­guinette mit einem hohen Maß an Zivil­courage öffentlich auf Un­gereimtheiten bei dem Mord hin­ge­wiesen. Seine ermit­telnden Kol­legen würden von “oben” ge­wal­tig unter Druck ge­setzt, bei dem Verbrechen han­dele es sich um einen Doppel­mord. Sangui­nette erhielt da­raufhin Mord­droh­ungen und wurde we­gen seiner Aufmüpfig­eit zeit­weise unter Haus­arrest gestellt. Der Oberst ließ sich nicht ein­schüch­tern, wies über­zeugend grobe Er­mitt­lungs­fehler nach, und ver­öf­fent­lichte darüber sogar ein Buch. Die Untersu­chungen wur­den schließlich wiederaufge­nom­men. Die jüng­ste defini­tive Ex­per­tise vom Mai macht die bis­he­rige offizielle Version zu Ma­ku­la­tur. Suzana Marco­lino konn­te nicht auf PC geschossen und sich danach in der beschrie­be­nen Weise umge­bracht haben — ge­mäß der zu­ständigen Staats­an­wäl­tin weisen die Indi­zien nun­mehr auf Dop­pelmord hin. Als PC und dessen Freundin be­reits tot waren, wur­den nach­weis­lich Te­lefongesprä­che mit der Wo­chen­endvilla ge­führt. Die Lei­chen “entdeckte” man aber erst rund vier Stunden später.

Zivilcourage eines Gerichtsmediziners

Laut Sanguinetti steht die Ma­fia von Alagoas hinter der Tat. Mitt­lerweile wurden auch Ver­bin­dungen PCs zur italienischen Mafia nachgewiesen. Ein Partner soll in Geldwäsche, Drogen und Waf­fenhandel verwickelt sein. Zwei Kinder von PC stu­dierten auf einem Privatgymnasium der Schweiz, wo die ita­lienische Po­li­zei vier Konten des Er­mordeten aus­machen konnte. Auf diesen und sechs weiteren Konten in den USA, den Niederlanden und Uruguay hatte PC über sechs Millionen Dollar de­poniert: Ein Bruch­teil seines Vermögens.
PC Farias eigener Einschät­zung nach säßen bei strenge­ren Ge­setzen gegen Korruption im Wahl­prozeß – wie zum Beispiel in Italien – die Politiker, die Bau­un­ternehmer und Bankiers des Landes allesamt hinter Git­tern. Und er muß es wohl am be­sten wis­sen.

KASTEN

Würden Sie Ihr Kind “Hitler” nennen?

Antonio Callade, der auch in Deutschland und Österreich viel­verlegte brasi­lianische Roman­cier, stau­nte nicht schlecht, als er bei der Pre­miere eines seiner Stücke im Teatro Ziembinski von Rio de Janeiro auf den Mosaik­fußboden schaute: auf über zehn Metern Länge ein Ha­kenkreuz nach dem an­deren kunstvoll aufge­reiht, saubere Handwerksarbeit aus den 30er und 40er Jahren. Seit das alte Haus 1985 von ei­nem Schauspieler er­worben und in ein Theater umgewan­delt worden war, hatte nie­mand An­stoß an der auch vom angrenzenden öffentli­chen Platz deutlich erkennba­ren Haken­kreuz­or­na­men­tik genommen.
Obwohl in den brasiliani­schen Zeitungen häufig über Hakenkreuz­schmierereien in Deutschland und anderen eu­ropäischen Län­dern sowie über die entsprechen­den Proteste jü­discher Organisa­tionen be­richtet wird, verkau­fen Straßenhändler in Rio oder Sâo Paulo sogar nach­produzierte Me­tall-Erinne­rungsplaketten an den “Gautag der Bayrischen Ost­mark, Pfingsten 1933 in Regens­burg”, darauf das Ha­kenkreuz unter’m Reichsad­ler. Bis heute tragen nicht wenige Brasilianer den Vor­namen Hitler – die Eltern wa­ren eben Bewunderer des Naziführers. Richter Hitler Canta­lice läßt einen Parlaments­abgeordneten we­gen Autoraubs verhaften – und als die Insassen einer total überfüllten Haftanstalt re­voltieren, behält Polizei­chef Hitler Mussolini Pacheco kühlen Kopf, führt persönlich die Verhand­lungen über Geiselfreilassun­gen. Weiße Hitler sitzen in Universitätshörsälen, schwarze Hitler hausen in Slums der Sklavennachfah­ren. “Hitler” steht auch auf Straßenschildern: In der Stadt Barra do Bugres befindet sich das Hospital in der “Avenida Hitler Sansâo”. Auch der Vor­nahme “Rommel” ist sehr häufig.
Viele Juden flüchteten vor der drohenden Verfolgung und Ermordung auch nach Brasilien – die den Deutschen aus der Nazizeit bekannte üble Verunglimpfung der jü­dischen Minderheit ist jedoch bis heute selbst in Wörterbü­chern und Lexika beibehalten worden – trotz entsprechen­der Proteste. Ver­gangenes Jahr hat erstmals auch die jü­dische Weltorganisation B’NAT B’RITH scharf ver­urteilt, daß sogar im wichtig­sten brasilianischen Nach­schlagwerk Aureliano der Jude als “schlechter Mensch, Geizhals, Habgieriger, Wu­cherer” definiert bzw. charakteri­siert wird.

Wildgewordenes Billardspiel

Die erste Frage, die auftaucht, de­finiert schon das Problem: Was ist Latin Jazz ? Die Verbin­dung música latina und Jazz scheint zu sugge­rieren, daß zwei unter­schiedliche Dinge kom­biniert sind, wobei die Dominanz auf letz­terem liegt. Nicht jazz latino – son­dern anscheinend eine Unterart des Jazz, Latin Jazz eben. Aber so ein­fach ist es nicht.
Fängt man an, eine kleine Phäno­menologie der Mu­sik zu ba­steln, in der sich Teile von música latina & jazz vermi­schen, stellt man er­schrocken fest, daß die Angelegen­heit schnell ausufert. Fangen wir einfach mal an, willkürlich aus den Vinyl- und CD-Regalen gezerrt und ohne jede Art von Anspruch auf Vollständigkeit:
W.C. Handys “St. Louis Blues” hat einen deutlichen Tango- Teil, im Spiel des Chica­goer Pianisten Jimmy Yancey fin­den wir Tango-Fi­guren in Hülle und Fülle, die Bässe sind oft Habanera-Linien. Astor Piaz­zollas Tango Nuevo wurde von Kritikern sofort als Jazz (dis)qualifiziert; wenn Piazzolla etwa mit Gerry Mulligan spielt, gibt’s keine Dis­kussionen. Der brasilianische Altsaxophonist Paulo Moura hat in den frühen 60er Jahren mit seinem Kollegen Cannon­ball Adderley funky Jazz ge­spielt, heute nimmt er in Brasi­lien Dinge auf, auf denen Latin Jazz draufsteht. Latin Jazz sind die Bossa-Nova-Hits von Stan Getz & Astrud Gilberto (wobei via Getz die jiddischen Klezmer-Traditio­nen, die Jazz auch hat, ins Spiel kommen). Jazz & Latin sind ver­mischt bei Bands wie den “Skatelites” aus New York, die eben Ska aufre­gend als Jazz spielen – oder Jazz als Ska ?. Der (weiße) Kalifor­nier Andy Narell spielt in einer Band des Ku­baners Paquito D’Rivera calypso­artige Steelpans – das nennt sich “The Caribbean Jazz Project”. Seit den vierziger Jahren und be­sonders seit Dizzy Gillespies Zusam­menarbeit mit di­versen kubanischen Percussio­nisten gilt “Cubop” als gesicherte Art des Latin Jazz, und Duke El­lingtons “Caravan”, eine Kom­position von Juan Tizol, ist ein Evergreen im Latin-Idiom. Lo­renzo Tio war um die Jahrhundert­wende ein einfluß­reicher Klarinet­tenlehrer in New Orleans, bei dem Heer­scharen von Jazz-Klarinetti­sten gelernt ha­ben. Manuel Pérez war Chef ei­nes Or­chesters, das als “typisch” für die Kindertage des Jazz gilt. In der Bronx von heute spielen in Forma­tionen wie “Jerry González & The Fort Apache Band” weiße und schwar­ze, anglo- und hispano­phone Menschen deut­lich Latin Jazz. Und die spannenden neuen Musiker des avan­cierten main­stream ha­ben Namen wie David Sánchez, Danilo Pérez, John Be­nítez oder Steve Berrios (und sind bei genauer Be­trachtung so jung gar nicht mehr). Gonzalo Rubalcaba aus Kuba spielt im avantgardistischen Free-Music-Idi­om, Fernando Tarrés aus Bu­enos Aires macht in größeren und kleineren Be­setzungen im­provisierte Musik irgendwo zwi­schen Free Jazz, Tango und eu­ropäischer Kunstmusik. Und nicht zu vergessen die Forma­tionen, die Latin Jazz in die Supermärkte ge­bracht haben: “Sergio Mendes & Brazil ’66” (ff.) und “Herb Alpert’s Tijuana Brass”. Der große Tenorsa­xophonist Joe Hen­derson weist immer wieder darauf hin, daß der funk von Horace Silver in den 60ern, der wi­der den blutleeren Ästhetizismus des (weißen) West Coast Jazz als Rückbesinnung auf die schwarze soul music , als back to the roots gefei­ert wurde, ganz entscheidende Latin-Züge hatte.

The spanish tinge of Jazz

Ralph Mercado, der Besitzer des Plattenkonzern(chen)s RMM und durch­aus skep­tisch zu be­trachtender “Händler” von La­tin Music aller Genres, versammelt die Creme des La­tin Jazz von Tito Puente über Mongo Santa­maria bis zu Giovanni Hildago, Eddie Palmieri und Juan Pablo Torres zu Mega-Sessions, die ganz gezielt die Funktion des be­rühmten Jazz at the Philharmony übernehmen wollen: Popularisie­rung mit­tels eines rie­sigen Staraufge­bots.
Und dann ist da natürlich noch die oft zitierte Äuße­rung ei­nes der Gründungsväter des Jazz: Jelly Roll Morton, der mit eini­ger Plausibi­lität be­hauptet, Jazz ohne den be­rühmten spanish tinge sei sowieso unvorstellbar. Er meinte dabei nicht die ibe­rische Halbinsel. Trotz­dem wühlte man bei Miles Davis’ “Spanish Key” aus dem epoche­ma­chenden “Bitches Brew”-Album verzwei­felt nach der einen Fla­menco-Figur, die im to­nalen Zentrum stecken soll, und übersah doch hin und wie­der, daß der ganze Titel über einen lupen­reinen boogaloo läuft.
Ad infinitum. Quer durch die Jahrzehnte, quer durch die Geogra­phie, quer durch vier Sprachräume: Spanisch, Portu­giesisch, Eng­lisch, Franzö­sisch. Will man diesen Wust sor­tieren, wird’s problema­tisch. Einmal, weil sich Musikgeschichte nicht nach den Be­dürfnissen von Klas­sifikationen richtet (zumindest solange die Musik noch lebt und sich so verändert, wie es ihr ge­fällt). Zum ande­ren, weil Defini­tionen ins Spiel kommen, die so­fort wieder un­sinnige Ausgren­zungen vornehmen müssen. Wer guten Gewissens meint zu wis­sen, was Jazz ist, der kann, wenn er auch noch guten Gewissens zu wissen meint, was Latin bedeu­tet, festsetzen, daß Latin Jazz eben Jazz ist, der mit la­teinamerikanischen Rhythmen ver­sehen, zum Vortrag ge­bracht wird. Zum Beispiel: Das SFB-Tanzorchester ohne Streicher, aber dafür mit zwei Conga-Spielern gibt “In the mood” (wobei ich auf­richtig hoffe, daß es dieses Beispiel nicht wirklich gibt). Latin Jazz ?
Oder: Wenn der kolumbiani­sche Pianist Héctor Martignon einen Titel einspielt, der auf ei­nem 7/4 Takt balkanesi­schen Ur­sprungs beruht, was dann ? Mar­tignons Kla­vierspiel ist nun­mal “jazzig”, weil er nach bestimm­ten Konventionen und Standards von Jazz phrasiert und weil er nach Maßgabe des un­notierbaren Phänomens Swing swingt (wir wissen alle, was swing ist, wenn wir es hören, resp. ver­missen; die mu­siktheo­retischen Grund­lagen kann ich hier nicht repro­duzieren). Akzeptieren wir mal, er spielt nach den Mustern von “Bebop” und “Postbop” oder “Neobop” oder wie auch immer die hier fällige Schublade heißt – und fügt dann zu den balkanesi­schen sieben Vierteln auch noch rhythmi­sche Figuren hinzu, die deut­lich lateinamerikani­schen Ursprungs sind – Latin Jazz ?
Oder: Was macht der Gitarrist Fa­reed Haque, der überhaupt nicht aus dem weiten ka­ribischen, gar afrokari­bi­schen Kontext, sondern aus einer pakista­nisch-chileni­schen Fami­lie kommt, sein Handwerk am Flamenco gelernt hat und plötz­lich in einem kuba­nisch/exil­kubanischen Reunion-Pro­jekt auf­taucht (demjenige der beiden Ex-“Irakere”-Musiker Arturo Sandoval und Paquito D’Rivera, die man wegen ihrer je­weils eige­nen Spielweise so­wieso nur als Jazz-Musi­ker be­zeichnen kann) und dort zwi­schen Bop und Rock alles spielt, was ge­rade ge­braucht wird? La­tin-Jazz?
Noch’n bißchen komplizierter: Die bei­den Bandoneon-Virtuo­sen Dino Sa­luzzi (aus Argen­tinien) und René Marino Rivero (aus Uruguay) benutzen für ihre sperrig-faszinierende Mu­sik alle Möglich­keiten, die ihnen Astor Piazzollas Tango Nuevo bie­tet, dazu die, die Free Jazz von der Sorte geöffnet hat, den man nicht mehr mit den Para­metern von swing etc., son­dern nur als “Entgrenzung” von einst ge­bundenen Spielwei­sen ver­stehen kann. Sowohl bei Saluzzi als auch bei Rivera ist der Tango noch da, in Taktpartikeln, in Rhythmus­fetzen und als “Atmo­sphäre”, aber er ist durch den Filter von Free Music gegan­gen. Latin-Jazz?

Wildgewordenes Billard­spiel

Man sieht: Ich benutze Jazz als Redekonvention, nicht als termi­nus technicus. Mit Latin meine ich alles, was süd­lich der USA anzusie­deln ist. Und be­gehe schon wieder eine grobe Verein­fachung. Es ist in der Tat so, daß wir unter Jazz eine Mu­sikform verstehen, die in den USA entstanden und zur Blüte ge­bracht worden ist. Aber was da in den USA entstanden ist, ist deswe­gen nicht zwangsläufig rein US-ame­rikanisch. Wie auch ? Die Musik­geschichte des Groß­raums zwi­schen New York City und Buenos Aires ist ein wild­gewordenes Billardspiel über viele Banden, die Andalusien heißen und somit Nor­dafrika, Westafrika und Böhmen, Bay­ern, Bretagne, Sizi­lien, Mexiko, Bra­silien, what ever. Wobei die Kugeln von jeder Bande mit neuen Schich­ten überzogen zu­rückkommen. Volks­musik aus Kasti­lien ge­riet auf Kuba mit westafrikani­scher Rhythmik zu­sammen, hüpfte als ob­zöne zara­banda nach Spanien zurück oder als lasziver Fandango, wurde nebst ein paar maurischen Ein­sprengseln von ei­nem italieni­schen Komponisten, der viel­leicht wie Boccherini gerade am verlot­terten Madrider Hof ge­strandet war, in die Musikspra­che des Spätrokoko umgegos­sen, geriet mit einem Liebha­ber an Bord eines englischen Kriegs­schiffes nach Sta. Lucia, wurde dort neu rythmisiert und ricochet­tierte fröhlich zwischen den Inseln umher, bis er in New Or­leans in das ein­floß, was man spä­ter Jazz nen­nen wird.Ver­mutlich könnten musikhi­storische Genies sol­che Reisen so­gar rekonstruie­ren.
Unzähliger sol­cher Kugeln sind un­terwegs, in alle Richtun­gen. Melo­dien, Liedformen, Ryth­men, Akzentu­ierungen, Instru­mente, Instrumentenbe­hand­lung, Texte, ti­mings – das ganze Sachwörterbuch der Mu­sik rauf und runter. Bläser zum Beispiel: Dizzy Gillespie, eine der ganz entschei­denden Figuren für Latin Jazz, hat seit den vier­ziger Jahren immer wie­der mit Latino-Mu­sikern gespielt – er saß in der Band von Machito (= Raul Grillo) und in der von Alberto Socarras, er holte Chano Pozo in seine Band und seitdem jeden, der Rang und Namen in der spa­nisch und portugiesisch spre­chenden Musik­welt hat. Umge­kehrt saß etwa der Kubaner Ma­rio Bauzá als musika­lischer Di­rektor dort, wo Harlem am “schwärzesten” war – in der Band von Chick Webb, bei dem (Spurensuche !) auch die junge Ella Fitzgerald ange­fangen hat.

Dizzy und Monk schätzten Latin

Wie man also Big-Band-Sätze arran­giert, das ist auch so eine Billardkugel. Be­sonders in­tensiv saust sie zwischen Kuba, Mexiko, Ko­lumbien und den USA hin und her.
Es gibt auch ein paar un­schöne, weil poli­tische Implika­tionen. Die allerdings haben vermutlich weni­ger mit den Mu­sikern und der Musik selbst als mit den Sekundärbearbeitern, den Vermarktern und den jewei­ligen ideologischen Kriegsge­winnlern zu tun.

Jazz oder Salsa

Dennoch, um ein paar Punkte kommt man nicht herum: “Schwarz” in den USA scheint nicht gleich “Schwarz” zu sein. Anglo­phone Schwarze und hi­spanophone Schwarze (resp. frankophone, resp. “brito­phone”, näm­lich Westindies) haben, folgt man den entspre­chenden Diskus­sionen, Pro­bleme, sich gegen­seitig wahrzuneh­men. Der ein­gangs zitierte Don Cherry ist eher die Ausnahme. Der Streit, der in den letzten Jahren als “Marsalis”-Debatte be­rüch­tigt gewor­den ist, zeigt die Bruch­stellen sehr schön: Es ging un­ter anderem darum, wer die Definiti­onsmacht über (nicht nur) den Teil der Black Culture hat, die man “Jazz” nennt. Die sogenannten “Neocons” um den Trompeter Wynton Marsalis wollen Jazz als die “klassische” Musik der Schwarzen mit einem normativen Kanon versehen, aus dem alles ge­tilgt ist, was ihre Definition überschreitet – grob gesagt von Louis Armstrong bis Thelonius Monk. Dazu ge­hört auch der Sünden­fall “Bitches Brew” von Miles Davis. Die an­dere Position, vertre­ten durch den Trompeter Lester Bowie, argu­mentiert für einen weit offe­neren Be­griff von Jazz, mit allen gesell­schaftspolitischen Impli­kationen. An einem Punkt ist man sich aller­dings fatal einig: Jazz sei eine anglo­phone Veran­staltung, ein Ding, das nur in den USA stattfin­de. Und was spa­nischsprachig ist, das trommele viel­leicht im Hinter­grund. An­sonsten handele es sich wohl um Salsa.
Achtung: Das ist arg verein­facht, hat aber ein Gran Wahr­heit. Der ent­scheidende Punkt für mich ist nicht, daß es sich dabei um einen un­schönen Re­flex auf die auch von anglo­phonen Schwarzen als Be­drohung empfundene Hispanisie­rung der USA handelt (und das Dumme an den “specs” ist, daß sie alle mögli­chen Schattierun­gen von Schwarz, Nicht-Schwarz, indí­gena und Braun aufwei­sen). Dies ist so­wieso eine de­moskopi­sche Tatsa­che und wird noch sehr schöne Pro­bleme ma­chen. Nein, der Punkt, der hier interes­siert, ist, daß das La­tin-Element verschwindet hin­ter ei­nem merkwür­dig idola­trisierten “Afrika” und somit ei­nem sehr eigen­artig blankgeputz­ten back to the roots. All die rhythmi­schen und tanzbaren Zaube­reien, die der La­tin-Jazz so wun­derbar und virtuos vorführt (ob sie aus Kolumbien oder Ve­nezuela stam­men, aus Kuba oder Santo Domingo), werden an­scheinend als au­thentisch “afrikanisch” be­griffen. Als ob diese Rhythmen und ihre wich­tige spezifi­sche Seman­tik aus den Jahren 1492ff. direkt und unverändert ins späte 20. Jahrhun­dert gesprungen sind. Als ob neben der rhythmi­schen Ge­nialität die me­lodischen und the­matischen Kompo­nenten von Musik, die aus den hi­spano- und franko­phonen Teilen Amerikas ins US-Amerikanische ge­drungen sind, keine Rolle ge­spielt haben. Da entsteht in man­chen Köpfen (und vor allem in einer flugs nachplap­pernden Publizi­stik) eine un­schöne, weil ganz und gar falsche “Sau­ber­keit”.
Die Verwirrung, die das Thema La­tin Jazz anrichten kann (und die ich hier bewußt ange­richtet habe), ist das be­ste Anti­dot gegen einfache Weltbilder. Was tun ? Musik hö­ren.

Abschied von den Bergen

Den Beginn für die Waffen­abgabe und den Eintritt ins zivile Le­ben der URNG-Mitglieder stell­te der sogenannte Tag “D” (für Demobilisierung) dar. Die­ser Tag war zugleich Fixpunkt al­ler die Demobilisierung betref­fenden Maßnahmen und Zeit­punkt des definitiven Waffen­stillstands. Seit dem D-Tag, dem 3. März, überwachten 155 Blau­helme aus 17 Staaten den Frie­den. Die größten Kontingente kamen aus Spanien mit 43 Soldaten, Uruguay mit 20, Bra­silien und Kanada mit je 15; Deutschland war mit vier Mili­tärärzten an der Mission betei­ligt.

Sammeln für den Tag “D”

Den Einheiten der URNG blieben vor dem Tag “D” drei Wo­chen, um sich in den acht vorbe­reiteten Sammelpunkten einzu­finden. Die Gesamtzahl der Kämpfer und Kämpferinnen in­klusive ihrer Kinder lag mit 2959 un­ter der ursprünglich von der URNG angegebenen Zahl von 3614. Die Guerilla erklärte die­sen Umstand damit, daß viele aus Mißtrauen zunächst nur ihre Pseu­donyme angegeben hätten, wo­durch Doppelregistrierungen ent­standen seien. Desweiteren sei­en etwa 400 KämpferInnen nicht in den Sammelpunkten er­schie­nen, da sie sich entschieden hät­ten, direkt zu ihren Familien zu gehen bzw. bei ihnen zu blei­ben.
Die eigentliche Demobilisie­rung erfolgte in vier Etappen. Zu­nächst mußte die URNG ihre ge­samte militärische Ausrüstung mit Ausnahme der persönlichen Waf­fen bis zum Tag “D+42”, dem 14. April, den Vereinten Na­tionen übergeben, bzw. in be­reit­gestellte Container ablagern. Diese wurden durch zwei Schlös­ser gesichert – eines unter der Verantwortung der UNO, das an­dere unter der der URNG. Au­ßer­dem mußte die Guerilla bis zu die­sem Termin alle Waffenver­stecke bekannt gegeben haben. In drei weiteren Etappen von je­weils fünf Tagen gaben bis zum Tag “D+60”, also dem 2. Mai 1997, je ein Drittel der Kämpfe­rInnen ihre persönlichen Waffen ab.
Insgesamt handelte es sich nach Angaben der URNG um 1818 Schußwaffen, 100 Kilo­gramm Sprengstoff, 409 Minen, sowie eine nicht genannte Zahl von Mörsern und Raketen. Die Dis­krepanz zwischen Anzahl von KämpferInnen und Waffen schür­te Gerüchte, die Guerilla habe nicht alle Waffen abgege­ben. Zweifel gab es zum Bei­spiel. bei der Südfront Santos Salazar der FAR, die 150 Kämp­ferIn­nen zählte, jedoch lediglich 70 Waffen abgab.

Mehrstufige Demobilisierung

Verwiesen sei aber darauf, daß im August 1994 während ei­ner Militäraktion drei Mitglieder der FAR festgenommen und 600 Ge­wehre des Typs AK-47 si­cher­gestellt worden waren. Diese im Verhältnis zur Gesamtstärke der FAR und zur Anzahl der ins­ge­samt von der URNG abgege­be­nen Waffen nicht unerhebliche Men­ge, wurde von einem Kom­man­danten der FAR damit er­klärt, daß die Waffen für die Ge­samt­struktur der URNG gedacht waren und durch die Mili­tär­ak­tion der Guerilla ja auch nicht mehr zur Verfügung gestanden ha­ben. Sowohl der Chef der UNO-Mission in Gua­temala, Jean Arnault, als auch die gua­te­mal­tekische Regierung wider­sprachen denn auch den Speku­la­tionen, die Guerilla würde einen Teil ihrer Waffen zurückhalten.
Anläßlich eines Besuches von RepräsentantInnen ziviler Bau­ern- und Indígenaorganisationen im Lager der Guerillaeinheit Luis Ixmatá umriß Capitán Héc­tor in einer kurzen Rede die neu­en Aufgaben der URNG: “Nach 36 Jahren bewaffneter Ausein­an­der­setzungen beginnt eine neue Pha­se des Kampfes. Für den po­li­tischen Kampf und die Schaf­fung einer Partei, die sich grund­sätzlich von allen an­deren Par­tei­en Guatemalas un­terscheidet, ist es unabdingbar, zunächst eine große politische Einheit zu schaf­fen.”
Angegangen wurden die neuen Aufgaben zunächst in den internen Strukturen der URNG. Zur Überwindung der histori­schen Differenzen der Teilorga­nisationen wurde eigens eine “Ho­mogenisierungskommission” ge­schaffen. Zudem wurden im September 1996 in allen Gue­rillafronten “Politische Schulen” eingerichtet, in denen die Kämp­fer und Kämpferinnen seitdem Un­terweisungen in der neuen strategischen Ausrichtung der URNG erhalten. Den Kämpfe­rInnen wurden ihre möglichen zukünftigen Arbeitsfelder erläu­tert, die sich grob in zwei Berei­che unterscheiden lassen: In den politischen Kampf der URNG (Aufbau der Parteistrukturen, politische Allianzen, Wahlen, parlamentarischer Kampf) und in den Kampf des “organisierten Vol­kes” (Unterstützung von For­de­rungen auf lokaler Ebene wie Was­ser, Elektrizität etc. und so­zia­le Kämpfe auf nationaler Ebe­ne wie Gleichstellung der Frauen und Schaffung von Ko­ope­ra­ti­ven).

Wiedereingliederung in die zivile Gesellschaft

Im Februar diesen Jahres führte die URNG Interviews an allen Fronten durch. Anhand der Ergebnisse sollen Fortbildungs­maßnahmen, wie sie in dem Ab­kom­men über die Eingliederung der Guerilla vorgesehen sind, vor­bereitet werden. Zur Durch­füh­rung dieser Projekte und Pro­gram­me gründete die URNG eine Stiftung, über die interna­ti­o­na­le und nationale Hilfsgelder ka­na­lisiert werden sollen. Die Phase der Eingliederung der Guerilla in die Gesellschaft be­gann mit dem Tag “D+60”, dem 2. Mai, und endet ein Jahr später. In dieser Zeit sollen den ehema­ligen KämpferInnen ausreichend Verpflegung, Bildungspro­gram­me und Dienstleistungen ge­währ­leistet werden sowie die Ein­gliederung ins Arbeitsleben be­ginnen. Danach beginnt die Pha­se der definitiven Eingliede­rung, während der langfristige Lei­stungen, die von der Regie­rung angeboten werden sollen, in An­spruch genommen werden kön­nen. Dabei handelt es sich laut Abkommen um finanzielle Un­terstützung, technische, juri­sti­sche und berufliche Beratung, so­wie um Erziehungs-, Bildungs- und produktive Projekte. Diese sollen dazu dienen, “die Einglie­derung in das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben des Landes unter den gleichen Be­dingungen zu gewährleisten, wie sie die restliche guatemalteki­sche Bevölkerung hat.”
Nach Meinung der Teniente (Leut­nant) Victoria der Frente Luis Ixmatá sind Schwierigkei­ten, wie sie in El Salvador nach Frie­densschluß aufgetreten sind, nicht zu erwarten. Ein großes Problem im südlichen Nach­bar­land sei die Gespalten­heit der re­vo­lutionären Organi­sationen in­ner­halb der damaligen FMLN ge­wesen. Diese hätte viel Un­zu­frie­denheit und Ungerech­tig­kei­ten verursacht. Die URNG hin­ge­gen sei sehr geeint und werde in dieser Hinsicht keine Pro­ble­me bekommen. Desweite­ren sei die Anzahl der URNG-Ange­hö­ri­gen geringer als seiner­zeit in El Sal­vador.
Alfonso Bauer Paiz, Wirt­schaftsminister der fortschrittli­chen Regierung Arbenz zu Be­ginn der fünfziger Jahre und heute juristischer Berater der im me­xikanischen Exil lebenden bzw. in den vergangenen Jahren zu­rückgekehrten guatemalteki­schen Flüchtlinge, äußerte sich in ähnlicher Weise: “Mit der Ein­gliederung der Guerilla wird es kei­ne Probleme geben, da es nicht sehr viele KämpferInnen sind. Im Gegensatz dazu wird es mit den Flüchtlingen große Schwie­rigkeiten geben, da allein aus Chiapas noch Tausende Fa­mi­lien zurückkehren werden.”

Landverteilung als Knackpunkt

Im Rahmen des Abkommens über die Eingliederung der URNG in die Gesellschaft ist keine direkte Landverteilung an ehemalige Kämpfer und Kämp­ferinnen der URNG vorgesehen. Dies ist ein substantieller Unter­schied zu den Vereinbarungen in El Salvador und auch gegenüber der Situation der guatemalteki­schen Flüchtlinge. Viele Kämp­ferInnen der FMLN mußten drei, vier Jahre oder gar vergebens auf ein Stück Land warten und sehen sich heute als eindeutige Verlie­rer eines Krieges, der laut Frie­densabkommen keine Verlierer kennen sollte. Den guatemalteki­schen Flüchtlingen im mexikani­schen Exil ergeht es ähnlich: Vertraglich zugesicherte Bedin­gungen, die den schnellen, unbü­rokratischen Zugang zu Land einschließen, geraten im befrie­deten Guatemala zusehends in Vergessenheit.
Insgesamt er­scheint die Integration der Gue­rilleros und Guerilleras in Gua­temala mit in erster Linie vom Aus­land finanzierten Ausbil­dungs- und Eingliederungspro­gram­men als durchaus über­windbare Hürde der Entwicklung zum Frieden. Die Führung der URNG verspricht ihren Kämpfe­rInnen außerdem Projekte, wel­che die politische und kulturelle Differenzen überwinden helfen und die persönliche Sicherheit der KämpferInnen gewährleisten sol­len. Gerade diese beiden Aspekte, die zunächst weniger relevant erscheinen, bzw. bezüg­lich der Sicherheit lediglich als ein Problem der höheren Kader an­gesehen werden, machen vie­len der KämpferInnen mehr Sor­gen als die materielle Zu­kunft.
“Ich weiß noch nicht, wohin ich gehen werde und was ich ar­bei­ten werde. In mein Dorf kann ich aus Sicherheitsgründen nicht zu­rückkehren.” Befragt nach den in­dividuellen Zukunftsplänen, ka­men häufig diese oder ähn­li­che Ant­worten von den Kämpf­er­In­nen. Tania Palencia, Re­prä­sen­tan­tin der “Versammlung der zi­vilen Gesellschaft” (ASC), for­mu­lierte die Problematik sehr tref­fend: “Die Demobilisierung wird ein sehr komplexer Prozeß sein, denn das Überleben muß nicht nur wirtschaftlich abgesi­chert werden. Die Demobilisier­ten müssen aber auch in eine für sie neue Kultur integriert wer­den. Angesichts der Erinnerung an den Krieg, des Fehlens eines Dia­loges, der Greueltaten des Mi­litärs und der Repression der 80er Jahre bedürfen gerade die Ex-Compas eines Raumes, damit sie in einen Dialog mit ihrer ei­genen Geschichte treten können. So müssen sie alle Kommunika­tionsmittel nutzen können, ohne daß sie Angst haben müssen. Das kann die Gesellschaft aber zur Zeit nicht gewährleisten.” In An­betracht wachsender “allge­mei­ner” Kriminalität, von Entfüh­rungen und Lynchjustiz läßt sich die Angst vieler Gue­rilleros/as, nach der Demobilisie­rung Frei­wild zu sein, auch durch die edelsten Bekundungen der Frie­densabkommen nicht ba­gatellisieren.

Schleppende Demobilisierung der Armee

Die Waffenabgabe der Gue­rilleros und Guerilleras ist mitt­lerweile ohne größere Probleme abgeschlossen. Auf Seiten der Regierungsarmee verläuft dieser Prozeß jedoch äußerst unbefrie­digend. Der unzureichende De­mobilisierungswille der Armee zeigte sich bereits Ende Januar durch einen Aufstand der Policía Militar Ambulante (PMA), einer Spezialeinheit der Armee, und durch einen Winkelzug der Mi­litärführung: Durch ihren Spre­cher Verhandlungsführer Coro­nel Otto Noack ließ die Armee verlauten, daß die in den Frie­densabkommen festgelegte 33 prozentige Reduzierung der Hee­resstärke von der Sollstärke von 46.000 Soldaten ausginge. Da die derzeitige Ist-Stärke jedoch lediglich 35.000 sei, müßten nur 4.180 statt 11.900 Soldaten de­mobilisiert werden, um auf 66 Prozent von 46.000 zu gelangen. Demnach wäre die Stärke der Armee nach der Demobilisierung also 30.820 gegenüber rund 23.100 Soldaten, wenn von der Ist-Stärke ausgegangen würde. Außerdem solle es in den oberen Rängen der Armee zu keinerlei Reduzierung kommen.
Sowohl die Reduzierungsde­batte als auch der PMA-Aufstand mögen sich in den kommenden Jahren als Nebensächlichkeiten he­rausstellen, in der derzeitigen Situation können sie jedoch auch als Warnsignale an die sich neu konstituierende Opposition Gu­a­te­malas verstanden werden. De­ren wichtigste Gruppe – die URNG – hat mit der Waffenab­ga­be ein wichtiges Faustpfand aus den Händen gegeben.

KASTEN

36 Jahre Guerillakrieg

Die erste guatemaltekische Guerillabewegung geht auf das Jahr 1960 zurück. In die­sem Jahr rebellierte eine Gruppe junger Offiziere ge­gen das korrupte Regime unter Ydígoras Fuentes, wel­ches den USA erlaubt hatte, Guatemala als Basis einer In­vasion Kubas zu nutzen. Der Aufstand wurde niederge­schla­gen. Die jungen Rebel­len kamen in Kontakt mit der Kommunistischen Partei Gu­atemalas, die im Jahre 1961 den bewaffneten Kampf als not­wendig für eine revo­lu­ti­o­nä­re Entwicklung erklärt hat­te. 1963 entstanden aus die­sem Bündnis die Fuerzas Ar­ma­das Rebeldes (FAR). Nach ei­ner groß angelegten Mi­li­tär­offensive hatte diese Gue­ril­la Ende 1967 jedoch prak­tisch aufgehört zu exi­stieren.
Einige ihrer Anführer flohen nach Mexiko, von wo aus sie den Widerstand reorgani­sier­ten. Aufgrund politischer Dif­ferenzen gab es jedoch kei­ne einheitliche Organisa­tionsstruktur mehr. Während die FAR im nordöstlichen De­partement Péten einen Guerilla-Focus aufbauten, wurden zwei weitere Grup­pen im westlichen, indigen ge­prägten Hochland des Landes aktiv. Dieses waren die Nueva Organización Re­vo­lucionaria de Combate, die am 19. Januar 1972 mit einer ersten Aktion und unter dem Namen Ejército Guerrillero de los Pobres (EGP) an die Öffentlichkeit trat, und die Regional de Occidente, die sich seit 1979 Organización del Pueblo en Armas (ORPA) nannte.
Beginnend mit wenigen Ak­tivisten und Aktivistinnen und ohne finanziellen und materiellen Rückhalt, gelang es der guatemaltekischen Guerilla bis zu Beginn der 80er Jahre eine militärische Stärke zu entwickeln, die – kombiniert mit dem Druck der Bauern-, Arbeiter- und Stu­dentenorganisationen – ei­nen nahen Umsturz der Mi­li­tär­diktatur Romeo Lucas Gar­cía möglich erschienen ließ. Es folgte jedoch eine ge­wal­tige, von den USA un­ter­stütz­te, Terrorwelle, unter der in erster Linie die Zivil­be­völkerung zu leiden hatte, die aber auch für die Guerilla ei­nen schweren Rück­schlag be­deu­tete. Ein revolu­tionärer Um­sturz rückte in weite Fer­ne, und damit be­gann 1991 die Verhand­lungsphase zwi­schen den je­weiligen Re­gie­run­gen und der URNG, dem 1982 gebil­deten Zusam­men­schluß der einzelnen Gue­ril­la­organisa­tionen. Das Er­geb­nis ist der am 29. Dezember 1996 un­terzeichnete feste und dau­er­hafte Frieden, dessen zu­vor ver­handelten Teil­ab­kom­men auch die De­mo­bi­li­sie­rung und Wie­der­ein­glie­de­rung der Kämpfer und Kämp­fer­innen der URNG regeln.

“und plötzlich sahen wir den Himmel…”

“Der Tag meiner Verhaftung war grau, grau, grau. Als ich aufwachte war er grau, er blieb den ganzen Tag über grau und am Abend war er immer noch grau. Auf der Polizeistation gab es dann auch keinen Tag und keine Nacht, keine Zeit mehr, nur elektrisches Licht.” Gefühl­voll, poetisch erzählt Graciela Jorge von ihrer Vergangenheit als Revolutionärin. Um gegen die Militärdiktatur in Uruguay zu kämpfen, schloß sie sich Ende der 60er Jahre der Bewegung zur nationalen Befreiung (MLN) Tu­pamaros an, ging in den Un­tergrund, wurde verhaftet und zu 13 Jahren Gefängnis verur­teilt.
18 Jahre Gefängnis hatte Mo­nika Berberich aus Deutschland zu verbüßen. Als Mitglied der RAF ging auch sie in den Unter­grund und gab ihre bürgerliche Identität auf, war Teil einer Stadtguerilla und kämpfte gegen den Staat. Sie schildert die Ge­schehnisse von damals rational, analytisch versucht sie, ihre Ver­gangenheit zu begreifen.
So unterschiedlich die beiden Frauen auch sind, und so unter­schiedlich die Situation war, in der sie sich für einen bewaffne­ten Kampf entschlossen, etwas haben sie doch gemein:
Sie sind Frauen. Frauen, die Widerstand leisteten und Frauen, die von der offiziellen Ge­schichts­schreibung vergessen wer­den.
Der deutsch-uruguayische Do­kumentarfilm “und plötzlich sahen wir den Himmel …” erin­nert an genau diese Frauen, setzt der offiziellen Geschichte, die sich zumeist auf männliche Pro­tagonisten bezieht, etwas entge­gen. Fünf Frauen aus Uruguay, die den Tupamaros angehö­ren, und fünf Frauen aus Deutschland, die im Widerstand aktiv waren, befragen sich ge­genseitig, erzählen, manchmal sehr intim, was sie damals be­wegt hat, was sie heute bewegt. Themen wie Liebe im Unter­grund, Schwangerschaft und die Beziehung zwischen Müttern und Töchtern während der Haft werden aufgegriffen. “Für mich war das normal. Ich habe ihnen gesagt, daß sie im Gefängnis sind, weil sie Brot an arme Kin­der verteilen wollten – aber klar habe ich mich gefragt, warum sie sich soviel um andere Kinder kümmerten und nicht um mich”, antwortet Gabriela, die Tochter von Graciela, auf die Frage, wie sie ihren Freunden damals er­klärt hat, daß ihre Eltern im Ge­fängnis sind.

Widerstand damals und heute

Aber auch die Bedeutung der Vergangenheit für heute be­schäftigt all diese Frauen: Wäh­rend die einen mit offenen Ar­men und voller Herzlichkeit nach ihrer Entlassung aus dem Ge­fängnis aufgenommen wurden (Uruguay), kämpfen andere noch heute mit der Einsamkeit, die sie damals empfangen hat (Deutsch­land).
Die Form des Widerstandes der Frauen ist vielfältig. Nicht alle der interviewten Frauen sind wie Graciela und Monika in den Untergrund gegangen, nicht für alle bestand die einzige Hoff­nung im bewaffneten Kampf. Widersprüche und ganz unter­schiedliche Auffassungen von Widerstand greift dieser Film auf, stellt sie gegenüber und wägt ab, ohne zu bewerten. Einig sind sich alle darin, daß Wider­stand geleistet werden mußte und muß.
Drei Jahre, von 1994 bis 1997, hat die Fertigstellung die­ser Videoproduktion von intero­ce­ana video Montevi­deo /München gedauert, in denen die Beteiligten Unfälle, Über­fälle, etc. überstehen mußten. Die Vielfalt der angesprochenen The­men ist enorm, beinahe zu­viel wird an- und ausgesprochen. Überladen scheint die Verbin­dung der Bilder von brennenden Häusern in Rostock, Naziprozes­sen in den 60er Jahren, Asylpo­litik in Deutschland und Militärs in Uruguay und einem Interna­ti­o­nalismus der zwischen all dem ei­ne Brücke schlagen soll. Etwas we­niger wäre mehr gewesen.
Obwohl die Frauen sehr per­sön­liche Erlebnisse schildern, sorgt eine statische, eintönige Ka­meraführung für Distanz. Der ver­schmitzte Humor, der den Do­kumentarfilm “Tupamaros” kenn­zeichnet, der auf der dies­jährigen Berlinale zu sehen war und ebenfalls die Geschichte der Tupamaros thematisiert, ist hier, vor lauter Frauen-Vertraulichkeit kaum wiederzufinden. Meta­phern kommen allzu oft plakativ daher, etwa wenn eine davon spricht, in “der Blüte des Le­bens” gestanden zu haben, und wir tatsächlich auf der Leinwand eine bunte Blüte präsentiert be­kommen. Gullis symbolisieren das Abtauchen in den Unter­grund, Bilder von reichen Villen verdeutlichen die Notwendigkeit eines antiimperialistischen Kam­pfes und zwischendrin im­mer wieder Einstellungen vom Meer. Ja, ja die Freiheit.

Erinnerungen an die Zukunft

Aber, und das ist ja auch das Schöne an dem Film, wie die Frauen selbst sagen, sind sie keine Profis, sondern einfach Frauen, die Lust hatten, über Frauen im Widerstand einen Film zu machen. Der Spaß an der Sache und eine Unbe­schwertheit, die im professio­nellen Film kaum möglich ist, sind bei dieser Produktion be­stimmt entscheidend gewesen, ge­nauso wie Intuition und Zufall die ständigen Begleiter der Frau­en waren.
“und plötzlich sahen wir den Himmel…” ist, trotz aller tech­nischer und filmsprachlicher Mängel, ein sehr informativer Film. Er verleiht denen eine Stim­me, die sonst nicht gehört werden, stellt gängige Klischees der lateinamerikanischen Linken in­frage, und er versucht, eine Brücke zu bauen zwischen Men­schen, die hier, genauso wie in Uruguay, ihre Vergangenheit bewältigen müssen – die gegen das Vergessen kämpfen und da­bei ähnlich skeptisch in die Zu­kunft blicken.
JedeR, die/der sich für die Ge­schichte von Frauen, für Ge­schichten von Widerstand und Untergrund, Liebe und Poesie, Vergangenheit und Gegenwart in Deutschland und Lateinamerika interessiert, sei dieser Film empfohlen. “und plötzlich sahen wir den Himmel … ” ist ein Do­kument, das die Vergangenheit am Leben erhält und Perspekti­ven für die Zukunft aufzeigt; und die Realisierung dieses Projektes hat Vorbildcharakter für all jene, die davon träumen, ein großes Projekt mit kleinen Mitteln zu verwirklichen.

Schneller, breiter, größer, besser?

Fünf Länder sind an dem Projekt beteiligt: Bolivien, das über einen Kanal mit dem Rio Paraguay verbunden ist, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Argentinien. Ausgangspunkt ist der bolivianische Ort Cáceres, der Zielhafen am Atlantik ist Nueva Palmira in Paraguay.
Als infrastrukturelles Rückgrat des Mercosur soll die Mega-Wasserstraße die Wettbewerbsfähigkeit des südamerikanischen Wirtschaftsbündnisses auf dem Weltmarkt stärken. Verkürze sich, wie geplant, die 45-tägige Schiffsfahrt von Caceres nach Nueva Palmira um die Hälfte – so die beteiligten Regierungen – würden die Exportprodukte preislich attraktiver und die Region für Investoren lukrativer. Geltend gemacht werden zudem noch länderspezifische Interessen: Bolivien hätte endlich freie Bahn zum Meer, Argentinien verspricht sich Exportverbesserungen, für Brasilien bieten sich geopolitische Vorteile (bessere Kontrollmöglichkeit über die Nachbarländer) und auch Paraguay lockt ein besserer Meereszugang. Ein zwischenstaatliches Hidrovía-Komitee koordiniert die Vorhaben und Studien und beteiligt sich außerdem an der Suche nach Finanzquellen. Zugleich fungiert es als Ansprechpartner für Nichtregierungsorganisationen (NROs) und als Organisator von sogenannten Partizipationstreffen.

Flüsse für die Schiffe statt Schiffe für die Flüsse ?

Bisher besteht das Projekt aus 90 Einzelvorhaben, wie Eindeichungen, Begradigungen, Stillegung von Seitenarmen, Hafenbau, Baggerarbeiten zur Vertiefung und die Sprengung störender Felsformationen. Die Kosten werden sich (nach Berechnungen von 1989) auf 1,3 Mrd. US-Dollar belaufen, mit danach folgenden Unterhaltungskosten von ca. 3 Mrd. US-Dollar jährlich. Wer das finanzieren soll, ist zur Zeit noch unklar; gerechnet wird mit Geldern der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID), der Weltbank und verschiedener bilateraler Geber, die sich teils mit Projekten, teils mit Exportbürgschaften beteiligen. Auch von der EU sind – als zukünftigem Handelspartner – Hilfen zu erwarten.
Aus den selben Töpfen finanzierten sich die in den letzten zwei Jahren unter Beteiligung von norwegischen und nordamerikanischen Beratern durchgeführten Umwelt- und Durchführbarkeitsstudien.Zur Zeit werden die Studien von verschiedenen Gruppen und Institutionen evaluiert. So untersucht der World Wildlife Fund for Nature (WWF), ob die ökologischen Folgen realistisch abgesehen wurden, die holländische Regierung schätzt Kostenpläne ein, Nichtregierungsorganisationen vor Ort untersuchen die Verläßlichkeit der Studien. International anerkannte Hydrologen, die von der Interamerikanischen Entwicklungsbank herangezogen wurden, beschrieben die Durchführbarkeits- und Verträglichkeitsstudien in einem vorläufigen Dokument als “simplifizierend” und kritisierten, daß die komplexen Wasser- und Strömungsverhältnisse nicht ausreichend beachtet wurden. Sie forderten dazu auf, “die Schiffe den Flüssen anzupassen und nicht die Flüsse den Schiffen”.
Trotz der aufkommenden Protesten haben die Präsidenten der Länder im Februar 1997 eine pressewirksame “Eröffnung” des Projektes inszeniert, um Tatsachen zu schaffen. Diese Eröffnung, die mit Ausschreibungen von Ausbaggerungsarbeiten einhergeht, steht im Widerspruch zu den Versprechungen des Hidrovía-Komitee, nicht vor Ende der Studien- und Evaluierungen mit der Umsetzung zu beginnen und eine ausreichende Partizipation der Bevölkerung zu gewährleisten.
Bei den Auswirkungen des Projekts muß man zwischen jenen unterscheiden, die sich unmittelbar aus dem Flußausbau ergeben und solchen, die als mittelbare Folgen abzusehen sind. Beide Flüsse zusammen haben ein Einzugsgebiet von ca 720.000 km2 (entspricht etwa der doppelten Fläche der Bundesrepublik). Auf diesem Gebiet leben 40 Millionen Menschen direkt an den Flüssen, 14 Millionen sind in ihrer Lebensweise eng an die Flüsse gebunden. Unter ihnen sind zahlreiche indigene Gemeinden.

Ein Feuchtgebiet liegt auf dem Trockenen

Eine ökologische Katastrophe wartet auf das Pantanal. Hier, im größten Feuchtgebiet der Erde, leben zahlreiche Menschen vom Fischen, Sammeln, Jagen, Ökotourismus und kleiner Landwirtschaft. Sie alle würden Land und ihre Erwerbstätigkeit verlieren. Für die inianischen Völker bedeutet die Terstörung ihrer Umwelt darüber hinaus den Verlust einer kulturellen Umwelt. Von einer Kompensation wurde bisher nicht gesprochen. Die geplanten Sprengungen während des Baus der Hidrovía würden sozusagen den “Pfropfen” aus dem Gebiet ziehen. Das Zukunftsszenario: Weite Teile des Feuchtgebietes trocknen aus, umliegende Strömungsverhältnisse verändern sich, da das Pantanal seine Funktion als Wasserschwamm verliert. Im Unterlauf ist dann entsprechend mit riesigen Überschwemmungen zu rechnen. Veränderte Strömungsverhältnisse bedeuten aber auch Versalzung, Versandung und Erosion in der Umgebung der Flußufer. Fischbestände und Fischreichtum werden beeinflußt. Der bisherige Transport, Einnahmequelle für tausende, wird gefährdet, statt dessen wächst mit den Riesenfrachtverbänden die Unfallgefahr.
Offiziell soll im Pantanalgebiet nicht gearbeitet werden, der Hafen von Descalvados soll aus den Planungen herausgenommen werden. Zweifel kommen jedoch auf seit oberhalb des Pantanals am bolivianischen Tamengokanal ausgebaggert wird. Diese Arbeiten sind nicht zu erklären, wenn die Schiffe nicht auch Fahrterleichterungen durch das Pantanal bekommen.
Weitreichendere Folgen sind abzusehen: geplant ist eine Vergrößerung und damit ein Heranrücken der Agrarfront an die Flußufer. Die Landspekulation beginnt bereits. Dank ungesicherter Eigentums- und Verfügungsrechte der Kleinbauern und indigenen Gruppen, vertreiben Großfirmen in den betreffenden Gebieten die Menschen mittels Gewalt, Druck oder Geld mit Leichtigkeit von ihrem Land. Die erhofften Arbeitsplätze werden ausbleiben: Großplantagen wie die geplanten, die Frachtverbände bis zu 16 Schiffen füllen sollen, sind hochmechanisiert. Dazu kommt die Wasserbelastung durch den Transport, den Pestizideinsatz, die Abwässer aus Minen und aus Häfen. Es werden Straßen in umliegende Waldgebiete getrieben und damit indianische Gebiete zerstört.

…. auch die sozialen Unterschiede werden tiefer

Die Nachhut bilden in solchen Fällen weitere Entwaldung, Brandrodung, Erosion, Aufgabe der Subsistenzwirtschaft, die Anlage illegaler und legaler Minen, die Ausbreitung von Krankheiten und sozialen Konflikten durch die Zunahme Landloser und WanderarbeiterInnen – und führt letztendlich zu einer weiteren Konzentration produktiver Ressourcen in den Händen weniger.
Von den offiziellen Stellen werden der Zusammenhang Hidrovía und nachfolgende Entwicklung ignoriert. Partizipative Planungsmethoden existieren höchstens als selektive Alibiauslese, die Betroffenen wissen in der Mehrheit kaum um das Projekt.

Soja für Europa

Problematisch ist Hidrovía allerdings nicht nur als Einzelprojekt. Bei einer Betrachtung der Hintergründe wird deutlich, daß sich die ganze wirtschaftliche Struktur der Region verändern wird. Geplant sind Agrar-, Holz- und Bergbauprojekte in der gesamten Region, privat, staatlich oder durch Entwicklungshilfe finanziert. Drei Ölfirmen haben ihre Kapazitäten verdreifacht, und es gibt neue Holzeinschlagskonzessionen in Formosa. Die Produkte sollen auf der Hidrovía bzw. Zugangsflüssen,-kanälen und Zügen transportiert werden. Ziel der Transporte: die EU, mit der Mercosur zur Zeit ein Sonderabkommen aushandelt. Absurd erscheint in diesem Zusammenhang, daß in weiteren Teilen Südamerikas Flüsse in Wasserstraßen umgewandelt worden sind oder werden sollen, also eine direkte Konkurrenz darstellen. Darunter sind die beiden Wasserstraßen Madeira-Amazonas und Toncantins-Araguaia in Brasilien, die den Norden des Landes nach Westen öffnen.
Die einseitige Exportorientierung von Produkten, die sowieso schon von mehreren Ländern in Masse exportiert werden, wird zum Preisverfall auf dem Weltmarkt führen. Kommt noch der – allerdings schleppende – Subventionsabbau in der EU, und das Aufholen der osteuropäischen Staaten bei der Agrarproduktion.
Exportiert werden soll vorrangig eins: Soja. Schon seit Jahren gehört Brasilien zu den drei größten Sojaproduzenten der Welt – Spitzenreiter sind die USA. Als Exportschlager, um Devisen zur Schuldenreduzierung zu bekommen, um Importe zu ersetzen, und um billiges Sojaöl zur Verfügung zu haben, ist die Sojaproduktion in Brasilien mit Subventionen und Krediten massiv gefördert worden. Paraguay, stets wachsam angesichts der Konkurrenz, hat das Programm des Nachbarn importiert, große, kapitalkräftige brasilianische Firmen ins Land gelockt und ebenfalls mit Soja expandiert.
Auch im Osten Boliviens soll der Sojaanbau massiv ausgeweitet werden. Dazu wird die Hafenkapazität in Caceres verdreifacht – mit Hilfe der größten Agrarfirma der Welt, Cargill aus den USA, die 51 Prozent am Hafen besitzt. Ab März 1997 sollen über den oben erwähnten Transportweg Madeira-Amazonas 750 Tonnen Soja pro Tag verladen werden – das ist eine LKW-Ladung alle 2 Minuten.

Widerstand – die Rios-Vivos Koalition

Gegen das Projekt wenden sich mittlerweile viele NRO. Gegen HPP haben sich über 300 Gruppen aller fünf Länder, darunter indigene Organisationen, soziale NROs und Umweltorganisationen zu einer Koalition namens Rios Vivos zusammengeschlossen. Sie versuchen, das Projekt und die Bandbreite der Folgen in der Bevölkerung bekannt zu machen, organisieren Seminare, auf denen sich zum Beispiel Indígenas aus mehreren Ländern treffen, um gemeinsame Positionen zu überlegen. Sie bündeln und koordinieren die Kritik der NROs und haben international Kontakt mit Organisationen aufgenommen, um von außen Druck auf Regierungen und Finanzinstitutionen auszuüben. Zu Rios Vivos gehören daher mittlerweile auch eine europäische und eine amerikanische Organisation.
In der Bundesrepublik halten mehrere Organisationen ständigen Kontakt zu Rios Vivos und arbeiten mit ihnen zusammen. So waren im Frühjahr 1996 fünf Vertreter von Rios Vivos in der Bundesrepublik und haben das BMZ und andere Institutionen der Entwicklungshilfe besucht und über die fehlende Vorabinformation und Einbeziehung der Bevölkerung in das Projekt aufgeklärt.

Kein Fortschritt ohne Aufklärung

Rios Vivos ist nicht grundsätzlich gegen den Transport auf den Flüssen, da diese seit Jahrhunderten genutzt werden. Die Organisation wendet sich aber dagegen, daß ohne jede Mitwirkung und voraussichtlich ohne jeden Nutzen für die regionale Bevölkerung ein Megaprojekt durchgezogen wird. Sie fordern daher eine umfassende Information über HPP und alle angekoppelten Projekte. Sie fordern eine Beteiligung und Einbeziehung der Menschen und eine Diskussion über das mit HPP vorgegebene Entwicklungsmodell. In den Worten einer Resolution, die 70 VertreterInnen von 22 indianischen Gruppen im Mai herausgegeben haben, sieht das so aus: “Erlaubt uns, den Regierungen zu mißtrauen angesichts der Gleichgültigkeit, die sie uns bei anderen Großprojekten entgegengebracht haben, die sie uns immer als positive Projekte dargestellt haben und die uns nie etwas Positives gebracht haben. Wir wissen, daß der Fluß vertieft wird, und wir fürchten, daß unser Land austrocknet. Wir wollen, daß die Regierung uns garantiert, daß sich die Flüsse nicht verändern und wir wollen wissen, was getan wird, um unser Leben zu verbessern. Wir verlangen, daß mit HPP nicht eher angefangen wird, als bis gründliche Umweltstudien fertig sind, die die Belange der Anwohner und unsere miteinbeziehen. Wir wollen, daß unsere Territorien bestätigt werden. Wir empfinden HPP als Angriff auf das sozioökonomische und kulturelle System der indigenen Völker, weil es uns ein Entwicklungsmodell auferlegt, daß einem adäquaten Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen fremd ist.”

Hidrovía und Deutschland

Die Bundesrepublik ist bisher nicht direkt an der Finanzierung und den Bauvorhaben beteiligt, wird aber als “reiches Land” als eine potentielle Finanzquelle betrachtet. Finanzierungen könnten dabei über die offizielle Entwicklungshilfe oder Exportbürgschaften laufen. In Betracht gezogen werden muß dabei, daß es nicht nur um die Finanzierung der Flußarbeiten geht, sondern auch um Anschlußprojekte wie Bergbau und Agrobusiness.
Indirekt ist die Bundesregierung allerdings schon jetzt an dem Projekt beteiligt – und zwar über ihre Beteiligung an der Interamerikanischen Entwicklungsbank, dem UNDP (Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (8,9 Prozent Beitragsanteil 1993) und der EU. Letztere hat für Studien zur Modernisierung mehrerer Häfen entlang der Flüsse 850.000 ECU zur Verfügung gestellt. Die Durchführung der Studien, die bis September 1997 fertiggestellt werden sollen, obliegt der deutschen Consulting Rogge Marine in Bremerhaven. Innerhalb der EU ist die Bundesrepublik ausserdem der wichtigste Handelspartner für Lateinamerika, besonders für Agrarimporte: 28 Prozent aller Agrareinfuhren stammen aus der Region, davon sind 30 Prozent Futtermittel, also auch Soja. Vor dem Hintergrund wachsender Handelskontakte zwischen EU und Mercosur würden nicht nur substantielle Handelsinteressen der EU befriedigt, sondern wären auch millionenschwere Aufträge für europäische Firmen zu erwarten. Nur einige, durch die Erfahrung mit dem Erzabbauprojekt Grande Carajas in Brasilien mißtrauisch gewordene EU-ParlamentarierInnen haben sich vorsorglich in einer informellen Hidrovía-Arbeitsgruppe zusammengeschlossen.
Auf Nichtregierungsebene haben sich ca. 15 deutsche Umwelt- und Entwicklungsorganisationen und Einzelpersonen zusammengeschlossen, darunter der WWF, KoBra (Koordination der Brasiliengruppen) und Pro Regenwald. Die Gruppen machen in der Bundesrepublik und auf EU-Ebene Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit. Gesucht wird auch der Kontakt zu Gruppen, die sich in Deutschland mit der Problematik Wasserstraßen, also dem geplanten Ausbau der letzten Kilometer freifließender Flüsse und dem Rückbau kanalisierter Flüsse beschäftigen, um den Partnern in Lateinamerika Vergleichsmöglichkeiten und Kritikpunkte bieten zu können.
Ob HPP in der jetzigen Form verhindert werden kann, hängt zu einem grossen Teil davon ab, ob und wie europäische und dabei besonders deutsche Gruppen und Personen anfangen, Öffentlichkeit zu schaffen und Druck auf PolitikerInnen auszuüben. Die weltweite Degradierung von Flüssen zu Verkehrswegen auf Kosten der AnwohnerInnen und der Natur führt in eine Sackgasse. Transport muß nicht billiger und schneller werden, sondern anders: vermieden, wo nicht notwendig und vor allem so teuer wie es den ökologischen und sozialen Schäden entspricht, die er verursacht.

Argentiniens Kampf gegen die Haare

Summa summarum war Ar­gen­tinien in den letzten 20 Jah­ren die er­folg­reichste la­tein­ame­ri­ka­ni­sche Mann­schaft. Zweimal Welt­meister (1978 und 1986) und zweimal Amerikameister (1991 und 1993). Seitdem ist al­ler­dings der Wurm drin. Bei der Qua­lifikation zur WM 94 setzte es in Buenos Aires mit dem 0:5 ge­gen Kolumbien die höchste Heim­schlappe in der Länder­spiel­geschichte, bei der WM selbst wurde Maradona des Do­pings überführt und Argentinien schied ohne ihn und den ver­letz­ten Caniggia bereits im Ach­tel­fi­nale aus. Der Trainer Al­fredo Ba­sile wurde entlassen und durch Maradonas Intimfeind Da­niel Passarella ersetzt. Passarella, der Kapitän der Weltmeister­trup­pe von 1978, ist bis heute sauer auf Maradona, den Welt­mei­ster­ka­pitän von 1986. Der Grund: Pas­sarella gehörte 1986 noch zum WM-Aufgebot und hätte als er­ster Argentinier zum zweiten Mal Weltmeister werden können. Spie­len durfte er indes nicht, sei­ner Meinung nach we­gen Mara­do­na, der ihm den Ruhm nicht gönnte und deswe­gen für José Luis Brown als Li­bero plädierte. Je­denfalls stellte Trainer Carlos Bi­lardo Brown auf, Argentinien wur­de Weltmei­ster und die In­tim­feindschaft Passarella-Mara­do­na nahm ihren Lauf.
Kettenraucher Passarellas er­ste Amtshandlung war denn auch ziel­gerichtet: Spieler mit langen Haaren und/oder mit Ohrringen hät­ten in der Nationalmannschaft fort­an nichts mehr zu suchen. Klar wem diese Maßnahme in er­ster Linie galt: dem ohrbe­ring­ten Maradona und dessen lang­mäh­nigem Freund Caniggia. Ei­ne glatte Überreaktion, war doch Ma­radona wegen seines Do­ping­ver­gehens ohnehin 15 Mo­nate ge­sperrt und damit für die Na­tio­nal­mannschaft kein Thema. Ca­nig­gia wiederum war in Europa wie­der einmal auf Ver­einssuche un es war äußerst un­klar, ob er über­haupt weiter für die Aus­wahl spielen wollte. Über­re­ak­tion aber insbesondere des­we­gen, weil neben Caniggia auch zwei andere Starspieler der Mann­schaft, Mittelfeldspieler Fer­nando Redondo und Torjäger Gab­riel Batistuta lange Mähnen zier­ten.

Der Trainer als Frisör

Die Reaktionen fielen un­ter­schiedlich aus: Caniggia wollte erstmal eine Pause einle­gen, Redondo machte klar, daß sei­ne langen Haare ein Teil sei­ner Persönlichkeit seien und er un­ter diesen Bedingungen nicht wei­ter spielen würde, Batistuta be­suchte hingegen flugs den Fri­sör und ließ sich die Haare schnei­den. Für ihn stand auch am mei­sten auf dem Spiel. Schließ­lich war er auf dem besten We­ge, Maradona als Rekordtor­schütze der Nationalmannschaft zu verdrän­gen, Pausen à la Ca­nig­gia kämen da ungelegen.

Die Krise geht weiter

Passarellas erstes Turnier, die Copa America 1995 in Uruguay, wur­de zum Fehlschlag. Mara­do­na ließ sich von seinem Feri­enort ein­fliegen, begutachtete die Spie­le und lästerte über die Dar­bie­tungen. Vor allem die bla­mab­le 0:3 Niederlage gegen die USA gab ihm dafür reichlich Muni­tion. Das unglückliche Aus­schei­den gegen Brasilien folgte auf dem Fuß, der Hausse­gen hing schief. Nur noch ein knap­pes Jahr bis zur Qualifika­tion und der argentinische Fuß­ball in der großen Sinnkrise. Zwei Tur­nie­re hintereinander frühzeitig ge­scheitert, die ein­stige Tur­nier­mann­schaft par ex­cellence be­gann an sich zu zwei­feln.

Ein haariger Kompromiß

Maradonas Sperre war unter­des­sen abgelaufen und Caniggia nach Argentinien zurückgekehrt. Bei seinem letzten Klub in Eu­ro­pa, Benfica Lissabon, war Ca­nig­gia wegen unmotivierten Auf­trit­ten bei den Fans derart in Un­gna­de gefallen, daß er auf of­fener Straße eine Abreibung ver­paßt be­kam. Daraufhin kehrte er der eu­ropäischen Diaspora den Rük­ken, zumal Maradona bei Boca Ju­niors sehnsüchtig auf seinen er­klärten Lieblingsmit­spieler war­tete. Wenn sie zu­sammen spiel­ten, harmonierten sie wie Zwil­linge. Wenn, denn oft war der eine oder der andere verletzt, be­ziehungsweise wegen roter Kar­ten gesperrt. Titel blie­ben so für Argentiniens populär­sten Club Boca Juniors de Bue­nos Aires aus.
Dennoch geriet Passarella zu­neh­mend unter Druck. Er mußte den Kader für das erste Qualifi­ka­tionsspiel gegen Bolivien be­nen­nen und Caniggia spielte im­mer stärker. Wiedereinmal mischte sich der Fuß­ball­fan und Staatspräsident Menem ein. Caniggia sei unver­zicht­bar, Maradona eigentlich auch, aber der würde ja nicht mehr wollen.
Was nun Passarella?
Caniggia zeigte sich kom­pro­miß­bereit. Um ganze drei Zen­ti­me­ter ließ er sich die Haare schnei­den. Passarella konnte an die­ser Geste des guten Willens nicht vorbeigehen und berief Ca­nig­gia ins Aufgebot. Alles in But­ter, da sich das Problem Re­don­do wegen dessen Verletzung zu diesem Zeitpunkt nicht stellte. Caniggia kam, sah und siegte. Ar­gentinien schlug Bolivien 3:1, Caniggia wurde zum man of the match gewählt und der große Fa­vo­rit schien wieder auf den Er­folgs­pfad zurückgekehrt zu sein.

Ecuadors bolivianische Taktik

Nach dem Heimspiel in Bue­nos Aires stand das Auswärts­spiel in Ecuador an. Ecuador konnte sich noch nie für eine Welt­meisterschaft qualifizieren. Bis 1994 hatten sie diese Bilanz mit Bolivien gemeinsam. Boli­vien setzte damals auf die Karte La Paz, Fußball in der Höhe von 3600 Meter, da geraten die Flach­landbewohner aus Argenti­nien, Uruguay und Brasilien aus der Puste. Nun, Ecuador besann sich seiner geographischen und kli­matischen Möglichkeiten und terminierte die Partie auf High Noon in der Höhe von 2700 Me­ter in Quito bei Temperaturen von 28 bis 30 Grad. Passarella be­zeichnete die Höhe als zusätz­li­chen Spieler Ecuadors. Mit 20 Li­tern Sauerstoff sollte dieser zu­sätzliche Spieler bekämpft wer­den. Es war vergebens und der ecuadorianische Torwart Car­los Morales behielt Recht: “Ba­tistuta und Caniggia werden Schwindel­anfälle bekommen und sich zeitweise nicht bewegen kön­nen”. Das argentinische Stür­mer­duo war wirklich nur ein laues Lüftchen, die 0:2 Nieder­lage die logische Konsequenz. Ecua­dor hat nebenbei bemerkt mit dieser Strategie vier seiner bis­herigen fünf Heimspiele ge­won­nen, nur gegen die Allklima­spie­ler aus Kolumbien gabs eine 0:1 Niederlage. Auch die Aus­wärts­bilanz Ecuadors spricht für sich: drei Spiele, ein Tor, null Punkte. Bisher reicht das für den vier­ten Platz.

Zurück in der Krise

Das nächste Auswärtsspiel Ar­gentiniens war nun in Perus Haupt­stadt Lima. Ausreden gebe es hier nicht, meinte Passarella. Mit viel Glück konnten die Ar­gen­tinier ein torloses Unent­schie­den retten. Neben dem Tor­wart Burgos war Abel Balbo der auf­fälligste Spieler Argenti­niens: Mit einem brutalen Foul setzte er sich gekonnt in Szene und durfte schon nach einer hal­ben Stunde duschen gehen. Ca­niggia übte nach dem Spiel Selbstkritik: “Ich schä­me mich nicht, zuzugeben, daß ich gegen Peru schlecht ge­spielt habe. Ich suche keine Ent­schul­digungen, ihr (die Medien) müßt schon die fragen, die nach Ent­schuldigun­gen suchen.” Vor­erst war es wiedereinmal das letzte Spiel Caniggias. Seit Juli 1996 macht er wieder Pause, suchte bisher erfolglos einen Ver­ein in Europa und befindet sich nun wieder in Ver­hand­lun­gen mit Boca, wie auch Spezi Diego Maradona.
Ohne seinen gewohnten Sturm­partner Caniggia machte sich Gabriel Batistuta im näch­sten Spiel gegen Paraguay auf die Socken, Maradonas Länder­spiel­torrekord von 34 zu über­bie­ten. Ein Schuß, ein Tor und Batigol hatte sein Ziel erreicht. Die Show wurde ihm dennoch ge­stoh­len. Im Tor Para­guays steht nämlich José Luis Chi­la­vert, Torhüter und Torjäger in ei­ner Person. Der Keeper des ar­gen­tinischen Vereins Velez Sars­field hatte vor dem Spiel an­ge­kün­digt, einen Treffer zu ver­sen­ken. Nichts ungewöhnliches für Chi­lavert, der schon über 30 Elf­meter- und Freistoßtore zu Buche stehen hat. Er hielt Wort, schnapp­te sich kurz vor Ende des Spiels den Ball und traf mit ei­nem Freistoß zum 1:1 Endstand. Ar­gentinien war schwer getrof­fen. Ausgerechnet der Gastar­bei­ter. Wenige Tage später stand eine Sportgerichtsverhandlung an. Chilavert hatte während eines Punkt­spiels eine leichte Tätlich­keit begangen, die nun schwer ge­ahndet wurde. Mehrere Mo­na­te Ausschluß vom Spielbetrieb lau­tete das erste Urteil. Chilavert war mit Recht sauer und kün­dig­te seinen Weggang aus Ar­gen­ti­nien zum Jahresende 1997 an. Das Urteil wurde revidiert, Chi­la­vert spielt und trifft weiter, aber nicht immer. Kürzlich ver­lor er seinen Nimbus als unfehl­ba­rer Elfmeterschütze und ver­sieb­te gleich deren zwei in einem Punkt­spiel. Paraguay hat es indes in erster Linie seinen Leistungen zu verdanken, daß es nach Ab­schluß der Vorrunde hinter Ko­lum­bien an zweiter Stelle steht, punkt­gleich mit dem Ersten und ge­radezu selbstverständlich mit den wenigsten Gegentoren.
Argentiniens Selbstbewußt­sein war heftig angeknackst, ge­gen Mannschaften wie Peru und Pa­raguay nicht zu gewinnen, war reich­lich ungewohnt. Venezuela kam da als Aufbaugegner gerade Recht. Jahrelang hatte das vene­zo­lanische Team kein Länder­spiel gewinnen können, von Punk­ten bei Qualifikationsspie­len ganz zu schweigen. Diesmal stand derweil schon ein Punkt aus dem Spiel gegen Chile zu Buche, deren Trainer daraufhin zu­rücktrat. Gegen Argentinien lang­te es immerhin zu einem Füh­rungs- und Anschlußtor. Zwei Tore in einem Spiel. Die Vene­zolaner hatten getroffen wie nie zuvor und doch verloren wie fast immer. Überzeugen konnten die Argentinier trotz ihrer fünf Tref­fer nicht, das Ziel Selbstbe­wußt­sein für die anstehenden Spie­le zu tanken, schlug fehl.
Die folgenden zwei Spiele gegen Chile und in Uruguay brach­ten das alte Leid. Krampf und Kampf und zwei schmei­chel­hafte Unentschieden. Und nur noch vier Wochen bis zum letz­ten Vorrundenspiel beim bis dato ungeschlagenen Tabellen­füh­rer Kolumbien. Unterdessen glänz­te der wiedergenesene Re­don­do beim designierten spani­schen Meister Real Madrid wäh­rend Passarella ungewohnte Töne von sich gab. Hatte er noch eini­ge Monate zuvor Maradona als abschreckendes Beispiel für den argentinischen Fußball be­zeich­net, jammerte er nun ge­gen­über dem Präsidenten von Lazio Rom, Dino Zoff: “Argentinien sehnt sich nach großen Namen. Wie Italien, das Zoff, Bettega, Causio und Paolo Rossi verloren hat. Wir in Ar­gentinien haben kei­nen Mara­dona mehr, das ist viel schlim­mer.” Maradona zu be­rufen kam im natürlich nicht in den Sinn, zum einen war die­ser vereinslos und zudem hatte er in seiner vor­erst letzten Spielzeit bei Boca vorallem dadurch auf sich auf­merksam gemacht, daß er sage und schreibe fünf Elf­meter hin­tereinander ver­schos­sen hatte. Von den gegnerischen Fans ver­spottet, von Selbst­zwei­feln ge­plagt, machte er sich dann zwecks Entziehungskur und Er­ho­lung Richtung Europa auf, um nach seiner Rückkehr nun wieder die Medien mit immer neuen Ver­tragsvorstellungen auf Trab zu halten. Maradona also nicht, den vereinslosen Caniggia auch nicht, da blieb nur noch Re­don­do. Dieser wurde berufen, kam aber nicht. Der Streit um die Haare war für ihn noch aktuell und in der Annahme, daß er sei­ne Haare mindestens um drei Zen­timeter kürzen müßte, sagte er ab. Batistuta war zudem we­gen einer Formkrise nicht mal be­rufen worden, so daß Argenti­nien zum ersten Mal seit der WM ohne einen der drei damali­gen langhaarigen Leistungsträger Re­dondo, Batistuta und Caniggia an­trat. Argentinien gewann 1:0 und ist nun Dritter. Die Zeichen ste­hen seitdem wieder auf Kurz­haar­schnitt, aber bis zur WM 1998 ist noch Zeit und Caniggia wird nicht ewig Pause machen.

“Irgendwann hatten wir alle die gleiche Nase”

Wenn Pepe Mujica, Ex-Tupamaro und frischgewählter Parlamentsabgeordneter des Linksbündnisses Frente Amplio, seinen Arbeitsplatz betritt, fühlt er sich oft “wie ein folkloristischer Blumenstrauß, um gesellschaftliche Offenheit zu demonstrieren”. Denn in Uruguay, das 1985 nach dreizehn Jahren der Militärdiktatur offiziell zur Demokratie zurückkehrte, besetzen nach wie vor viele der für die Diktatur Verantwortlichen die Schlüsselpositionen – im Parlament und anderswo. Gleichzeitig haben es jedoch die Tupamaros als eine der wenigen lateinamerikanischen Guerillas geschafft, sich ins zivile Leben zu integrieren. Pepe Mujica und seine Frau Lucia Topolansky, Eleuterio Fernández Huidobro und Graciela Jorge – die Ex-Tupamaros, die Heidi Specogna und Rainer Hoffmann für ihren Dokumentarfilm interviewten, sind nach wie vor politisch aktiv, haben sich aber ihre privaten Nischen geschaffen. Pepe Mujica macht keinen Hehl daraus, daß ihm die Arbeit im Gewächshaus, wo er und Lucía Blumen züchten, weitaus mehr Freude bereitet als das “Parteisoldatendasein” als Parlamentarier. “Vielleicht wäre es anders, wenn ich jünger wäre”, merkt er in einem der Gespräche an.
“Tupamaros” ist ein informativer und zugleich sehr bewegender Film über die uruguayische Stadtguerilla, die mit ihren spektakulären, massen- und medienwirksamen Aktionen ab Mitte der 60er Jahre für internationales Aufsehen sorgte. Der Film verleugnet nicht seine Sympathien für die Tupamaros, ist aber niemals pamphletarisch, sondern lebendig und facettenreich. Das liegt zum einen an den Interviewten, ihrem weisen und verschmitzten Charme, ihrer Nachdenklichkeit und Wärme, zum anderen an der behutsamen Inszenierung, die neben der Erinnerung an Diktatur, Folter und Gefangenschaft auch dem Alltäglichem und Anekdotischem Raum läßt. Besonders beeindrukkend sind der Humor und die ungebrochene Vitalität, mit der auch über Heikles, Schmerzhaftes und über Angstsituationen gesprochen wird. “Wir fälschten so ziemlich alles”, erzählen Lucía Topolansky und ihre Zwillingsschwester augenzwinkernd – und meinen damit nicht nur Pässe und Führerscheine, sondern auch die plastische Chirurgie, der sich viele Tupamaros im Untergrund unterzogen, um nicht mehr über Fahndungsfotos identifizierbar zu sein – “Irgendwann hatten wir alle die gleiche Nase.”
In ihrem Dokumentarfilm unternehmen die Filmemacher Specogna und Hoffmann den Versuch, Geschichte in erster Linie mit Hilfe von Bildern aus der Gegenwart sichtbar zu machen. So folgen sie Pepe und Lucía, wie sie auf einem klapprigen Moped zum Blumenmarkt düsen, oder heften sich Huidobro und Mujica an die Fersen, wenn diese durch eine durchgestylte neue Shopping Mall in Montevideo spazieren. An derselben Stelle standen vor Jahren die Mauern des Gefängnisses, in dem sie gefoltert wurden. “Kapitalismus ist wunderbar”, meint Huidobro mit Blick auf die glatten Oberflächenreize der Schaufenster – und die Ironie seiner Worte klingt scharf, aber nicht bitter.

“Tupamaros”, Deutschland/ Schweiz Uruguay 1996; Buch und Regie: Heidi Specogna/ Rainer Hoffmann; Farbe, 95 Minuten.

Die verlorene Liebe und das Segeln

Du sagst im Film “Tupamaros”, daß du dich als Abgeordneter im uruguayischen Parlament ein bißchen wie ein folkloristischer Blumenstrauß fühlst. Wie ist es jetzt für dich, als geladener Gast auf einem Filmfestival zu sein ?

Es ist ein ähnliches Gefühl. Niemals wäre mir etwas Derartiges in den Kopf gekommen. Ich bin hier aus einem großen Respekt heraus für jene Deutschen, die sich um die Probleme des Südens Gedanken machen und die zu erreichen versuchen, daß uns die europäische Welt versteht. Wir Lateinamerikaner, insbesondere wir Uruguayer, kennen Europa recht gut – wir sind Nachkommen von Emigranten, also in gewisser Weise verpflanzte Europäer. Europa aber verwendet umgekehrt sehr viel Zeit damit, in sich selbst hineinzuschauen und wenig darauf, eine Welt zu betrachten, an deren Schaffung es – im guten wie im schlechten – beteiligt war. Wahrscheinlich wird es die europäische Welt noch einiges kosten zu verstehen, daß ihr eigenes Glück auf lange Sicht dann weiterkommt, wenn wir alle, die wir sie umgeben, ein wenig glücklicher sind. Es gibt keine Lösungen nach innen, sondern nur nach außen gerichtete, globale Lösungen: In diesem Schiff, das sich Erde nen nt, sind wir alle gemeinsam unterwegs.

Was denkst du könnte der Film für die Menschen in Uruguay bedeuten ? Ist er dort schon gezeigt worden ?

Nein, in Uruguay kennt man ihn bisher noch nicht. Aber ich glaube auch, daß der Film hier in Europa wichtiger ist als in Uruguay. In Uruguay sind wir in das, was geschieht oder nicht geschieht, mit einbezogen. Wir sind präsent, und auf die eine oder andere Art beharren wir auf den Dingen, wir haben unser Gewicht. Doch die zentralen Schaltstellen der Welt sind nicht dort in Uruguay, sie sind hier in Europa – jedenfalls zum Teil.

In dem Film wird viel über die Zeit der Diktatur und Folter in Uruguay gesprochen. Welche Bedeutung hat heute im kollektiven Gedächtnis der Menschen die Vergangenheit der Diktatur auf der einen Seite, der Kampf der Tupamaros auf der anderen Seite ?

Man muß aufpassen, daß sich die Erinnerungen nicht verlieren, zugleich aber auch, daß sie uns nicht lähmen. Ich denke, daß das Bewußtsein für das Vergangene eigentlich niemals ausreichend ist, sonst würden wir in einer anderen Realität leben. Doch momentan befinden wir uns mit der uruguayischen Linken, die etwa ein Drittel im Land ausmacht, in einem politischen Konglomerat, das uns die Perspektive eröffnet, an die Regierung zu kommen. Für uns wird irgendwann die Stunde der Wahrheit kommen, ja oder nein zu sagen. Und in diesem Moment können wir unsere gesamte Geschichte verwerten, können das, was wir einmal im Wesentlichen waren oder nicht, aufhören zu sein und uns der Zukunft stellen. Wir müssen dabei konsequent sein mit dem, was die Geschichte der Linken ist – ohne Fanatismus und ohne verbundene Augen.

War es sehr schwierig für dich und deine compañeras und compañeros, über die Folter und die anderen Leiden der Vergangenheit zu sprechen ?

Nein, wir sind in der Lage, uns diesen Dingen so oft wie nötig wieder zuzuwenden. Ob schlechte oder gute Erinnerungen, seinen Sinn hat unser Kampf in Richtung nach vorne. Wir versuchen, eine Zukunft aufzubauen. Das ist ähnlich wie in der Liebe: wenn du eine Liebe verlierst und dein ganzes Leben damit verbringst, dieser verlorenen Liebe nachzuweinen, baust du keine Zukunft für eine neue Liebe auf. Das Vergangene ist von Bedeutung und sollte intensiv gelebt werden, aber mit mehr Intensität müssen wir in Richtung dessen leben, was wir uns vorgenommen haben, wohin wir gehen wollen. Daher ist jeder Tag ein neues Abenteuer, jeden Tag geht es darum, eine Welt aufzubauen.

Heißt das, daß du niemals Wut oder Haß empfindest, wenn du an die Dinge zurückdenkst, die dir widerfahren sind ?

Haß empfinde ich gegenüber niemanden. Wenn du mit der Absicht kämpfst, etwas zu ändern, dann lassen es die Kosten dieses Kampfes nicht zu, Haß zu erzeugen. Du brauchst deine Energie für andere Ziele. Der Haß endet damit, dich selbst kleiner zu machen. Er ist eine Art, uns selbst mit Füßen zu treten. Man kann nicht leben, um zu hassen. Der Kampf erzeugt Wut in dir, und es bleiben natürlich die Leiden. Aber es gibt da kleine Pflänzchen, die zwischen den Steinen herauswachsen – mit gefolterten Wurzeln, und trotzdem wachsen Blumen aus ihnen, sie geben Schatten und vermehren sich. Es funktioniert, man muß sich nicht beim Psychologen auf die Couch legen, damit der viel Geld von dir verlangt. Wir haben eine Menge Dinge in unserem Land, um die wir uns kümmern, für die wir kämpfen müssen. Wenn wir uns aber von der Vergangenheit in die Falle locken lassen, bleibt uns keine Energie mehr dafür.

In den Gesprächen im Film fällt auf, daß ihr alle mit sehr viel Humor über die Dinge sprecht. Gab es diesen Sinn für Humor bereits während des Kampfes ?

Wir sind wie jeder andere: wir haben Spannungen, streiten uns, diskutieren. Aber in unserem Land ist es etwas wie eine nationale Charakteristik – keine spezielle Tugend von uns Tupamaros – alles mit Humor und Ironie zu beenden. Wir nehmen uns selbst auf den Arm und formen alles Dramatische ein wenig in Ironie um. Wenn du Che Guevara liest, wirst du sehen, wieviel Ironie in dem ist, was er schreibt. Der Humor ist Teil unserer Kultur. Er half uns sogar, mit unseren Folterern zusammenzuleben, und ihnen ging es letztlich genauso.

Du willst sagen, daß auch die Folterer Humor hatten ? Ist dies dann nicht eher Zynismus ?

Ja, da hast du schon Recht. Vielleicht sind wir alle ein bißchen humorvoll und gleichzeitig ein bißchen zynisch. Jedenfalls ist es in Uruguay eine allgemeine Tendenz, daß wir niemals etwas hundertprozentig glauben und uns ständig auf den Arm nehmen – auf allen Ebenen des Lebens. Es ist fast etwas wie unsere Art, national zu sein. Das hängt stark damit zusammen, daß wir ein Volk der Imigration sind. Zu Beginn des Jahrhunderts kamen jedes Jahr 50.000 europäische Emigranten nach Uruguay. Wir lernten daher, mit Menschen sehr verschiedener Ursprünge zusammenzuleben. So nahm eine nationale Gruppe die andere auf den Arm, machte sich über sie lustig. Und dies ist zu einem Bestandteil der nationalen Kultur geworden. In unserer Art zu sein – versteht mich nicht philosophisch oder ökonomisch – sind wir Liberale.

Aber wie läßt sich eine Militärdiktatur in einem Land mit solch einer liberalen Wesensart erklären ?

Das war ein Prozeß, den vor allem die ökonomischen und internationalen Probleme geprägt haben. Doch konnte beispielsweise in Uruguay die Diktatur niemals jene Dramatik und Grausamkeit annehmen, die sie in anderen Teilen Lateinamerikas hatte. Sie hatte ihre Grenzen. In Argentinien oder in Chile ist das Leben eines Menschen so viel wert wie das eines Hundes. In Uruguay hingegen ist es viel wert, für alle, wirklich für alle.

Dennoch wurden auch in Uruguay viele Menschen getötet.

Ja, aber bei weitem nicht so viele wie in anderen Ländern. Es gab etwa 200 Tote in acht Jahren des bewaffneten Kampfes – so viele wie in Buenos Aires in einer Nacht starben. Im Grunde waren wir Tupamaros auch nicht eine Guerillagruppe, sondern eine politische Bewegung mit Waffen. Wir versuchten, Gewalt und Grausamkeiten so weit es nur ging zu vermeiden. Und zwar aus politischen Gründen: Dinge, wie sie jetzt wieder im ehemaligen Jugoslawien geschehen sind, sind politisch unbegreiflich, die Menschen lehnen sie ab.

In dem Film schildern zwei deiner compañeras die Exekution des Folterwissenschaftlers “Mitrione”, der eure Geisel war. War dies dann also ein sehr umstrittener Akt unter euch ?

Mitrione war ein sehr spezieller Fall. Er war nordamerikanischer Sicherheitsbediensteter und durchreiste Lateinamerika, um Foltermethoden zu lehren. Nachdem er in Brasilien war, kam er nach Uruguay, um dort die Polizei zu instruieren. Mitrione trug immer eine Nadel in seinem Hemdkragen, damit er den Offiziellen jederzeit die neuralgischen Punkte des menschlichen Körpers zeigen konnte, an denen die Folter angewendet werden sollte: auf “wissenschaftliche” Weise. Er war also wirklich ein besonderer Gegner für uns. Doch kostete uns seine Exekution politisch eine Menge, weil danach eine Art Märtyrer und Heiliger aus ihm gemacht wurde – eine Kriegspsychologie, wie sie generell sehr viel verwendet wurde. Ich möchte solche Methoden nicht zur politischen Tugend erheben, sie sind eher eine Charakteristik der Geschichte dieses Jahrhunderts. Und eine politische Bewegung aus dem Volk wie die der Tupamaros ist Gefangene ihrer Zeit und der Gesellschaft, aus der sie hervorgegangen ist.

Um auf die Gegenwart zu sprechen zu kommen: im Film wird ziemlich deutlich, daß dir die Arbeit als Abgeordneter im Parlament nicht besonders gefällt. Wie siehst du deine Zukunft als Revolutionär, als jemand, der in der Gesellschaft etwas ändern will ?

Weißt du, das Wichtige ist nicht, wo man ist, sondern wofür man da ist, wo man ist. Meine compañeros und ich, wir befinden uns im Parlament in einer Gefahr: es gibt einen großen Tisch und wir sind eingeladen teilzunehmen. Und das kann zu einer gefährlichen Falle werden, denn der Mensch ist ein eitles und frivoles Tier. Sie laden uns zum Essen ein, aber es ist und bleibt ihr Essen. Wir können keine anderen Dinge unternehmen, weil unser Volk dies nicht verstehen würde. Doch wir müssen um die Inhalte kämpfen, indem wir diesen Prozeß begleiten und vor allem auch dadurch, daß das Volk ihn mitlebt. Denn das Einzige, das ein wenig die Geschichte ändern kann, ist, daß viele Menschen hinter einem Vorschlag stehen. Wenn du dich von diesen Menschen isolierst, kannst du über schöne Ideen reden, aber du bleibst wie in einer Kapsel – vor dich hinphilosophierend. Wenn du dich dagegen in den Strom der parlamentarischen Szenerie begibst, läufst du zwar Gefahr, daß sie dich durch die Hintertür besiegen, indem sie dich absorbieren. Doch auch sie tragen im Gegenzug ein Risiko, nämlich, daß du nicht vom Volk isoliert bist.

Gibt es denn mittlerweile in Uruguay etwas wie eine demokratische Stabilität, oder würdest du das politische System – wie dies ein compañero von dir im Film tut – als völlig kastrierte Demokratie bezeichnen ?

Eine reale Demokratie existiert nirgends – sie ist eine Utopie. In Uruguay sind wir noch sehr weit davon entfernt, und ich weiß nicht, ob wir irgendwann ankommen werden. Es existiert eine gewisse Stabilität, eine Koexistenz verschiedener Dinge. Der Liberalismus bringt eine gewisse Freiheit mit sich, sich zu organisieren, seine Meinung zu äußern – solange du jedenfalls nicht zu sehr störst. Mit der Frente amplio haben wir versucht, diesen Freiraum zu nutzen, wissend, daß auch wir dabei benutzt werden. Wir haben einiges erreicht, aber natürlich noch lange nicht genug. Ich akzeptiere daher die Möglichkeit, daß wir jederzeit in einem Desaster enden können. Denn eines darf man nicht vergessen: unter den Armen im Süden dauern die wirklich großen Probleme fort. Es gibt nicht wie hier in Europa soziale Dämpfer für die Ausbeutung der Armen. Unsere Aufgabe sehe ich wie beim Segeln: wenn du segelst, mußt du auch die Kraft des Windes nutzen, der dir entgegenkommt, denn niemals fährst du den direkten Weg. Die Sache ist, daß du dabei nicht kenterst. Das ist unsere Herausforderung. Ob wir die Kraft dafür haben werden, weiß ich nicht. Ich weiß es einfach nicht, im Moment habe ich keine bessere Antwort.

Übersetzung: Niels Müllensiefen

Die Gewerkschaften und der MERCOSUR

Der MERCOSUR birgt viele Ge­fahren für die Bevölkerungen der sich integrierenden Län­der. Der Druck der Welt­markt­kon­kurrenz veranlaßt die Re­gie­run­gen der MERCOSUR-Staa­ten, die nationale Wirt­schafts­po-litik maximal auf die Be­dürfnisse der inländischen Un­ternehmen aus­zurichten. Die In­teressen der ar-beitenden Be­völ­kerung fallen so wieder ein­mal unter den Tisch. Die Aus­gangs­situation war schon bei Vertragsabschluß nicht rosig: So sind alle Mit­gliedsstaaten von ho­her Arbeits­losigkeit betroffen. Schwarzar­beit und das Vorent­halten von So­zi­alleistungen ste­hen ebenso auf der Tagesord­nung wie un­sichere Arbeitsplätze und Ein­stellungen außerhalb der ta­rif­li­chen Bestimmungen und Ar­beits­gesetzgebungen.
In Argentinien beträgt die Ar­beitslosigkeit heute fast 20 Pro­zent. Die Regierung Menem hat mit Über­nahme liberaler Pro­gram­ma­tik die traditionelle Funktion der Peronisten, die so­zialen In­teressen der Bevöl­kerung zu ver­treten, aufgegeben. Große Be­völ­ker­ungsgruppen ver­fügten somit über keinerlei Mittel mehr, die Ver­schlechterung ihrer Lebens­be­dingungen aufzuhalten. Die Regierung verschärft die­se Ent­wicklung zur Zeit noch im Zu­sammenspiel mit den ar­gen­ti­ni­schen Großunternehme­rIn­nen. So unterstützt die Regie­rung das von UnternehmerInnen­seite ge­for­derte Arbeitsflexibili­sie­rungs­pa­ket. Inhalt ist die Auf­hebung von flächendeckenden Tarifver­hand­lun­gen und -verträgen. Diese sollen zu­künf­tig in­ner­halb einzelner Un­ternehmen ge­führt werden. Zu­dem werden die Entschädigungs­re­gelungen bei Ent­lassungen mo­difiziert. Die Verwirklichung des MER­CO­SUR ist Teil der neo­liberalen Wen­de der Regie­rung Me­nems, die insbesondere auch mit um­fas­senden Privatisie­run­gen ar­gen­tinischer Staatsun­ter­nehmen einhergeht. So ent­stan­den in den letzten Jahren neue privat­wirt­schaftliche Mo­nopol- und Oligo­pol­gruppen, die häufig mit aus­län­dischen Unter­nehmen ver­floch­ten sind. Diese Gruppen pro­fi­tieren in erster Li­nie von der Au­ßenöffnungspoli­tik, da sie am ehesten in der Lage sind, sich den neuen Bedingungen anzu­pas­sen.
Für den MERCOSUR insge­samt gilt, daß durch die unter­schiedlichen Lohnniveaus der Mit­gliedsländer (zum Beispiel lag der Mindest­lohn in Argen­tinien 1995 bei 250 US-Dollar, in Brasilien jedoch nur bei 122 US-Dollar) Stand­ort­verla­ge­rungen und Sozial­dump­ing zu erwarten sind. Dazu kommt, daß sogenannte Wander­ar­beitneh­merInnen nicht nur aus den Mit­gliedsstaaten kommen, son­dern auch aus den Anrainer­staaten wie zum Beispiel Peru. Hier sind keine bilateralen Sozi­alabkommen in Sicht. Auch die Ar­beit im Informellen Sektor wird eine immer größere Rolle spie­len. In diesen werden viele verstärkt gedrängt, da der offi­zielle Arbeitsmarkt keine Per­spektive und da­mit keine Existenzgrund­la­ge mehr bietet. Diese Ent­wick­lung wird durch die wachsende Konkurrenz zwi­schen den Un­ter­neh­men noch verschärft. Ent­las­sungswellen und Betriebs­schlie­ßungen bezie­hungsweise -ver­le­gun­gen sind als Folge dieser Markt­konstellation absehbar.

Gegenmacht durch Gewerkschaften?

Nach einer derartigen Analyse stellt sich schnell die Frage nach ge­sellschaftlicher Gegenmacht. Die Gewerkschaften in Argenti­nien sind eine der gesellschaftli­chen Gruppen, die überhaupt Stel­lung zur Wirtschaftspolitik ihrer Regierung und zu Zielen und Strategien des MER­CO­SUR-Projektes genommen ha­ben. Indes sind die wirtschaft­li­chen und politischen Bedin­gun­gen, die den argentinischen Syn­dikalismus entstehen ließen, im Lau­fe der Zeit fast vollstän­dig ver­schwunden.
Das grundlegende Modell der Ge­werk­schaftsbewegung ent­stand mit der Regierung Peróns in den vierziger Jahren und war darauf angelegt, die sozialen Kämpfe innerhalb des Landes zu regulieren. Die Entstehung von großen Industrien und Fabriken förderte gewerkschaftliches Den­ken und Handeln nach euro­pä­ischem Vorbild. Es entstanden branchenbezogene Gewerk­schaf­ten, die sich in großen Dach­verbänden zusammen­schlossen.
Die Einflußnahme der Ge­werk­schaften schlug sich bei den Tarifverträgen vor allem in höhe­ren Löh­nen und sozialen Absi­cherungen nieder. Und das in ei­nem wirt­schaftlichen Sze­nario, in dem die Löhne mit ihrer Wir­kung auf die effektive Nachfrage als dynamischer Ent­wick­lungsfak­tor erachtet wur­den, da sie, inmitten einer binnenmarkt­orien­tierten Öko­nomie, in die “eigenen” Unternehmen zurück­flos­sen. Zu­sätzlich zeichnete sich Ar­gen­tinien bis in die sieb­ziger Jahre infolge wachsender Indu­stria­lisierung durch eine sehr ge­ringe Arbeitslosigkeit aus.
Die argentinische Gewerk­schafts­bewegung hatte aufgrund ihrer Beziehungen zum Staat und zu den Peronisten immer eine star­ke und mächtige institutio­nelle Funktion. Trotz der Staats­streiche in den Jahren 1955, 1969, 1976 sowie der wieder­holten Zeiten der Repression hat die­se vom Peronismus geschaf­fene Struktur fast unverändert bis zum heutigen Tage überlebt.
In den letzten zwei Jahrzehn­ten hat sich die politische und wirt­schaftliche Landschaft im Co­no Sur verändert. Nicht zu­letzt die Schaffung des MER­COSUR macht deutlich, daß sich die Südländer auf den Weltmarkt orientieren und eine Öff­nung ih­rer Ökono­mien für ausländ­ische Produkte und ausländ­isches Ka­pital an­streben. Die Löhne wer­den nun nur noch als Kosten­faktor gese­hen, die Bedeutung als Nachfra­ge­faktor wird ver­nachlässigt. Die so­zialen Kosten der Wirtschafts­politik der Regie­rung Menem sind enorm: Die Reallöhne in In­dustrie und Bau­gewerbe sind im Vergleich zu 1988 um 26,3 Pro­zent gefallen. Der Wohlfahrts­staat wurde de­mon­tiert: Schul­bil­dung und die Gesundheitsver­sor­gung sind für gro­ße Bevölke­rungsschichten un­erschwinglich ge­worden. Kein Wun­der, wenn die ärmsten 20 Prozent gerade mal 5 Prozent des nationalen Einkommens bezie­hen.
Infolge dem Schrum­p­fen der Produktions­sek­to­ren in den letz­ten Jahr­zehnten, verkleinerte sich die Klasse der In­dustriearbeiterIn­nen, die in ab­soluten Zahlen und im Verhältnis zur Gesamtzahl der Bevölkerung Ar­gentiniens immer weniger Be­deutung hat.
In Argentinien war in den letz­ten 40 Jahren der Dachver­band CGT ohne Konkurrenz und pfleg­te immer sehr enge Bezie­hungen mit den Regierungen. Jahr­zehntelang galt der argenti­nische Gewerkschaftsbund CGT als Inbegriff des staatskonfor­men, kooperativistischen, par­tei­ab­hängigen Gewerk­schafts­mo­dells in Lateinamerika.Heute existieren schon zwei große offi­zielle Gewerkschafts­verbände neben der CGT. Zum einen die 1992 gegründete CTA (Congreso de Trabajadores Ar­gentinos), die als kritikfreudiger gegenüber dem Menemismus gilt. Zumin­dest auf formeller Ebene verläßt sie das klassische Kon­zept der Interessengruppen­ver­tre­tung, in­dem sie sogenannte In­dividualmitglieder, zum Bei­spiel Arbeitslose, akzeptiert.
Zum anderen gründete sich 1993 die MTA (Movimiento de los Trabajadores Argentino), die sich als Opposition zum CGT ver­steht.
Des weiteren existieren heute mehr als 30 Gewerkschaften auf nati­onaler Ebene und dutzend­weise Un­ter­gliederungen im Landesin­nern.
Bis in die 80er Jahre organi­sierten sich die Gewerkschaften im Cono Sur nur auf nationaler Ebene. 1985 wurde nun die CCSCS gegründet (Coordi­na­do­ra de los Centrales Sindicatos del Cono Sur), die die zentralen Ge­werk­schaftsver­bände Argen­tini­ens, Boliviens, Brasiliens, Chi­les, Paraguays und Uruguays um­faßt.
Im Hinblick auf die zu er­wartenden sozialen Folgen ver­ur­sachte der MERCOSUR große Ver­unsicherung: Welche Ar­beits­markteffekte, welche Loh­n­entwicklung würde es geben und wie würde sich die soziale Lage breiter Bevölkerungs­schichten ver­ändern? In Argenti­nien sind vor allem wesentliche Teile der Massenkonsum- und der Ka­pi­tal­gü­terindustrie durch den MER­COSUR betroffen. Die CCSCS einigte sich An­fang der 90er Jahre auf folgende Forderungen: 1. Einrichtung eines Sozial- und Strukturfonds zum Aus­gleich struktureller Ungleichge­wich­te,
2. Aufwertung der Funktion der ArbeitsministerInnen als Haupt­vertreterInnen in den MER­COSUR-Institutionen
3. Angleichung der rechtli­chen Bestimmungen aller Länder an das internationale Ar­beits­recht, sprich die Normen der In­ter­na­tionalen Arbeits­orga­ni­sa-tion ILO. Angestrebt wird eine So­zi­alcharta, die Grundrechte wie Tarifautonomie, gewerk-schaft­li­che Organisationsfreiheit und so weiter festlegen soll.
4. Erhöhung des Wissens- und In­formationsstandes über den MER­COSUR.
Entweder gehen diese Aussa­gen und Forderungen an den ge­sell­schaftlichen Problemen vor­bei oder sie sind so allgemein ge­halten, daß die Gewerkschaf­ten keine Alterantive mehr gegen die Politik ihrer Regierungen (nicht nur gegen den MER­CO­SUR) zu bieten scheinen. Das ist nur zum Teil darauf zurück­zu­führen, daß die Schnelligkeit des Integrati­onsprozesses die ver­schie­denen Gewerkschafts­ver­bän­de über­rascht und deshalb über­fordert hat.
Der Zusammenschluß CCSCS be­stand bei Verhandlungsbeginn zum MERCOSUR erst seit kur­zem und verfügte über keine kon­kreten gemeinsamen Hand­lungs­strategien. Bis heute be­wah­ren die Gewerkschaftsver­bän­de ihre nationale Ausrich­tung.
Entscheidend für die Schwä­che der Gewerkschaften ist au­ßerdem, daß sie unter fehlender An­erkennung in der Bevölke­rung leiden. Im Falle Argentini­ens wird der CGT-Spitze, des einzigen argentinischen Dach­ver­bandes, der in der CCSCS or­ganisiert ist, Korruption, unde­mokratische Strukturen und das Verfolgen eigener Machtinteres­sen vorgeworfen.

Unkoordinierte Proteste

Im Zusammenspiel mit dem Ver­sagen traditioneller Gewerk­schafts- strategien scheinen ange­sichts des freien Spiels der Markt­kräfte, der Privatisierung der öffentlichen Unternehmen und der wirtschaftlichen Außen­öffnung kaum erfolgreiche Kon­zepte für Gegenmacht in Sicht. Eine Auseinandersetzung mit der steigenden Armut, der Beschäf­tigung im Informellen Sektor so­wie deren fließenden Grenzen zum formellen Arbeitsmarkt fehlt. Dies läßt die Gewerk­schaf­ten zunehmend zu ständi­schen Ver­tretungen immer klei­ner wer­dender Interessensgruppen wer­den.
Die Angst der Bevölkerung in Ar­gentinien, insbesondere vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, ist etwas sehr Greifbares gewor­den.
Die Gewerkschaften setzen der offiziellen Politik und der Durchsetzung von Unterneh­mens­interessen nur sehr schwa­chen Widerstand entgegen. Nichtsdestotrotz bleiben die Ge­werk­schaftsmitglieder eine mo­bili­sierbare Basis, wie sich unter an­derem in dem Generalstreik am 8. August 1996 gegen den So­zi­al­abbau gezeigt hat. Aufse­hen hat auch die einige Minuten dau­ernde “Dunkelheit” in Bue­nos Aires erregt, ausgelöst durch das kollektive Licht-Ausschalten in Privathaushalten. Diese Pro­testmomente sind in Argentinien in den letzten Jahren eher unko­ordiniert und entfachen sich meist regional und in punktuel­len Aktionen. Schon in den Zei­ten der Hyperinflation 1990 kam es zu beträchtlichen sozialen Un­ruhen, die jedoch nicht in eine gezielte oppositionelle Strategie, sondern in Überfällen und Plün­derungen von Supermärkten mün­deten. Diese Form von Pro­test wiederholte sich im Juli 1996, als über 400 RentnerInnen und Arbeitslose verschiedene Supermärkte in der argentini­schen Hauptstadt plünderten. Ei­ne Protestaktion, die durch die An­kündigung erneuter Kündi­gungs­wellen und Rentenkürzun­gen durch Präsident Menem aus­gelöst wurde.
In der Bevölkerung besteht al­so Widerstand gegen die sozialen Einschnitte, die durch den MERCOSUR auf­grund seiner Durchsetzung “von o­ben” nur ver­schärft werden kön­nen. Ein neu­er Ansatzpunkt, diese Kräfte zu organisieren, kön­nte bei den (gewerkschaftlich ori­entierten) Gruppen liegen, die sich in den letzten Jahren in Ar­gen­tinien ge­bildet haben und die ein ständi­sches Interessenver­tre­tungs­konzept abzulehnen be­ginnen.

KASTEN

MERCOSUR

Anders als frühere Integrati­onsprojekte in La­tein­amerika, die hauptsächlich auf den Ab­schluß ei­ner Freihandelszone ab­zielten, ist der MER­CO­SUR aus­drücklich nicht als Instrument eines de­fen­siven Regionalismus kon­zipiert. Am 26. März 1991 unterzeichneten die Präsidenten aus Ar­gen­ti­nien, Brasilien, Para­guay und Uruguay in As­un­c­ión, Paraguay, den Vertrag, der den MER­CO­SUR (Mercado Común del Cono Sur) ins Leben rief. Hauptziel des MERCOSUR soll­te die suk­zes­sive ökonomi­sche Integration der beteiligten Staa­ten über die Etap­pen Frei­han­dels­zone, ge­mein­same Zollunion und ge­mein­sa­mer Markt sein. Mit dem Ver­trag von Asunción ent­stand ab dem 1. Januar 1996 der Bin­nen­markt für den freien Waren-, Diens­tleistungs- und Ka­pi­tal­ver­kehr. Jedoch offe­riert der Ver­trag jedem Land ei­ne Schutzklausel, um zeit­wei­lig Im­portquoten für bestimmte Güter fest­zu­setzen, falls eine Branche durch den drastischen An­stieg der Einfuhren aus ande­ren Mit­gliedsländern schwere Schä­den bei Produktion und Be­schäftigung erleiden würde. Da­mit soll den unterschiedlichen Gegebenheiten der MER­CO­SUR-Mitgliedsländer Rech­nung ge­tragen wer­den: An dem gemeinsamen Bruttoinlandspro­dukt im Entstehungsjahr hat Bra­silien einen An­teil von fast 80 Pro­zent, Ar­gentinien 18 Prozent, der Rest entfällt auf die beiden kleinen Länder. Sehr unter­schiedlich strukturierte Volks­wirt­schaften treffen aufeinan­der: Während Kapital­gü­ter und lang­lebige Kon­sumgüter vor al­lem aus Bra­silien und Agrar-, Verbrauchsgüter sowie Le­bens­mittel aus Argen­tinien kommen, sind Para­gu­ay und Uruguay über­wiegend Rohstoffexpor­teu­re. Die Parlamente al­ler vier Mitgliedsstaaten ha­ben den TRATADO DE ASUNCION in­ner­halb von acht Monaten nach seiner Unter­zeich­nung ratifiziert, so daß er am 28.11.1991 in Kraft tre­ten konnte. Seit diesem Zeit­punkt haben die Ins­titutionen des MER­COSUR ihre Arbeit aufge­nom­men. Das oberste politische Gremium ist der “Rat des Ge­meinsamen Marktes” CMC. Exe­ku­tiv­organ ist die “Gruppe des Gemeinsamen Mark­tes” GMC. Die Bearbeitung “fach­lich-tech­ni­scher” Aspekte des In­tegrationsprozesses findet auf Expertenebene in elf ver­schie­den­en Arbeits­gruppen statt. Diese AGs erar­beiten Vor­schläge, welche für die GMC jedoch nur Empfeh­lungs­charakter haben. Nur in der 11. Ar­beits­gruppe (“Arbeitsbezieh­ung­en, Beschäf­ti­gung, Soziale Si­cherheit”), die den ab­surden An­schein erweckt, daß diese An­ge­legenheiten un­ab-hän­gig von den 10 Fachge­bieten (wie zum Bei-spiel Land­wirtschaft und Steuerpolitik) be­trachtet werden könnten, haben die Gewerk­schafts­ver­bän­de ein formelles Rede- und Vorschlags­recht. Als fünf­tes Land des ame­rikanischen Südhälfte ist 1996 Chile dem MER­COSUR beige­treten. Da­durch wird die direkte Öffnung zur Pazifikküste und damit zum Südost-Asien-Handel geschaf­fen. Außer­dem wird zur Zeit der Beitritt Boliviens vorbe­reitet.”Neu” am MERCOSUR ist, daß im Ge­gensatz zu früheren wirt­schaftlichen Inte­gra­tions­pro­jek­ten in Latein­amerika die Ziel­setzung sich nicht nur auf Zoll­präferenzen beschränkt, son­dern auch die politi­schen Gren­zen am Schluß überflüssig ge­worden sein sollen – ganz nach Vorbild der EU. Je­doch hat – weder im voraus noch innerhalb des ge­schaf­fenen Institutionen­gebäudes – eine Kon-sul­tierung gesell­schaftlicher Kräfte jenseits von Staat und Unternehmensfüh­run­gen stattgefunden. Die Schaf­fung ei­nes gemeinsamen Gremi­ums, wie zum Beispiel ein ge­meinsames Parlament, das eine gewisse Kontrollfunktion ein­neh­men könn­te, ist auch länger­fristig für den MER­COSUR nicht geplant. Der MERCOSUR ist die süd­amerikanische Ant­wort auf die weltweite kapitali­stische Dynamik, in der sich zur Zeit re­gionale wirtschaftliche Blöcke bilden, die so die natio­nalen Unternehmen für den in­ternationalen Wettbewerb stär­ken sollen, nicht zuletzt durch die Entwicklung weltmarktfähi­ger kosten­sen­ken­der Produkti­onskonzepte. Besonders großen An­reiz bietet die neue Freihan­delszone den mul­ti­na­ti­onalen Kon­zernen. Diese können nun ihre Pro­duktionen zentralisieren und dabei den kos­tengünstigten Standort wählen. Innerhalb der welt­weiten kapitalistischen Ar­beitsteilung kommt dem MER­COSUR eine ganz bestimmte Rolle zu. So sind die Länder des Cono Sur insbesondere auf stei­gende Exporte in die Indu­strienationen an­ge­wiesen. Sie er­füllen die Funktion eines “Hin­ter­hofes”, in denen die Multis profitabler pro­duzieren kön­nen. Der MERCOSUR, des­sen Mit­gliedsstaaten in ihren Handelsbeziehungen tra­di­ti­onell stark mit den USA verflochten sind, be­deutet einen weiteren Schritt in diese Richtung. Da­raus erklärt sich auch die sehr wach­same Hal­tung der Europäischen Union, die schon erste Ver­handlungen mit MERCOSUR-Ver­tre­terInnen zwecks der Schaffung einer Freihandelszone MER­COSUR-EUROPÄISCHE UN­ION geführt hat. Die EU entdeckt Lateinamerika als noch nicht voll genutzten Ab­satz­markt. Den USA soll das Feld nicht allein überlassen wer­den.

Wer zahlt?

“Die Welt wird kleiner, La­teinamerika rückt näher. Es ist auch unsere Sache, die dort ver­handelt wird”, hieß es im Vor­wort der ersten Ausgabe von “Lateinamerika – Analysen und Berichte”. Der Anspruch, den die HerausgeberInnen 1977 an ihre gerade aus der Taufe gehobene Jahrbuch-Reihe stellten, war es, die wirtschaftliche und politische Entwicklung des Subkontinents darzustellen und kritisch zu dis­kutieren. Eine Entwicklung, die – so die AutorInnen – “in eine ein­deutige Richtung” ging: Hin zu einem Modell der Kapitalakku­mulation, das die Kombination von wirtschaftlichem Liberalis­mus mit extremer politischer Repression benötigte, um hohe Profite zu erzielen. Tatsächlich ergab der Blick auf Lateiname­rika in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre – nach Chile und Uruguay hatten sich nun auch in Argentinien die Militärs an die Macht geputscht – ein reichlich düsteres Bild. Hoffnungen auf revolutionäre Veränderungen hin zu einer gerechteren Gesell­schaft, sei es nach kubanischem oder chilenischem Vorbild, wur­den allmählich zu den Akten gelegt.
Zehn Jahre später stellten die unfreiwilligen “Chronisten von Niederlagen” zwar nicht ihre damaligen Einschätzungen in Frage, gingen aber dennoch mit sich ins Gericht: Skepsis sei an­gebracht gegenüber der in den ersten Bänden praktizierten Les­art der lateinamerikanischen Ak­tualität – basierend auf der Über­zeugung, anhand ökonomi­scher “Akkumulationsmodelle” ließen sich quasi automatisch Ten­denz­aussagen über die politi­sche Zu­kunft im “abhängigen Kapi­ta­lis­mus” treffen. Solcherlei “Ablei­tungen” hatten der kom­plexen Wirk­lichkeit der jeweili­gen Län­der nicht Rechnung ge­tragen und ließen umgekehrt auch nur man­gel­haft auf die Qualität der Ge­genkräfte zur herrschenden Ord­nung schlies­sen. Was die Beo­bachtung jener anbetraf, brauchte sich das Jahr­buch-Team freilich keine Vor­würfe gefallen zu las­sen. “Neue Organisations- und Kampffor­men” gegen wirtschaft­liche Mar­ginalisierung und poli­tische Un­terdrückung – Stadt­teil­bewegun­gen, Basisgemeinden, Indígena-Organisationen und lin­ke Par­teien jenseits leninistischer Kon­zeptionen – hatten von Be­ginn an das Augenmerk der Her­ausgebe­rInnen gefunden. Nur – vor­aus­sagbarer wurde die Zu­kunft La­teinamerikas damit auch nicht.

Verdrängung allerorten

Im zwanzigsten Jahr der “Analysen und Berichte” war es wieder einmal an der Zeit, sich anhand der Entwicklungen der vergangenen Jahre über die “Zukunftsfähigkeit” des Unter­suchungsobjektes Rechenschaft abzulegen. “Offene Rechnungen” heißt dementsprechend Band 20 der Reihe, denn – so die im Vor­wort geäußerte Ansicht – zu­kunftsfähig ist Lateinamerika nur, wenn nicht “Vergessen und Verdrängen” die Tagesordnung bestimmen. Vergessen und ver­drängt wird freilich überall, und in eigener Sache fehlt nicht der Hinweis auf die Gefahr, die “besseren Einsichten von ge­stern” – Solidarität mit den sozia­len Kämpfen und das Ziel einer befreiten Gesellschaft – der mo­dischen Anpassung an herr­schende Terminologie und The­mensetzung zu opfern.
Offensichtlich unbewältigte Schatten der Vergangenheit sprechen die ersten beiden Bei­träge an. Daß die Ökonomie in Chile “zur Staatsreligion erho­ben” worden ist, und die Regie­renden eine konsequente Aufar­beitung der unter der Diktatur begangenen Menschenrechts­verletzungen scheuen, schildert David Becker und liefert zudem eine überzeugende Analyse der psychischen Mechanismen bei den Opfern, aber auch der Be­völkerungsmehrheit. Die “inter­nalisierte Angst”, so Becker, ist das zentrale Element der neuen chilenischen Demokratie: Nach­dem die auf dem zuerst nur zäh­ne­knirschend akzeptierten Kon­sens­prinzip basierende tran­si­ción zumindest teilweise ge­lun­gen war, blieb die traumati­sche Er­innerung an Putsch und Repression der Garant für die “politisch wirksame Gleichung Konflikt = Zerstörung = Neuauf­la­ge der Diktatur”.
Unter diesem Vor­zeichen werden Mutlosigkeit und feh­len­der Wille der regie­renden Con­certación und ihrer christ­de­mo­kra­tischen Präsiden­ten ver­ständ­li­cher, wenn auch nicht le­gi­ti­mer. Tragischerweise deckt sich hier der Wunsch vieler Politiker nach schnellem Vergessen und weit­gehend fol­genlosen Sym­bol­hand­lungen mit dem Bedürfnis der nicht direkt von der dik­ta­to­riellen Repression betroffenen Chi­lenInnen, Kon­flik­ten aus dem Weg zu gehen. Folteropfer und An­gehörige von Ver­schwun­de­nen sehen sich in einem Umfeld man­gelnden Erin­nerungswillens neu­erlich diskri­miniert. Das, meint Becker, muß allerdings nicht so bleiben: Trotz aller Ver­su­che seitens Präsident Frei und sei­nem Technokraten­team, miß­lie­bige Erinnerungen an Ver­gangenes auszuklammern, mel­det sich dieses immer wieder zu Wort – und sei es durch das Sä­bel­rasseln der Militärs. “Das un­ver­mittelt Konflikthafte kann nicht mehr unter den Teppich ge­kehrt werden, es sucht sich sei­nen Weg an die Öffentlich­keit. Und das ist ein wesentlicher Be­stand­teil einer echten Demo­kra­ti­sierung.”

Linke Altlasten

Gedächtnislücken einer ganz an­deren Art beschreibt Ricarda Knabe in ihrem Bericht über die Studie, die eine salvadorianische Frauenorganisation unlängst der FMLN und der aus ihr hervorge­gangenen Partido Democrático vorgelegt hat. Das Thema ist bri­sant, geht es doch um die Rolle der Frauen im Guerillakampf, ge­nauer: um ihre Sexualität. Vie­le der guerrilleras – ent­stammten sie nun dem haupt­städtisch-intel­lek­tuellen Milieu oder den Dör­fern im Kriegsge­biet – litten nicht nur an der Brutalität der Kämpfe sondern ebenso an der se­xuellen Diskri­minierung durch ih­re eigenen com­pañeros und die Be­vormun­dung durch die FMLN-Hierar­chie. Diese, so die Au­torinnen der Studie, hatte in den ersten Kriegsjahren noch ei­ne rigide Kontrolle über das Pri­vat­leben der GenossInnen aus­ge­übt und qua selbst durch­ge­führ­ten Ehe­schließungen (revolutio­nä­re) Mo­ral praktiziert. Später, als Kampfbereitschaft Priorität vor ideologischer Festigkeit ge­wann und diese Einflußnahme nach­ließ, kamen etliche der in den Camps lebenden Frauen vom Re­gen in die Traufe. “Den Kör­per mit den Genossen solidarisch tei­len”, war ein häufig miß­brauch­tes Schlagwort. Den gue­rrilleras, die aus eigener Ent­scheidung ein promiskuitives Ver­halten praktizierten, schlug freilich nicht selten die geballte männliche Verachtung entgegen. Daß diese Problematik inzwi­schen offen thematisiert und dis­kutiert wird, hält Knabe freilich für eine hoffnungsvoll stim­men­de Errungenschaft.

Die “Multis”: unheilvolle Wohltäter

Der Frage “Was von den Multis noch zu erwarten ist” geht Urs Müller-Plantenberg in sei­nem Artikel nach. Dabei konsta­tiert er die bemerkenswerte Wandlung, die die Beurteilung trans­nationaler Unternehmen in Lateinamerika selbst in der Sichtweise einstiger Kritiker durchgemacht hat: Wurden die “Multis” zu Zeiten der “Import­substituierenden Indu­striali­sie­rung” mit Argwohn be­trachtet und nach Möglichkeit rigiden Kon­trollen unterworfen, hat spätestens seit den achtziger Jah­ren ein Wettlauf um die Gunst der ausländischen Wohl­täter ein­gesetzt.
Aufschlußreich ist Müller-Plan­tenbergs histori­sche Ana­ly­se, mit der er zu zei­gen ver­sucht, wie gering schon immer der tat­sächliche Beitrag transnationaler Un­ter­nehmen zum ersehnten Ka­pitalzufluß ge­wesen ist. Das ge­genwärtige, ge­rade von stei­genden Portfo­lio­investitionen ge­prägte Szena­rio ist noch be­denklicher: In dem Maße, in dem das global allge­genwärtige Kapi­tal dank moder­ner Technologie im­mer mobiler, ja “scheuer und flüch­tiger” ge­worden ist, über­wiegt das Risiko des unkon­trol­lierbaren Zusam­men­bruchs, ei­nes Kollaps, wie er Mexiko 1994 er­eilte.
Auch die Hoffnung auf Be­schäf­tigungsef­fekte und Tech­no­lo­gietransfer, die Direkt­in­ve­sti­tionen entge­gengebracht wird, hält einer ein­gehenderen Be­trach­tung nicht stand. Dennoch ist die Gier nach frischem Ka­pi­tal nicht einfach ein “frommer Selbst­betrug” wirt­schafts­li­be­ra­ler Regierung, fol­gert Müller-Plan­ten­berg. “Viel­mehr ent­sprechen massive Di­rekt­in­ve­sti­tio­nen auch den hand­festen In­te­res­sen derer, denen es darauf an­kommt, ein Wachs­tumsmodell zu fördern, das schnelle Be­rei­che­rung er­laubt und unter der Dro­hung von möglichen Ka­pi­tal­ab­flüssen im­mer weiter geführt werden muß.”
Handfeste Interessen weltweit agierender Konzerne stehen auch im Mittelpunkt der Debatte um “Biodiversität”, die Elmar Römpczyk nachzeichnet. Vor al­lem Pharmaunternehmen aus den USA versuchen, sich die Ver­fügungsgewalt über den ge­ne­tischen Reichtum des tropi­schen Lateinamerika zu sichern – sei es mittels Druck auf interna­tionale Gre­mien wie die Welt­han­delsorganisation WTO oder Lob­bying bei lateinamerikani­schen Regierungen. Sollte es diesen “Multis” gelingen, so Römpczyk, über die Schaffung eines ver­bind­lichen Patent­schutz­systems die Resultate ihrer Forschung zu mo­nopolisieren und dem­ent­spre­chend exklusiv zu verwerten, kä­me den Ländern des Südens einer ihrer größten Reichtümer – die Verfügung über ihre Artenvielfalt – abhanden. “Neben­effekt” der transnationa­len Offensive ist der skrupellose Eingriff in den Lebensraum der in­digenen Völker, die den Kapi­tal­interessen nur insofern von Nut­zen sind, als sie durch ihr tra­diertes Wissen eine Informa­tions­quelle über die Anwendung des “genetischen Materials” ab­ge­ben können.
Perspektiven für ei­ne gerech­tere Nutzung der Bio­diversität sieht Römpczyk in er­sten Ini­tia­ti­ven indigener Grup­pen, die sich ein Mitspra­cherecht erkämpft ha­ben, aber auch in einer Wei­ter­ent­wicklung der 1992 in Río ge­schaf­fenen Bio­di­ver­sitäts­kon­ven­tion.

Die Kosten der (De)industrialisierung

Anhand der brasilianischen Aluminiumproduktion versucht Dieter Gawora, “offene Rech­nungen” im Amazonasgebiet auf­zuzeigen. In diesem Falle handelt es sich zwar weniger um den direkten Einfluß der allge­genwärtigen Transnationalen, wohl aber um die ökologische Zerstörung und ethnische Ver­drängung, die Großprojekte wie die extrem energieintensive Alu­miniumgewinnung und -ver­ar­beitung zu verantworten haben.
Detailliert schildert Gawora die Situation am Rio Trombetas, ei­ner Region mit reichen Bauxit­vorkommen, in der seit Ende der sechziger Jahre entstandene För­derstätten und Retortenstädte die Nachkommen der vor zwei Jahr­hunderten in dieses Gebiet ge­flohenen afrikanischen Sklaven, der quilombos, verdrängen. Im Zusammenhang mit einem Stau­dammkomplex, der den Energie­bedarf der Produktion sichert, treiben die Aluminiumkonzerne die Umweltzerstörung voran; kri­tische GewerkschafterInnen wer­den mit zum Teil kriminellen Me­thoden mundtot gemacht. Gaworas Fazit: “Großprojekte sind immer geprägt von einer Ignoranz gegenüber ‘den ande­ren’. Sie sind unvereinbar mit ethnischen Differenzen und tra­ditioneller Wirtschaftsweise”.
Mit Akribie und einer Fülle an Datenmaterial schildert Paul Singer eine andere Facette brasi­lianischer Realität: die fort­schreitende Deindustrialisierung, ja “ökonomische Aushöhlung” des Großraums Sâo Paulo, wo sich vor den Inflationskrisen der achtziger Jahre und der in den Neunzigern forcierten Welt­mark­töffnung mehr als ein Drit­tel der industriellen Arbeitsplätze Brasiliens konzentrierte. Sym­ptomatisch für die Folgen der Strukturanpassung ist auch die stetige Zunahme prekärer, da informeller Arbeitsverhältnisse und ein Anwachsen der ohnehin starken Einkommenskonzentra­tion.
Eine Option, sinnvoll auf die kurz­fristig kaum umkehrba­ren Rah­menbedingungen von Markt­öff­nung und Strukturkrise zu re­agieren, erkennt Singer in de­zen­tralen Kompensationspoli­tiken. Dar­über hinaus denkt er über die Mög­lichkeit nach, “ausgehend von Initiativen der Stadt­re­gie­run­gen gemeinsam mit Kräften der Zi­vilgesellschaft einen neuen Wachs­tumszyklus zu eröffnen”, in­dem das enorme brachliegende Ar­beitspotential der Ar­beitslosen, Informellen und Un­ter­beschäftigten in “an­gepaßten For­men der Organi­sierung der Pro­duzenten” akti­viert wird. “Al­le Organisations­formen sind mög­lich, von iso­lierten oder zusammengeschlos­senen Privat­un­ternehmen bis zu kollektiven Un­ternehmen wie Ko­operativen, Pro­duktionsge­mein­schaften oder was sonst noch ausgedacht und aus­probiert werden könnte”.

Revolutionäre Werte in Erosion

Inwiefern die kubanische Re­volution alte Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten nicht restlos hat beseitigen, sondern nur ver­drängen können, beschreibt ab­schließend Bert Hoffmann. Lan­ge nicht für möglich gehaltene “Come­backs” – von der Wieder­kehr des Weihnachtsfestes über die öffentliche Akzeptanz der santería bis hin zum Aufleben des latenten Rassismus – haben die Versuche von Partei und Re­gierung den KubanerInnen be­schert, Wege aus der wirtschaft­lichen Misere zu finden. Daß mit der faktischen Legalisierung des Dollarbesitzes, der beginnenden Liberalisierung der Arbeitsver­hältnisse und den Privilegien des devisenträchtigen Tourismusge­schäftes neu-alte soziale Un­gleichheit entstanden ist, er­scheint noch weniger erschrek­kend als die Renaissance einer rassistischen Mentalität, die von einem ebenso neuen wie alten sozialen Gefälle zwischen den Ethnien genährt wird. Das ideo­logisch verordnete Gleichheits­postulat erweist sich hier als we­nig tragfähig, galten doch auf Kuba zaghafte Ansätze ethni­scher Selbstartikulation etwa als “schwarzer Rassismus”. Für Hoffmann stellt gerade die von der kubanischen Führung betrie­bene Ineinssetzung von Revolu­tion und sozialistischem Staat in diesen Krisenzeiten eine Gefahr dar, denn “wenn diese Verknüp­fung nicht aufgebrochen werden kann, droht der Legitimitätsver­lust des politischen Systems auch die der Revolution zugrun­deliegenden Werte insgesamt in Frage zu stellen”.
Trotz der zum Teil ausgespro­chen lesenswerten Artikel krankt die Konzeption des Jubiläums­bandes an der zu weit formu­lierten und locker gehandhabten Themenvorgabe. Vorausgegan­ge­ne Ausgaben konnten deutlich stringenter der bewährten Schwer­punktsetzung folgen. Si­cher: “Offene Rechnungen” wer­den präsentiert. Bloß läßt sich diese Interpretationshilfe mit ein wenig Geschick auf nahezu alle sozialen, politischen und öko­no­mischen Problematiken an­wenden.
Daß die Herangehensweise der AutorInnen an ihr Thema stark variiert, hat weniger Aus­wirkungen auf den Gehalt ihrer Darstellungen als auf die Les­barkeit. Während die Herausge­berInnen Singers Beitrag im Vorwort zu Recht als “sperrig” bezeichnen, fällt Hoffmanns feuilletonistischer Stil wohltuend auf.
Lesenswert sind wie immer die Länderberichte, die im zweiten Teil die Ereignisse des vergangenen Jahres in Brasilien, El Salvador, Guatemala, Haiti, Kolumbien, Kuba, Mexiko und Ve­nezuela nachzeichnen. Be­dau­erlich ist allerdings die im vor­liegenden Band reduzierte An­zahl von Ländern: Während durch den Kuba-Artikel eine ge­wis­se Dopplung entsteht, wäre der Blick auf ein anderes der hier fehlenden Länder – Argenti­nien, Bolivien, Peru oder Ecuador – wünschenswert gewesen.

Nichts Neues in Sicht?

Die Zeiten großer gesell­schaftlicher Gegenentwürfe sind vorbei. Zwar ist dem Herausge­berInnenteam zuzustimmen, daß sich “zentrale Fragen internatio­nalisierter Ausbeutung und des Spielraums von Emanzipations­be­wegungen gerade in Latein­amerika in exemplarischer Weise stellen”. Die Texte dieses Jahr­buches sind durchaus in der Lage, dies zu zeigen. Mit Vor­schlägen für gangbare linke Al­ternativen – etwa wie der Glo­balmacht der “Multis” zu begeg­nen sei – halten sich allerdings die meisten AutorInnen vorsich­tig zurück oder bleiben vage. Das Vorwort vermerkt dies mit Selbstkritik und verweist nur auf Singers locker konzipierten Ent­wurf einer Basisökonomie jen­seits von Staatsunternehmen und Finanzkapital, da dieser “eine Diskussion über vorhandene und nicht vorhandene Alternativen der Linken zum Neoliberalismus eröffnen könnte”.
Eine revidierende Feststellung mußten die HerausgeberInnen – zwanzig Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes – allerdings treffen: Lateinamerika steht nach den weltweiten Veränderungen der letzten Jahre zweifelsohne nicht mehr im Mittelpunkt der Auf­merksamkeit. Daß dennoch auch im deutschen Sprachraum aktuelle und kritische Forschung weiterhin ein Sprachrohr hat, ist nicht zuletzt auch ein Verdienst der “Lateinamerika”-Reihe.

Lateinamerika – Analysen und Be­richte 20: Offene Rechnungen, hg. von Karin Gabbert u.a., Horlemann 1996.

Zweckehe im Isthmus?

Da gab es die kriegerischen Unternehmungen des Söldnerführers William Walker aus Tennessee, der in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von Nicaragua aus den ganzen Isthmus unterwerfen wollte, und die des liberalen Präsidenten von Guatemala, Justo Rufino Barrios, der eine Einheit unter guatemaltekischer Hegemonie anstrebte. Walker scheiterte weil sich alle fünf Republiken gegen ihn zusammentaten, Barrios dagegen scheiterte weil die fünf für eine gemeinsame Regierung doch zu individualistisch waren. In diesem Jahrhundert setzte man eher auf friedliche Mittel und wirtschaftliche Integration. Meist steckten hierbei Interessen der USA dahinter.
Wer Zentralamerika kennt, der weiß, wie schwierig es ist, den Isthmus auf dem Landweg zu durchqueren. Die bis vor kurzem bestehende Visapflicht, umständliche Amtswege für die Grenzüberschreitung mit Privatfahrzeugen, Willkür bei der Zollabfertigung und schlechte Straßen garantieren den Fluggesellschaften, die zwischen den Hauptstädten verkehren, ein sicheres Geschäft. Und das, obwohl die Tarife für die Anzahl der Flugkilometer deutlich überhöht ist. Der grenzüberschreitende Busverkehr – mit Ausnahme der Strecke Guatemala-El Salvador – ist mühsam und unbequem. Eine moderne Eisenbahnlinie von Guatemala bis Panama, die das Reisen und den Gütertransport innerhalb der Region dramatisch vereinfachen und verbilligen würde, ist bisher nicht einmal ernsthaft diskutiert worden. Es wird den Brüdern und Schwestern der Region also nicht leichtgemacht, einander näherzukommen. Deswegen gibt es auch mehr NicaraguanerInnen, die Miami kennen, als solche, die schon einen Urlaub in Guatemala verbracht haben und mehr Salvadorianer, die in Los Angeles aus- und eingehen als im nur zwanzig Flugminuten entfernten Tegucigalpa. Das Vorurteil blüht: so gelten die Ticos (Costa Rica) als hochnäsig, die Nicas als faul und gewalttatig, die Catrachos (Honduras) als doof, die Guanacos (El Salvador) als übertrieben strebsam und die Chapines (Guatemala) als verschlagen.
Eine Ausnahmeerscheinung ist das Volk der Miskitos am Río Coco, für die der Grenzfluß zwischen Nicaragua und Honduras nie eine maßgebliche Trennungslinie gewesen ist. Für sie war es bis zur Aufrüstung der Konterrevolution während der sandinistischen Jahre selbstverständlich, auf der einen Seite zu leben und auf der anderen das Feld zu bestellen. Und die Mobilität der Arbeitskraft war schon in den 70er Jahren eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Ohne die ArbeiterInnen aus Honduras und El Salvador wären die Expansion der Kaffeewirtschaft und der Baumwollboom in Nicaragua nicht denkbar gewesen. Und heute würden die Bananenplantagen in Costa Rica ohne die legal oder illegal eingereisten WanderarbeiterInnen aus Nicaragua nicht auskommen.

Versuche der Kooperation

Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua und Costa Rica, mit einer Gesamtfläche von 432.000 Quadratkilometern und 27 Millionen EinwohnerInnen, sind nicht nur Länder mit einem guten Stück gemeinsamer Geschichte, sie sind auch Konkurrenten, die ihre traditionellen Produkte wie Kaffee, Bananen, Zucker und Baumwolle auf denselben Märkten placieren wollen. Bis in die 60er Jahre waren es fast reine Agrargesellschaften, die ausreichend Nahrungsmittel für den Eigenbedarf produzierten, aber gleichzeitig mit Exportmonokulturen einem zunehmenden Bedarf in den USA entgegenkamen. Erst nach 1960, als die Kennedy-Regierung mit der Allianz für den Fortschritt in Lateinamerika ein Bollwerk gegen das castristische Kuba schaffen wollte, wurden politische Reformen und Industrialisierung gefördert. In diesem Rahmen wurden in Zentralamerika drei Organisationen geschaffen: auf der politischen Ebene die Organisation Zentralamerikanischer Staaten (ODECA), auf der militärischen der Zentralamerikanische Verteidigungsrat (CONDECA) und auf der wirtschaftlichen der Zentralamerikanische Gemeinsame Markt (MCCA). Dem letzteren lag die Idee zugrunde, daß nur der gemeinsame Markt die Industrieproduktion lohnend mache. In jedem Land sollte ein Zweig für die Versorgung der gesamten Region angesiedelt werden, um größere Mengen zu vertretbaren Stückkosten herzustellen: etwa Zahnpasta in Guatemala, Schuhe in El Salvador und Seife in Nicaragua. Die Anfänge waren vielversprechend, zumal die wirtschaftliche Konjunktur die Kaufkraft der Konsumenten steigerte. Doch MCCA und CONDECA scheiterten mit dem Ausbruch des sogenannten Fußball-Krieges zwischen Honduras und El Salvador. Nicht an primitivem Sportchauvinismus, wie der Name der dreitägigen bewaffneten Auseinandersetzung suggeriert, sondern an der unterschiedlichen demographischen Struktur der Länder. Aus dem überbevölkerten El Salvador hatten sich tausende BäuerInnen auf honduranischem Boden angesiedelt, von wo sie im Zuge einer demagogischen Agrarreform des honduranischen Militärdiktators vertrieben wurden.

Der Wunsch der USA: gegen Nicaragua vereint

Diese Wunden waren noch nicht verheilt, als in Nicaragua die sandinistische Revolution ausbrach. Die Solidarität, die die honduranische Bevölkerung während des Volksaufstandes den Flüchtlingen vor Somozas Nationalgarde entgegengebracht hatte und die Sympathien der Nachbarvölker für das neue Gesellschaftsmodell waren bald gebremst. Als Flüchtlinge kamen jetzt Soldaten der aufgelösten Nationalgarde, und das Grenzgebiet wurde in eine Aufmarschbasis für die Konterrevolution verwandelt. Auch an der Südgrenze zu Costa Rica wurde Nicaragua zunehmend isoliert. Während Nicaragua mit einem Wirtschaftsembargo bestraft wurde, bekamen die loyalen Länder Vorzugsquoten für den Export von Zucker und anderen Rohstoffen in die Vereinigten Staaten zugebilligt. Die USA förderten aber auch eine Integration Zentralamerikas gegen Nicaragua, vor allem auf der Ebene der Streit- und Sicherheitskräfte. Bleibendster Effekt dieser Vernetzung sind die Autoschieberringe und Drogenbanden, die in den Polizeiapparaten von El Salvador, Honduras und Guatemala aufgebaut wurden.
Von der Europäischen Gemeinschaft wurde die diskriminierende Wirtschaftspolitik nicht geteilt. Im Gegenteil: die EuropäerInnen setzten auf Integration statt Isolation Nicaraguas und machten seit Mitte der 80er Jahre ihre multilaterale Wirtschaftshilfe von einer regionalen Einigung abhängig, die jedes Jahr bei den San-José-Nachfolgetreffen erneuert wird. Doch die Programme waren zu dürftig, um gegen die Machtpolitik der USA eine echte Annäherung der verfeindeten Regierungen durchsetzen zu können.

Die neunziger Jahre: Ära des Freihandels

Erst im Jahre 1990, als die Sandinisten in Nicaragua abgewählt wurden, konnte die regionale Integration aller wieder versucht werden. Seit sich in den USA unter Präsident George Bush die Überzeugung durchsetzte, daß die größte Wirtschaftsnation der Welt auf Dauer gegenüber einem geeinten Europa und einem boomenden Ostasien nur bestehen kann, wenn sich der ganze Kontinent in einen gemeinsamen Wirtschaftsraum verwandelt, ist von Labrador bis Feuerland Integration angesagt. Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen zwischen Kanada, Mexiko und den USA (NAFTA) sprengte die Grenzen zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern – für den Kapitaltransfer, nicht für den Verkehr menschlicher Arbeitskraft. Freihandel heißt die Devise, die in ganz Lateinamerika aufgegriffen wurde. Plötzlich wurde dem Mercosur, zu dem sich Argentinien, Brasilien, Uruguay und Chile schon lange zusammengeschlossen hatten, neues Leben eingehaucht. Mexiko, Venezuela und Kolumbien schlossen ein Freihandelsabkommen und auch der Andenpakt wurde wiederbelebt.
Da konnte Zentralamerika nicht nachstehen. Die Region hat nur eine Chance ernstgenommen zu werden, wenn sie ihre traditionelle Zersplitterung überwindet. Deswegen nehmen seit einigen Jahren auch Panama und Belize, die zwar geographisch, aber nicht historisch zu Mittelamerika gerechnet werden, seit einigen Jahren an den Gipfeltreffen der zentralamerikanischen Präsidenten teil. Für Guatemala bedeutet diese Erweiterung einen stillschweigenden Verzicht auf die offiziell noch immer aufrechten Ansprüche auf das Territorium von Belize, das 1981 von Großbritannien in die Unabhängigkeit entlassen wurde.
Die Integration schreitet jetzt in Riesenschritten voran. Zumindest auf dem Papier. Im Dezember 1991 wurde in Tegucigalpa das Zentralamerikanische Integrationssystem (SICA) als Folgeorganisation der ODECA gegründet. Dies ist für die ZentralamerikanerInnen weniger ein neuer Versuch echter regionaler Integration, sondern eine Voraussetzung, um sich irgendwann in den NAFTA einzuklinken und ihre Exporte ohne Handelshemmnisse in diesen gigantischen Wirtschaftsraum liefern zu können.

Sozialpolitik und Umwelt haben das Nachsehen

Die im Interesse der Globalisierung gefaßten Beschlüsse der Gipfeltreffen dienen den einzelnen Regierungen dazu, unpopuläre Maßnahmen innenpolitisch zu rechtfertigen. Zum Beispiel den Sozialabbau und die Beschneidung von Gewerkschaftsrechten, mit dem Hinweis, der Wirtschaftsstandort müsse verteidigt werden.
Freihandel und Sozialabbau können die strukturellen Probleme der Region gewiß nicht lösen. Für die 68 Prozent der ZentralamerikanerInnen, die laut United Nations Development Programm (UNDP) in “kritischer” Situation leben oder überleben, sind dringende Programme gefordert. So hat zuletzt der Sozialgipfel von Tegucigalpa die extreme Armut weder national noch regional eingedämmt.
Auch bei der Umweltzerstörung liegt Zentralamerika mit sechs Prozent Entwaldung jährlich weltweit im Spitzenfeld. Trotzdem hat der Umweltgipfel von Managua außer vielen schönen Worten nicht viel Konkretes gebracht.

NGOs haben es schwer: Integration als Chefsache

Deswegen sind die zentralamerikanischen NGOs immer weniger bereit, die Integration allein den Regierungen zu überlassen. Der Globalisierung widersetzt sich heute keiner mehr ernsthaft. Doch: “Damit die nachhaltige Entwicklung der Menschheit möglich wird, müssen drei Aktoren zusammenwirken: Staat, Markt und Zivilgesellschaft”. Mit diesem Vorstoß brachte sich die Concertación Centroamericana auf der UNO-Sozialkonferenz von Kopenhagen ein. Unter diesem Namen haben sich nichtregierungsgebundene Organisationen der Region zusammengeschlossen, um mit einer gemeinsamen Stimme gegen die Regierungen – die Integration als Chefsache betrachten – auftreten zu können. Kurz darauf, im Oktober 1994, schufen die regierungsunabhängigen Organisationen die “Zivile Initiative der Zentralamerikanischen Integration” (ICIC), die alle Themen der folgenden Gipfeltreffen aufgriff und sich als ständiges Konsultativorgan einzubringen versucht. Mit bisher wechselhaftem Erfolg.
Zwar sind ICIC-Mitglieder inzwischen als ständige Beobachter beim SIECA, SICA und im Zentralamerikanischen Parlament anerkannt, doch ist ihr Einfluß gering. Die Präsidentengipfel, so heißt es in einem Papier der ICIC, benützten einen “scheinbaren Dialog” mit der Zivilgesellschaft, um bei der internationalen Gebergemeinschaft an zusätzliche Mittel zu kommen, “die in der Praxis weit entfernt sind, den Bedürftigen zu nützen.”
Konkrete Vorschläge der Zivilgesellschaft sind bisher von den Staatschefs ignoriert worden, so zum Beispiel die Vorlage für einen regionalen Sozialpakt. Dennoch unterbreiteten die Regierungen Zentralamerikas beim Sozialgipfel in Kopenhagen eine Konvention der Sozialen Integration, die sie als Produkt einer breiten Diskussion mit allen betroffenen Gruppen präsentierten.

Eigener Weg nur mit Druck von unten

Von einer gemeinsamen Sozialpolitik ist Zentralamerika aber noch genauso weit entfernt wie vom gemeinsamen Wirtschaftsraum. Zwar gibt es schon seit vielen Jahren einen Energieverbund, der auch während der Revolutionsjahre funktionierte und verhinderte, daß die Stromversorgung noch häufiger als ohnehin schon zusammenbrach. Doch wenn es um partikuläre Handelsinteressen geht, kehren die Regierungen schnell wieder zu protektionistischen Maßnahmen zurück. So läßt Costa Rica unter dem Vorwand der Lebensmittelhygiene nicaraguanische Bohnen an der Grenze verschimmeln, um die eigenen Produzenten zu schützen. Auch beim Aushandeln von Bananenquoten mit der EU stieg Costa Rica aus dem gemeinsamen Verhandlungsforum aus und suchte seine Exportquote im Alleingang zu erhöhen. Und bei der Verhandlung der Staatsverschuldung ziehen die Regierungen gesonderte Verhandlungen mit den Gläubigern vor, statt gemeinsam aufzutreten.
Investoren nützen die Konkurrenzsituation aus, um günstigere Bedingungen zu erpressen. Warum sollten sie sich Gewerkschaften in den Fertigungsbetrieben gefallen lassen, wenn im Nachbarland die Organisationsfreiheit eingeschränkt ist? Warum eine Erhöhung des Mindestlohnes hinnehmen, wenn nur 200 Kilometer entfernt für weniger Geld mehr gearbeitet wird? So gesehen ist die Unterzeichnung einer zentralamerikanischen Sozialcharta nicht nur eine legitime Forderung der Arbeitnehmer sondern muß auch im Interesse der Regierungen liegen. Die Integration “von unten” unter Mitwirkung der verschiedenen sozialen Akteure ist heute eine Notwendigkeit. Solange aber der Druck von unten fehlt, werden sich die Staatschefs der Region ihre Politik weiterhin “von oben”, also von den USA und dem Weltwährungsfonds, diktieren lassen.

Friede, Freude, Strukturanpassung

Am Anfang stand der Friedensprozeß von Esquipulas in den 80er Jahren. Dort wurden die Grundlagen gelegt für den Integrationsprozeß in Mittelamerika, der, so die Hoffnung der Beteiligten, den kleinen mittelamerikanischen Ländern ein Stückchen vom Wohlstandskuchen verschaffen sollte. Dann kamen die WirtschaftsberaterInnen aus dem In- und Ausland: Zuerst müssen die mittelamerikanischen Volkswirtschaften ihre traditionelle landwirtschaftliche Exportproduktion steigern, so ihre Ratschläge. Danach soll mit den erwirtschafteten Devisenerlösen die Exportdiversifizierung und die Modernisierung der Agrarproduktion vorangetrieben werden. Landreformen sowie die Befriedigung sozialer Bedürnisse werden ebenfalls anvisiert. Dennoch wird allein der Rückgang der Exporterlöse seit Anfang der siebziger Jahre als Erklärung für den Ausbruch der bewaffneten Konflikte in den siebziger und achtziger Jahren angesehen – die ungleichen Bodenbesitzverhältnisse bleiben außen vor.
Entsprechend dieser Strategie wurden die Strukturanpassungsprogramme in Zentralamerika konzipiert und umgesetzt. Die Erfahrungen unterscheiden sich kaum von denen anderer Länder Lateinamerikas. Das Besondere in Mittelamerika liegt vielleicht darin, daß die neoliberalen Reformen parallel zu den Friedensprozessen stattfinden. In allen Ländern, in denen es bewaffnete Konflikte gab, wurden erfolgreiche Friedensverhandlungen durchgeführt: In Nicaragua, El Salvador und zum Teil auch in Guatemala konnten sich die Regierungen und die bewaffnete Opposition über die Modalitäten für die Beilegung der Konflikte einigen. Die Friedensabkommen sind nichts anderes als die gegenseitige Verpflichtung, die bestehenden Gegensätze allein auf der politischen Ebene zu lösen.
Die neoliberalen Reformen werden aufgrund der politischen Instabilität von sozialen Ausgleichsmaßnahmen begleitet. So wurden in sämtlichen Ländern Zentralmerikas mit Hilfe internationaler Geldgeber die sogenannten Fondos de Inversion Social errichtet, Sonderfonds, die die sozialen Auswirkungen der Strukturanpassung abfedern sollten. Da solche Instrumente nur für einen begrenzten Zeitraum und nur für die schwächsten sozialen Gruppen gedacht sind, ist es für die Regierungen außerdem notwendig, den Ausgleich mit den anderen Interessensgruppen der Gesellschaft zu suchen. In Guatemala und El Salvador wurde mit dem Foro de Concertación Social und der Asamblea de la Sociedad Civil Dialogforen geschaffen. Beteiligt sind daran drei Gruppen: Regierung, Unternehmen und Gewerkschaften beziehungsweise Bauernorganisationen. In Honduras und Costa Rica gewannen die politischen Parteien die letzten Wahlen, die die Strukturanpassungsmaßnahmen kritisierten. Allerdings haben sie kaum Spielraum ihre programmatischen Alternativen umzusetzen. Die neoliberale Variante in Nicaragua erhält mit dem Wahlerfolg der Liberalen Allianz unter Arnoldo Alemán die politische Legitimation, makroökonomische und politische Reformen zugunsten der mächtigen Wirschaftselite durchzuführen.

Traditionelle Abhängigkeiten

Die Volkswirtschaften der fünf zentralamerikanischen Länder (Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras und Nicaragua) sind von vier traditonellen Exportprodukten abhängig: Bananen, Kaffee, Baumwolle und Zucker. Der Anteil dieser Produkte an den Gesamtexporten liegt weiterhin durchschnittlich bei über fünfzig Prozent. Und dies, obwohl seit Anfang der achtziger Jahre starke Anstrengungen unternommen wurden, die Exportpalette um sogenannte nicht-traditionelle Güter (zum Beispiel Krabben, Schnittblumen, Kardamom) anzureichern.
Die Investitionen sowohl des öffentlichen als auch des privaten Sektors sind im Zeitraum 1978-1995 mit Ausnahme Costa Ricas zurückgegangen. Der Rückgang der öffentlichen Investitionen läßt sich unschwer als Folge der Sparmaßnahmen im Rahmen der Strukturanpassungsprogramme ausmachen. Demgegenüber kann der Rückgang der Privatinvestionen trotz verbesserter Investitionsförderung nur durch das fehlende Vertrauen des Privatkapitals in die politische Stabilität der Region begründet werden. Für das Auslandskapital hatten die mittelamerikanischen Länder schon in der Vergangenheit eine im lateinamerikanischen Kontext vergleichsweise liberale Investitionspolitik. Dabei bestand zwischen den Ländern im Grunde schon immer ein Konkurrenzverhältnis um die Gunst der Auslandsinvestitionen. So sind heute noch nationale Unterschiede bei der Behandlung des Auslandskapitals festzustellen: Guatemala ist beispielsweise das einzige Land, das eine gleiche Behandlung für inländisches und ausländisches Kapital gesetzlich verankert hat. In El Salvador und Honduras sind Auslandsinvestitionen bei Kleinunternehmen verboten. Costa Rica, El Salvador und Honduras fördern die Auslandsinvestitionen, indem sie sie durch ihre Wechselkurspolitik begünstigen. Gleichzeitig wird in El Salvador und Honduras aber die einheimische Kleinindustrie geschützt. Aufgrund der schärfer werdenden Standortkonkurrenz ist für die nahe Zukunft bei allen Ländern mit einer weiteren Liberalisierung der Investitionspolitik zu rechnen. Damit werden die einheimischen KleinproduzentInnen verstärkt der übermächtigen ausländischen Konkurrenz ausgesetzt.

Instabilität durch Liberalisierung

Mit dem Abbau von Zöllen und anderen Schutzinstrumenten sind die Volkswirtschaften Mittelamerikas anfälliger gegenüber der Weltmarktkonkurrenz geworden. Für kleinere Volkswirtschaften wie die mittelamerikanischen, spielt der Schutzzoll auf ausländische Importe eine wichtige Rolle für die einheimische Industrie, denn die einheimische Produktion könnte sonst nicht mit den Preisen der Importgüter konkurrieren. Die Öffnung Zentralamerikas gegenüber dem Weltmarkt findet in einer Zeit statt, in der auf internationaler Ebene zahlreiche Gewichtsverschiebungen und Schwankungen zu verzeichnen sind. Das Wirtschaftswachstum in den Industrieländern verläuft ungleichmäßig. Trotz dem erfolgreichen Abschluß der Uruguay-Runde des GATT (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen) vor zwei Jahren, ist bei vielen Produkten aus der Region ein verstärkter Protektionismus seitens der Industrieländer zu konstatieren. Zudem sind die Preise für die vier traditionellen Exportgüter weiterhin instabil. Die Tendenzen zur Bildung regionaler Wirtschaftsblöcke gehen oft mit handelsumlenkenden statt mit handelsschaffenden Effekten einher. Kein Wunder also, daß in Zeiten höherer internationaler Schwankung die kleinen Volkswirtschaften Mittelamerikas mit einer ständigen makroökonomischen Instabilität konfrontiert sind.

Die Auslandsverschuldung

Die Gesamtschulden der fünf zentralamerikanischen Länder sind von 17,5 Milliarden US-Dollar 1985 auf knapp 24,5 Milliarden US-Dollar 1994 gestiegen. Aussagekräftiger ist indes der Anteil der Exporterlöse, die für den Schuldendienst aufgewandt werden müssen. Für die Region lag er 1994 bei 31,5 Prozent. Bei den einzelnen Ländern fällt er höchst unterschiedlich aus: Während Guatemala (11 Prozent), El Salvador (14,5 Prozent) und Costa Rica (14,6 Prozent) eine erhebliche Entspannung ihrer Schuldendienstsituation im Vergleich zum Jahr 1985 erzielten, liegen Honduras (34,9 Prozent) und Nicaragua (38,2 Prozent) weit über der von der Weltbank als akzeptabel eingestuften Obergrenze von 20-25 Prozent.
Ungeachtet der nationalen Unterschiede ist die Belastung der Auslandsverschuldung für lateinamerikanische Verhältnisse überdurchschnittlich groß. Die Länder Zentralamerikas haben eine Auslandsverschuldung, die im Verhältnis zu ihrem Wirtschaftspotential um einiges höher ist, als die der anderen lateinamerikanischen Länder. Ein besonderes Problem stellt heute der auffällig hohe Anteil an multilateralen Schulden dar. Dieser ist insbesondere für El Salvador (57,2 Prozent), Honduras (46,7 Prozent) und Costa Rica (33,6 Prozent) sehr hoch. Ein hoher Anteil an multilateraler Auslandsverschuldung wirkt sich auf die Kreditwürdigkeit gegenüber anderen Gläubigern negativ aus und schafft zusätzliche Schwierigkeiten bei Umschuldungsverhandlungen.
Angesichts der zunehmenden Zahlungsschwierigkeiten mußten die Regierungen schon Anfang der achtziger Jahre Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) aufnehmen und die berühmt-berüchtigten letter of intents (Absichtserklärungen) unterzeichnen. Mit jenen verpflichteten sie sich, Anpassungsmaßnahmen durchzuführen, um die finanzielle Unterstützung für den Zahlungsbilanzausgleich zu erhalten. Die durchgeführten Maßnahmen (Liberalisierung der Wechselkurse, restriktive Geldpolitik, Senkung der Staatsausgaben undsoweiter) stehen aber zumindest kurzfristig im Widerspruch zu den wachstumspolitischen Zielen, die sich die Regierungen gesetzt haben. Die Schuldenverhandlungen mit dem IWF haben bislang kaum Handlungsspielraum für die erwünschte Wachstumsstrategie gelassen. Besser sieht es nur in El Salvador und Costa Rica aus. El Salvador profitierte von im Zusammenhang mit dem Krieg gewährten finanziellen Hilfen in Form von nicht rückzahlbaren Zuschüssen und von den Geldüberweisungen der in den USA arbeitenden salvadorianischen BürgerInnen. Costa Rica konnte seine Exporterlöse bei traditionellen und nicht-traditionellen Gütern steigern. Ansonsten haben die Schuldenverhandlungen keine Entlastung der Verschuldungssituation erbracht. Sowohl Honduras als auch Nicaragua stehen heute auf der Weltbank-Liste der vierzig ärmsten Länder mit einer nicht zu bewältigenden Verschuldungssituation.

Die regionale Wirtschaftsintegration

Der gemeinsame zentralamerikanische Markt (MCCA) ist mit seinen 35 Jahren das älteste Integrationsprojekt in Lateinamerika und der Karibik. Seitdem vor etwa dreißig Jahren die ersten Zollvereinbarungen getroffen wurden, kommt die mittelamerikanische Integration nur im Schneckentempo voran. Die guten Absichten können nicht geleugnet werden. Davon zeugen der achtzehnte Präsidentengipfel, das Treffen mit der mexikanischen Regierung, das Treffen der Wirtschaftsminister und der Beauftragten für die regionale Integration und zahlreiche andere Zusammenkünfte von VertreterInnen aus Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft. Doch das Hindernis, das die reale sozio-ökonomische Lage dieser Länder darstellt, kann nicht ignoriert werden. Die zentralamerikanische Region durchlebt seit 1978 eine wirtschaftliche Krise, die sich in einem Rückgang des Pro-Kopf-Einkommens widerspiegelt. Die sporadisch auftretenden Exporterfolge waren nur ein kleiner Kontrapunkt in dieser Entwicklung.
Neben den vielen Absichtserklärungen wurden auch Maßnahmen für eine Liberalisierung des Handels getroffen: Die zentralamerikanische Zollunion hat den gemeinsamen Außenzoll auf maximal zwanzig Prozent gesenkt, eine weitere Absenkung auf fünfzehn Prozent ist geplant. Bis auf wenige Ausnahmen ist der Warenverkehr innerhalb der Zollunion frei. So hat sich das Volumen des Außenhandels von 1988 bis 1993 auf 1,13 Milliarden US-Dollar verdoppelt. Doch Zollfreiheit hat nur eine begrenzte Wirkung, wenn es keine Eisenbahnlinien, Straßen oder Häfen gibt, um die Güter zu transportieren. In diesen Zusammenhang fällt auch das Urteil von Michael Porter, Professor an der Harvard University. Das Fazit seiner Studie über die Wirtschaftsintegration, die er den Präsidenten Mittelamerikas Mitte des Jahres vorlegte, ist ernüchternd: Kein einziges mittelamerikanisches Land verfügt über ein System, das den Frachttransporterfordernissen des Weltmarktes entspricht – ein ernstzunehmendes Hindernis für die Wirtschaftsintegration Mittelamerikas.
Dieses Defizit ist den Regierungen bewußt. Bei ihren Treffen wurden Gemeinschaftsprojekte in den Bereichen Stromerzeugung, Telekommunikation, Eisenbahn- und Straßenbau verabredet, die mit voller Kraft vorangetrieben werden sollen. Doch das Kardinalproblem bleibt bestehen: Woher soll das Geld kommen? Allein für ein Projekt zur Elektrifizierung der ganzen Region müßten 400 Millionen Dollar herbeigeschafft werden. Nicht einmal die Hälfte davon können die Regierungen über weiche Kredite bei der Interamerikanischen Entwicklungsbank erhalten. Eigenmittel sind bei der herrschenden Finanzlage nicht vorhanden. Die Folgen für die anvisierte Integration wiegen schwer: Dem Vernehmen nach haben in Guatemala eine Reihe von Betrieben der Maquilaindustrie, der Werke US-amerikanischer Firmen, in denen lediglich Vorgefertigtes für den US-Markt zusammengesetzt wird, wegen Stromknappheit eine Verlagerung nach Mexiko beschlossen. So können sie einerseits auf eine effizientere Energieversorgung zurückgreifen und andererseits die Vorteile des NAFTA-Marktes ausnutzen.

Die Verhandlungen mit NAFTA

Obwohl der regionale Handel in den letzten fünf Jahren stark angestiegen ist, bleibt der US-Markt für Zentralamerikas Außenhandel von herausragender Bedeutung. Dementsprechend wird eine schnelle Anbindung an das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) angestrebt. Die Verhandlungen gestalten sich aber schwierig. So kann dem Acht-Punkte-Anforderungskatalog, der 1991 von der US-Handelsbeauftragten Carla Hills als Grundlage für ein Freihandelsabkommen zwischen den USA und Mittelamerika vorgelegt wurde, nicht ohne grundlegende Zugeständnisse entsprochen werden. Insbesondere Fragen des Marktzugangs, Investitionsregelungen, Umweltnormen, Streitschlichtung und Eigentumsrechte bedürfen einer Klärung.
Für die Nicht-Mitgliedsländer hat das NAFTA nicht zu unterschätzende Folgen. Im Falle Zentralamerikas kommt der größte Nachteil dadurch zustande, daß der seit 1983 gegenüber Mexiko durch die Initiative des Karibischen Beckens (CBI) erlangte Vorteil wegfällt. Dadurch wurde unter anderem den Ländern des MCCA, aber eben nicht Mexiko, der präferentielle Zugang zum US-Markt für diverse Produkte gewährt. Mexiko hat nun im Konkurrenzkampf mit Zentralamerika um Handel und Investitionen mit den USA seine Position wesentlich verbessert. Die Mindestlöhne in Mexikos Fabriken sind normalerweise niedriger als die in den beiden wettbewerbsfähigsten Ländern Mittelamerikas Guatemala und Costa Rica. Gleiches trifft auf die Transportkosten zu. Zudem sind die Investitionsbestimmungen in Mexiko viel liberaler und trotz zunehmendem Widerstand der mexikanischen Bevölkerung gegenüber der neoliberalen Politik werden die anderen zentralamerikanischen Länder immer noch als politsch instabiler eingestuft.
Insbesondere zwei Kategorien von Exportgütern sind vom NAFTA besonders betroffen und geraten gegen mexikanische Konkurrenzprodukte in Nachteil: erstens jene Exportgüter, die nicht auf der Präferenzliste der CBI stehen (zum Beispiel Textilien und Kleidung) und zweitens jene Exportgüter, die aufgrund der CBI-Präferenzen eine gewisse Wettbewerbsfähigkeit auf dem US-Markt erreicht hatten. Durch das NAFTA werden auch andere Vorteile aufgehoben. Für bestimmte nicht-traditionelle Exportgüter wie Honigmelonen, die aus den CBI-Ländern zollfrei in die USA eingeführt werden, fallen die Zollschranken auch für die anderen Länder schrittweise. Da Mexiko bei fast allen Exportgütern in offener Konkurrenz zu Zentralamerika steht, kommt es durch NAFTA automatisch zu einer Verschlechterung der Handelsposition der MCCA-Länder auf dem US-Markt.
Bislang haben die Verhandlungen als MCCA-Block mit dem NAFTA zu keinem nennenswerten Ergebnis geführt. Auch die getrennten Verhandlungen mit Mexiko oder mit Kanada haben außer 20 Millionen Entwicklungshilfe nicht die Flanken des NAFTA geöffnet. Daraufhin wurde parallel zu dem Integrationsprozeß von einzelnen Ländern (Costa Rica) oder Ländergruppen versucht, bilaterale Freihandelsabkommen mit den Mitgliedsländern von NAFTA zu erreichen. So besteht seit 1995 ein bilaterales Freihandelsabkommen zwischen Costa Rica und Mexiko.

Gescheiterte Strategie

Die Diversifizierung der Exporte hat trotz starker Exportsubventionen nicht die erwarteten Erfolge gebracht. Der Tourismus wuchs außer in Costa Rica und Guatemala nur mäßig. Auch für die nächste Zukunft bleibt Zentralamerika von seinen traditionellen Exportprodukten abhängig: Bananen, Kaffe, Zucker und mit abnehmender Bedeutung Baumwolle. Mit Ausnahme Costa Ricas liegen die Exportanteile dieser Güter in den restlichen Ländern bei über 50 Prozent der Gesamtexporte. Baumwolle erlitt seit Anfang der achtziger Jahre einen dramatischen Produktionsrückgang von jährlich 13 Prozent. Vor allem Nicaragua sah sich dadurch mit erheblichen Einkommensverlusten konfrontiert.
Gerade das Angebot dieser Exportprodukte reagiert aber relativ unelastisch auf Preisentwicklungen, das heißt produziert wird relativ unabhängig von den Preisentwicklungen auf den internationalen Märkten. Ein nennenswertes Potential zur Exportexpansion ist so auch bei Preissteigerungen nicht vorhanden. Folglich sind von diesen Branchen keine signifikanten Entwicklungsimpulse zu erwarten. Aber gerade eine auf diesen Produkten basierende Exportexpansionsstrategie steht im Mittelpunkt der Strukturanpassungsprogramme, die erfolglos in allen Länder Mittelamerikas seit Mitte der achtziger Jahre durchgeführt werden.
Die Friedensprozesse werden in einer Zeit abgeschlossen, in der die Ausgaben des Staates für die Befriedigung sozialer Bedürfnisse stark gekürzt werden. In vielen Fällen könnte der soziale Friede gerade eben mit Hilfe von sozialen Abfederungsprogrammen gerettet werden. Die Folgen des NAFTA überfordern die Volkswirtschaften Mittelamerikas, die nun weniger Vorteile auf dem US-Markt genießen, während gleichzeitig die Verschärfung der Schuldensituation engere Handlungspielräume für den Binnenmarkt setzt. Es gibt aber kaum Grund zur Annahme, daß mit dem bisher gebildeten gesellschaftlichen Konsens die Herausforderungen bewältigt werden können, die durch die Verengung des Handlungsspielraums des Staates, die neoliberale Transformation und die Verschärfung sozialer Ungleichheiten entstanden sind. Für ein anhaltendes Wirtschaftswachstum ist eine kontinuierliche politische Stabilität notwendig, diese ist aber ohne soziale Gerechtigkeit nicht zu erreichen.

Deutsches Exil in Lateinamerika

Lateinamerika stand bei der Aufnahme von Flüchtlin­gen aus Deutschland an führender Stelle. Etwa 20 Prozent aller Emi­grantInnen fanden dort zumin­dest für eine gewisse Zeit Zu­flucht vor der Verfolgung durch das NS-Regime. Für viele war Latein­amerika anfangs jedoch nur ein Exil zweiter Wahl, was sich deutlich an der Chrono­logie der Emigration in die mittel- und südamerikani­schen Staaten zeigt. In den Jahren 1933-1937 sind wohl höchstens ein Viertel aller Lateinamerika-Flüchtlinge aus Deutsch­land eingewandert. Vor al-lem die auch früher als Ein­wan­derungsländer bevorzugten Staa­ten des “Süd­gürtels”, also Argen­tinien, Chile, Uruguay und das südliche Bra­silien, waren bis etwa 1937 eine Art Ge­heimtip für Emi­grantInnen, während in die übri­gen Län­der nur verein­zelte Personen­kreise sickerten. Auch die meisten in diesem Zeit­raum von einigen Staaten unter­nommenen Aktionen zur Auf­nahme von EmigrantInnengrup­pen betrafen in der Regel nur kleine Zahlen, die nur in Einzel­fällen die 100 überschrit­ten, – so die An­siedlung saarländi­scher Emi­grantInnen in Para­guay.
Die Erklärung für dieses Phä­nomen liegt darin, daß Latein­amerika kaum im Motivations­spek­trum von Hitler-Flücht­lin­gen angesiedelt werden konn­te. Wer nach dem erhofften Sturz der NS-Herr­schaft nach Deutsch­land zurückkehren woll­te, blieb nach Möglichkeit in einem Nach­barland, jedenfalls in Eu­ro­pa. Wer als Jude Deutsch­land den Rücken kehrte und end­gültig mit der angestammten Heimat brach, bemühte sich um die Aus­reise nach Palästina. Auch Emi­grationsbewegungen in die USA oder UdSSR waren in jener Zeit spärlich. Wer vor 1939 nach La­teinamerika emigrierte, war trotz des poli­tischen Hinter­grundes seiner Motive meistens auch eine Art Auswanderer, der sich in der Ferne eine von Be­drohungen und Repressalien freie Existenz auf­bauen wollte. Die bevorzugte Wahl der typi­schen Einwande­rungsländer des Süd­gürtels be­stätigt diese Beob­ach­tung.
Mit der weiteren Expansion des Dritten Reiches im Jahre 1938 und mit Restrik­tionen der europäischen Asylländer, welche die Flüchtlingsströme nicht mehr auf­nehmen konnten oder woll­ten, begann die Massen­emigra­tion in überseeische Länder, vor­zugsweise nach Lateinamerika. Sie hielt mit kriegs­bedingten Un­terbrechungen bis etwa 1942 an. Da die meisten lateinamerikani­schen Staaten daraufhin die Ein­wanderung bremsten und zeit­wei­lig die Grenzen völlig sperr­ten oder nur unter besonderen Be­dingungen öffneten, richtete sich der Flüchtlings­strom auch in “we­niger at­traktive” Länder. Wer unter größter Gefahr sein Leben retten wollte, ging auch nach Hon­duras oder Bolivien, ob­wohl er eigentlich nach Palä­stina oder Nordamerika emigrieren wol­lte. Man­che Länder nahmen den Cha­rakter von Wartesälen an, in de­nen Flüchtlinge bis zu ihrer mög­lichen Weiterreise vor­über­ge­hend Zuflucht nahmen. Wer in Ku­ba oder in der Domini­kanischen Republik Asyl ge­funden hatte, wartete meist auf die Weiterreise in die USA, wer nach Para­guay oder Bolivien ver­schla­gen worden war, zog oft nach Argentinien, Chile oder Uru­guay.
Fluchtwege und Fluchthelfer
Die Wege, auf denen deut­sche Flüchtlinge nach Lateinamerika ge­langten, wurden im wesentli­chen vom Zeitpunkt der Emigra­tion und von den Emigrations­motiven bestimmt. Es gab vom Feb­ruar 1933 bis zum Oktober 1941 eine vom NS-Regime ge­dul­dete legale Auswanderung aus Deutschland. Ihr Zahlenver­hält­nis zur fluchtartigen Emi­gration schwankte erheblich und stand 1939 zu dieser im Verhält­nis von 7:1. Von den rund 78.000 jüdischen Emi­grantInnen dieses Jahres gin­gen etwa 13.000 nach Latein­amerika, in der Regel von Hamburg aus. EmigrantIn­nen, die von einem europäischen Exil-Land aus weiterfuhren, schifften sich gewöhnlich in den Niederlanden, in den französi­schen Atlantik-Häfen und in Marseille oder aber in Genua ein. Nach Ausbruch des Krieges än­derten sich die Routen, zumal Belgien, die Niederlande und die französi­sche Atlantik-Küste be­setzt wurden. Marseille wurde zeitweilig der wichtigste Aus­reisehafen, gefolgt von Lissa­bon, das aber nur über Spa­nien er­reicht werden konnte. 1940-42 waren Spanien und Portugal wichtige Transitländer. In der Zeit vom Herbst 1939 bis Juni 1941 emigrierten zahlreiche Flüchtlinge über Sibirien nach Wladiwostok und von dort wei­ter nach Shanghai in die USA und nach Lateiname­rika. Ab No­vem­ber 1941 durften Juden aus dem deutschen Macht­bereich nicht mehr ausreisen – die Ent­scheidung über die so­genannte “End­lösung” war ge­fallen. Mit der Besetzung Süd­frankreichs durch deutsche Trup­pen im No­vem­ber 1942 wurden die letzten Aus­reisemöglich­kei­ten blockiert. Die Emigra­tions­be­wegung kam fast voll­ständig zum Stillstand.
Besonderes Interesse ver­dienen in diesem Zusammen­hang die Organisatio­nen, durch deren Aktivitäten die in der Re­gel mittellosen Flüchtlinge über­haupt nach Lateinamerika gelan­gen konnten. Der Erwerb von Visa und anderen Doku­menten, die Bezahlung der Schiffspassa­gen und sonstigen Reiseko­sten, Quartiere und Klei­dung, Kurse zur beruflichen Um­schulung so­wie die Ausrü­stung mit Werk­zeug – alles dies waren Pro­ble­me, die die EmigrantInnen ge­wöhn­lich aus eigener Kraft nicht be­wältigen konnten. Eine Reihe von Vereinigungen hat hier be­trächtliche Summen auf­gebracht, die selbst wiederum größtenteils aus Spenden stamm­ten. Zu nen­nen sind vor allem die jüdische Hilfs­organisation HICEM, die selbst wiederum ein Dachver­band an­derer Verbände war, und das “American Jewish Joint Distri­bution Commit­tee”. Diese beiden Organisa­tionen hat­ten für die Flucht­hilfe und für die Start­hilfe in den Exilländern eine große Bedeutung. Da­gegen rich­te­ten sich die Unter­stüt­zungen an­derer Hilfsorga­ni­sa­tio­nen nur auf einen kleinen und spe­ziel­len Teil der Emi­gra­tion. An­dere wich­tige Ver­ei­ni­gun­gen wa­ren die so­zial­de­mo­kra­tische Flücht­lingshilfe, so­wie die von der Liga für Men­schen­rech­te ge­tra­ge­ne Demo­kra­ti­sche Flücht­lings­fürsorge (beide wa­ren bis 1938 in Prag, da­nach in Lon­don).
Unter den Umständen der NS-Diktatur nahmen gele­gentlich auch solche Organi­sationen den Charakter von Fluchthelfern an, deren ei­gentliche Zielsetzung nichts oder wenig mit Emigra­tion zu tun gehabt hatte. Die JCA (Jewish Colonisation Associ­ation) verfolgte ursprünglich den Ge­danken jüdischer landwirt­schaftlicher Siedlungen in Ar­gentinien und Brasi­lien, ver­mittelte aber – teil­weise im Rah­men der HICEM – zahlreichen be­drohten Juden eine Zuflucht in Lateiname­rika. Der St. Rapha­elsverein unterstützte seit den 1890er Jahren katholische Aus­wanderInnen durch soziale und seel­sorgerische Betreuung, kon­zentrierte sich aber in den 1930er Jahren immer mehr auf bedrohte Personen aus Deutsch­land, ins­besondere auf die soge­nannten “ge­tauften Nicht-Arier”. Auch die ihm nahestehende “Gesell­schaft für Siedlung im Ausland” er­möglichte vielen katholischen Hitler-GegnernIn­nen eine Aus­wanderung und Ansiedlung in Brasilien, wobei hier die Gren­zen zwischen Emigration und Auswanderung verschwimmen. Die Zahl der ge­nannten Orga­nisationen muß noch ergänzt werden um weitere jüdische, christliche, politische und huma­nitäre Vereinigungen, die inner­halb und außerhalb Deutschlands Fluchthilfe leiste­ten; der Hilfs­verein der Juden in Deutschland, die Quäker und an­dere. Dagegen war die Hilfstä­tigkeit ein­zelner Staaten, zwischen­staatlichen und in­ternationalen Ein­rich­tungen wie dem Völker­bund erbärmlich ge­ring. Emi­gran­tInnen, die sich nach Über­see retten konnten, ver­dankten dies fast ausschließ­lich pri­vater Initiative.
Die Anzahl der deutschen be­ziehungsweise deutsch­sprachi­ge Emigrant­Innen in Lateiname­rika schwankt zwischen 90.000 und 120.000; man darf also von einer Grob­schätzung von rund 100.000 aus­gehen. Es besteht allenfalls weit­gehend Klarheit in der quan­titativen Reihenfolge der Auf­nahmeländer:

Argentinien 45.000
Brasilien 25.000
Chile 2.000
Uruguay 7.000
Bolivien 6.000
Kuba 5.000
Kolumbien 2.700
Ecuador 2.500
Dom. Rep. 2.000
Mexiko 1.200

Die übrigen Länder, ange­führt von Paraguay nahmen Emigran­tInnen nur in drei­stelliger, einige karibische und mittelamerikani­sche Staaten nur in zweistelliger Höhe auf. Über 90 Prozent aller Flüchtlinge fanden Zu­flucht in jenem Südgürtel, der sich von Rio de Janeiro über Montevideo und Buenos Aires bis nach San­tiago de Chile er­streckt. Dort la­gen daher auch die wichtigen Emi­grantInnenzentren. Einen Son­derfall bil­dete Mexiko, das zwar hin­sichtlich der Auf­nah­mezahl eines der Schluß­lichter bil­dete, aber wegen der hoch­karätigen politischen und lite­rarischen EmigrantInnen so­wie wegen der von ihnen ge­tragenen Ver­lage, Zeitschrif­ten und Ver­einigungen ein Exil­zentrum von be­sonderer Bedeu­tung war.
Soziale und kulturelle Integration
Die berufliche Qualifika­tion der EmigrantInnen in Lateiname­rika war nicht auf die Gesell­schaften der Asyl­länder zuge­schnitten, so daß die berufliche Eingliederung meistens große Pro­bleme ver­ursachte. Exakte Zah­len lie­gen nur für einzelne Länder und Städte vor, aber sämtliche Indizien verweisen da­rauf, daß kaufmännische und an­dere mittelständische Berufe, Selbständige und Angestellte, sehr stark vertreten, Hand­wer­ker­Innen, ArbeiterInnen und Land­wirte unterrepräsen­tiert wa­ren. Aber gerade sie, insbeson­dere die Landwirte, waren be­son­ders gefragt. Viele Exilländer hatten die Einreiseerlaubnis nur mit der Verpflichtung zu land­wirt­schaftlicher Siedlung er­teilt, worauf aber die wenig­sten vor­be­reitet waren. Von den etwa 1.000 Emigranten, die in Ar­gen­ti­nien, Brasilien, Paraguay, Bo­li­vien, Ecuador und Santo Do­min­go kleine Bauernhöfe grün­de­ten, sind die meisten gescheitert.
Die mittelständischen Be­rufe stießen deswegen auf be­sondere Schwierigkeiten, weil für sie zunächst kein Bedarf bestand. Wegen der für lateinameri­ka­ni­sche Gesellschaften seit lan­gem no­torischen Unterbeschäf­tigung in Handel und Dienst­leistung bil­de­ten die Emi­grant­Innen eher ei­nen Störfaktor und stießen oft auf Konkurrenz­neid und Frem­den­feindlichkeit, nicht selten mit an­tisemitischem Ak­zent. Einige Län­der verboten oder behin­der­ten die Ausübung be­stimmter Be­ru­fe. Leichter hat­ten es Fach­ar­beiterInnen und Hand­werker­In­nen, die wegen ih­rer im all­ge­mei­nen beträchtli­chen Überle­gen­heit an Berufs- und Allge­mein­bil­dung gefragt waren. Da­ge­gen standen Vertre­terInnen künst­lerischer und geisteswis­sen­schaftlicher Berufe vor be­son­deren Schwierigkeiten, weil ih­re Tätigkeiten nicht ge­fragt und teilweise engstens auf die deut­sche Sprache fi­xiert wa­ren.
Die soziale Integration aus ei­nem Abstand von 50 Jahren be­trachtet zeigt, daß nach ei­ner mehrjährigen Durststrecke die meisten EmigrantInnen und ihre Nachfahren wirt­schaftlich heute nicht schlecht gestellt und in der Regel in relativ wohlhabende Mittel- und Oberschichten auf­gerückt sind.
Die Gründe für diese über­wiegend gelungene so­ziale Inte­gration liegen in dem beruflichen und allgemeinen Bildungsvor­sprung der meisten EmigrantIn­nen vor ein­heimischen Arbeits­kräften. Aber wesentlich war wohl der Zusammenhalt der Emi­gran­tInnen über gemeinsame Zeit­schriften, Clubs, Vereinigun­gen und Einrichtungen, der trotz ideologischer, politischer und anderer Differenzen zumindest in den Zentren des Exils eine wechselseitige Kommunikation er­mög­lichte. Vor allem müssen hier die deutsch-jüdischen Ge­meinden, Verbände und Ins­ti­tu­tio­nen erwähnt werden, die – so­weit Informationen vorlie­gen – oft einen hohen Organi­sa­tions­grad hatten. Ihre Arbeit dürf­te in hohem Maße soziale Not­fäl­le aufgefan­gen und eine Mar­gi­na­lisierung und Verelen­dung von EmigrantInnen verhin­dert haben.
Politische Organisationen im Exil
Die politischen Organisa­tio­nen deutscher EmigrantInnen wa­ren, gemessen an der Zahl ih­rer aktiven Mit­glieder, recht klein. Aber sie standen stärker im öffentli­chen Rampen­licht und bean­spruchten einen höheren Re­präsentationsgrad als etwa deutsch-jüdische Sportver­eine. Aus der Perspektive der deut­schen Geschichte sind sie frei­lich interessanter, weil sie gewis­ser­ma­ßen “mit dem Blick nach Deutsch­land” ar­beiteten, wäh­rend ein großer Teil der jüdi­schen Emigran­tInnen mit ihrer al­ten Heimat innerlich gebrochen hatte und vielfach kein Interesse mehr an Deutschland zeigte. An­de­rerseits wurden rund 50 von den Organisationen herausge­ge­be­nen Blätter und Zeit­schriften, von denen aller­dings einige nur ein­mal oder nur sehr selten er­schienen oder aber über das For­mat hektographierter Rund­brie­fe nie hinausgelangten, doch auch von einem breiteren Spek­trum innerhalb der Emi­gration gele­sen; sie bezogen so­mit auch po­litisch weniger enga­gierte Per­sonen in die Diskussio­nen und Kontrover­sen ein. Wie in der ge­samten Exilszenerie wa­ren die Emi­grantInnen in Latein­amerika untereinander heillos zerstrit­ten und befehdeten sich aufs heftig­ste. Die Bedingungen für politi­sche Aktivitäten va­riierten von Land zu Land und waren stark von den inneren Verhält­nissen ab­hängig. So wa­ren ir­gend­welche Aktivi­täten un­ter der blut­rünstigen Herr­schaft des do­mi­nikani­schen Diktators Rafael Tru­jillo über­haupt nicht und in dem von Ge­tulio Vargas auto­ri­tär regierten Brasilien nur ein­ge­schränkt möglich. Dage­gen bo­ten demo­kratische Länder wie Chi­le und Uru­guay, das ge­mä­ßigt autoritäre Argentinien so­wie das nachrevolutionäre Mexi­ko gün­stige Voraussetzungen. Wäh­rend aber in Chile auf amtli­chen Druck die politischen Emigran­tIn­nenverei­nigungen fu­sionieren muß­ten, blühte in Bo­livien ein Chaos der Ver­bände, Clubs und Organisa­tionen.
Das politische Spektrum der EmigrantInnenorganisationen läßt sich grob in drei Richtungen ein­teilen. Die älte­ste von ih­nen war auch zugleich die kleinste, die aber zeitweilig lautstark auf­trat: die Stras­ser-Bewegung. Be­reits 1934 war ein Netz von Or­ganisationen in fast allen latein­amerikani­schen Staaten nach­weisbar, geführt von einem “Kampfleiter” mit Sitz in Pa­raguay. In Buenos Aires er­schien ab 1935 das Zentralorgan der Be­wegung “Die Schwarze Front”. Leser des Blattes und Mit­glieder der gleichnamigen Or­ganisation waren größtenteils dis­sidente Nazis sowie antinazi­stische, aber gleichwohl rechts­extreme Kreise – Auslandsdeut­sche wie auch EmigrantIn­nen.
Zu den bedeutenden politi­schen Stimmen des deutschen Exils in Lateinamerika ge­hörten Zeitschrift und Bewe­gung “Das An­dere Deutsch­land”. 1938 aus ei­nem gleich­namigen Hilfsko­mi­tee in Bu­enos Aires hervorge­gan­gen, wurde die Zeitung bald das führende Organ einer zu­nächst breiten linken und de­mokratischen Leserschaft. Erst infolge der Kontroversen um den Hitler-Stalin-Pakt schieden die KPD-Anhänger aus und gründe­ten ihre eigene Zeitschrift “Das Volksblatt”. Unter der Schrift­leitung des Gründers und Her­ausgebers August Siemsen ver­einigten sich im “Anderen Deutsch­land” in immer stärke­rem Maße SozialdemokratInnen und VertreterInnen anderer nicht-kommunistischer linker Grup­pen. Aus Lesezirkeln ent­stan­den in mehreren Län­dern La­tein­amerikas kleinere Grup­pie­rungen und Vereini­gungen, die in loser organi­satorischer Ver­bin­dung zur Zentrale in Bue­nos Ai­res standen und im we­sent­lichen nur durch die Zeit­schrift zu­sammengehalten wur­den. Die­se lockere Orga­nisations­form hat­te den Nachteil, daß die Be­we­gung “Das Andere Deutsch­land” in nur einge­schränktem Maße eine regel­mäßige Ver­bands­arbeit lei­sten konnte; sie hat­te den Vor­teil, daß sie nicht von politisch dissi­denten Emi­gran­tInnengrup­pen un­ter­wandert und um­funktioniert werden konn­te. Ihre Schwer­punkte hatte die Bewegung im südlichen La­tein­amerika, also in Argenti­nien, Uru­guay, Chile, Brasi­lien, Para­guay und Boli­vien. Doch gelang dem “Anderen Deutschland” nicht, über einen längeren Zeit­raum eine Mehrheit der politisch den­kenden deut­schen Emigran­tIn­nen zu verei­nen.

Der große Konkurrent der Bewegung “Das Andere Deutschland” war die Bewe­gung “Freies Deutschland”, die mit Blick auf die Namensähnlichkeit nicht mit Stras­sers “Frei-Deutschland-Be­wegung” ver­wech­selt werden darf. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt hatten sich in mehreren lateinamerikanischen Staaten die politischen Emi­grantInnengruppen gespalten, wo­bei die der KPD angehö­renden oder nahestehenden Mit­glieder in der Regel eigene Gruppierun­gen bildeten. Diese Spaltun­gen blieben, auch als mit dem Überfall auf die So­wjetunion ihr äußerer Grund ent­fallen war. Die Gruppierungen wa­ren auf die Sammlung eines möglichst breiten politischen Spektrums angelegt und ver­einigten in sich auch bürgerli­che, christliche, konservative, ja so­gar monarchistische EmigrantIn­nen. Ihre Pro­grammatik und Phraseologie war verschwom­men antifa­schistisch und ließ zahllose Interpretationen zu, je­doch blieben die Schlüssel­positio­nen fest in den Händen von KPD-FunktionärIn­nen. In Mexiko, wo sich 1941/42 eine meist aus dem besetzten Frank­reich geflüchtete relativ starke Gruppe kommunistischer Schrift­stellerInnen und Funktio­närInnen niedergelas­sen hatte und wo sich mit ei­ner kleinen Ausnahme keine anderen deut­schen Exil-Orga­nisationen bil­deten, wurde im November 1941 die Zeit­schrift “Freies Deutsch­land” gegründet. Um dieses poli­tisch-literarische Blatt scharte sich bald eine gleichna­mige Ver­einigung mit Ablegern in ande­ren Ländern. Im Mai 1943, vier Monate nach dem Kongreß des “Anderen Deutschland” in Mon­tevideo, wurde unter Führ­ung der mexikanischen Emi­grant­Innen­organisation das KPD-ge­lenkte “Latein­ameri­ka­ni­sche Komitee Freies Deutsch­land” gegründet, dem in der Folge­zeit kleinere Organisatio­nen beitra­ten. Man hatte Hein­rich Mann für das Amt des Ehren­präsidenten und für den Vor­stand Hubertus Prinzen zu Löwenstein und den konser­vativen böh­misch-österreichi­schen Schrift­steller Karl v. Lu­stig-Prean ge­wonnen, aber die tatsächliche Leitung hatte Lud­wig Renn als amtie­render Präsi­dent, Anna Seg­hers sowie der KPD-Funktio­när Paul Mer­ker als General­sekretär. Der Name des Ko­mitees und andere Indizien ver­weisen auf die Be­wegung “Freies Deutschland” in euro­päischen Exil­ländern sowie auf das gleich­na­mige Natio­nalkomitee in Mos­kau und lassen es als In­strument der damaligen sowjeti­schen Deutsch­land-Poli­tik erschei­nen.

In Kuba, Ecuador und den kleineren mittelamerikani­schen und karibischen Repu­bliken nahm die Bewegung “Freies Deutschland” bald eine dominie­rende Stellung ein, in Brasilien, Argentinien, Bolivien, Uruguay und Chile machte sie dem “Anderen Deutschland” Konkur­renz. In Uruguay und Chile fusionier­ten die beiden Bewe­gungen, in Chile aufgrund staat­lichen Drucks, in Uruguay auf frei­williger Basis. Insgesamt wa­ren die “Freien Deutschen” er­folgreicher in der Ausdehnung ihrer Bewegung, allerdings dür­fen Vereinsattrappen und Brief­kastenorganisationen vor allem in einigen mittelameri­kanischen Staaten nicht über ihre tatsächli­che Stärke hin­wegtäuschen. Die Bewegung verlor an Einfluß, als sie ge­gen Kriegsende kritiklos die sowjetischen Konzeptionen für Nachkriegsdeutschland über­nahm und beispielsweise die Abtretung der deutschen Ostge­biete befürwortete, was bei allen anderen EmigrantInnenorga­nisa­tionen auf heftig­sten Wider­spruch stieß. 1946 lößte sich das lateinamerika­nische Komitee “Freies Deutschland” auf. Neben die­sen überregiona­len po­litischen Bewegungen gab es noch Zusammenschlüsse von Emi­grantInnen, die sich auf ein­zelne Länder oder Städte be­schränkten und sich auch nicht einer der genannten Or­ganisationen zuordnen ließen.
Politische Aktivitäten im Exil
Neben den Aktivitäten in den politischen Organisatio­nen deut­scher EmigrantInnen gab es noch weitere Betäti­gungsfelder, die sich mit den Vereinigungen nicht völlig deckten und in denen auch nicht organisierte Hitler-Geg­nerInnen aktiv werden konn­ten. Dazu gehörte der Kampf gegen die sogenannte Fünfte Kolonne. Das Dritte Reich hatte mit gerin­gem propagan­distischem Auf­wand einen großen Teil der in Lateiname­rika ansässigen Volks- und Auslandsdeutschen gleich­ge­schaltet. Fast überall gab es NS-Organisationen, die das aus­landsdeutsche Vereinsleben so­wie Schulen und Presse be­herrschten und durch Hetz­propaganda und teilweise auch durch Gewaltakte die Emigran­tInnen drangsalierten. Hinzu kam, daß die diploma­tischen und konsularischen Missionen die EmigrantInnen ob­servierten und zu diesem Zweck meistens ortskun­dige auslandsdeutsche Spitzel mo­bilisierten. In einigen Län­dern, so etwa in Argentinien und Bolivien, verfügten sie durch Unterstützung einhei­mischer Nazi-SympathisantInnen in Poli­zei, Militär und Wirtschaft über einigen Ein­fluß. Es lag da­her im ureige­nen Interesse der EmigrantIn­nen, sich gegen diese Bedro­hung zur Wehr zu setzen und die einheimischen Regie­rung durch Sprach- und Sach­kenntnisse und andere Mittel zu unterstützen. Nach Ab­bruch der diplomatischen Beziehungen zwi­schen dem Dritten Reich und den meisten lateinamerikani­schen Staaten wurden die mei­sten NS-Organisatio­nen ver­bo­ten. In einigen Ländern al­ler­dings hatte es nie eine nen­nens­werte Fünfte Kolonne ge­geben.
Ein weiteres Aufgabenge­biet, an dem sich auch nicht­organisierte EmigrantInnen be­teiligten, waren Nach­kriegs­kon­zeptionen für Deutsch­land. Ei­ni­ge der inter­essantesten Über­le­gun­gen stam­men vom früheren li­be­ralen Reichsinnen- und -ju­stiz­minister Erich Koch-We­ser, der im brasi­lianischen Bundes­staat Paraná sein Asyl gefunden hat­te. Die der Be­wegung “Freies Deutschland” nahestehenden Emi­grant­Innen äußerten sich nur sehr allge­mein über Ver­fas­sungs­fragen und wollten ne­ben recht ver­schwommenen For­de­run­gen nach Ausrottung von Na­zis­mus und Antisemitismus die kon­krete Gestaltung Deutsch­lands den Alliierten überlassen. Ver­breitet war eine anti­ka­pi­ta­li­sti­sche Grundstim­mung und die Ab­sicht, mit einer weitgehenden So­zia­li­sierung auch die ge­sell­schaft­lichen Ursa­chen an­tidemo­kra­tischer Ent­wicklung zu besei­ti­gen. Die mei­sten Konzep­tionen hiel­ten am Na­tionalstaat fest, plä­dierten aber für eine Aus­söh­nung der ehemaligen Kriegs­gegner und für einen losen Ver­bund der eu­ropäischen Staa­ten. In den Be­reich der politi­schen Akti­vitäten gehören auch größ­tenteils die kulturellen Lei­stungen der deut­schen Emi­grantInnen, da sie auch dort, wo sie inhaltlich nicht unmit­telbar politische Fragen an­sprachen, indirekt darauf eingin­gen. Das war deutlich in der Presse und in den von ei­nigen Emigrant­Innen­or­ganisationen regelmäßig ge­stal­teten Rund­funksendungen der Fall, vor al­lem aber in den von Or­ga­ni­satio­nen unabhän­gi­gen Zeit­schriften und Ver­lagen. Zu er­wähnen ist hier vor allem die in Santiago de Chile heraus­ge­ge­be­ne, auch in Nord­amerika und Eu­ropa ge­lesene Monatsschrift Deut­sche Blätter, deren hohes Ni­veau und solide Aufmachung von allen po­litischen Richtun­gen res­pek­tiert wurde.
Emigration nach 1945
Mit der Niederlage des Drit­ten Reiches endeten we­der Exil noch Folgeprobleme der Emi­gration, vielmehr tauchten neue Probleme auf. Die Frage nach der Rückkehr ließ sich von Emi­grantInnen in keinem einzigen Falle leicht beantworten. Viele jü­dische EmigrantInnen hatten mit Deutschland gebrochen und somit kein Interesse mehr an ei­ner Rückkehr. Sie hatten in La­tein­amerika Wurzeln ge­schlagen oder aber bemühten sich um eine Wei­terwande­rung nach Palä­stina/Israel oder in die USA. Die Faustre­gel, derzufolge politische EmigrantInnen im allgemeinen zu­rückkehren wollten, die jüdi­schen EmigrantInnen aber nicht, gilt tendenziell auch für Latein­ame­rika, wenngleich hier stark differenziert werden muß. Aus den Jahren 1945-1949 sind etli­che Anfragen an den SPD-Vor­sitzenden Kurt Schumacher er­halten, ob man als Jude inzwi­schen wieder nach Deutsch­land zu­rückkeh­ren dürfe. Und umge­kehrt ent­schlossen sich manche der politischen EmigrantInnen, dort wo ihre Kin­der und teil­weise auch sie selbst heimisch geworden waren, zu bleiben. Hinzu kamen objek­tive Schwie­rigkeiten, zu denen einmal die Reisekosten und zum andern Einreisesperren der Alli­ierten gehörten. Am leichtesten hatten es Kommu­nisten, die – so­fern sie ge­braucht wurden – mit sowjeti­scher Hilfe in die Sowje­tische Besatzungszone zurück­kehren konnten. Andere betraten erst 1948/49 wieder deutschen Boden oder kehrten sogar erst in den 60er Jahren aufgrund be­stimmter politischer Ereig­nisse zurück – so Boris Gol­denberg aus dem in­zwischen kommuni­stisch gewor­denen Kuba. Für viele, die sich zum Bleiben ent­schlossen, war es aber eine un­angenehme ワber­raschung, daß nach 1945 eine gewisse “Emi­gration” ehema­liger NS-Funk­tionäre nach La­teinamerika einsetzte. De­ren Vertreter – wie beispiels­weise Eichmann oder Men­gele – woll­ten unter anderem Namen unter­tauchen und teil­weise aber auch mit Hilfe ein­heimischer Ge­sin­nungs­freunde ih­re un­rühmlichen Ak­tivitäten fortset­zen.
In den Jahren 1946-1949 lö­sten sich aber die meisten der po­li­tischen Organisatio­nen auf. Un­ter­schiedliche Auffassungen über die Zu­kunft Deutschlands und voll­ends der Kalte Krieg ent­zo­gen ihnen die gemeinsame Platt­form. Bemerkenswert ist, daß sich in drei Ländern – Me­xiko, Bra­silien und Bolivien – Nach­fol­georganisationen als so­zi­al­de­mo­kratische Landesver­bän­de konstituierten, nach­dem während der NS-Zeit die SPD als Par­tei oder als parteina­her Ver­band im lateinamerikani­schen Exil über­haupt nicht existiert hatte. Diese Organisa­tionen be­mühten sich einerseits um mate­rielle Hilfe für ihre aus­geblutete frühere Heimat, und veranstal­teten – wenigstens im Falle Bra­siliens – Sammlun­gen. Sie be­kämpften nach wie vor re­aktionäre Strömungen un­ter den Auslandsdeutschen und attackierten teilweise heftig die jun­ge Bundesrepu­blik, weil sie die diplomati­schen und kon­su­la­ri­schen Missionen in Lateiname­rika hauptsächlich mit erzkonser­vativem Personal be­setzte.
Lateinamerika hat die deut­sche Literatur in vielfältiger Weise beeinflußt. Ludwig Renn und Hilde Domin haben in ihren Memoiren ihr mexi­kanisches bzw. dominikani­sches Exil aus­führlich be­schrieben; Anna Seg­hers griff gelegentlich latein­amerikani­sche Motive auf; Egon Erwin Kisch veröffent­lichte noch in Mexiko eine bril­lant geschrie­bene Sammlung mit Episoden aus der mexikanischen Ge­schich­te und Paul Zech gab In­dianermärchen aus dem Chaco heraus, die sich aber nachträglich offensichtlich als seine Erfin­dung herausstell­ten. Manche EmigrantInnen vermittelten auf andere Weise den Deutschen ein differen­ziertes Lateinamerika-Bild, entweder durch Sachbücher über ihr jeweiliges Exilland oder durch Presseberichte. Erwähnt sei hier der langjäh­rige Süd­amerikakorrespon­dent der Frank­furter Rund­schau in Mon­tevideo, Her­mann P. Gebhardt. Aus den Reihen ehemaliger EmigrantIn­nen sind aber auch be­deutende Wis­sen­schaftlerInnen und Ver­tre­terInnen des öffentli­chen Le­bens in ihren Exilländern her­vor­ge­gangen. Der gegensei­tige Kul­tur­trans­fer bildet viel­leicht den er­freulichsten Aspekt des Exils, das mit Verfolgung und Flucht so leidvoll begonnen hatte.

Die schwierige Flucht

Ihre beruf­lichen Qualifikatio­nen stellten sich für die jüdi­schen Flüchtlinge als großes Hin­dernis heraus. Der Auf­bau einer neuen Existenz in vielen Ein­wanderungslän­dern konnte nur unter be­stimmten be­ruflichen Vor­aussetzungen ge­lingen, in man­chen Staaten fanden nur ge­wis­se Berufsgrup­pen Einlaß.
Aber auch die Politik zahl­reicher überseeischer Län­der, die im 19. und begin­nenden 20. Jahr­hundert die Einwanderung in dem Be­streben zu forcieren ver­sucht hatten, ihre gewalti­gen Ge­biete zu erschließen und zu be­völkern, gehörte der Vergangen­heit an. Die besondere Tragik für die Juden lag darin, daß die na­tionalsozialistische Ver­folgung in eine Zeit fiel, in der die Auswanderungs­möglichkeiten we­gen der Weltwirtschafts­krise so ge­ring waren wie niemals zu­vor.
Bizarre Listen, bitterer Ernst
Besonders die USA, die bri­tischen Dominions und Latein­amerika waren durch den Zu­sam­menbruch der Agrar- und Roh­stoff­preise schwer getroffen worden und suchten, jede neue Einwanderung abzu­wehren bzw. nur unter be­stimmten Vorausset­zun­gen zuzulassen. So be­schränk­te sich einem Infor­ma­tions­blatt der jüdischen Aus­wan­de­rungsberatungsstelle in Berlin zufolge das Ange­bot im Sommer 1938 auf nur wenige ausge­fal­le­ne Möglichkeiten: ge­sucht wur­de für Pa­raguay ein perfek­ter, selb­ständiger Bonbon­kocher und für San Salvador ein un­ver­heirateter, jü­discher In­genieur für den Bau elek­trischer Ma­schinen. Die Li­ste, die noch weitere ähnlich bi­zar­re of­fene Stel­len in Afrika und den Bri­tish Dominions nennt, könnte einem Sketch ent­nom­men sein, war aber bitterer Ernst.1
Die Entscheidung für ein Auswande­rungsland hing von vielen Faktoren ab. Zunächst galt es sich eine Art “Auswanderer-Dia­lekt” anzueignen. Begriffe wie “Chamada” (Visum­voraus­set­zung für Brasi­lien), “Leu­munds­zeugnis”, “Unbe­denk­lich­keits­erklärung”, “Bord­geld” und “Ge­sundheits­attest” be­stimmten den Alltag, die Reise in ferne Län­der wurde erwogen, deren La­ge erst mühsam auf dem Glo­bus eruiert werden mußte.
Papiere entscheiden
über Leben und Tod
Die Wahl eines Aus­wan­de­rungs­lan­des und der Besitz der ent­sprechen­den Un­terlagen sollte sich bald als eine Frage von Le­ben und Tod erwei­sen. Nachdem sich ein Staat nach dem anderen der Aufnahme von Juden aus Deutschland ver­schlossen hatte, wurde die Suche nach einem auf­nah­me­be­reiten Einwande­rungs­land zu einer Art “Gesell­schafts­spiel”, wie die Berlinerin Inge Deutsch­kron be­richtet: “Viel­leicht könnte man hierhin oder auch dorthin … Und die Finger wan­derten unru­hig auf der Land­karte hin und her. Oder: ‘Was ist eigent­lich mit Para­guay?’ ‘Hast du schon Neusee­land pro­biert?’ ‘Ich habe gehört, daß der X ein Vi­sum für Panama bekommen hat.’ ‘Zehntausend Mark soll ein Visum nach Vene­zuela ko­sten’…”2
Tatsächlich zahlten manche Unsummen für ein Visum. Im­mer wie­der fielen die verzweifelt nach einer Auswanderungs­mög­lich­keit su­chenden Juden auf zwie­lichtige Geschäftemacher he­rein. Nicht selten stellte sich nach wochen- oder monatelanger Fahrt bei der Ankunft im neuen Land heraus, daß es sich um ge­fälsch­te, un­autorisierte oder be­reits abgelau­fene Visa han­del­te. Oft war es nur durch Über­re­dungs­kunst und durch die Hilfe von jüdischen Organisationen vor Ort möglich, doch noch ein­zu­reisen, aber manche wurden auch zurückge­schickt, wie die Ge­schichte der St. Louis und der Ver­such der Passagiere, in Kuba an Land zu gehen, zeigt (vgl. den folgenden Artikel).
Obwohl die Emigration nach Süd­amerika bereits 1933 einge­setzt hatte, war ihr Anteil an der ge­samten Auswanderung an­fangs eher unbe­deutend. Insbe­son­dere we­gen der Sprachpro­ble­me blieb die Emigration dorthin lange Zeit nur zweite Wahl. Als sich die Lage in Eu­ropa allmählich zuzuspitzen be­gann, wurden ins­besondere Ar­gen­tinien und Bra­silien zu be­gehr­ten Auswande­rungszielen. Im­merhin rangierte Brasilien be­reits 1933 nach den Ver­einigten Staaten und Palä­stina an dritter Stel­le bei den Aufnahmeländern. Eine interes­sante Tatsache, vor al-lem weil zum damaligen Zeit­punkt die eu­ropäischen Länder noch einen erheb­lichen Teil der Emi­grantIn­nen aufnahmen und Süd­amerika eher exotisch und fern­ab er­schien. Deshalb wurden Län­der wie Ecua­dor, das von al­len latein­amerikanischen
Staa­ten die liberalste Einwanderungs­po­li­tik aufzu­weisen hatte, nur als letzte Hoffnung in Erwägung gezo­gen.3 Als nach der Pogromnacht im No­vember 1938 eine Massen­flucht einsetzte, hatten viele Län­der ihre Einwanderungspolitik neu geregelt und re­striktive Maß­nahmen eingeführt. 1937 ver­schärfte Brasilien die Ein­wan­derungsbestim­mungen dra­stisch, zunächst schien es so­gar, daß bereits eingewanderte Flücht­linge wieder ausgewie­sen wer­den sollten. Auch Argenti­nien, das seit 1935 zum Kreis der wichtigen Auswanderungs­länder ge­hörte, schränkte die Einwan­de­rungs­möglichkeiten deut­lich ein. Seit den Regierungsdekre­ten vom 28. Juli und 26. August 1938 hing die Aufnahmeerlaub­nis von der Einladung durch na­he Ver­wandte (Llamada) oder von spezieller beruflicher Quali­fi­kation ab. Danach sank die Zahl der Einwande­rerInnen ste­tig und er­reichte nach Beginn des Zweiten Weltkriegs den Nullpunkt. Auch in Uru­guay und Para­guay ver­schlechterte sich, vor allem durch die deso­late Wirt­schafts­lage, die Situa­tion seit 1937. Hinge­gen trat Kolum­bien 1937/38 mehr in den Vor­der­grund. Eine grö­ßere An­zahl Emi­gran­tInnen aus Deutschland fand in jener Zeit Zu­flucht in den klima­tisch gün­stigeren mittleren und höheren Lagen des Landes.
ワberleben in Avivgdor
Viele dieser EmigrantIn­nen wur­den in der Land­wirtschaft be­schäf­tigt. Daß es gerade hier noch einen Bedarf an Arbeits­kräf­ten gab, nutzten Organsatio­nen wie die 1891 als Auswan­derer- und Fürsor­gegesellschaft gegründet Jewish Colonisa­tion Asso­ciation (ICA) für Gruppen­aus­wanderun­gen. Die ICA ver­fügte über Ackerbauko­lonien in den Verei­nigten Staa­ten, Ka­nada, Argentinien und Bra­silien. So umfaßte etwa das Sied­lungsgebiet der ICA in Ar­gentinien ein Areal von 600.000 Hektar. 1936 hatte sie dort eine erste Grup­pe von 19 jü­dischen Fa­milien aus Deutschland in ih­rer Ko­lonie Avivgdor (Entre Rios) an­gesiedelt. Die Zeit­schrift “Jü­di­sche Wohl­fahrtspflege und So­zial­poli­tik” berich­tete dar­über: “Zum Zweck der An­siedlung er­hält jeder Kolo­nist von der ICA soviel Land zuge­wiesen, daß er bei dessen persön­licher Bear­beitung für sich und seine Fami­lie ein normales Aus­kommen hat und das Land im Verlauf einer Reihe von Jahren abzahlen kann. Es ist je nach Lage der Kolonie zehn bis hun­dert Hektar groß. Für jede Fami­lie wird auf dem ihr zugewie­senen Felde ein Haus aus zwei Zimmern und Küche gebaut. Sie ent­hält ferner die zur Be­wirtschaftung notwendige An­zahl von Pferden, Kühen und Acker­geräten und wird von land­wirt­schaft­lichen Experten wäh­rend der er­sten Zeit ihres Auf­ent­haltes zur Arbeit angesie­delt …
Die­se Kolonie ist im 32. Grad süd­licher Breite gele­gen, ihr Kli­ma ist gesund und für Eu­ropäer gut er­träglich … Jede Siedlung ist umzäunt und besitzt fol­gende An­lagen: 1 Haus, be­stehend aus 2 Zimmern und Kü­che mit not­wendig­ster Einrich­tung (1 Tisch, 4 Stühle, 4 Betten, 1 Schrank, 1 Herd und et­was Ge­schirr), eine of­fene Scheune, einen Hüh­ner­stall, ein Klosett und eine Dusch­vorrichtung. Ein Brun­nen wird im­mer gemeinsam für 2 oder 4 Sied­lungen angelegt. An le­ben­dem In­ventar wird je­der Sied­lungs­familie über­geben: Kü­he, Pferde, Hüh­ner. Eine Zucht­station ist für die Verbesse­rung des Vieh­bestandes vorgese­hen. Das Vieh wird dem Siedler ent­sprechend der Entwick­lung sei­ner Siedlung zuge­teilt. An Ma­schinen und Geräten erhält jede Sied­lungsfamilie 1 Wagen, 1 Pflug, 1 Egge, Milcheimer, Schau­feln, Hacke usw.”4 Die An­siedlung jü­discher Familien auf den ICA-Ko­lonien in Ar­gen­ti­nien blieb – neben der nach Pa­lästina – die wichtigste Form der Grup­pen­aus­wan­derung.
Ähnliche Organisationen wur­den in Brasilien tätig: Sie leiste­ten Bürgschaften, die ga­rantieren sollten, daß die Einwande­rerInnen nicht der Für­sorge zur Last fielen, und zahlten die gefor­derte Landungsgarantie­summe, in Höhe von rund 700 RM pro Per­son. Nach Uruguay konn­ten auf diese Weise mit ei­ner Ausnahmegeneh­migung des Prä­siden­ten 50 Bauernfamilien und einige land­wirtschaftliche Ar­beiter einwandern. Auch Chile nahm durch die Interven­tion ei­ner amerikanischen Hilfsorgani­sation 50 Fami­lien auf, Bedin­gung war, daß sie mit 4.000 RM aus­gestattet wurden.
Die schwierige Integration
Die südamerikanischen Län­der wurden seit 1936, besonders duch die indivi­duelle Immigra­tion, neben den USA und Palä­stina zu den bevorzugten Flucht­zie­len. Die schwierigen Le­bens­be­dingungen, das Klima und die Be­schäfti­gungssituation veran­laßten jedoch viele, später, als sich die Möglichkeiten boten, in die USA weiterzuwandern. Die kli­matischen Bedingun­gen waren zwar in Palästina ähnlich schlecht, aber dort versetzte der Wille, einen jüdischen Staat auf­zubauen, Berge. Die Arbeitssu­che war über­all, auch in den USA, kompliziert, aber in Süd­amerika war die Kluft zwischen den Einheimi­schen und den Zuwande­rerInnen besonders schwer zu überbrücken.
Die Emi­grantInnen wurden von der ansässi­gen Bevölkerung als Gringos – Weiße – angese­hen, die eigent­lich der Oberklasse an­gehören müßten. Sie verrichteten aber niedere Arbeiten, wa­ren in der Landwirtschaft tätig, eine Tatsache, die nicht in das Erscheinungs­bild passen wollte. Kon­flikte konnten nicht aus­blei­ben, eine Integration war kaum möglich, weder in die Gruppe der Indí­genas und Me­stizInnen noch in jene der “Wei­ßen”. Hin­zu kamen antise­mitische Vor­ur­tei­le, die von den dort lebenden Deutschen, ins­besondere dem Bot­schafts­per­sonal und ande­ren of­fiziellen VertreterIn­nen der NS-Re­gierung, geschürt wurden. So zeigt gerade Südamerika deut­lich, daß die Emigration, die Rettung vor der Verfol­gung, nicht gleichbedeu­tend war mit einer sicheren Existenz und ge­re­gel­ten Lebensumständen. Für die mei­sten be­deutete die Aus­wan­de­rung einen völligen Neu­an­fang, einen gänzlich verän­derten Kulturkreis und zumeist einen ge­sell­schaftlichen Abstieg mit all sei­nen Konsequenzen, insbeson­de­re dem Verlust eines per­sön­li­chen Umfelds, das dem eigenen so­zialen Niveau ent­sprach.

1 Walter Laqueur, Heimkehr. Reisen in die Vergangenheit, Berlin 1964, S. 53.
2 Inge Deutschkron, Ich trug den gelben Stern, Köln 1978, S. 46.
3 Marie-Luise Kreuter, Wo liegt Ecuador? Exil in einem unbekannten Land 1933-1945, Diss. Ms. Berlin 1995, S. IX
4 Jüdische Wohlfahrtspflege und So­zialpolitik, April 1936, S. 138f, Die Bedingungen der ICA-Kolonisation in Argenti­nien.

Im Sog der Integrationswelle

WirtschaftswissenschaftlerInnen be­kom­men bei Begriffen wie Freihandels­zone, Zoll­union oder gar Ge­mein­samer Markt feu­chte Augen. Wach­sende Märkte ohne Gren­zen bedeuten stei­genden Han­del, er­höhte Binnennachfrage und intensi­vierte In­ves­titionstätigkeit, Pro­dukt­ivitätsge­winne und freien Kapital- und Personen­verkehr. Soviel zur Theorie.
Die Europäische Union (EU) hat vorge­führt, wie ein Zusammenschluß funktio­niert: Zunächst wird eine Freihandelszone ver­einbart, innerhalb der die Zölle schritt­weise abgebaut werden. Dann folgt der Über­gang zu einer Zollunion mit ge­meinsamem Außenzoll und immer mal wieder werden ein paar neue Mitglieder auf­genommen. Schließlich versucht mensch sich am Gemeinsamen Markt, also der makroökonomischen Koordinie­rung und Harmonisierung des Personen-, Ka­pi­tal-, Güter- und Technologieverkehrs und stößt dabei auf Grenzen, wie die Rück­schläge bei der angestrebten Wäh­rungs­union zeigen.
Der Trend des Sich-Zusammenschließ­ens ist also nicht neu; wohl aber hat er sich seit Anfang der 90er Jahre weltweit enorm verstärkt. Nach der jahrzehntelan­gen Binnenorientierung, die mit der Zah­lungs­unfähigkeit Mexikos 1982 ein ab­ruptes Ende nahm, kann sich auch Lateinamerika der zunehmenden Block­bildung nicht mehr entziehen, wenn es auf dem Weltmarkt bestehen will. Einzelne Länder erweisen sich gegenüber den Ko­lossen in Europa, Asien und Nordamerika als Peanuts, deren Handlungsfähigkeit und Beeinflussungsmöglichkeiten des Welt­marktes ständig weiter sinken.
Von den vielen subregionalen Freihan­delszonen, die sich im Laufe der letzten 30 Jahre in Lateinamerika gebildet haben, heben sich die beiden jüngsten – MER­COSUR und NAFTA – durch ihre Größe und das Tempo hervor, mit dem sie in Kraft traten: Der MERCOSUR hat bereits den Sprung zur Zollunion zumindest ein­beinig vollbracht.
Appetithappen Uruguay
Der MERCOSUR besteht aus äußerst ungleichen Ländern, was sich sowohl auf die geographische als auch auf die wirt­schaftliche Größe bezieht.
Brasilien dominiert den MERCOSUR wirtschaftlich und ist gleichzeitig auch das von diesem Markt unabhängigste Land, da es nur jeweils 14 Prozent seiner Ex- und Importe mit den Nachbarländern abwik­kelt. Diese Dominanz drückt sich vor al­lem in einem wettbewerbs- und damit ex­portfähigen Industriesektor, insbesondere dem Kraftfahrzeug- und Maschinenbau, aus. Brasilien hat daher seit Einrichtung der Freihandelszone 1991 am meisten pro­fitiert, indem es seine Exporte um knapp 130 Prozent steigern konnte. Seit Cardosos Wahl redet auch niemand mehr von der Instabilität des Landes in Sachen Währung und Inflation. Auch die von Mexiko ausgehende Finanzkrise wird das Land aufgrund seiner exportorientierten Technologiesektoren nicht so schwer tref­fen wie den Partner Argentinien. Brasilien ist der unangefochtene Motor des Integra­tionsprojektes MERCOSUR. Wie auch im Falle Deutschlands in der EU zeigt sich, daß das dominante Land die positivsten wirtschaftlichen Effekte aus fortschreiten­den Wirtschaftszusammenschlüssen für sich verbuchen kann.
Argentinien folgt Brasilien mit weitem Abstand, trotz des angegebenen höchsten Pro-Kopf-Einkommens. Während Brasi­lien hauptsächlich kapitalintensive Indu­st­riegüter nach Argentinien exportiert, be­wegen sich die Exporte in die andere Rich­tung vorwiegend im traditionellen Be­reich der Rohstoffe und der wenig ver­ar­beiteten Produkte. Das Land muß nach der derzeitigen mexikanischen Finanz­krise am stärksten mit dem Übergreifen die­ser Krise, dem sogenannten “Tequila-Effekt”, rechnen. Schließlich gilt Argenti­nien als Abwertungs- und Krisenkandidat Num­mer eins. Jahrelanges Festhalten am per Gesetz festgelegten 1:1-Wechselkurs zum US-Dollar haben zu einer starken Über­bewertung des Pesos geführt, da die Inflationsraten der beiden Länder weit auseinander liegen. Durch hohe Zinsen wur­den massiv Kapitalanlagen aus dem Ausland angezogen – allerdings nur kurz­fristige. Für Investitionen sind jedoch mittel- und langfristige Kredite erforder­lich, für deren Vergabe die Banken wie­derum mittel- und langfristige Einlagen von KapitalanlegerInnen benötigen. So wurde Argentinien die letzten vier Jahre stabilisiert, ohne daß starke Produktivitäts­steigerungen durch Investitionen ereicht wurden. Die Verbesserung der Wettbe­werbsfähigkeit ist zu kurz gekommen, das Handelsbilanzdefizit gestiegen. Sollte es noch vor oder kurz nach dem Ende der Amtszeit Menems zu einer Abwertung kommen, die auf bis zu 45 Prozent ge­schätzt wird, so wäre kurzfristig mit einer weiteren Verschlechterung der Handels­bilanz zu rechnen, da inbesondere Großunternehmen, die hohe Importrechnungen zu begleichen haben, in arge Zahlungs­schwierigkeiten geraten würden.
Die Einbeziehung Uruguays und Para­guays hat rein strategische Gründe. Böse Zungen behaupten, Paraguay sei nur in den MERCOSUR gekommen, weil es über genügend Wasser für die Stromver­sorgung der Nachbarländer verfügt (vgl. hierzu den Paraguay-Artikel über den Yasyretá-Staudamm in diesem Heft). Uruguay liegt als kleiner Sandwichhappen zwischen Brasilien und Argentinien. Wäh­rend in vielen Ländern der Kauf eines di­rekt am Heimatland liegenden Grund­stückes durch AusländerInnen verboten ist, ist in Uruguay der Nordosten des Lan­des mittlerweile sozusagen eine Provinz von Südbrasilien geworden: Brasiliani­sche UnternehmerInnen beschäftigen bra­silianische ArbeitnehmerInnen.
Als Trostpflaster und zur Beruhigung der Uruguayos ist in Montevideo das ständige Sekretariat des MERCOSUR eingerichtet worden, durch welches die weitere Integration koordiniert werden soll.
Die beiden kleinen Länder haben Angst davor, von den großen – zumindest wirt­schaftlich – geschluckt zu werden, können sich aber gleichzeitig nicht alleine auf dem Weltmarkt behaupten und sind daher auf eine Integration angewiesen. Sowohl Paraguay als auch Uruguay sind extrem ab­hängig von ihren Nachbarländern: Für Uruguay liegt die Exportquote in die MERCOSUR-Länder bei 42 Prozent, die Importe bei 56 Prozent, für Paraguay nur unwesentlich darunter. Beide Staaten ver­suchen, den Integrationsprozeß so weit wie möglich zu bremsen, ohne tatsächlich hin­ausgeworfen zu werden. Ihre Anpas­sungslast an zunehmende Konkurrenz soll durch Ausnahmeregelungen und Kompen­sationsmechanismen verringert werden. Viele der Ausnahmen der verkappten Zollunion, für die noch kein gemeinsamer Nenner gefunden werden konnte und die bis zum Jahre 2006 beseitigt sein sollen, beruhen auf paraguayischen und uru­guayischen Einwänden.
Die Ungleichgewichte werden sich in ab­sehbarer Zeit kaum abbauen lassen. Selbst in der EU, die über einen Regional­fonds als Kompensationsinstrument ver­fügt, kann von einer merklichen Anglei­chung kaum die Rede sein: Portugal und Grie­chen­land bilden weiterhin die Schluß­lich­ter der Gemeinschaft, und auch die üb­rigen “rückständigen” Regionen kom­men durch die Fondszahlungen kaum an die “fortschrittlichen” heran.
Gewissensfrage: NAFTA oder MER­COSUR?
Trotz der Schwierigkeiten bei der Ver­wirklichung der Zollunion, haben sich be­reits weitere Kandidaten für den Beitritt aus­gesprochen. Bolivien hat Interesse an einer Aufnahme angemeldet – in der Re­gion um Santa Cruz haben sich immer mehr bra­silianische Unternehmen an­ge­sie­delt und sind zu einem wichtigen Faktor der bo­livianischen Wirtschaft geworden -, even­tuell wollen auch Kolumbien und Vene­zuela beitreten. Chile ist grundsätz­lich interessiert, hat aber seinen Spagat zwi­schen NAFTA und MERCOSUR durch die Verhand­lungsaufnahme mit der NAFTA seit kurzem sogar noch vergrö­ßert.
Hat der MERCOSUR Chancen gegen die NAFTA? Das US-Angebot des NAFTA-Beitritts könnte auf der einen Seite gerade durch die Mexiko-Krise für andere Länder attraktiv werden: massive Zah­lungen des reichen Partners im Nor­den sollen ein komplettes Ausscheren Mexi­kos verhindern. Innerhalb des MER­COSURS verfügt kein Land über aus­reichende Möglichkeiten, die Krise ei­nes anderen aufzufangen: Brasilien steht noch am Anfang einer Stabilitätsphase und Ar­gentinien am Ende. Beide Länder wer­den sich hüten, kriselnde MERCOSUR-Mit­glieder durch Stüt­zung­s­käufe zu retten.
Auf der anderen Seite zeigt die Mexi­ko­krise, wie schwierig eine Integration selbst für ein im lateinamerikanischen Raum wirtschaftlich so fortschrittliches Land wie Mexiko sein kann. Eine großa­meri­kanische Gemeinschaft rückt erst einmal in weite Ferne; wer sich der NAFTA anschließt, muß sich auf eine längere Zeit der lockeren Zusammenarbeit einrichten.
Derweil hat sich der MERCOSUR schon einen Schritt weiter gewagt als die NAFTA und will zum Ende der 90er Jahre eine gewisse Eigenständigkeit vorweisen, mit der er dann geschlossen in Verhand­lun­gen mit anderen Blöcken auftreten kann, beispielsweise eben mit der NAFTA. Ein regionaler Zusammenschluß, der ausnahmsweise nicht unter der Herr­schaft Nordamerikas steht, sondern eine ei­gene Regionalmacht – Brasilien – hat, ist eine nicht zu unterschätzende Option, um den USA nicht nur als Rohstoffversorger und verlängerte Werkbank zu dienen.

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