YPF ist unser!

Jubel und tosender Applaus brachen am Abend des 3. Mai im argentinischen Kongress aus, während außerhalb des Parlamentes Feuerwerkskörper zündeten und Menschenmassen ausgelassen feierten. Grund der Freude war die Verabschiedung des Gesetzes zur Enteignung des spanischen Mineralölkonzerns Repsol, der Anteile von 57,43 Prozent an dem einstigen argentinischen Staatsunternehmen YPF (Yacimientos Petrolíferos Fiscales) hielt. Die argentinische Regierung übernimmt nun 51 Prozent der Repsol-Aktien und damit die Mehrheitseigentümerschaft an YPF.
Repsol ist nicht das erste Unternehmen, das unter der Präsidentschaft von Cristina Fernández de Kirchner enteignet wurde. Im Jahr 2008 löste die Regierung zehn private Pensionsfonds auf und überführte sie in das staatliche Rentensystem. Im selben Jahr enteignete sie die spanische Investorengruppe Marsans, die 95 Prozent der Anteile an dem Luftfahrunternehmen Aerolíneas Argentinas hielt. Doch die Teilverstaatlichung von YPF ist von weit höherer politischer Bedeutung, da es das größte Unternehmen des Landes mit rund 46.000 Beschäftigten ist. 1922 als Staatsunternehmen des Öl- und Gassektors gegründet, wurde YPF in den 1990er Jahren unter der Regierung des rechtsperonistischen Präsidenten Carlos Menem schrittweise privatisiert. 1999 schließlich übernahm Repsol 97,81 Prozent der YPF-Anteile, von denen es später rund 40 Prozent wieder abstieß. Zuletzt übernahm die argentinische Petersen-Gruppe mit Unterstützung der Kirchners zwischen 2007 und 2012 gut 25 Prozent der Anteile.
In Argentinien trifft die Teilverstaatlichung auf große Zustimmung. Drei Viertel der Bevölkerung wie auch große Teile der Opposition unterstützen diese Maßnahme. So stimmten dem Enteignungsgesetz 63 der 72 Senator_innen und 208 der 246 Repräsentant_innen des Abgeordnetenhauses zu. Es ist damit seit 2003, als Cristina Fernández Ehemann Néstor Kirchner die Präsidentschaft übernahm, das Gesetzesvorhaben mit der größten parlamentarischen Zustimmung – ein wichtiger Erfolg des kirchneristischen Flügels der peronistischen Partei (Partido Justicialista), auf den sich der Großteil der Regierungskoalition stützt. Für Verwunderung sorgte Ex-Präsident Carlos Menem, der sich ebenfalls für die Wiederverstaatlichung aussprach: „Der Fehler von Repsol war, dass sie nicht in Argentinien investiert haben. Alle Gewinne haben sie außer Landes geschafft“, begründete der heute 82-jährige Senator seinen Sinneswandel. Doch diese Biegsamkeit ist kein Menemsches Privileg. Auch Fernández und ihr 2010 verstorbener Gatte Néstor Kirchner unterstützten seinerzeit die YPF-Privatisierung – sie als Abgeordnete, er als Gouverneur der Provinz Santa Cruz.
Nun hat der Wind gedreht. Auslöser der Verstaatlichung ist die massive Zunahme der argentinischen Energieimporte, vor allem Erdgas, die die Deviseneinnahmen des Landes schrumpfen lassen. 2011 wies die Handelsbilanz mit Brennstoffen erstmals seit 17 Jahren ein Defizit auf, das dramatisch zu wachsen droht. Allein zwischen 2010 und 2011 verdoppelte sich die Importrechnung für Brennstoffe von 4,5 auf 9,4 Milliarden US-Dollar; 2004 hatte sie noch eine Milliarde US-Dollar betragen. Die Energieimporte fressen einen großen Teil des argentinischen Handelsüberschusses auf, der 2011 rund 10,3 Milliarden US-Dollar erreichte.
Die Regierung macht Repsol als einen Hauptverantwortlichen des Energiemangels aus. Als Mehrheitseigentümer hätten die Spanier_innen YPF eine radikale Politik der Renditesteigerung verordnet, die an der Erschließung neuer Öl- und Gasvorkommen sparte und bewusst die Brennstoffversorgung des Landes verknappte, um Preissteigerungen herbeizuführen. Im Ergebnis sanken YPF’s Öl- und Gasreserven, doch die Gewinne mehrten sich dank der Preisinflation, was üppige Dividenzahlungen an die Aktionäre erlaubte. Nach Regierungsangaben schrumpften YPF’s Ölreserven in den vergangenen zehn Jahren um 50 Prozent, die Gasreserven um 55 Prozent. Dank der „räuberischen Politik“ von Repsol habe YPF über die Jahre zwar erhebliche Gewinne eingefahren, da aber 85 Prozent davon an die Aktionäre flossen, seien Investitionen weitgehend ausgeblieben. Zu allem Überfluss habe das Unternehmen Schulden in Höhe von neun Milliarden US-Dollar angehäuft. Ziel der Regierung ist es nun, den Kapitalabfluss einzudämmen und YPF’s Investitionen in die Öl- und Gasförderung zu erhöhen.
Auf spanischer Seite indes war die Empörung groß. Industrieminister José Manuel Soria bezeichnete die Enteignung als „feindliche Entscheidung, die sich gegen die spanische Regierung richtet“. Antonio Brufau, Präsident von Repsol, drohte, die „absolut illegitime“ Enteignung werde „nicht ungesühnt“ bleiben. Repsols Aktienpaket sei 10,5 Milliarden US-Dollar wert – eine Summe, die der Konzern bei seinen Entschädigungsforderungen zugrunde legen werde. Spaniens Außenminister José Manuel García-Margallo forderte, Argentinien von den Verhandlungen über ein Assoziationsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur (diesem Staatenbund gehören Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay an) auszuschließen.
Auch das Europaparlament gab Spanien Rückendeckung. Konservative, Sozialdemokraten und Liberale brachten eine Resolution ein, die die „einseitige und willkürliche Entscheidung“ Argentiniens geißelte, da diese „einen Angriff auf die Ausübung des freien Unternehmertums“ darstelle. Die EU-Kommission ist aufgefordert, auf Ebene der Welthandelsorganisation und der G20 zu intervenieren. Maßnahmen wie die „teilweise Aussetzung der einseitigen Zollpräferenzen“, die die EU im Rahmen ihres Allgemeinen Präferenzsystems gewährt, sollen geprüft und verabschiedet werden.
Doch faktisch hat Spanien kaum Möglichkeiten, effektiv gegen Repsols Enteignung vorzugehen. Die WTO hat in diesen Fällen keine Kompetenz, und eine einseitige Aussetzung von Handelspräferenzen oder ein Ausschluss Argentiniens von den EU-Mercosur-Verhandlungen wäre nur mit Zustimmung anderer EU-Mitglieder möglich, wofür es derzeit keine Anzeichen gibt. Die einzig realistische Maßnahme, die Repsol im Fall scheiternder Entschädigungsverhandlungen ergreifen könnte, wäre eine Klage vor dem Weltbank-Schiedsgericht für Investitionsstreitigkeiten ICSID – ein Weg, den das bilaterale Investitionsschutzabkommen zwischen Argentinien und Spanien vorsieht. Gleichwohl kann sich Repsol auch in diesem Fall keine großen Hoffnungen machen, denn diese Verfahren sind langwierig und der Erfolg ist mehr als ungewiss. Voraussichtlich wird sich Repsol darauf berufen, dass die Enteignung diskriminierend sei, da die ebenfalls private argentinische Unternehmensgruppe Petersen ihre Anteile behalten darf.
Argentinien ist das mit über 40 Fällen meist beklagte Land vor dem ICSID. In zehn Verfahren erging bisher ein Urteil, vier davon verlor Argentinien. Die in den verlorenen Fällen festgesetzten Entschädigungen belaufen sich auf rund 400 Millionen US-Dollar, doch hat die Regierung bisher in keinem Fall gezahlt. Sie begründet das damit, dass die Kläger die Vollstreckung der Urteile bisher nicht vor argentinischen Gerichten eingefordert hätten. Die Kläger halten dagegen, dass das ICSID doch gerade die nationale Gerichtsbarkeit aushebeln solle.
Was in der argentinischen Öffentlichkeit bisher eine sehr untergeordnete Rolle spielt, ist die soziale und ökologische Dimension der YPF-Verstaatlichung. Lange vor der Privatisierung des Unternehmens setzten sich Bauernhöfe, Viehbetriebe und Indigene gegen den Verlust ihrer Territorien und die erheblichen Umweltschäden durch dessen Öl- und Gasförderung zur Wehr – Kämpfe, die sich bis heute fortsetzen. So etwa in Loma de Lata in der Provinz Neuquen, wo YPF das größte Öl- und Gasfeld Argentiniens ausbeutet. Nachdem die zahlreichen Öllecks Böden und Grundwasser in dem Gebiet der Mapuche-Gemeinschaften Paymenil und Kaxipayin verseucht hatten, stellten Untersuchungen erhebliche Belastungen der Indigenen mit Schwermetallen fest. Mehrere Klagen wurden seither gegen YPF und andere Ölfirmen angestrengt, unter anderem von Mapuche-Gemeinden und von der Vereinigung ASSUPA, die patagonische Kleinbauern, Viehbetriebe und Indigene vertritt. Die von den Klägern geforderten Entschädigungen erreichen Milliardenbeträge.
Die Regierung kündigte nun an, dass auch die Umweltschäden bei der Berechnung einer etwaigen Entschädigung von Repsol berücksichtigt werden sollen. Dies löste jedoch Kritik in den Reihen der Indigenen aus. Die Mapuche-Gemeinschaft Kaxipayin etwa denunzierte „die Scheinheiligkeit der Regierenden“, denn Repsol sei nicht der einzige Schuldige an den Umweltbelastungen. Während die Mapuche gegen diese Zerstörungen ankämpften, hätten Zentral- und Provinzregierungen die extraktivistischen Aktivitäten stets verteidigt. „Das einzige, was wir von YPF und dem Staat erhalten haben, sind Anschuldigungen, Repressionen, Diskriminierung und Ignoranz.“
Die Konföderation der Mapuche von Neuquen kritisiert ferner die Pläne der Regierung, „die Ausbeutung nichtkonventioneller Öl- und Gasquellen mit Hilfe des Fracking durchzuführen“. Tatsächlich besteht die Gefahr, dass diese überaus umweltschädliche Bohrtechnik verstärkt angewendet werden könnte, nachdem YPF und andere Firmen große Vorkommen an Schiefergas entdeckt haben. Beim Fracking (Hydraulic Fracturing) werden große Mengen Wasser, Sand und toxische Chemikalien in Bohrlöcher gepresst, um Risse in öl- oder gashaltige Gesteinsschichten zu treiben. Die US-Energiebehörde EIA (Energy Information Administration) schätzt, dass Argentinien die drittgrößten technisch förderbaren Schiefergasvorkommen der Welt besitzt. Besonders aussichtsreiche Lagerstätten finden sich danach in den Gesteinsformationen Vaca Muerta und Los Molles in der Provinz Neuquen. Repsol-Präsident Bufau mutmaßte, dass die kürzliche Entdeckung der Vaca Muerta-Vorkommen durch YPF – diese werden auf 22,8 Milliarden Barrel Öläquivalent geschätzt – einer der wesentlichen Gründe der Verstaatlichung sei.
Sollte Argentinien die erheblichen Mittel, die für die Förderung des Schiefergases erforderlich sind, tatsächlich mobilisieren können, woran derzeit noch viele Kommentator_innen zweifeln, drohen den Gemeinden in den Fördergebieten weitere Belastungen. Denn dass die Teilverstaatlichung von YPF zu einer verantwortungsvolleren Ressourcenpolitik führen könnte, dafür gibt es bisher keine Anzeichen. Die Zielvorgaben im Enteignungsgesetz zumindest beschränken sich auf die Maximierung von Investitionen, um nicht nur die Selbstversorgung mit Brennstoffen, sondern auch exportierbare Überschüsse zu erreichen. Schritte zur Reduzierung der Abhängigkeit von den fossilen Energieträgern hingegen sind eine Leerstelle.

Unersetzlicher Kämpfer

Bertolt Brecht muss Ernesto Kroch gemeint haben, als er schrieb: „Es gibt Menschen, die kämpfen einen Tag, und sie sind gut. Es gibt andere, die kämpfen ein Jahr und sind besser. Es gibt Menschen, die kämpfen viele Jahre und sind sehr gut. Aber es gibt Menschen, die kämpfen ein Leben lang. Das sind die Unersetzlichen.“ Es ist keine blumige Floskel, kein leichtfertig geschriebener Ausruf: Ernesto, als Ernst Julius Kroch am 11. Februar 1917 in Breslau geboren, ist ohne Zweifel unersetzlich. Am 11. März 2012 ist er in Frankfurt am Main im Alter von 95 Jahren nach monatelanger schwerer Krankheit verstorben.
Mit ihm geht einer der letzten Zeugen des 20. Jahrhunderts und es verlässt uns ein Mensch, der so viel war: Ernesto war Metallarbeiter, Gewerkschafter, Widerstandskämpfer, Schriftsteller, Basisaktivist. Ernesto war solidarisch, gerecht, bescheiden, kämpferisch, authentisch, humorvoll, tolerant. Und es geht ein Mensch, der so viel erleben musste: Mit 17 Jahren wurde er von den Nazis verhaftet, drei Jahre verbrachte er im Gefängnis und im Konzentrationslager. Mit 21 Jahren kam er – eher zufällig wegen ungültiger Papiere für Paraguay – im Exil in Uruguay an und musste dort ohne Familie, ohne Sprachkenntnisse, ohne alles sein Leben neu aufbauen. Seine Eltern wurden in Auschwitz ermordet, wie er erst viele Jahre nach dem Krieg erfuhr. In Montevideo wurde er Mitglied der kommunistischen Partei, engagierte sich in der uruguayischen Metallarbeitergewerkschaft, war an der Gründung des Kulturinstituts Casa Bertolt Brecht beteiligt, beteiligte sich unermüdlich an Basisprojekten in verschiedenen Vierteln von Montevideo.
Während der Militärdiktatur in Uruguay wurde sein Sohn jahrelang inhaftiert und er wurde mit 62 Jahren wiederum ins Exil gezwungen, dieses Mal nach Frankfurt am Main. „Heimat im Exil – Exil in der Heimat“ lautet denn auch der Titel seiner Autobiographie, die 2004 im Verlag Assoziation A erschien. 1985 konnte er nach Uruguay zurückkehren. Und nahtlos knüpfte er an sein Engagement an: Er gründete Basiskomitees, wurde Mitglied des Linksbündnisses Frente Amplio, sammelte Geld für Projekte in Uruguay, wirkte unermüdlich in der Casa Bertolt Brecht, organisierte dort erfolgreich Kampagnen gegen den Privatisierungswahn der 1990er und 2000er Jahre und kämpfte gegen die Straflosigkeit für die Verbrechen während der Militärdiktatur. Zugleich widmete er sich intensiv dem Schreiben. Neben Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln verfasste er mehrere Bände mit Erzählungen sowie Sachbücher (die teilweise auch in Deutschland erschienen sind).
Als Ende 2004 die Frente Amplio in Uruguay die Präsidentschaftswahlen gewann und die konservativen Traditionsparteien erstmals in der Geschichte des Landes die Macht abgeben mussten, begriff Ernesto das als Ansporn und Verantwortung, noch intensiver an der Basis für eine wirkliche Veränderung mitzuwirken. Er gründete eine Stadtteilzeitung, war Delegierter seines Viertels und unterstützte kritisch die neue Regierung, hatte dabei aber immer – dank seiner politischen Erfahrung von zu diesem Zeitpunkt 87 Jahren – das große Ganze im Blick. Geduldig diskutierte er immer und immer wieder mit den Jüngeren, also fast allen, denen vieles nicht schnell genug gehen konnte und nicht radikal genug war (zu Recht oder zu Unrecht, das sei hier nicht die Frage), seine Positionen. Das machte er sich auch in Deutschland, wohin er und seine Frau Eva Weil seit den 1990er Jahren im europäischen Sommer kamen, zur Aufgabe. Unermüdlich war auch hier sein Engagement: Übervoll war sein Terminkalender zwischen Mai und Oktober, Vorträge vor Schulklassen, Lesungen, Diskussionen mit GewerkschafterInnen oder alljährlich die Attac-Sommerakademie standen auf seinem Programm. Ernesto war immer unterwegs, auch noch mit über 90 Jahren. Er kämpfte ein Leben lang.

Warten auf María

Wassertropfen prasseln aus einer verkalkten Dusche monoton auf den gekrümmten Rücken eines alten Mannes. Eine Frau wäscht ihm Haare und Ohren. Ins Rauschen der Dusche mischen sich Rufe streitender Kinder.
So geht es zu am Morgen in der engen Wohnung von María (Roxana Blanco), in der sie zusammen mit ihrem Vater Agustín (Carlos Vallarino) und ihren drei Kindern lebt. Duschen und Anziehen helfen: María scheint dabei hin- und hergerissen zwischen Zärtlichkeit und Unmut über ihren Vater. Der Film beginnt mit der vollen Dosis schmerzhafter Ambivalenz, die familiäre Verantwortung mit sich bringen kann.
Mit faszinierender Beiläufigkeit inszeniert der Film den harten Alltag der überlasteten und unterbezahlten Frau. Marías älteste Tochter trägt längst so schwer daran wie die Mutter, geht traurig mit ihren zwei kleinen Brüdern zur Schule. Mal wieder konnte die Mutter ihr kein Geld für den Schulausflug mitgegeben. Die Kinder – wie immer vertröstet auf ein anderes Mal.
Als María in die Fabrik geht, für die sie als Näherin von zuhause aus arbeitet, macht sich Vater Agustín allein auf den Weg in die Stadt. Hilflos steht er in einem überfüllten Bus und fragt nach Straßen, durch die der Bus nie fährt. Er irrt durch Montevideo, bis es dunkel wird. Auf der Suche nach ihm streift auch María durch die regnerische Nacht. Und irgendwann taucht Agustín einfach wieder auf. Nestór, ein alter Freund von María, bringt den Orientierungslosen nach Hause.
Überfordert von Fürsorge und Angst will María den dementen Vater in einem Heim unterbringen. Doch die bittere Wahrheit auf dem Sozialamt: Sie ist zu arm, um sich einen Heimplatz für ihren Vater leisten zu können. Doch nicht arm genug, um Anspruch auf Unterstützung zu haben. In tiefer Verzweiflung lässt María ihren Vater einsam auf einer Parkbank zurück. Der Großvater sei nun im Krankenhaus, erklärt sie den Kindern. Ab jetzt werden die Gefühle von Sorge, Schuld und Verwirrung für beide Protagonist_innen erst recht zu einer stillen Hölle.
Kleinste Gefühlsregungen von María und Agustín fängt Regisseur Rodrigo Plá durch viele Großaufnahmen vor unscharfem Hintergrund ein. Und zeigt so, wie sich die Not der beiden auf dramatische Art und Weise zuspitzt. Der Film kommt fast ohne Musik aus. Stattdessen benutzt Plá Geräusche, um die Gefühlszustände zu verdeutlichen: Ein klapperndes Werbeschild, welches sich immer schneller in seiner Halterung dreht und dabei lauter und lauter wird, als sich María immer weiter vom Vater entfernt. Der verlassene Agustín hingegen sitzt wie in Schockstarre; so groß ist seine Angst, er könne die Rückkehr seiner Tochter verpassen. Das lange einsame Warten des Vaters auf seine Tochter wird aufgefangen von der tief empfundenen Sorge der Nachbar_innen. So treibt der Film die Beklemmung auf die Spitze.
La demora („Die Verzögerung“) ist der dritte Spielfilm des jungen Regisseurs Rodrigo Plá. Bei der diesjährigen Berlinale läuft der Film im Forum, das ganz im Zeichen globaler und individueller Krisen steht. Rodrigo Plá gelingt es in seinem Film, sehr eindringlich zwei persönliche Krisen zu zeigen, beide Protagonist_innen können in ihrer emotionalen Störung nicht mehr vernünftig handeln. Die überforderte Tochter kämpft mit ihrer Situation als alleinerziehende Mutter, während der Vater immer mehr verkümmert durch die Begrenzungen, die das Älterwerden mit sich bringt. Das Zusammenspiel dieser beiden krisengeschüttelten Personen wird auf eine harte Probe gestellt und droht ihre Beziehung in den Abgrund zu reißen.
Plá sagte über seinen Film: „Ich finde diese Geschichte hat die Möglichkeit, uns zutiefst zu bewegen, da hier ein sehr persönlicher Fall eines Konflikts thematisiert wird, den jeder von uns an einem Punkt in seinem Leben erfahren wird: die Auseinandersetzung mit der Altersschwäche der Eltern oder des eigenen Alters.“
Rodrigo Plá hat La demora seinem Vater gewidmet. Ein anrührender und sehr sehenswerter Film, der durch seine stille Erzählweise zum Nachdenken anregt.

La Demora („Die Verzögerung“) // Rodrigo Plá // 84 Minuten // Uruguay/Mexiko/Frankreich 2011 // Sektion Forum

Kasten: Weitere Berlinale-Filme aus Lateinamerika

In der Sektion Forum, dieses Jahr dem Motto „Alltag und Fantasie“ gewidmet, laufen zwei weitere argentinische Filme, die bis Redaktionsschluss nicht mehr rezensiert werden konnten. Für den Aufbruch einer jungen Generation von Filmemacher_innen im nordargentinischen Córdoba steht das Regiedebüt Salsipuedes („Geh raus wenn du kannst“) von Mariano Luque, das auf visionäre Weise von familiärer Gewalt gegen Frauen erzählt. Der Film handelt von Carmen und ihrem Ehemann Rafa, die ihre Ferien bei schönem Wetter und in angenehmer Umgebung auf einem Campingplatz verbringen. Dennoch können sie ihren Urlaub nicht genießen. Luques Film ist die Langfassung eines 44-Minüters, der letztes Jahr auf dem Festival in Cannes zu sehen war.
Der Dokumentarfilm Escuela normal („Normale Schule“) von Celina Murga wiederum beobachtet an einer Oberschule im argentinischen Entre Ríos, wie Jugendliche die politischen Muster der Erwachsenenwelt kopieren. „Meine Intention war, zu zeigen, was der Schulalltag heutzutage in Argentinien bedeutet und nicht nur, was Domingo Faustino Sarmiento (argentinischer Präsident von 1868 -1874, Anm.d.Red.) bei ihrer Gründung geplant hatte“, so die Regisseurin aus Paraná im Interview.

Im Panorama ist darüber hinaus die kolumbianische Produktion Chocó zu sehen, in dem der Regisseur Jhonny Hendrix Hinestroza von einer Frau erzählt, die sich zur Wehr setzt: Die Afro-Kolumbianerin Chocó (gespielt von Karent Hinestroza), wird in der gleichnamigen Provinz im Norden Kolumbiens durch die Gewalt des internen Konflikts und ihre Armut dazu gezwungen, mit ihrer Familie das Land zu verlassen.

Im diesjährigen Wettbewerb der Berlinale 2012 (9. bis 19. Februar) läuft nur eine brasilianische Co-Produktion des portugiesischen Filmemachers Miguel Gomes. Tabu (Portugal / Deutschland / Brasilien / Frankreich 2011) erzählt die Geschichte einer temperamentvollen alten Frau. Ihre kapverdische Haushälterin und eine sozial engagierte Nachbarin leben im selben Stockwerk eines Wohnhauses in Lissabon. Als die alte Frau stirbt, lernen die beiden anderen eine Geschichte aus ihrer Vergangenheit kennen – die einer leidenschaftlichen Liebe und eines Verbrechens im Afrika des Abenteuerfilms.

Zahlreiche lateinamerikanische Filme hingegen sind im Kurzfilmprogramm Berlinale Shorts zu sehen. Neben Loxoro der Peruanerin Claudia Llosa, die mit La teta asustada den Wettbewerb der Berlinale 2009 gewonnen hat, sind das La Santa (Chile) von Mauricio López Fernández, Licuri Surf (Brasilien) von Guile Martins und Nostalgia (Venezuela) von Gustavo Rondón Córdova.

50 Jahre und kein Ende in Sicht

Was haben Thomas Drach, der Entführer von Jan Philipp Reemtsma, und Hartmut Hopp, die einstige rechte Hand Paul Schäfers, gemeinsam? Einen Rechtsanwalt namens Helfried Roubicek aus Börgerende-Rethwisch an der Ostsee. Der Fall Colonia Dignidad war schon immer für Skurilitäten gut.
Hartmut Hopp braucht gerade einen guten Anwalt. In Chile ist der ehemalige Krankenhaus-Direktor und „Außenminister“ der Colonia Dignidad bereits mehrfach verurteilt. Die meisten gegen ihn gerichteten Verfahren sind jedoch noch nicht rechtskräftig abgeschlossen – auch weil ganze Anwaltsteams den ehemaligen jerarcas (Führungspersonen) der Colonia Dignidad zur Seite stehen und alle verfügbaren Rechtsmittel ausschöpfen. Keine_r der Täter_innen der Colonia Dignidad musste bisher eine Haftstrafe antreten – nur der im vergangenen Jahr im Hochsicherheitsgefängnis von Santiago verstorbene Sektenführer Paul Schäfer. Doch das könnte sich schon bald ändern: Für die kommenden Wochen wird der endgültige Urteilsspruch des chilenischen Obersten Gerichtshofs im Verfahren um den systematischen Kindesmissbrauch in der Colonia erwartet. Die Eltern von 26 chilenischen Kindern hatten 1996 gegen Paul Schäfer und seine Helfershelfer Strafanzeige wegen Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch erstattet. 26 Personen waren deswegen seit 2004 erstinstanzlich verurteilt worden. 2006 wurde Paul Schäfer – nach seiner Festnahme und Ausweisung aus Argentinien – zu 20 Jahren Haft verurteilt. Im vergangen Januar bestätigte das Berufungsgericht Talca die Urteile, nach denen ein Großteil der noch lebenden Führungsriege der Colonia Dignidad zu Haftstrafen zwischen eineinhalb und fünf Jahren verurteilt wurde. Fünf Jahre betrug das Strafmaß für Hartmut Hopp – ohne Bewährung.
Fünf Jahre Gefängnis vor Augen, entschied sich Hartmut Hopp im vergangenen Mai zur Flucht nach Deutschland. Schließlich liefert Deutschland seine eigenen Staatsbürger_innen nicht aus, und die Chancen, dass ihm die deutschen Staatsanwaltschaften nicht zu nahe treten, standen – ein Blick in die Vergangenheit genügte – recht gut: 22 Jahre lang hatte die Staatsanwaltschaft Bonn gegen Hopp wegen „Freiheitsberaubung, Körperverletzung usw.“ ermittelt, im September 2010 wurden die Ermittlungen eingestellt, „da Tathandlungen in nicht rechtsverjährter Zeit nicht zu belegen waren“. Nach dem Tod von Paul Schäfer könne man das Ermittlungsbuch zuklappen, so dachte man wohl bei der Staatsanwaltschaft.
Hopp flüchtete trotz eines chilenischen Ausreiseverbots über Argentinien und Paraguay nach Deutschland und ließ sich mit seiner Frau Dorothea – die bereits vorgereist war – in Willich bei Krefeld nieder. Dort beantragten beide Sozialhilfe. Der chilenische Ermittlungsrichter hingegen beantragte einen internationalen Haftbefehl und richtete ein Auslieferungsersuchen an die deutsche Justiz, doch Hopp blieb erst einmal auf freiem Fuß.
Bereits eine Woche nach Hopps Ankunft in Deutschland meldete die chilenische Presse seinen Aufenthaltsort: Bärbel Schreiber, die mit Hopps Adoptivsohn Michael verheiratete Tochter des ehemaligen Finanzchefs der Sekte, Albert Schreiber, hatte geplaudert, Hopp sei in Krefeld. Krefeld ist eine wichtige Anlaufstelle für nach Deutschland zurückkehrende Dignidad-Mitglieder: Hier hat die „Freie Volksmission“ des freikirchlichen Predigers Ewald Frank ihren Sitz. Frank, der Paul Schäfer bereits seit den 1950er Jahren kennen soll, war 2004 erstmals in die Villa Baviera (ex-Colonia Dignidad) gereist und hatte dort Massentaufen durchgeführt. Auch Hartmut Hopp wurde von Ewald Frank getauft. Die chilenische Regierung befürchtete daraufhin, dass Frank das Erbe von Schäfer als „neuem Messias“ der Colonia Dignidad antreten wolle und verhängte gegen ihn im Oktober 2005 eine Einreisesperre.
Seither waren mehrere Mitarbeiter Franks nach Chile in die Villa Baviera gereist – und Deutschland-Rückkehrer der Kolonie kommen zahlreich zu seinen monatlichen Massengottesdiensten nach Krefeld. Albert Schreiber, zum Beispiel, besuchte nach seiner Flucht vor der chilenischen Justiz nach Deutschland die Gottesdienste in der Freien Volksmission – und Hartmut Hopp nutzte zumindest das sekteneigene Faxgerät: „Zunächst möchte ich emphatisch erklären, dass ich weder zu Kindesmissbrauch noch Menschenrechtsverletzungen, noch irgendwelchen anderen strafrechtlichen Verstößen gleich welcher Art zu irgendeinem Augenblick Beihilfe oder andere Beteiligung gehabt habe. Alle Behauptungen, die das Gegenteil zu manifestieren versuchen, sind Verleumdungen“, faxte Hartmut Hopp Ende August aus der Freien Volksmission als Leserbrief an die Westdeutsche Zeitung.
Die Opfer der Colonia Dignidad sehen das anders. Die Berliner Rechtsanwältin Petra Schlagenhauf und das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) reichten daraufhin im August und Oktober drei Strafanzeigen gegen Hartmut Hopp ein. Tatvorwürfe sind dabei mehrfacher Mord an chilenischen Oppositionellen, Beihilfe zum sexuellen Missbrauch von Kindern und schwere Körperverletzung durch systematische Verabreichung von Psychopharmaka an Siedlungsbewohner_innen. Die Staatsanwaltschaft Krefeld leitete infolgedessen ein neues Ermittlungsverfahren gegen Hopp ein. Der ermittelnde Oberstaatsanwalt Klaus Schreiber gab die Übersetzung des 500-seitigen chilenischen Missbrauchsurteils gegen Hopp in Auftrag. Im November dann, so Schreiber, könne gesagt werden, wie es mit den Ermittlungen weitergehe.
Mehrere hundert Menschen, vor allem aus Krefeld und Umgebung sind inzwischen Teil einer Facebook-Gruppe mit dem Titel: „Herr Hopp, Sie sind in Krefeld unerwünscht!“. Als im August bekannt wurde, dass Hartmut und Dorothea Hopp aus Willich in den Stadtteil Krefeld-Linn ziehen wollten, organisierten einige Dutzend Krefelder_innen eine Unterschriftensammlung vor der neuen Wohnung der Hopps. Der Vermieter kündigte daraufhin den Hopps.
Indessen wird in Chile des 50-jährigen Bestehens der Siedlung gedacht. In der Festschrift „50 Jahre Villa Baviera“ wird die landschaftliche Schönheit des Koloniegeländes betont und die harte Aufbauarbeit gewürdigt, die notwendig war, um das Land urbar zu machen. Und auch das Auswärtige Amt ist aktiv geworden. Seit 2008 führt das AA mit Haushaltsmitteln von ca. 250.000 Euro pro Jahr „Maßnahmen zur Integration der Villa Baviera in die chilenische Gesellschaft“ durch. Dazu gehören die psychotherapeutische und seelsorgerische Betreuung, Bildungsprojekte sowie – mit über der Hälfte der Gelder – Betriebsberatung durch die deutsche Entwicklungshilfeagentur GIZ und den Senior Experten Service. Eine Thematisierung der dunklen Vergangenheit der Colonia Dignidad unterbleibt hingegen vollständig. Während viele andere Orte des Foltern und Mordens des Pinochet-Geheimdienstes DINA inzwischen in Gedenkstätten umgewandelt wurden oder wenigstens eine Gedenktafel an die dort begangenen Verbrechen erinnern, ist das in der ehemaligen Colonia Dignidad bislang gänzlich unterblieben.
Regelmäßig heißt es, die Firmen der Villa Baviera stünden kurz vor der Pleite, doch irgendwie geht es immer weiter. In die genauen Vermögensverhältnisse der ehemaligen Colonia Dignidad hat niemand so richtig Einblick: „Nähere Erkenntnisse hierzu liegen der Bundesregierung nicht vor“, so die Antwort auf eine kleine Anfrage des Abgeordneten Jan Korte (Linkspartei). Die Vermögenswerte der Colonia Dignidad wurden durch jahrzehntelange unentlohnte Arbeit der Siedlungsbewohner_innen, aber auch durch Waffenhandel, Steuer- und Zollbetrug und andere kriminelle Tätigkeiten angehäuft. Um eine Auflösung der Colonia Dignidad durch die chilenische Regierung nach der Rückkehr zur Demokratie 1990 zu umgehen, wurden alle Vermögenswerte auf ein Geflecht von Aktiengesellschaften übertragen und zu ungleichen Anteilen unter den Kolonie-Bewohner_innen verteilt. Unbekannte Summen wurden zudem ins Ausland verbracht. Hartmut Hopp sagte im September 2005 vor dem chilenischen Sonderrichter Jorge Zepeda aus, er wisse von Konten und Vermögenswerten in den USA, Kanada, Argentinien, Uruguay und auf Karibikinseln. Geld sei auch über die Zweigstelle der Chemical Bank in New York geflossen. Ob die Justiz diese Geld- und Vermögenswerte untersucht hat, ist nicht bekannt.
Seit zwei Jahren hat die Villa Baviera einen externen Berater engagiert, um die Kolonieunternehmen wettbewerbsfähiger zu machen. Er heißt Falk W. Spahn und arbeitet unentgeltlich. 25 Jahre lang war er in Bogotá Vorstand der Sarah Consult, einer Firma, die deutsche Unternehmen bei ihrer Niederlassung in Kolumbien berät. Davor war er bei der Unternehmensberatung Kienbaum tätig. Auch Helfried Roubicek, der neue Anwalt von Hartmut Hopp, arbeitete bei Kienbaum und war davor Geschäftsführer der Deutsch-Kolumbianischen Industrie und Handelskammer. Vielleicht kennt man sich ja noch aus alten Zeiten.

Infokasten: Systematische Fluchtbewegung

Hartmut Hopp ist nicht das erste Mitglied der Colonia Dignidad, das sich durch Flucht nach Deutschland dem Zugriff der chilenischen Justiz entzieht. Etwa zehn weitere Colonia Dignidad Mitglieder werden teilweise mit Interpol-Haftbefehlen von chilenischen Justizbehörden gesucht. Weltweit könnten sie festgenommen und nach Chile ausgeliefert werden. Nur in Deutschland nicht, denn das Grundgesetz verbietet eine Auslieferung an Drittstaaten. Jedoch besteht bei von deutschen Staatsbürger_innen begangenen schweren Straftaten wie Mord oder sexuellem Missbrauch eine Ermittlungspflicht für hiesige Strafverfolgungsbehörden. Ermittlungsverfahren deutscher Staatsanwaltschaften gegen von der chilenischen Justiz flüchtige Colonia Dignidad-Mitglieder wurden bislang regelmäßig eingestellt. Vor Hartmut Hopp war Albert Schreiber der bekannteste nach Deutschland geflüchtete Colonia Dignidad-Funktionär (er ist inzwischen verstorben). Auch seine Frau Lilli und sein Sohn Ernst, die sich in Chile den gegen sie erhobenen Ermittlungen wegen Kindesentführung durch Flucht entzogen hatten, wohnen unbehelligt in Deutschland.
Ähnliches gilt auch für das ehemalige Führungsmitglied Hans-Jürgen Riesland und auch für den ehemaligen Chauffeur Paul Schäfers, Reinhard Döring. Riesland wird von der chilenischen Justiz Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. Döring hingegen soll nach vertraulichen Zeugenaussagen vor Gericht auch an Gefangenentransporten zu Exekutionsstätten beteiligt gewesen sein.

Infokasten: Wikileaks-Enthüllungen zum Fall Colonia Dignidad

Auch in Chile gestaltet sich die strafrechtliche Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad schwierig. Bereits 1991 hatte der Bericht der chilenischen Wahrheitskomission („Informe Rettig“) angedeutet, dass viele politische Gefangene während der Militärdiktatur in der Colonia Dignidad verhört, gefoltert und ermordet wurden. Dutzende Gerichtsaussagen von ehemaligen DINA-Agenten und Mitgliedern der Colonia Dignidad haben dies in den letzten 20 Jahren bestätigt. Trotzdem tut sich die chilenische Justiz schwer damit, die Täter_innen zu benennen und zu verurteilen.
Kürzlich von Wikileaks enthüllte State Department-Berichte deuten an, dass Sonderrichter Zepeda mit Informant_innen in der Colonia Dignidad zusammenarbeitet. Diese fungieren möglicherweise als Kronzeug_innen und verraten Taten – aber keine Täter_innen – und könnten dafür selbst straffrei ausgehen. Botschafter Kelly schickte am 20. Dezember 2005 zwei Berichte an das State Department, die ein ausführliches Treffen des US-Konsuls Sean Murphy mit Sonderrichter Jorge Zepeda am Vortag wiedergeben. Zepeda berichtete dem Konsul, seine Ermittlungen hätten ergeben, dass direkt nach dem Putsch 1973 sowie Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre politische Gefangene von der DINA und den Wachmannschaften der Kolonie zu Verhören und Folterungen in die Colonia Dignidad gebracht wurden und teilweise auch dort ermordet worden seien. Er habe solide Beweise über fünf politische Gefangene, die in der Colonia gefoltert, ermordet und vergraben worden seien, und plane, die Ermittlungen dazu im Januar 2006 abzuschließen.
Zepeda betonte die engen Beziehungen zwischen den Sicherheitsbehörden der Diktatur und der Kolonie und zeigte dem Konsul ein Foto, das Paul Schäfer gemeinsam mit dem Chef der Geheimpolizei DINA, Manuel Contreras, auf einem nächtlichen Jagdausflug auf dem Sektengelände zeigt. Verbindungen wie diese seien der Grund dafür, dass die Colonia Dignidad bis weit in die demokratischen Transitionsjahre hinein weiterbestand. Der Richter erzählte dem Konsul ferner, dass er in der Kolonie mit einer Reihe von Informant_innen zusammenarbeite, die ihm präzise Informationen zukommen lassen. Trotz der Ankündigung Zepedas, die Fälle im Januar 2006 abzuschließen, sind diese weiterhin offen, der Ermittlungsstand ist weitgehend unbekannt.

Ein nachhaltiges Modell

Vor knapp zehn Jahren befand sich Argentinien auf dem Höhepunkt seiner Wirtschaftskrise. Wie haben sich seitdem die zahlreichen von Arbeiter_innen besetzten und übernommenen Betriebe, die sogenannten empresas recuperadas (EERR), entwickelt?
Die EERR entstanden in der Tat in der schlimmsten Krise Argentiniens. Als die ursprünglichen Besitzer die Betriebe schlossen und ihre Angestellten hinauswarfen, gab es kaum eine Möglichkeit, wieder Arbeit zu finden und das auch noch zu einem angemessenen Lohn! Also mussten wir uns selbst um Arbeit, unsere Gehälter und deswegen um den Betrieb kümmern – ohne Kapital, ohne Geld und nur mit dem Wissen über den jeweiligen Produktionsprozess.
Es waren dann zwei Stützpfeiler, auf die wir bauen konnten: Die Aufopferung der Arbeiterinnen und Arbeiter, die soweit auf ihren Lohn verzichtet haben wie der jeweilige Betrieb das Geld brauchte. Zudem eine intelligente Politik der Arbeiter, die dafür sorgte, dass die Rohstofflieferanten die Betriebe als Kunden behalten konnten. Mit einem Startkapital von umgerechnet zehn Euro haben wir im Fall der Backfabrik Mil hojas nur von einem Tag zum nächsten Mehl gekauft, dann für fünf, irgendwann für 30 Tage und so weiter.
Die Mehrheit der EERR hat ihr Produktionsniveau heute verfünffacht im Vergleich zu der Zeit vor der Krise, als die Betriebe sich noch nicht in Besitz der Arbeiter befanden. Im Vergleich zur Krise hat sich das Niveau wahrscheinlich verhundertfacht, auch begünstigt durch die Wachstumsraten der Gesamtwirtschaft.

Welche Aufgaben und Herausforderungen stehen für die EERR derzeit an?
Prinzipiell gilt es, dieses Modell zu festigen, das sich noch im Anfangsstadium befindet. Statt auszugrenzen, bietet es eine Antwort auf die strukturelle Krise des neoliberalen Kapitalismus. Wir wollen mehr als dass die Armut einfach ausgehalten wird. Arbeit soll wieder die Basis für ein würdiges Leben und soziale Inklusion sein. Wir zeigen, dass der Gesamtwert eines Betriebs neben dem Kapital aus den Menschen, dem Know-how, der Technologie besteht. Und dass das erwirtschaftete Geld egalitär unter den Arbeiterinnen und Arbeitern verteilt werden kann.

Werden immer noch Betriebe besetzt und instand gesetzt?
Ja, natürlich. Die Besetzungen waren keine Reaktion allein auf eine konjunkturelle Krise, sondern auf das strukturelle Problem neoliberaler Makroökonomie. Der Neoliberalismus zerschlägt jedweden gesellschaftlichen Sozialvertrag und geläufige Beschäftigungsformen. Strukturelle Arbeitslosigkeit ist das Ergebnis dieser entfesselten Politik, in Lateinamerika wie in Europa. Was stellen sich die Europäer zum Beispiel vor? Eine Eurozone, eine Dienstleistungszone, eine Technologiezone, Unterstützung für einzelne Unternehmen – das kommt allerdings nur Wenigen zugute. Die restliche Politik besteht in Beihilfe für Arbeitslosigkeit oder verdeckter Subvention der Beschäftigung, die mit prekären Arbeitsverhältnissen einhergeht.
Die Perspektive, die den Arbeitern bleibt, sind neue Formen der Organisation und des Arbeitskampfes. Dabei kümmern sich die Arbeiter um die Produktion von Waren und Dienstleitungen und damit um die Schaffung von Wohlstand – auf Basis von Lohnarbeit, von Betrieben. Nicht nur in Argentinien übernehmen Arbeiter die Betriebe, sondern auch in Deutschland, Frankreich, Japan, den USA.

Wie erkennt die Präsidentin Cristina Kirchner Ihre Arbeit an, gibt es Unterstützung durch die Regierung?
Vor der Krise wurden wir durch die neoliberalen Regierungen unter Carlos Menem und Fernando de la Rúa in unserem Arbeitskampf wie Straftäter behandelt und unterdrückt. Seit der Krise und nach der Regierungsübernahme 2003 von Néstor Kirchner waren wir keinen Repressionen mehr ausgesetzt und wurden sogar in den Präsidentenpalast eingeladen. Das hat sich unter Cristina Kirchner fortgesetzt. In diesem Jahr gab es eine Gesetzesinitiative, die sehr bedeutsam für die EERR ist: die Veränderung des Konkursrechts zugunsten der Arbeiter, die nun alles der Produktion Dienliche selbstverwaltet weiter betreiben dürfen. Auch wenn die inzwischen etablierte Politik noch unzureichend ist und verbessert werden muss, so gab es zumindest hinsichtlich unserer Situation eine Drehung von 180 Grad.

Was bedarf es seitens des Staates?
Durch die unterdrückerischen und blutigen Diktaturen überall in Lateinamerika haben sich Strukturen und Mentalitäten durchgesetzt, die nicht so leicht aufzulösen sind, auch wenn sie aufgedeckt sind. Wir stellen uns einen Staat vor, der mit den Arbeits- und den sozialen Organisationen zusammenarbeitet, um die größte Herausforderung in Lateinamerika zu lösen: die soziale Inklusion. Diese schafft man über einen aktiven Staat, der Hilfe zur Selbsthilfe gibt. Denn jeder dieser Betriebe bedeutet Arbeitsmöglichkeiten und jeder Arbeitsplatz mehr, bedeutet einen ausgegrenzten Arbeiter weniger.

Gibt es auch Sektoren jenseits des Staates, mit denen die Zusammenarbeit gesucht wird?
Ja. Von Anfang an haben wir Beziehungen zu denjenigen gesucht, die vor Ort sind und Forschung betreiben oder mithelfen können. Mit mehr als 20 Universitäten haben wir Verbindungen zu EERR hergestellt. Aber es stellte sich heraus, dass die akademische Welt unsere Erwartungen nicht erfüllen konnte. 2008 gründeten wir dann in der Universität von Rosario einen Aufbaustudiengang „Soziale Ökonomie“ für Ingenieure, Anwälte und Buchhalter – alle aus verschiedenen Disziplinen, um ihnen etwas über solidarische Ökonomie zu vermitteln, über Kooperativen usw. So schufen wir uns selbst professionelle Quellen, die wir in die Unternehmen miteinbeziehen.

Wie wird die demokratische Partizipation in den EERR gesichert?
Das ist ein kompliziertes Thema. Formell gesehen sind wir 100 Prozent demokratisch. Dazu gehört aber auch ein Partizipationsprozess und in diesem haben wir immer noch ein klares Defizit. Das beruht auf kulturellen Bedingungen bei der Entstehung einer Kooperative: Wir sind ja nicht als Genossenschafter geboren worden. Vorher waren die Arbeitsbeziehungen ganz klar: auf der einen Seite der Chef und auf der anderen die Arbeiter.
Es ist tatsächlich eine der schwierigsten Fragen und wir mobilisieren alle notwendigen Kräfte und bitten um Hilfe bei verschiedenen Akteuren, um eine Basis zu schaffen, die auf der Partizipation der Arbeitenden beruht.

Wie läuft die Vernetzung zwischen den Unternehmen auf regionalem, nationalem und internationalem Niveau?
In den Neunzigern hatte niemand eine Antwort auf unsere Fragen. Wir haben schnell begriffen: Wenn wir nicht untereinander solidarisch sind mit denjenigen, denen dasselbe passiert, wird es nirgends eine helfende Hand geben. Deswegen bauten wir ein solidarisches Netz auf, das in Argentinien geholfen hat, 300 Betriebe wieder instand zu setzen. Durch den großen Einfluss, den dieses Netz hatte, geschah das Gleiche in Brasilien. In Venezuela haben wir 2005 ein Treffen mit Vertretern von EERR aus Argentinien, Uruguay, Brasilien, Venezuela, Bolivien, Peru veranstaltet. Im Rahmen einer internationalen kooperativen Allianz konnten wir fundamentale Verbindungen zu italienischen Kooperativen aufbauen und jetzt haben wir ein Netz über fast die ganze Welt gespannt. Heute werden wir gebeten, unsere Lösungsvorschläge in Ländern zu unterbreiten, in denen Unternehmen geschlossen werden.

Das Kooperativensystem stellt für Sie eine Alternative zum Neoliberalismus oder gar zum Kapitalismus dar?
Na klar! Es ist kein politisches Modell oder erfüllt eine ideologische Funktion. Es ist ein wirtschaftlich nachhaltiges Modell. Zum Beispiel hier in Argentinien gibt es Hunderte von Verbraucher-Kooperativen in den Bereichen Licht, Gas, Telefon, Internet usw. Problematisch ist eben nur, dass Genossenschaften kaum Außenwirkung haben, dadurch verlieren sie an Leistungsfähigkeit, an Kraft. Dass Kooperativen zu Krisenzeiten weniger entlassen oder gar neu einstellen können – darüber wird nicht gesprochen. Wenn man sich mehr über diese Wirklichkeit öffentlich austauschen würde, könnte man besser verstehen, dass durch eine andere Form der wirtschaftlichen Organisation Erfolg möglich wäre.

Welche Art von Unterstützung bräuchten die EERR besonders aus Europa?
Das Wichtigste ist, Verbindungen zwischen Universitäten, Gewerkschaftern und sozialen Bewegungen im Bereich von fairem Handel, nachhaltiger Landwirtschaft, Technologietransfer und auch der Forschung herzustellen, und auch, was zum Beispiel die Festigung der demokratischen Partizipation angeht: Welche ist die neue Rolle des selbstverwalteten Arbeiters?
Wir glauben, dass der sich in der Krise befindenden europäischen Ökonomie mit kooperativ organisierten Unternehmen geholfen werden könnte und wir sind bereit, unsere Erfahrungen bereitzustellen und Wissen auszutauschen. Wir können auch mit klein- und mittelständischen Unternehmen zusammenarbeiten, denn das ist der Unternehmenssektor, der dem Neoliberalismus am stärksten ausgesetzt wird. Ein kleines deutsches Unternehmen, das sich mit einem Multi an einen Tisch setzt, wird kein gutes Geschäft machen, mit jedwedem selbstverwalteten lateinamerikanischen Unternehmen schon eher.

José Abelli
stammt aus Rosario, Argentinien, und arbeitet zum einen für den genossenschaftlichen Dachverband IN.DA.CO, der sich um Markterschließungen für Kooperativen und Technologie und Know-how-Transfer zwischen Genossenschaften kümmert. Er ist verantwortlich für die spanischsprachige Region Lateinamerikas. Zum anderen arbeitet José Abelli für eine Kristallglasbläserei, wo er mit der Produktionsleitung und administrativen Aufgaben betraut ist. Er hat die Besetzung von Betrieben in und um Rosario von Anfang an begleitet, indem er sich für Vernetzung, Kredite und den Dialog mit der Gemeinde und Politik einsetzt.

(K)ein Zuhause in der Fremde

Um der Haft zu entgehen, war Schillers Flucht zugleich Rettung, aber auch Abschied für eine ungewisse Zeit, wenn nicht für immer. Der Beginn der Erzählung fängt auf eindringliche Weise diese Stimmung ein. Als Mitglied der Roten Armee Fraktion (RAF) hatte sie bereits zwei Haftstrafen von insgesamt fast sieben Jahren hinter sich. Als 1985 eine dritte Inhaftierung droht, beschließt Schiller, die BRD und Europa über die DDR zu verlassen.
Sie erhält nach mehreren Wochen Warten politisches Asyl in Kuba und eine kleine finanzielle Unterstützung. Doch empfindet sie eine Fremdheit, zunächst noch wegen der fehlenden Sprachkenntnisse, später umso deutlicher aufgrund der eigenen vergangenen politischen Praxis und kulturellen Sozialisation. Das kubanische politische System ist vertikal durchstrukturiert, eine politische Betätigung außerhalb des vorgegebenen Rahmens nicht möglich. Arbeit erhält sie erst viel später.
Margrit Schiller beschreibt den Alltag und ihre Begegnungen mit verschiedenen Leuten und ihre Versuche, ein geregeltes Leben mit Arbeit und sozialem Umfeld zu schaffen. Anekdoten und aufmerksame Beobachtungen wechseln sich ab mit Exkursen über die politischen und historischen Ereignisse und aktuellen gesellschaftlichen Debatten. Dazwischen steht immer wieder die Reflexion über die eigene Biografie und gegenwärtige Selbstverortung, bei welcher der Freude über die Freiheit Selbstzweifel und Isolierung gegenüberstehen.
Schiller erfährt über die kubanischen Freund_innen und ihren späteren Ehemann Zusammenhalt und solidarische Unterstützung als wesentliches Merkmal der kubanischen Gesellschaft. Die Frauen sind hier das Fundament der sozialen und familiären Strukturen, doch gleichzeitig werden die Geschlechterrollen, die vorherrschenden Vorstellungen von Heterosexualität und der Machismo von kaum jemandem thematisiert und kritisiert. Mit ihren eigenen Ansichten und Überzeugungen eckt die Autorin immer wieder an. Angesichts der Weisung der Behörden, über ihr politisches Asyl und ihre Vergangenheit als RAF-Mitglied zu schweigen, wiegen die wiederkehrenden Gefühle von Fremdheit und Einsamkeit umso schwerer. Das schließt auch jegliche offene politisch-intellektuelle Tätigkeit aus. Sie muss ihre Vergangenheit verschließen, das Gute und Schlechte ihrer eigenen Geschichte vergessen, um vorangehen zu können.
Das Schweigen wird zur Last und schließlich zur Sprachlosigkeit. Die Sehnsucht nach Verständnis, die alltäglichen Aufgaben sowie die Sorge um ihre inzwischen geborenen Zwillinge erdrücken Schiller. Die Zerrissenheit zwischen der Dankbarkeit über das gewährte politische Asyl und der Traumatisierung der Flucht, in der die Auswirkungen der Haftjahre noch nachklingen, steht zwischen den Zeilen. Die wirkliche Bedeutung und Dimension von Haft und Exil erhält unter den gelebten Umständen durch die Umwelt keinen Raum. Nur Exilierte können einander begreifen.
Und so erhält Schiller erst viele Jahre später die Bestätigung durch eine andere ehemalige Gefangene aus Uruguay: „Wenn wir, die im Exil waren, uns treffen, sind wir bis heute erstaunt darüber, wie verschieden wir die Fremde erlebt haben im Vergleich zu Reisenden, die aus anderen Gründen im Ausland waren und sich frei bewegen konnten. Diese Empfindlichkeit, die das Exil bewirkt, die Verletzlichkeit, dieses Gefühl, dass das Innere bloß liegt und man sich einigeln muss, um sich zu schützen, macht einen grundlegenden Unterschied zu anderen Arten des Fremdseins aus. Ich kann es nicht besser erklären, aber man verliert die Basis der eigenen Stärke, wenn man gehen muss und nicht zurückkann.“
Als mit dem Fall der Mauer 1989 und dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 auch Kuba in eine wirtschaftliche und finanzielle Krise gerät und das weitere Bestehen des politischen Systems gefährdet ist, beginnt eine harte Zeit für die kubanische Bevölkerung. Die tägliche Sorge um das Allernötigste kann nur mithilfe persönlicher Beziehungen und informeller Geschäfte etwas erleichtert werden. Für Margrit Schiller bedeutet es plötzlich auch einen ungesicherten politischen Status, weil ihre Papiere nicht verlängert werden. Aus Sorge um ihre Zukunft und die ihrer Kinder entschließt sie sich, nach Uruguay zu gehen und verlässt 1993 Kuba mit ihrer Familie.
Ein neues Exil unter anderen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Vorzeichen. In Uruguay gibt es viele Menschen, die aufgrund der Militärdiktatur (1973-1985) Schillers Erfahrungen von Gefängnis und Exil teilen. Die deutsche Immigrantin sucht die Nähe und den Austausch vor allem mit den Frauen. Auch eine gesellschaftliche und politische Debatte scheint hier möglich. Doch Gefängnishaft, Folter und Exil werden lange tabuisiert. Die Zurückgebliebenen interessiert das Exil nicht, den Geflüchteten wird mit einem indirekten Vorwurf begegnet, sie hätten es im Ausland leichter gelebt und den Bezug zu den Hinterbliebenen verloren. Erst allmählich beginnt ein Austausch und eine Auseinandersetzung über das Trauma der Haft und des Exils. Auf der anderen Seite formiert sich eine öffentliche Bewegung der Angehörigen der Verschwundenen. Wieder sind es die Frauen, die den ersten Schritt tun.
Schillers Erinnerungen sind sehr persönlich. Dieser Intimität stehen die historischen und politischen Einschübe gegenüber. Auch die politischen Debatten auf Kuba oder die Repression gegen die Bevölkerung während der Militärdiktatur in Uruguay. Bisweilen hätten diese kurzen Exkurse länger und abgerundeter sein können. Zusammen jedoch ermöglichen sie ein komplexes Bild der sozialen und politischen Umstände, unter denen Schiller gelebt hat.
Am Ende steht das letzte und nicht minder schwierige Thema – die Rückkehr. Ist sie überhaupt möglich? Können alte Beziehungen wieder geknüpft werden und neue entstehen? Und vor allem: Enden nun endlich Fremdheit und Sprachlosigkeit?
Margrit Schiller ist vor acht Jahren den Weg in ein verändertes Deutschland zurückgegangen. Sie hat ihrer Vergangenheit nicht abgeschworen und hat fast zwei Jahrzehnte Exil mit sich gebracht. Das Schreiben hat ihr das Sprechen erhalten. Noch in Kuba begann sie mit den ersten Aufzeichnungen, die mehrere Jahre später in ihrem ersten Buch Es war ein harter Kampf um meine Erinnerung. Ein Lebensbericht aus der RAF von 1999 veröffentlicht wurden. Schillers neues Buch schließt an diese Erinnerungen an. Sie endet mit den Worten einer Freundin zu einer der wesentlichen Erfahrung ihrer Geschichte: „Exil hört nie auf.“

Margrit Schiller // So siehst du gar nicht aus! Eine autobiografische Erzählung über Exil in Kuba und Uruguay. Mit einem Vorwort von John Holloway // Assoziation A // Berlin Hamburg 2011 // 172 Seiten // 16 Euro

Die Landfrage bleibt ungelöst

Landwirtschaft ist wieder schwer in Mode. Aufgrund des stetig steigenden Bedarfs an Lebensmitteln und der Begrenztheit der Anbauflächen, verheißt der Agrarsektor auf lange Sicht gute Geschäfte. Regierungen und Unternehmen, Investment- und Pensionsfonds kaufen oder pachten weltweit Ackerland, um das anzubauen, womit gerade Geld zu verdienen ist. Verlierer_innen des globalen Trends sind die kleinbäuerliche Landwirtschaft, die Umwelt und die eine Milliarde hungernder Menschen weltweit. Vom sogenannten Land Grabbing sind vor allem Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika betroffen. Allesamt Regionen, in denen in unterschiedlichem Maße Hunger existiert, also im Jargon der internationalen Organisationen die Ernährungssicherheit nicht garantiert ist.
Ungerechte Strukturen von Landbesitz, die Involvierung internationaler Akteure und die Marginalisierung kleinbäuerlicher Landwirtschaft sind in Lateinamerika alles andere als neu. Seit der Kolonialzeit, der daraus resultierenden Verdrängung indigener Landwirtschaftskonzepte und Enteignungen kommunalen Besitzes, ist die Landfrage auf dem Kontinent von Bedeutung. Das landwirtschaftliche System der Kolonialzeit, wo die haciendas weniger Großgrundbesitzer_innen einen Großteil des Landes umfassten, überstand die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten relativ unbeschadet. Trotz zahlreicher Versuche, Landreformen durchzuführen, hat sich an der ungleichen Landverteilung bis heute wenig geändert.
Schon im 19. Jahrhundert führte die Agrarfrage zu Konflikten. Den ersten tatsächlichen Einschnitt erlitt das hacienda-System aber erst mit der mexikanischen Revolution (1910 bis 1920). Emiliano Zapata führte im Süden Mexikos eine revolutionäre Agrarbewegung an und verteilte Land an jene „die es bearbeiten“. Im Norden konfiszierte Pancho Villa ebenfalls große Ländereien und stellte diese unter staatliche Verwaltung. Die vor allem im Süden stattfindende Agrarrevolution wurde letztlich rechtlich in der Verfassung von 1917 kanalisiert. Kernpunkt war Artikel 27, durch den gemeinschaftlich genutztes Land juristisch anerkannt wurde. Diese so genannten ejidos durften weder verkauft noch geteilt werden. Die in der Verfassung vorgesehenen Reformen kamen allerdings erst unter der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas (1934 bis 1940) in Fahrt, an deren Ende das Gemeindeland knapp die Hälfte der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche Mexikos ausmachte. Das hacienda-System verlor somit erstmals in einem lateinamerikanischen Land die Vormachtstellung. Die Agraroligarchie blieb während der Regierungszeit der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) dennoch politisch einflussreich und sicherte sich staatliche Subventionen und Kredite.
Das zweite Beispiel einer bedeutenden Landreform fand ab 1953 in Bolivien statt. Im Rahmen der Revolution wurden massiv Ländereien an Kleinbäuerinnen und Kleinbauern verteilt. Die traditionellen Landrechte der indigenen Mehrheitsbevölkerung wurden jedoch nicht wieder hergestellt. Vielmehr sorgte die Agrarreform für eine kapitalistische Modernisierung des Agrarsektors, der durch ein wirtschaftlich ineffizientes Feudalsystem geprägt war. Das Latifundium an sich blieb weiterhin bestehen, vor allem im östlichen Tiefland. Die reine Verteilung von Minifundien blieb aufgrund einer fehlenden weiterführenden Agrarpolitik unzureichend.
Ein weiterer ambitionierter Versuch einer Landreform scheiterte 1954 gewaltsam. In Guatemala besaß die US-amerikanische United Fruit Company (heute Chiquita) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwa 42 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzflächen und stellte machtpolitisch einen „Staat im Staate“ dar. 85 Prozent der Ländereien ließ das Unternehmen brach liegen. Ab 1944 enteigneten die sozialdemokratische Regierungen unter Juan José Arévalo und Jacobo Árbenz insgesamt ein Fünftel des Agrarlandes. Dem zehnjährigen politischen Frühling setzte der Putsch, der logistisch wie finanziell von den USA unterstützt wurde, ein jähes Ende. Der Agrarreformprozess wurde anschließend rasch umgekehrt, Guatemala leidet bis heute an den Folgen.
Die größten Auswirkungen auf die Agraroligarchien des Kontinents hatte im 20. Jahrhundert die kubanische Revolution von 1959, die eine radikale Landreform in Gang setzte. Großgrundbesitz wurde enteignet und Kleinbäuerinnen und -bauern zur Verfügung gestellt. Um Protesten und Widerstandsbewegungen in anderen Ländern der Region den Wind aus den Segeln zu nehmen und ein Übergreifen der Revolution zu verhindern, machten sich die USA für geordnete Landreformen auf dem Kontinent stark. Im Rahmen der von US-Präsident John F. Kennedy ins Leben gerufenen „Allianz für den Fortschritt“ führten in den 1960er und 1970er Jahren die meisten lateinamerikanischen Länder Agrarreformen durch, wobei sie überwiegend Staatsland verteilten. Zwar konnte der kleinbäuerliche Sektor in einigen Ländern durchaus von den Landverteilungen profitieren, der nachhaltigere Effekt bestand jedoch in einer kapitalistischen Modernisierung der großen Produktionseinheiten. Im Rahmen des hacienda-Systems war die Produktivität zuvor gering gewesen, viel Land lag brach. Um Enteignungen zu verhindern, die rechtlich häufig ab einer bestimmten Größe des Latifundiums möglich waren, teilten einige Großgrundbesitzer_innen ihre Ländereien in mehrere Einheiten unter der Familie auf oder verkauften einen Teil. Es entstand ein zweigeteiltes System aus modernem Agrobusiness und kleinbäuerlicher Landwirtschaft, die zum großen Teil als Subsistenzwirtschaft betrieben wurde.
In den meisten Ländern waren die Agrarreformen darüber hinaus recht oberflächlich. Die weitestgehenden Umverteilungen fanden im 20. Jahrhundert im Rahmen von revolutionären Prozessen statt. In Bolivien und Kuba wurden etwa 80 Prozent des gesamten Agrarlandes umverteilt. In Mexiko, Chile (unter Eduardo Frei und Salvador Allende) , Peru (unter dem linken Militär Velasco Alvarado) und später Nicaragua (unter den Sandinist_innen ab 1979) war es etwa die Hälfte. Zwischen 15 und 25 Prozent des Bodens wurden in Kolumbien, Venezuela, Panama, El Salvador und der Dominikanischen Republik verteilt. In Ecuador, Costa Rica, Honduras und Uruguay und Paraguay waren es noch weniger. In Brasilien kam es erst ab Mitte der 1980er Jahre zu kleineren Umverteilungen, in Argentinien fand hingegen gar keine Landreform statt.
Zwar spielten Bauernbewegungen in vielen dieser Prozesse eine fordernde Rolle und wirkten bei der Ausgestaltung von Landreformen mit. Durchgeführt wurden die in Folge der kubanischen Revolution angeschobenen Reformen aber weitestgehend von Regierungsseite her. Die Agrarfrage konnte letztlich in keinem Land zugunsten der campesin@s gelöst werden. Weitergehende finanzielle und technische Unterstützung für die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern blieb in der Regel aus, nach einigen Jahren konzentrierte sich der Landbesitz wieder zunehmend. Durch den Modernisierungsschub profitierte das Agrobusiness von den Reformen weitaus mehr als der kleinbäuerliche Sektor.
Die neoliberale Wende, die fast alle Länder des Kontinents in den 1980er und 1990er Jahren erfasste, sorgte für ein vorläufiges Ende der von oben forcierten Landreformen. Ausgehend von Chile, wo die Militärdiktatur nach dem Putsch gegen Salvador Allende bereits in den 1970er Jahren mit neoliberaler Wirtschaftspolitik experimentierte, sollte die Landwirtschaft nun vor allem dazu dienen, exportfähige Waren zu produzieren. Durch den Anbau nicht-traditioneller Agrargüter wie Blumen, Äpfel oder Nüsse sollten gemäß der Theorie des Freihandels komparative Kostenvorteile ausgenutzt werden. Nach der Schuldenkrise Anfang der 1980er Jahre, verordneten der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die US-amerikanische Regierung den meisten lateinamerikanischen Ländern Strukturanpassungsprogramme. Die staatliche Unterstützung kleinbäuerlicher Landwirtschaft wurde radikal zurückgefahren. Die gleichzeitig einsetzende Handelsliberalisierung fiel für die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in ganz Lateinamerika verheerend aus und sorgte für dramatische soziale Folgen. Während ihnen der Zugang zu nordamerikanischen oder europäischen Märkten bis heute weitgehend verschlossen bleibt, konnten sie mit hochsubventionierten Agrarimporten aus dem Ausland nicht konkurrieren. Als Symbol für die neoliberale Zerstörung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft gilt die Gleichstellung des seit 1917 in der mexikanischen Verfassung verankerten ejidos mit Privatland (siehe Artikel von Alke Jenss in diesem Dossier). Um die Auflagen für das Inkrafttretens des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) zu erfüllen, wurde im Jahr 1992 unter der Präsidentschaft von Carlos Salinas de Gortari der entsprechende Verfassungsartikel 27 aufgehoben, so dass ejidos nun geteilt, verkauft, verpachtet oder als Sicherheit bei Krediten verwendet werden konnten. Der neozapatistische Aufstand, der am 1. Januar 1994, dem Tag des Inkrafttretens von NAFTA für Aufsehen sorgte, ist auch in dem Zusammenhang zu sehen.
Unter völlig anderen wirtschaftlichen Vorzeichen als in den 1960er Jahren stieg in den 1990er Jahren die Weltbank in das Thema der Landverteilung ein. Durch die marktgestützte Landreform sollte Brachland aktiviert und ein Markt für Land etabliert werden. Die Idee war, dass unter Vermittlung des Staates willige Verkäufer_innen und Käufer_innen zusammengeführt werden. Dafür notwendige Kredite sollten später aus den Erträgen zurückgezahlt werden. Abgesehen davon, dass die guten Böden in der Regel sowieso nicht zum Verkauf standen, hatten Kleinbäuerinnen und -bauern sowie Landlose nichts von dem Konzept. Weder verfügten sie über Kapital noch über die Aussicht, unter den gegebenen neoliberalen Rahmenbedingungen einen Kredit jemals zurückzahlen zu können. Zur gleichen Zeit begann der US-amerikanische Biotech-Konzern Monsanto seinen Siegeszug von gentechnisch veränderten Organismen in Lateinamerika. Argentinien war 1996 das Einfallstor für den Anbau von Gen-Soja in Südamerika. Fast die gesamte in Argentinien angebaute Soja ist heute Monsantos genetisch modifiziertes Roundup Ready, das gegen das gleichnamige hochgiftige Herbizid resistent ist, welches von Monsanto im Gesamtpaket gleich mitgeliefert wird. Dieses vernichtet Unkraut, Insekten und alles weitere außer der Sojapflanze selbst. Als häufigste Folgen des flächendeckenden Pestizideinsatzes sind bei Menschen unter anderem Erbrechen, Durchfall, Allergien, Krebsleiden, Fehlgeburten und Missbildungen sowie gravierende Schäden für die Umwelt dokumentiert. Seit der Einführung von Gen-Soja in Südamerika ist der Einsatz von Herbiziden drastisch gestiegen. Durch industrielle Landwirtschaft und den damit einhergehenden Monokulturen verschlechtert sich zudem die Bodenqualität, wird Wald abgeholzt, die Artenvielfalt dezimiert und es gehen traditionelle Anbaumethoden sowie die Vielfältigkeit einheimischen Saatguts verloren.
Um sich gegen den fortwährenden Niedergang der kleinbäuerlichen Landwirtschaft zur Wehr zu setzen, begannen Organisationen von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern sowie Landlose, eine eigene Agenda zu verfolgen. 1993 gründete sich mit La Via Campesina (Der bäuerliche Weg) ein weltweiter Zusammenschluss kleinbäuerlicher Organisationen, der in den folgenden Jahren zu einem bedeutenden politischen Akteur aufstieg. Einen großen Anteil an der Entstehung und internen Entwicklung von La Via Campesina hatte die brasilianische Landlosenbewegung MST, die bereits 1984 gegründet worden war und in Brasilien bis heute Landbesetzungen durchführt. La Via Campesina kritisiert das herrschende Paradigma der Lebensmittelproduktion in seiner ganzen Breite, angefangen bei der Monokultur über industrielle Großlandwirtschaft bis hin zur Biotechnologie. Während internationale Organisationen meist Ernährungssicherheit propagieren, bei der es ausschließlich darum geht, den Menschen Zugang zu Lebensmitteln zu ermöglichen, egal ob diese importiert werden oder nicht, hat das Netzwerk den Begriff der Ernährungssouveränität entwickelt. Dieser zielt auf Lebensmittelproduktion auf lokaler Ebene ab und sieht vor, dass sich Bauern und Bäuerinnen selbstbestimmt und demokratisch für ihre Formen der Produktion und des Konsums entscheiden. Weitere Bestandteile des Konzepts beinhalten eine integrale Landreform, den Verzicht auf Gentechnik oder die Produktion gesunder Lebensmittel.
Im vergangenen Jahrzehnt haben die Ideen von La Via Campesina sogar Anklang bei lateinamerikanischen Linksregierungen gefunden. Das Konzept der Ernährungssouveränität wird in den Verfassungen von Venezuela, Bolivien und Ecuador explizit als Ziel benannt. Auch das Thema Agrarreform wurde in diesen Ländern von Regierungsseite her wieder aufgegriffen, Enteignungen gelten im Gegensatz zur neoliberalen Ära nicht mehr als Tabu. Den teilweise radikalen Diskursen der Regierenden stehen in der Realität allerdings nur geringe Fortschritte gegenüber (siehe Artikel von Börries Nehe zu Bolivien in diesem Dossier). Die Agrarreformen kommen nur schleppend voran und die betroffenen Großgrundbesitzer_innen und Agrounternehmen wehren sich mit allen Mitteln. So sind etwa in Venezuela im vergangenen Jahrzehnt rund 300 Bauernaktivist_innen ermordet worden. Die in der Justiz verbreitete Korruption und fehlender politischer Wille verhindern fast immer strafrechtliche Konsequenzen. Auch die linken Regierungen in Lateinamerika halten zudem grundsätzlich an einem extraktivistischen, auf höchstmögliche Ausbeutung von Rohstoffen und Land gerichteten Wirtschaftsmodell fest.
Die Rahmenbedingungen für Landreformen haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend verschlechtert. Anstelle der einheimischen, mitunter physisch präsenten Großgrundbesitzer_innen treten nun häufig Unternehmen des Agrobusiness und international tätige Investmentgesellschaften mit teils undurchsichtigen Besitzstrukturen. Internationale Freihandelsverträge und bilaterale Investitionsschutzabkommen erschweren Enteignungen, indem sie hohe und kostspielige Hürden errichten. Die Höhe der bei Enteignungen zu zahlenden „angemessenen“ Entschädigungen liegt in der Regel deutlich über dem Niveau, das nach jeweiligem Landesrecht beziehungsweise den finanziellen Möglichkeiten einer Regierung möglich wäre.
Die Agrarfrage in Lateinamerika ist auch heute nach wie vor ungelöst. Noch immer ist Lateinamerika die Region mit der ungleichsten Landverteilung weltweit. Ein modernes Agrobusiness, das kaum Leute beschäftigt, steht einem marginalisierten kleinbäuerlichen Sektor gegenüber. Dieser gilt in Entwicklungsdebatten häufig als anachronistisch, obwohl er für die Ernährungssicherheit und -souveränität unabdingbar ist. In vielen Ländern hat die kleinbäuerliche Landwirtschaft vor der politisch übergestülpten Handelsliberalisierung einen Großteil der Lebensmittel produziert, die heute importiert werden. Die Landbevölkerung lebt in allen Ländern Lateinamerikas in relativer und häufig auch absoluter Armut. Zudem werden zahlreiche Landkonflikte gewaltsam ausgetragen. Soja- und Ölpalmanbau sorgen für Vertreibungen in Ländern wie Kolumbien, Honduras, Paraguay oder Brasilien. Auch wenn Landreformen alleine nicht ausreichen, sind sie zumindest Grundbedingung, um den kleinbäuerlichen Sektor zu stärken und mehr Menschen ein Auskommen und Nahrung zu ermöglichen. Die bäuerlichen sozialen Bewegungen gewinnen an Stärke. Doch sie stehen einem kapitalistisch-industriellen Agrobusiness gegenüber, das weltweit agiert und hochprofitabel wirtschaftet. Würden die Folgekosten für Umwelt und Gesundheit mit einberechnet, sähe es hingegen anders aus.

Der Kolonist von nebenan

„Gilson Pinesso zeigt denselben Pioniergeist wie einst sein Vater!“, schrieb die brasilianische Zeitung Estado de São Paulo im August 2010. Pinessos Vater zog in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts vom südlichen Bundesstaat Paraná in den Westen Brasiliens, nach Mato Grosso, um dort Landwirtschaft im großen Stil zu betreiben. Nun sucht der Sohn neue Investitionsmöglichkeiten für seinen großen Landwirtschaftsbetrieb – und findet sie jenseits der brasilianischen Grenze, ja, sogar jenseits des Kontinents.
Pinesso hat 2010 einen Pachtvertrag über 10.000 Hektar mit der sudanesischen Regierung abgeschlossen. Im ersten Jahr kultivierte er auf 500 Hektar Baumwolle, in diesem Jahr sollen die restlichen Flächen mit Soja bebaut werden. Verkauft wird auf dem Weltmarkt, Nahrungsmittel für die Bevölkerung der Region produziert Pinesso nicht. Vorteile für sein Geschäft erreicht er vor allem durch eine gute Straßenanbindung und den günstigen Bodenpreis im Sudan. 50 US-Dollar pro Hektar pro Jahr muss er zahlen. „Das ist sehr wenig für die Qualität des Bodens“, sagte er der Estado de São Paulo. Zudem müsse er deutlich weniger Insektizide verwenden, als er es von Brasilien gewohnt sei. Er denke bereits über weitere Investitionen in Äthiopien und Uganda nach. „Brasilianer werden die Region wirtschaftlich entwickeln!“, prophezeit er, und die Estado de São Paulo begrüßt diese Entwicklung.
Unternehmer_innen wie Gilson Pinesso sind kein Einzelfall. Brasilien ist eben nicht nur ein Land, das Agrarinvestoren anzieht, viele kommen auch von dort. Zahlreiche Agrarunternehmer_innen in Brasilien sind zu erheblichem Wohlstand gekommen. Die zweite Generation der Agrarbourgeoisie drängt nun auf den weltweiten Agrarmarkt, sie hält Ausschau nach neuen Geschäftsfeldern, auch jenseits der Grenze des Nationalstaats. Nach Afrika drängt es wie Gilson Pinesso bisher aber nur relativ wenige brasilianische Großfarmer_innen – insofern ist er eher die Ausnahme. Aber in der unmittelbaren Nachbarschaft des größten südamerikanischen Landes sind die brasilianischen Geschäftsleute mitt­lerweile ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.
Im kleinen Nachbarland Paraguay etwa werden auf drei Millionen Hektar Soja angebaut, 60 Prozent dieser Fläche gehört Brasilianer_innen. Allein von Januar bis Juni dieses Jahres wurden hier 100.000 Hektar an ausländische Investoren verkauft, meistens an Unternehmer_innen aus dem großen Nachbarland. Dieser Trend existiert bereits seit Jahren, die sogenannten brasiguayos sind wirtschaftlich sehr einflussreich. Insbesondere in den wenig besiedelten Westen des Landes drängen die Unternehmer_innen, angezogen vom niedrigen Bodenpreis, erklärte Rodrigo Artagaveytia von der Landwirtschaftlichen Studiengruppe Estudio 3000 in einer Untersuchung. Früher galt der Westen des Landes als zu trocken und abgelegen, um dort erfolgreich zu wirtschaften, doch verbesserte Verkehrsanbindungen und Produktiosmethoden machen diese Region zunehmend interessant. Der Bodenpreis ist hingegen weiterhin sehr niedrig: Im Gegensatz zu Uruguay, wo der Preis pro Hektar bei über 2.000 US-Dollar liegt, sei das Land im westlichen Paraguay mit 120 bis 180 US-Dollar pro Hektar unschlagbar billig.
Insgesamt haben die Investoren aus Brasilien dennoch einen guten Ruf in Paraguay. Die meisten Paraguayer_innen schätzen Brasilien und die Brasilianer_innen, da sie Entwicklung und Investitionen in das Land brächten. Doch es gibt auch Kritiker_innen, die eine Gefahr für die nationale Souveränität befürchten. Das brasilianische Außenministerium Itamaraty – dessen Stimme traditionell viel Gewicht in Paraguay hat – übt gerne auch mal Druck auf die Gerichte des Nachbarlandes aus, um juristische Entscheidungen zugunsten brasilianischer Agrarunternehmen zu beeinflussen. Das Bündnis „Front für die Souveränität und das Leben“, das verschiedene Organisationen von Kleinbäuerinnen und -bauern vereint, sieht gar eine schleichende Kolonisierung des Landes durch brasilianische Unternehmer_innen voranschreiten.
In Bolivien will die Regierung den ausländischen Investitionen einen Riegel vorschieben. Auch hier sind es vor allem Brasilianer_innen, die am Agrargeschäft beteiligt sind. Im März dieses Jahres kündigte die Regierung Evo Morales medienwirksam an, in Zukunft eine Million Hektar Land, das sich in den Händen von Ausländer_innen befinde, enteignen zu wollen. Der Vizeminister für Landfragen, José Manuel Pinto, erklärte, dass viele Unternehmer_innen das Land illegal erworben hätten. Nur diese wolle man enteignen. „Wir sind nicht gegen Ausländer in Bolivien. Aber sie sollen sich an unsere Gesetze und Normen halten“, erklärte er. Wie und wann genau dies geschehen soll, ist aber bis heute ungeklärt.
Vor allem mexikanische Mennonit_innen und Brasilianer_innen hätten in Bolivien illegal Land erworben, erklärte Vizeminister Pinto. Nach einer Studie der bolivianischen Stiftung Tierra haben ausländische Investoren in den letzten Jahren über eine Million Hektar Land in Bolivien erworben. Etwa 700.000 Hektar davon gingen auf das Konto brasilianischer Unternehmer_innen.
Nach Informationen der bolivianischen Umweltorganisation PROBIOMA werden auf diesen Flächen vor allem Baumwolle und Soja angebaut. Dabei komme auch transgenes Saatgut zum Einsatz, welches eigentlich seit 2006 verboten ist. „Doch daran wird nichts geändert, denn es gibt praktisch keine Kontrolle der industriellen Landwirtschaft im Osten Boliviens“, heißt es im Bericht.
Nach Bolivien angezogen werden die brasilianischen Unternehmer_innen weniger von den guten Produktionsbedingungen. Die Erträge liegen mit 2,5 Tonnen pro Hektar deutlich niedriger als in Brasilien, wo über vier Tonnen pro Hektar erwirtschaftet werden. Vielmehr ist es der bis zu 50 Prozent billigere Diesel, der in der industriellen Landwirtschaft in großen Mengen benötigt wird, der Bolivien als Investitionsland attraktiv macht. Der bolivianische Staat subventioniert großzügig den Treibstoff und lockt so ausländische Investoren ins Land.
Von den ausländischen Unternehmer_innen gehe vor allem eine Gefahr für die Ernährungssouveränität des Landes aus, sagen Kritiker_innen wie Miguel Urioste. Der Gründer und Forscher von Tierra erklärte der Presse, dass diese Unternehmer_innen für den Export produzierten, anstatt Nahrung für die Bevölkerung. Unter der Regierung Morales hätte sich daran nichts geändert: „Der Staat schützt weiterhin die industrielle Landwirtschaft, obwohl es komplett gegen den Diskurs der Regierung geht“, erklärt er. Die Regierung bejahe öffentlich die Erhaltung der Ernährungssouveränität und verdamme die industrielle Landwirtschaft, konkret geschehe aber wenig. Dies liegt wohl nicht zuletzt an dem Einfluss des mächtigen Nachbarlandes. Ginge die Regierung entschlossener gegen die industrielle Landwirtschaft vor, wären zahlreiche brasilianische Unternehmen betroffen, was das Itamaraty auf den Plan riefe. So wird die Ernährungssouveränität Boliviens durch das Nachbarland direkt gefährdet.
Auch die Natur wird durch den Boom der industriellen Landwirtschaft zerstört. Der zentrale Chaco, die savannenartigen Ebene im Grenzgebiet zwischen Bolivien und Paraguay, wird derzeit komplett umgewandelt. Von 1932 bis 1935 führten Bolivien und Paraguay dort den blutigsten zwischenstaatlichen Krieg des 20. Jahrhunderts in Südamerika, doch in den Jahrzehnten danach passierte wenig mit dem so begehrten Land. Als zu kostenintensiv galt die Landwirtschaft im trockenen Chaco, nur einige mennonitische Siedler_innen pflanzten erfolgreich Baumwolle oder züchteten Rinder. Doch wo früher dichte Dornenwälder standen, erstrecken sich heute oft riesige Weideflächen.
Protagonist_innen dieser Verwandlung des Chaco sind neben den Mennonit_innen wieder einmal brasilianische Unternehmer_innen. Vor allem Viehwirtschaft sowie der Anbau von Baumwolle und Sesam rentieren sich im sehr trockenen Chaco. Durch neue Technologien und den Einsatz gentechnisch veränderten Saatguts wird der Chaco nun kapitalistisch in Wert gesetzt. Der Landwirtschaftsboom im zentralen Südamerika gefährdet nicht nur das fragile Ökosytem des Chaco. Auch die indigenen Ethnien sehen sich zunehmend von den Soja- und Baumwollplantagen bedroht. Die Ayoreo des nördlichen Chaco zum Beispiel leben bis heute weitgehend ohne Kontakt zu der weltweit verflochtenen Gesellschaft. Aus diesem Grund haben sie meist auch keine offiziellen Besitztitel für das Land, das sie seit Generationen bewohnen. Durch den Druck des Landwirtschaftsbooms sind viele Ayoreo gezwungen, ihre selbstgewählte Isolation aufzugeben. Eine Interessenvertretung der Indigenen reichte nun eine Beschwerde bei den Vereinten Nationen ein. In dem Schreiben beklagen sie die Zerstörung ihres Landes durch brasilianische Unternehmen.
Gerade Brasilianer_innen gehören zur Avantgarde des Land Grabbings, weil sie bereits Generationen übergreifende Erfahrungen mit der industriellen Landwirtschaft gemacht haben. Der Boom der industriellen Landwirtschaft in Brasilien setzte bereits in den 1960er Jahren ein. Mit großzügiger Unterstützung der damaligen Militärregierungen siedelten viele Landwirte aus den Bevölkerungszentren des Südens und Südostens in den kaum wirtschaftlich integrierten Westen des Landes, um Soja, Baumwolle und Getreide im großen Maßstab zu produzieren. Die „grüne Revolution“ nannte man damals dieses neue, auf den Export orientierte Entwicklungsmodell. Für die brasilianische Volkswirtschaft ergaben sich dadurch enorme Einnahmen, und viele Unternehmer_innen sind am Geschäft steinreich geworden. Die Schattenseiten waren Umweltzerstörung und Vertreibung der lokalen Bevölkerung, auch der indigenen Ethnien.
Die damaligen Konflikte ähneln den heutigen dabei frappant. So ist es keineswegs abwegig, wenn die Zeitung Estado de São Paulo den „Pioniergeist“ des Vaters in Gilson Pinesso, dem Großfarmer, der im Sudan investiert, weiterleben sieht. Er bringt das brasilianische Entwicklungsmodell nun auf einen anderen Kontinent. Der Estado de São Paulo begrüßt diese Entwicklung, obwohl die Gefahren für die Ernährungssouveränität und auch -sicherheit durch dieses Agrarmodell, das nur auf Export orientiert ist, gerade in Ostafrika augenscheinlich sind. Wenige hundert Kilometer von Pinessos Farmen entfernt, am Horn von Afrika, verhungern derzeit tausende Menschen.

Zwischen Patriotismus und Plünderung

Bei Investoren, die sich heute auf die weltweite Jagd nach fruchtbaren Böden machen, ist Lateinamerika sehr beliebt: Anders als Afrika bietet der Subkontinent den Vorteil größerer Rechtssicherheit und entwickelter Infrastrukturen. Angetrieben durch hohe Profitaussichten dank steigender Lebensmittelpreise kanalisieren Banken und Fonds Milliarden-Summen in südamerikanische Agrarfirmen, die meist mehrere Anwesen zugleich für internationale Anleger_innen verwalten. In einer Studie der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) wird davon ausgegangen, dass „ein Drittel der Fonds, die weltweit in Farmland investieren, Gelder in Brasilien angelegt haben“.
Cosan, der Gigant unter den brasilianischen Zuckerfabrikanten, ist einer der Land Grabber, in dem nationales und internationales Kapital verschmelzen. Eigene Zuckerrohrfelder in der Größe von 700.000 Hektar liefern den Rohstoff für Cosans 23 Zucker- und Ethanolfabriken. Anfang des Jahres gründete der Großgrundbesitzer mit der britisch-niederländischen Royal Dutch Shell das Gemeinschaftsunternehmen Raízen, das den internen und internationalen Markt mit Ethanol beliefern soll. Um die Expansion zu ermöglich, füllen deutsche Kleinanleger_innen Cosans Kriegskasse auf. Mehrere Fonds der DWS, die Investmentgesellschaft der Deutschen Bank, beteiligen sich an dem berüchtigten Konzern. 2010 setzte das brasilianische Arbeitsministerium Cosan auf die schwarze Liste der Sklavenhalter, nachdem 42 Zwangsarbeiter_innen auf einer seiner Plantagen befreit werden mussten. Ebenso beschuldigte die Staatsanwaltschaft im Bundesstaat Mato Grosso do Sul das Unternehmen, Zuckerrohr auf einer Plantage anzubauen, die es illegal auf Indigenen-Land der Guarani-Kaiowá angelegt hatte.
Die Deutsche Bank lässt ihre Anleger_innen auch an der Waldzerstörung mitverdienen. So investieren drei DWS-Fonds in die argentische Cresud, die über 650.000 Hektar in Argentinien, Brasilien, Bolivien und Paraguay besitzt. Neben Viehzucht und Getreideanbau für den Export, gehören Aufkauf und Erschließung von Ackerland zum Schwerpunkt des Unternehmens. In der nordargentinischen Provinz Salta führt Cresud die Liste der lokalen Abholzer an: Über 56.000 Hektar artenreicher Quebracho-Wälder fielen dem Konzern zum Opfer, um Platz für Felder und Weiden zu schaffen. Leidtragende sind vor allem die Indigenen der Wichí, die mit den Wäldern einen Teil ihrer Lebensgrundlagen verloren haben. „Die Wichí sind traditionell Jäger und Sammler“, erläutert Ana Álvarez von der Nichtregierungsorganisation Asociana. Durch den Waldverlust ist ihre Verarmung mittlerweile so groß, dass in diesem Jahr bereits zehn Kinder an Unterernährung gestorben sind.
Doch die Milliarden, die internationale Investoren in landraubende Agrarfirmen pumpen, heizen auch Debatten um den Verlust nationaler Souveränität in der Region an. Als 2010 im Vorwahlkampf brasilianische Medien mit Berichten über Investitionspläne chinesischer, arabischer und europäischer Unternehmen überquollen, warnte auch der damalige Präsident Lula da Silva vor dem „Missbrauch von Landkäufen durch Ausländer“. Wenn Brasilien diesen Trend nicht aufhalte, werde das Land auf „ein winziges Territorium“ zusammenschrumpfen. Guilherme Cassel, der Minister für Agrarentwicklung, sekundierte: „Brasilianisches Land muss in der Hand von Brasilianern bleiben“.
Die brasilianische Zentralbank untermauerte die Befürchtungen vom Ausverkauf mit ihrer Schätzung, dass Ausländer_innen zwischen 2002 und 2008 2,4 Milliarden US-Dollar in Landkäufe investierten. Doch wie groß die Flächen in ausländischem Besitz konkret sind, ist unbekannt. So weist die Agrarreformbehörde INCRA nur die Zahl der Grundstücke aus, die sich auch namentlich im Besitz von Ausländer_innen befinden. Dies seien 34.000 mit einer Gesamtfläche von über vier Millionen Hektar. Da viele Investoren aber brasilianische Strohmänner, Briefkastenfirmen oder Unternehmen als formale Grundeigentümer einsetzen, ist der von Ausländer_innen kontrollierte Besitz faktisch weit größer. Schätzungen gehen von bis zu 30 Millionen Hektar aus.
Im August 2010 schließlich ließ Lula eine neue Interpretation eines Gesetzes von 1971 durch den Generalstaatsanwalt verkünden, die den Landkauf von Ausländer_innen oder Unternehmen, die von Ausländer_innen kontrolliert werden, beschränkt. Danach dürfen ausländische Investoren künftig nicht mehr als 50 Parzellen einer brasilianischen Gemeinde erwerben. Da die Parzellen je nach Region und physischer Ausstattung unterschiedlich groß ausfallen, kann die Gesamtfläche, die sie künftig noch kaufen dürfen, zwischen 250 und 5.000 Hektar betragen. Doch darf sie nicht 25 Prozent der gesamten Ackerflächen einer Gemeinde überschreiten.
Generalstaatsanwalt Luís Lucena Adams versicherte zugleich, dass die Maßnahme ausländische Investitionen nicht ausbremsen werde: „Wir schließen nicht die ausländische Beteiligung aus, aber wir wollen die nationale Kontrolle über den Landbesitz ausüben. Die Unternehmen werden sich anpassen und enger mit lokalen Firmen kooperieren müssen.“ Genau daran aber setzt die Kritik von Linken und sozialen Bewegungen an. Professor Horácio Martins de Carvalho, Agraringenieur und Berater des Kleinbauernetzwerks Via Campesina, schimpft: „Nichts verhindert, dass ausländische Aktionäre Anteile nationaler Unternehmen erwerben, die Land kaufen.“ Für ihn steht außer Frage, dass sowohl die Regierung als auch wichtige Teile der Unternehmerschaft das ausländische Kapital willkommen heißen.
Ohnehin sei die Effektivität dieser Maßnahme zu bezweifeln, da ihre Umsetzung vom guten Willen der Katasterämter abhänge. Diese jedoch sind längst privatisiert worden und berüchtigt für die Korruption bei der Registrierung von Landtiteln. All die Sorgen um den Ausverkauf wären letztlich erst dann hinfällig, wenn die Regierung eine umfassende Agrarreform durchführen würde, die vier bis fünf Millionen Landlose ansiedelt und die Latifundien zerschlägt. Dann nämlich, so Carvalho, stünde das brasilianische Territorium „unter der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Kontrolle der Bauernschaft“. Dagegen werde der Vormarsch des Agrobusiness solange nicht zu stoppen sein, wie nur halbherzige Maßnahmen ergriffen würden, „die sich auf das ausländische Kapital in unserer Landwirtschaft beschränken“.
Ähnliche Initiativen werden nun auch in anderen Ländern diskutiert, etwa in Argentinien, Bolivien und Uruguay. „Die Verfügung über Land ist eine vitale, strategische Frage im 21. Jahrhundert“, erklärte Argentiniens Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner bei der Vorstellung ihres Entwurfs für ein Landgesetz, das derzeit im Kongress debattiert wird. In Anlehnung an die brasilianischen Regeln sieht es vor, den Landbesitz von Ausländer_innen und Unternehmen, die von Ausländer_innen dominiert werden, auf 20 Prozent der Agrarflächen auf nationaler, Provinz- und Gemeindeebene zu beschränken. In den fruchtbaren Gebieten der zentralen Pampa sollen Ausländer_innen nicht mehr als 1.000 Hektar kaufen dürfen. Ähnliche Schwellen will man auch in anderen Regionen etablieren.
Weil auch in Argentinien unbekannt ist, wie groß die Grundstücke in ausländischem Besitz tatsächlich sind, soll ein nationales Grundbuch eingeführt werden. Eine Besonderheit des Kirchner-Entwurfs ist, dass der Erwerb von knappen und nicht erneuerbaren Gütern wie Land nicht als Investition betrachtet wird. „Eine Investition ist es, wenn jemand Technologie mitbringt, nicht wenn er ein Grundstück kauft“, erläutert der an dem Entwurf beteiligte Jurist Eduardo Barcesat. Mit dieser Regelung will die Regierung Ausländer_innen die Möglichkeit verbauen, im Streitfall die in bilateralen Investitionsschutzabkommen vorgesehenen Schiedsgerichte anrufen zu können.
Doch der argentinische Gesetzentwurf bleibt ebenfalls nicht von Kritik verschont. Die Zeitung Página/12 verweist darauf, dass die 20-Prozent-Schwelle 40 Millionen Hektar entspricht. Da die Regierung das Land, das derzeit in Besitz von Ausländer_innen ist, auf sieben Millionen Hektar schätzt, bekundet sie mit dieser Schwelle letztlich die Absicht, das Drei- bis Vierfache der bisherigen Flächen an das internationale Agrobusiness zu verkaufen. So kann nicht verwundern, dass die Aktivist_innen der Grupo Reflexión Rural Kirchners Gesetz als „nutzlos“ bezeichnen, da es der Plünderung keinen Riegel vorschiebe.
Tatsächlich lassen die derzeit ergriffenen Regierungsmaßnahmen nicht erkennen, dass Kleinbauern und -bäuerinnen sowie Indigene, also jene, die am stärksten unter Verdrängung leiden, profitieren könnten. Im besten Fall sorgen die Beschränkungen für ausländische Investoren nur dafür, dass die Verflechtungen zwischen nationalem und ausländischem Kapital zunehmen und die intensivlandwirtschaftlichen Produktionsmethoden sich noch rascher ausbreiten. Während so das Paket aus Monokultur, Hochleistungssaatgut und Agrarchemie immer mehr zur Norm wird, fehlt es weiterhin an Initiativen, die den Vormarsch der Agrarfront und die Landnahme effektiv eindämmen könnten.

Paradies der Straflosigkeit vor dem Aus

Seit 26 Jahren ziehen an jedem 20. Mai tausende Menschen schweigend durch die Innenstadt von Montevideo. Sie erinnern an die während der Militärdiktatur von 1973 bis 1985 Ermordeten und „Verschwundenen“. Bisher schützte ein Amnestiegesetz die TäterInnen weitestgehend. 2011 soll jedoch an diesem für viele UruguayerInnen symbolträchtigen Tag das „Gesetz über die Hinfälligkeit des Strafanspruchs des Staates“ seine Gültigkeit verlieren. So haben es die ParlamentarierInnen der regierenden Mitte-Links-Koalition Frente Amplio in Uruguay entschieden.
Zunächst hatte das Repräsentantenhaus am 20. Oktober 2010 mit seiner linken Mehrheit das 1986 von der damaligen konservativen Regierung unter Julio María Sanguinetti verabschiedete so genannte „Ley de Caducidad“ („Hinfälligkeits-Gesetz“) in seinen wesentlichen Artikeln für ungültig erklärt. Am 12. April 2011 wurde es auch im Senat, der zweiten Parlamentskammer, mit einer Stimme Mehrheit aufgehoben. Wegen formaler Änderungen müssen jetzt noch einmal abschließend die Abgeordneten abstimmen, dann ist der Weg frei für die Unterzeichnung durch den Staatspräsidenten José Mujica. Obwohl sich der ehemalige Tupamaro-Guerrillero immer noch nicht zweifelsfrei dazu geäußert hat, wird jedoch davon ausgegangen, dass der Präsident den Beschluss unterzeichnet und das Amnestiegesetz damit seine Gültigkeit verlieren wird. Damit wäre auch Uruguay, das Land in Lateinamerika, in dem während der Militärdiktatur in Bezug auf seine Einwohnerzahl die meisten Menschen inhaftiert wurden, kein Paradies der Straflosigkeit mehr.
Während im Abgeordnetenhaus die Frente Amplio-Mehrheit geschlossen abstimmte, führte das Votum im Senat zu einer Zerreißprobe für das 1971 gegründete älteste Linksbündnis Lateinamerikas. Nach einer mehr als zwölf Stunden andauernden hitzigen Debatte stimmte der uruguayische Senat mit 16 Stimmen der Linkskoalition gegen das Gesetz, das die strafrechtliche Verfolgung von Verbrechen, die während der Militärdiktatur von Angehörigen des Militärs und der Polizei begangen wurden, untersagt hatte. 15 SenatorInnen der geschlossen auftretenden konservativen Opposition stimmten für die Beibehaltung des Amnestiegesetzes.
Für heftige Diskussionen hatten im Vorfeld der Abstimmung die Positionen von drei Senatoren der Frente Amplio gesorgt, die sich – entgegen allen Beschlüssen der obersten Gremien des Parteien- und Bewegungsbündnisses und gegen den expliziten Willen der Basiskomitees – entschieden hatten, gegen die Aufhebung des Gesetzes zu stimmen. Gefunden wurde letztlich ein „fauler“ Kompromiss, der von den Menschenrechtsorganisationen und der Vereinigung der Familienangehörigen der Verschwundenen und Ermordeten trotz aller Freude über das abzusehende Ende der straffreien Zeit heftig kritisiert wurde.
Am meisten Aufmerksamkeit erregte dabei die Haltung des Senators Eleuterio Fernández Huidobro. Huidobro, genannt „El Ñato“, war einer der GründerInnen der Tupamaros und ebenso wie José „Pepe“ Mujica dreizehn Jahre lang unter extremsten Bedingungen während der Militärdiktatur inhaftiert. Seit 2004 ist er Senator für die Frente Amplio. Er stimmte letztlich aus Parteidisziplin der Aufhebung des Gesetzes zu, trat aber am folgenden Tag von seinem Senatsposten zurück. Der Senator Jorge Saravia hingegen blieb bei seinem Nein – und wurde direkt im Anschluss an die Abstimmung aus der Partei verstoßen. Senator Rodolfo Nin Novoa, unter Tabaré Vázquez Vizepräsident, ließ sich beurlauben und überließ das Stimmrecht seinem Stellvertreter.
Saravia und Novoa argumentierten vor allem damit, dass der Wille des Volkes zu respektieren sei. Sie bezogen sich hierbei auf die beiden Volksabstimmungen zur Abschaffung des Gesetzes über die Straflosigkeit von 1989 und 2009. Sowohl im April 1989, noch unter dem Eindruck des Schreckens der vier Jahre vorher abgetretenen Militärregierung, als auch im Oktober 2009 wurde die notwendige Mehrheit von 50 Prozent plus eine Stimme, die zur Annullierung des Gesetzes notwendig gewesen wäre, nicht erreicht. Am 25. Oktober 2009, dem Tag als die ehemalige Geisel des Staates „Pepe“ Mujica den ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen deutlich gewann, fehlten dafür nur gut knapp zwei Prozent der Stimmen.
Sowohl innerhalb der Frente Amplio als auch von den Menschenrechtsorganisationen wurde diese formale Position, die sich die Opposition bei ihrer Kampagne gegen die Abstimmung im Parlament als Hauptargument zu Eigen machte, scharf kritisiert. „Das Ley de Caducidad war für uns immer null und nichtig, und es hat immer allen internationalen Abkommen über die Achtung und den Schutz der Menschenrechte, die Uruguay seit Mitte der 1980er Jahre unterschrieben hat, widersprochen“, so Luisa Cuesta, Sprecherin der Mütter und Familienangehörigen der „Verschwundenen“. Aus diesen Gründen hatten auch schon beide Kammern des Parlamentes im Februar 2009 das Amnestiegesetz im Falle der Ermordung der 24jährigen Nibia Sabalsagaray für verfassungswidrig erklärt. In der Folge wurden mehrere Militärangehörige, die für die Ermordung der jungen Kommunistin verantwortlich gemacht werden, zu Haftstrafen verurteilt. Eine Entscheidung, die kurz darauf vom obersten Gerichtshof Uruguays nicht nur bestätigt, sondern noch erweitert wurde.
Das Gericht wertete damals das Gesetz insgesamt als verfassungswidrig, vor allem mit der Begründung, dass die Legislative es 1986 gar nicht hätte beschließen dürfen. Zuvor hatten die Obersten Richter mehrere weitere Fälle für verfassungswidrig erklärt und so während der Regierungszeit des ersten Linkspräsidenten Tabaré Vázquez von März 2005 bis März 2010 den Weg für Nachforschungen und Gerichtsverfahren in insgesamt 57 Fällen geebnet. Vázquez, der einerseits das Amnestiegesetz immer als „nationale Schande“ bezeichnet hatte, während seiner Amtszeit aber keine Initiativen zur Abschaffung unterstützte, stellte sich dieses Mal klar hinter die Haltung der Mehrheit seiner Partei. Dies auch aus wahltaktischem Kalkül. Der immer noch sehr beliebte Ex-Staatspräsident plant schon seine erneute Kandidatur für die Legislaturperiode von 2015 bis 2020.
Für Huidobro hingegen ist die Annullierung des Amnestiegesetzes auch aus anderen Gründen falsch. „Die Frente Amplio begeht einen schweren Fehler”, so sein letztes Wort als Senator. Für ihn waren die Militärs ebenso wie die Tupamaros „Kämpfer“. Beide Gruppen, so Huidobro, haben Fehler begangen, für die sie heute nicht mehr verantwortlich gemacht werden können. Eine aus den 1960er Jahren stammende Logik des 69jährigen, die selbst die meisten seiner ehemaligen Mitkämpfer, geschweige denn die übergroße Mehrheit der Mitglieder der heutigen Frente Amplio nicht nachvollziehen kann: Die Linke im Jahre 2011 müsse grundsätzlich ein anderes Verständnis von Menschenrechten haben als in den 1960er und 1970er Jahren, lautet die Kritik an Huidobros Haltung. Zudem würde durch die Gleichsetzung von Militärs und Stadtguerilla auch verkannt, dass der Staatsterrorismus das Ziel hatte, ein neoliberales ökonomisches Modell zum Wohl weniger auf Kosten vieler durchzusetzen, es also keine militärische Auseinandersetzung war, sondern es vor allem um wirtschaftliche Interessen ging.

Kurze Antennen

Es klang vielversprechend: Im Mai 2010 verabschiedete das chilenische Parlament fast einstimmig das Gesetz für Community-Rundfunk (Ley de radiodifusión comunitaria). Für die Radios geht es um konkrete Verbesserungen. Die maximale Sendeleistung wird von einem Watt auf 25 Watt erhöht, Frequenzlizenzen müssen nicht mehr nach drei, sondern erst nach zehn Jahren erneuert werden, und die Ausstrahlung von Werbung, bisher verboten für kleine Radios, ist nun erlaubt. Tatsächlich waren dies jahrelang Forderungen der Community-Radios (vgl. LN 428). Bisher durften diese nur mit dem Status des „Radios mit minimaler Reichweite“ (radios de mínima cobertura) senden, waren bei einer legalen Sendeleistung von maximal einem Watt kaum über den eigenen Straßenblock hörbar und konnten den kostspieligen Lizenzantrag alle drei Jahre und den Unterhalt der Technik ohne Werbeeinnahmen kaum finanzieren. Kein Wunder, dass viele ohne Lizenz oder zumindest mit erhöhter Leistung senden und damit ständig von der Schließung bedroht sind.
Chile hat, ähnlich seinen lateinamerikanischen Nachbarn, traditionell einen sehr konzentrierten, konservativen und gewinnorientieren Medienmarkt. Die Grundlage der Regulierung stammt aus Zeiten der Pinochet-Diktatur. 1994 wurden dann die „kleinen Radios“ mit einem Watt zugelassen, von denen heute etwa 300 in dem Verband ANARCICH (Asociación Nacional de Radios Comunitarias y Ciudadanas de Chile) organisiert sind. Der Präsident von ANARCICH, Alberto Cancino, hat den neuen Gesetzestext maßgeblich ausformuliert. Nach Jahren des Engagements ist er mit dem Ergebnis zufrieden und verweist auf die konkreten Verbesserungen. Allerdings fehlt zur Umsetzung des Gesetzes noch ein Verwaltungsdekret. Im Oktober 2010 hat die Regierung einen ersten Entwurf veröffentlicht, seitdem entfachte sich eine neue Debatte innerhalb der alternativen Medien.
Denn der Teufel steckt im Detail. Zur Finanzierung der Stationen ist Werbung erlaubt, allerdings ausschließlich von solchen Unternehmen, die im Sendegebiet eine Zweigstelle unterhalten. So mag das Stadtteilradio Werbung für den Bäcker an der Ecke senden, in ländlichen Gebieten und bei vielen indigenen Radios kommt diese Regelung jedoch einem Werbeverbot gleich. Dort gibt es in der Regel keine lokal ansässigen Unternehmen oder Geschäfte mit Werbebudget. Juan Ortega vom chilenischen Ableger des Weltverbandes der Community-Radios AMARC (Asociacion Mundial de Radios Comunitarias) ist dem Gesetz gegenüber sehr skeptisch: „Wir besiegeln damit fast das Aussterben der Radios. Kein Radio kann ohne Einnahmen effektiv überleben!“ Selbst die UN-Organisation FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations), so ein Beispiel Ortegas, kann Spots einer Kampagne gegen Hunger nicht über die Community-Radios verbreiten, weil ihre Adresse in Rom ist. An dieser Einschränkung wird auch das Dekret nichts mehr ändern.
Bei der Erhöhung der Sendeleistung und der neuen Frequenzverteilung ist noch einiges offen. Für Community-Radios sind nach dem neuen Gesetz lediglich etwa fünf Prozent des Frequenzbereiches am Ende des Spektrums reserviert. Nun muss zunächst die Regulierungsbehörde SUBTEL die privaten Radios aus diesem reservierten Bereich zum Umzug bewegen. „Die Leute von SUBTEL haben uns gesagt, dass deshalb mit sehr viel Glück frühestens 2012 die erste Ausschreibung für Community-Radios stattfinden wird“, so Ortega. Dieser Frequenzbereich reicht gerade so für die Radios aus, die bereits heute eine Lizenz haben. Wenn diese noch ihre Sendeleistung auf 25 Watt erhöhen, wird es richtig eng. Mittlerweile hat SUBTEL bestätigt, dass wegen dieses Platzmangels die 25 Watt nur in Ausnahmefällen gewährt werden könnten und wohl gar nicht in den Städten. Da selbst 25 Watt sehr wenig sind und „normale“ Radios mit 200 oder deutlich mehr Watt senden, ist absehbar, dass viele Community-Radios wie bisher ihre legale Grenze überschreiten werden. „Da die Radios dann zusammen am Ende des Spektrums liegen, werden sie sich gegenseitig überstimmen. Es wird ein Chaos geben“, befürchtet Juan Ortega.
Er kritisiert zudem, dass der aufwendige Antragsprozess für eine Frequenz nicht vereinfacht wurde. Im Gegenteil: Radios benötigen nun ein Zertifikat der Regierung und Radios indigener Gemeinschaften müssen sogar vorweisen, über einen „Experten zu indigenen Themen“ zu verfügen. „Das ist doch absolut absurd“, meint der Aktivist. Diese Vorgaben standen zumindest in dem Entwurf des Dekretes vom Oktober. In ihren Stellungnahmen haben die Radios dagegen protestiert, aber seit Oktober sind keine neuen Fassungen veröffentlicht worden.
Alberto Cancino hingegen ist zufrieden mit dem, was erreicht wurde. „Wir haben seit Jahren für konkrete Verbesserungen gekämpft. Jetzt war es sehr wichtig, das Gesetz so schnell wie möglich zu verabschieden, weil wir schon ahnten, dass es mit der neuen Regierung von Piñera schwieriger wird“. Die rechte Regierung ist seit März 2010 im Amt und interpretiert das Gesetz auf ihre Weise. Zunächst war sogar eine eigene Kontrollbehörde geplant, die vor einer Lizenzvergabe den Sendeplan der Radios sehen wollte. Alberto Cancino hat bei der Formulierung des Gesetzes eng mit ARCHI, dem Verband kommerzieller chilenischer Radios, zusammengearbeitet. Dies sicherte die Unterstützung des kommerziellen Sektors, erklärt allerdings auch die wenig weitreichenden Veränderungen. ARCHI hat sich insbesondere für den Fortbestand des Werbeverbots starkgemacht – aus Angst vor einem Verlust von Werbeeinnahmen der eigenen Klientel. Strategisch galt für ANARCICH das Motto: Lieber den Spatzen in der Hand als die Taube auf dem Dach.
Bisher tummelten sich unter den radios de mínima cobertura auch viele kleine kommerzielle Stationen. Ein Ziel des Gesetzes war, diese aus dem reservierten Frequenzbereich herauszuhalten und tatsächlich nur Community-Radios zuzulassen. Doch hier schoss im Dezember die Behörde SUBTEL quer und verschickte an alle bisherigen kleinen Radios eine Anleitung, wie sie ihren Status an das neue Gesetz anpassen könnten. Das verstanden die kommerziellen Radios als Einladung, unter dem Deckmantel des Community-Radios die wertvollen reservierten Frequenzen zu nutzen. Alberto Cancino und Juan Ortega sind sich einig, dass das ein Skandal ist.
ANARCICH vertritt etwa 300 kleine Radios, die alle eine offizielle Lizenz haben. Juan Ortega von AMARC schätzt allerdings, dass höchstens 50 davon echte Community-Radios seien. Der Rest wären hauptsächlich evangelikale Sender oder Stationen von Gemeinderegierungen. Dagegen gebe es noch mindestens 100 weitere Community-Radios, die illegal sendeten. Das Radio der Universidad de Chile berichtet derweil, dass die kommerziellen Radios von ARCHI wieder Untersuchungen forcierten, um kleine Radios zu schließen, die entweder die strengen Auflagen nicht erfüllen oder gleich „illegal“ senden.
Alberto Cancino plädiert für Geduld: Man müsse abwarten, wie das Gesetz nun tatsächlich umgesetzt werde. Die skeptische Position von Juan Ortega wird hingegen von vielen RadiomacherInnen geteilt: „Mir scheint, dass man immer stärker versucht, unsere Community-Radios zum Schweigen zu bringen. Uns wird das gerade sehr deutlich anhand der Gesetze, die angeblich für uns gemacht werden“, beschwert sich María Cristina Riquelme vom Radio Nueva Era de Talca.
Im Vergleich zu Argentinien sind die Neuerungen in Chile sehr bescheiden. Im großen Nachbarland wurde 2009 ein umfassendes Mediengesetz verabschiedet, durch das für nicht-kommerzielle Medien ein Drittel des gesamten Frequenzbereiches reserviert wird, wo der Konzentration im kommerziellen Bereich durch niedrigere Besitzobergrenzen entgegengewirkt wird. Der größte Konzern, die Grupo Clarín, soll sogar gezwungen werden, Beteiligungen aufzugeben. Über den letzten Punkt streiten noch die Gerichte. Nicht zuletzt sind nun auch Community-Radios in den Regulierungsbehörden vertreten. Das ist bei der chilenischen SUBTEL nicht der Fall. Auch in Argentinien wurde das Gesetz maßgeblich von alternativen Medien formuliert, doch hat sich der kommerzielle Sektor komplett geweigert, in die Debatte einzusteigen. Mit ihrer Verweigerungshaltung haben die Privaten kaum Einfluss auf den Gesetzestext nehmen können – aus heutiger Sicht sicherlich ein Vorteil.
So schaut auch Juan Ortega etwas neidisch über die Anden. Für ihn erklärt sich der Erfolg in Argentinien vor allem aus der Tatsache, dass sich die Regierung dort gegen den großen Clarín-Konzern gestellt hat und damit ein neues Gesetz ermöglichte. Allerdings sind diesseits der Kordilleren auch die sozialen Bewegungen deutlich schwächer: „Die soziale Mobilisierung ist in Chile sehr prekär“. Die Pinochet-Diktatur und die nach 1990 folgenden neo­liberalen Regierungen haben zu einer deutlichen Schwächung des sozialen Gefüges geführt. Das gilt auch für die Community-Radios, die während der Übergangsphase Ende der 1980er bis Mitte der 1990er noch eine wichtige Rolle spielten. Das enge Korsett der Regulierung und die vielen Razzien haben die alternativen Medien in Chile klein gehalten. Dadurch schwindet die Sichtbarkeit der Radios, die einer politischen Tradition verpflichtet sind, während die Anzahl der Sender evangelikaler Kirchen steigt. Eine Verbindung der Menschenrechts-, Kommunikations-, Arbeitslosen- und verschiedener Stadtteilbewegungen wie in Argentinien ist in Chile nicht vorstellbar.
In der Diskussion über das neue Gesetz war und ist der Verweis auf die Nachbarländer bei den Regierungen Bachelet und Piñera wirkungslos. Auf der Basis-Ebene gibt es einen regen Austausch in der Region, unter anderem über AMARC. „Aber wenn wir zur Regierung gehen und über die Aufteilung des Frequenzspektrums reden, auf Argentinien und Uruguay verweisen, dann stoßen wir auf taube Ohren. Diese Argumente zählen nicht“, berichtet Juan Ortega. Eine Möglichkeit ist die Beschwerde vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte. Als Ortega dort vor Kurzem eine Studie vorstellte und aufzeigte, wie in Chile das von UNO und der Organisation Amerikanischer Staaten garantierte Recht auf demokratische Partizipation verletzt wird, zeigte sich die Regierung besorgt um ihr Ansehen. Ein Regierungsvertreter verteidigte das chilenische Gesetz als positiven Modellfall. Hier haben schließlich alle drei Akteure gemeinsam gehandelt: der Staat, die kommerziellen Medien und die Community-Radios. Dadurch seien Konflikte wie in Argentinien vermieden worden, so der Politiker.
Juan Ortega hält diesen Konflikt für unumgänglich, aber er erkennt letztlich auch die kleinen Fortschritte des Gesetzes an: Zum ersten Mal werden Community-Radios in ihrer sozialen und politischen Bedeutung für die Gemeinden und Stadtteile vom Gesetzgeber anerkannt. Vielleicht wird durch die schrittweisen umgesetzten Verbesserungen die Möglichkeit geschaffen, in Zukunft weitere Reformen im Mediensektor durchzusetzen. Die aktuelle Regierung hat sich jedoch kaum als Partner empfohlen.

Frische Fische vom Silberfluss

Es war eine wahre Flut von Veröffentlichungen argentinischer Literatur, die sich im vergangenen Jahr im Zusammenhang mit dem Frankfurter Buchmessenauftritt des südamerikanischen Landes auf den hiesigen Buchmarkt ergoss. Die letzte Publikationswelle spülte ein interessantes Werk ans deutsche Ufer, das sich explizit der jungen Literatur widmet: Neues vom Fluss nennt sich die Anthologie, die im Oktober im Berliner Lettrétage-Verlag erschienen ist. Der Titel ist dabei Programm, vereinigt der Erzählband doch insgesamt 27 Geschichten, die der Kenner argentinischer Literatur Timo Berger auf einer Reise entlang des mächtigen Río de la Plata gesammelt hat. Dabei sah er sich nicht nur flussabwärts beim viel beachteten Buchmessengast um, sondern warf auch an den anderen Ufern des Stroms und seinen Zuflüssen in Uruguay und Paraguay die Netze aus. Herausgekommen ist ein bunter Fang von Geschichten, die den LeserInnen auf eine thematisch wie stilistisch facettenreiche Flussfahrt mitnehmen.
Zu bestaunen gibt es Texte, die wilden Strudeln gleichen, wie etwa Juan Terranovas skurrile Erzählung „Männer springen in Raubtierkäfige“, die den Sound der in den 1990ern aufgewachsenen Postdiktatur-Generation wiedergibt. Für dessen gassenphilosophischen Protagonisten ist die Gesellschaft „ein nicht enden wollendes, paranoides Gesellschaftsspiel, ein Versuchslabor, in dem Mutter Natur ihre Qualitätsstandards über den Haufen wirft, um zu sehen, was passiert“. Die Suche nach dem Kick einer „Schaumgummidroge“ treibt dagegen junge Frauen in Cecilia Pavóns „I want to be fat“ um: Jeden Freitag verwandelt sich eine Gruppe junger Argentinierinnen mit Hilfe von Schaumstoffstücken in dicke Frauen, um die schicken Clubs von Buenos Aires zu ihrer subversiven Bühne zu machen. Für sie „gibt es keine wirkungsvollere Droge als den Blick des Nächsten, wenn dich dieser in die avantgardistische Position eines Freaks erhebt“. Den umgekehrten, aber nicht minder radikalen Weg wählt Ana María Strahms Protagonistin in „Calle Palma“. Diese marschiert gleich ganz ohne Kleidung über den Boulevard von Paraguays Hauptstadt Asunción – um durch ihren Auftritt, der durch alle Medien des Landes geht, eigentlich nur einen einzigen Mann auf sich aufmerksam zu machen.
Schrill, rasant und vor allem unerhört originell sind die Begebenheiten, um die viele Texte kreisen. Neben viel Sex, Drugs und Rock’n Roll führt die literarische Flussfahrt aber auch durch stille Gewässer, wie etwa in der Erzählung „Das Gewicht des Hasses“ von Seghers-Preisträger Félix Bruzzone, in der die immer noch langen Schatten der argentinischen Militärdiktatur auftauchen.
Anthologien und Rezensionen von Anthologien teilen ein gemeinsames Schicksal: Sie sind notwendig selektiv und verkürzend, aber im besten Fall sind sie wie ein schönes Flussufer, das Lust macht, von Bord zu gehen und das Hinterland zu entdecken. Timo Berger ist das mit seinem imposanten Fang der frischen literarischen Fische vom Silberfluss auf vorzügliche Weise geglückt.

Timo Berger // Neues vom Fluss: Junge Literatur aus Argentinien, Uruguay und Paraguay // Verlag Lettrétage // Berlin 2010 // 200 Seiten // 12,90 Euro // http://www.lettretage.de

Personalisiertes Politikverständnis

Die Beschäftigung mit sozialen Bewegungen in Lateinamerika ist seit einigen Jahren wieder en vogue. Gewissermaßen als Gegentendenz dazu konstatiert der Rostocker Politikwissenschaftler Nikolaus Werz nun ein „neues Interesse in Publizistik und Wissenschaft, nämlich Geschichte und Politik wieder stärker über den Lebenslauf des Einzelnen zu erschließen“.
Der von Werz herausgegebene Sammelband behandelt exemplarisch bedeutende PolitikerInnen von der Unabhängigkeit bis in die Gegenwart, mit Schwerpunkt im 20. Jahrhundert. Werz untergliedert dort zwischen Populisten, Revolutionären und Sozialisten, Reformern sowie Miltärdiktatoren, während er die Zeit ab Ende der 1980er Jahre in den Bereich „Gegenwart“ einordnet. Den so genannten Reformern, die Werz mit einem Hang dazu, deutsches Botschaftspersonal zu zitieren, größtenteils selbst porträtiert, werden dabei überwiegend positive politische Lebensleistungen attestiert. Zwar gelten deren Politiken heute in den meisten lateinamerikanischen Ländern als gescheitert, doch hätten „Sozial- oder christdemokratische Reformer, wie sie in Chile, Uruguay, Brasilien und mit Abstrichen auch in Peru regieren“ auf praktische Fragen „eher eine Antwort zu bieten als selbsternannte Revolutionäre und vollmundige Populisten“. Wenig überzeugend ist dabei, dass eine kritische Diskussion des wissenschaftlich unscharf umrissenen und meist in denunziatorischer Absicht gebrauchten Begriffs „Populismus“ ausbleibt und dieser an keiner Stelle des Buches definiert wird. Zwar bemerkt Werz in der Einleitung treffend, dass „der Begriff in Amerika nicht per se negativ besetzt“ ist. In dem Sammelband wird Populismus jedoch durchweg abwertend mit politischer Unseriösität gleichgesetzt.
Leider hängt auch die Bewertung der einzelnen PolitikerInnen in manchen Fällen zu stark von der politischen Meinung des Autors oder der Autorin ab. So liefert der in Caracas lehrende Friedrich Welsch mit seinem Porträt von Venezuelas Präsident Chávez ein Beispiel für die bis in die Wissenschaft hineinreichende Polarisierung der venezolanischen Gesellschaft. Mit einer kruden Mischung aus Fakten, Ungenauigkeiten und teilweise eigenwillig interpretierten Zitaten und Zahlen entwirft er das Bild eines „Führers“ und seiner zu Autoritarismus neigenden Anhängerschaft. Letztlich sei Chávez „eine narzisstische Persönlichkeit“, bei der „mehrere Kriterien des DSM-IV-Standards dieser psychopathologischen Störung als gegeben betrachtet werden können“. Klassische Populisten wie der Argentinier Perón oder der Brasilianer Getúlio Vargas kommen in dem Buch weitaus positiver weg, obwohl sie trotz Massenmobilisierungen demokratisch weniger legitimiert waren. Dass es auch anders geht, zeigt Michael Zeuske mit seiner ausgewogenen Darstellung des kubanischen Alt-Revolutionärs Fidel Castro, die sowohl Errungenschaften als auch Versäumnisse und Fehlleistungen kritisch miteinbezieht.
Trotz der angesprochenen Mängel bietet der Sammelband einen interessanten Überblick und in den meisten Beiträgen solide Einführungen in das Leben ausgewählter PolitikerInnen. Bei dem Versuch, Geschichte und Politik über den Lebenslauf von Einzelnen zu erschließen, bleiben die Darstellungen notgedrungen selektiv und lückenhaft. Ergänzend zu anderen Perspektiven kann ein auf Einzelpersonen angelegter Sammelband aber durchaus zum Verständnis politischer Prozesse beitragen.

Nikolaus Werz (Hrsg.) // Populisten, Revolutionäre, Staatsmänner. Politiker in Lateinamerika // Vervuert Verlag // Frankfurt 2010 // 616 Seiten // 48 Euro

Risse in der Fassade

Im Wettbewerb der diesjährigen 61. Internationalen Filmfestspiele, die vom 10. bis 20. Februar in Berlin stattfinden, sind als einzige Beiträge aus Lateinamerika gleich zwei argentinische vertreten: Zunächst die mexikanisch-argentinisch-französische Co-Produktion El premio („Der Preis“) von der in Mexiko lebenden, argentinischen Regisseurin Paula Markovitch. Ihr Erstlingswerk handelt davon, wie Kinder ihren Alltag während der letzten Militärdiktatur in Argentinien erlebten. Die siebenjährige Protagonistin muss als Tochter von politischen AktivistInnen stets aufpassen, ihren MitschülerInnen nichts von ihrem Zuhause zu erzählen. Als sie an einem Schreibwettbewerb über die Streitkräfte teilnimmt, und sich in ihrem Beitrag niederschlägt, was sie ihre Mutter zu Hause sagen hört, bringt sie ihre Familie in große Gefahr. El Premio ist bei der Berlinale auch für den besten Erstlingsfilm nominiert.
Außerdem im Wettbewerb läuft Un Mundo Misterioso („Rätselhafte Welt“) von Rodrigo Moreno, eine argentinisch-uruguayisch-deutsche Co-Produktion, in der Ana ihren Freund Boris um eine Auszeit von ihrer Beziehung bittet. Um diese zu überbrücken, kauft sich Boris ein altes rumänisches Auto, fährt kreuz und quer durch die Stadt, trifft alte Freunde, reist nach Uruguay und versucht, Ana zurück zu gewinnen.
Im Panorama feiert neben den in dieser Ausgabe besprochenen Filmen die argentinische Produktion Medianeras („Brandschutzwände“) seine Weltpremiere. Der erste Langfilm von Gustavo Taretto ist eine Reflexion über Einsamkeit, Neurosen, Stress, Reizüberflutung, eben das Leben in einer Millionenstadt wie Buenos Aires. Martín und Mariana wohnen im selben Block, in gegenüberliegenden Häusern, sie laufen fast täglich aneinander vorbei, treffen sich aber nie. Martín hat die letzten zehn Jahre seines Lebens vor dem Computer verbracht und bewegt sich lieber durch die Welt des Internets, als sich hinaus in die Gefahren der Megalopolis zu wagen. Mariana ist nach einer vierjährigen Beziehung gerade wieder in ihre kleine Wohnung von früher zurück gezogen. Beide kämpfen mit ihren Phobien und sehnen sich nach etwas Vertrautheit. Erst als sie sich ein illegal gebautes Fenster in die medianeras, die fensterlosen Außenwände ihrer Wohnhäuser, an die kein weiteres Gebäude angrenzt, einsetzen lassen, erglimmt ein Hoffnungsschimmer auf der gegenüberliegenden Seite. Taretto gelingt, im Stil von Woody Allens New Yorck-Porträts, ein witziger Blick auf die Hauptstadt der Neurosen. Besonders diejenigen, die Buenos Aires kennen, werden schmunzelnd einige treffende Charakterisierungen sowohl der Hauptstadt als auch ihrer BewohnerInnen wieder erkennen.
Das 41. Forum versammelt dieses Jahr unter dem Motto „Risse in der Fassade“ Filme, die um Themen wie Familie, Beziehungen und Identität kreisen, dabei aber gleichzeitig auch gesellschaftlichen Wandel und politische Umbrüche filmisch verarbeiten. Der brasilianische Film Os residentes („Die Bewohner“) von Tiago Mata Machado beispielsweise handelt von den BewohnerInnen eines Abrisshauses, die dort eine temporäre autonome Zone einrichten. Ein sehr gut fotografierter Film, in denen die SchauspielerInnen theaterhaft in Szene gesetzt werden. In lose aneinandergereihten Kapiteln wird über Subversion, politische (bewaffnete) Aktion, freie Liebe oder die Freiheit zu entscheiden reflektiert.
Um eine 36-jährige Frau, die nochmal neu anfangen will, geht es im kolumbianischen Beitrag Karen llora en un bus („Karen weint in einem Bus“) von Gabriel Rojas Vera. Die Protagonistin beschließt, sich von ihrem Mann zu trennen und ihr altes Leben hinter sich zu lassen. Doch das neue hält einige Hürden bereit: Nachdem sie keine Arbeit findet, beginnt sie im Bus um Geld zu betteln. Tag für Tag fällt ihr diese neue „Aufgabe“ leichter. Schlussendlich schafft sie es, unabhängig zu werden. Der chilenische Forums-Beitrag El mocito („Der kleine Kellner“) setzt sich mit der jüngeren Vergangenheit des Landes auseinander: Lino Vergara, der mit 16 Jahren in einem Folterzentrum des Pinochet-Regimes diente, plagt das schlechte Gewissen. Um es zu erleichtern, stellt er sich der Justiz als Kronzeuge zur Verfügung.
Auch im Forum sind darüber hinaus noch zwei argentinische Filme zu sehen: Ocio von Alejandro Lingenti und Juan Villegas handelt von Andrés, der nach dem Tod seiner Mutter nur noch depressiv und anteilslos in den Tag lebt. Sowohl sein Vater als auch sein Bruder sind ihm fremd. Mit einem Kumpel plant er einen riskanten Coup, um wenigstens seine finanzielle Situation zu verändern.
Marco Berger lotet in seinem ersten Spielfilm Ausente („Abwesend“) die Grenzen von Verfolgung und Bewunderung aus. Der 16-jährige Martín beobachtet obsessiv seinen Schwimmlehrer und erfindet eine Augenverletzung, um von ihm ins Krankenhaus gefahren zu werden. Martín spinnt sein Lügennetz immer weiter und schafft es schließlich, dass sein Lehrer ihn mit zu sich nach Hause nimmt. Mit bedrohlicher Musik untermalt und in homo-erotischen Bildern, lässt Berger seinen Protagonisten die Schlinge immer enger ziehen. Doch die Geschichte von Ausente ist zu konstruiert und überspitzt, die Entwicklungen zu minimal, so dass der Film eher langweilt, anstatt wirklich zu überzeugen.
Für die WeinliebhaberInnen gibt es zu guter Letzt noch eine Reise durch die Anbaugebiete Argentiniens zu entdecken: El camino del vino („Der Weg des Weins“) von Nicolás Carreras, der im Kulinarischen Kino zu sehen sein wird, führt in die Weinregion Mendoza. Der berühmte Sommelier Charlie Artuarola verliert darin, was für ihn am wichtigsten ist: seinen Geschmackssinn.

„Aber sie haben uns nicht brechen können“

Es ist lange her, dass Sie hier gesungen haben. Wie ist es für Sie, wieder hier zu sein?
Nach vielen Jahren bin ich wieder in Deutschland. Ich kam oft hierher und hatte enge Kontakte zu Solidaritätsbewegungen mit Lateinamerika. Diese kämpften damals gegen die Militärdiktaturen in Uruguay, Argentinien und Chile. In Deutschland war die Unterstützung groß. Deshalb freue ich mich sehr wieder hier zu sein. Auf diesem langen Weg haben wir viele Verluste erlebt, aber sie haben uns nicht brechen können. Ich freue mich über die vielen Wiedersehen auf der Tournee von Freiburg über Köln nach Berlin. Hoffentlich wird diese Reise der Neubeginn für künftige Besuche in Deutschland sein.

Sie haben 1983 nach dem Sieg der Sandinisten in Nicaragua auf dem Friedenskonzert in Managua gesungen. Vor Ihrem Lied „A desalambrar“ sagten Sie damals, „wenn Nicaragua gesiegt hat, so wird auch Uruguay siegen“. Wie sehen Sie die Situation heute in beiden Ländern?
Das sind komplizierte Prozesse, weil sich Wünsche nicht in Realitäten verwandeln lassen. Wir kämpften plötzlich nicht mehr gegen die Diktaturen und rechten Regierungen. Die Linke hörte auf Opposition zu sein und übernahm die Regierungsmacht. Und damit begannen die Widersprüche. Ich habe eine schöne Erinnerung an die erste sandinistische Regierung in Nicaragua, als ich 1983 dort war. Ich sang auf dem berühmten Friedenskonzert. Damals geschah etwas Wunderbares – als würde das Land mit seiner ganz eigenen Geschichte und Besonderheit an die kubanische Revolution erinnern. Es schien tatsächlich eine sandinistische Revolution zu sein. Leider ist es jedoch bei dieser Idee geblieben und wie wir es erträumt hatten, erfüllte es sich nicht.
In Uruguay geschah dies in einem anderen Kontext. Die Veränderung vollzog sich in mehreren Etappen, bis dann schließlich der lang ersehnte Moment eintrat und das Linke Bündnis zur Regierungspartei gewählt wurde. Der Wahlsieg der Frente Amplio wurde in den Straßen Montevideos wie eine Revolution gefeiert. Aber es war keine Revolution. Und man wusste es würde nicht so sein. Ich sage manchmal, dass wir das „R“ der Revolution in unseren Herzen bewahren müssen und mit der Evolution erst einmal weitergehen. Dann können wir ihr eines Tages das „R“ wieder zurückgeben. Das bedeutet viel Arbeit und ich glaube, das werde ich nicht mehr erleben. Aber wir sollten nicht aufhören zu träumen.

Wie haben Sie die Tournee erlebt und was nehmen Sie mit von dieser Reise?
Ich habe auf der Reise viele neue Eindrücke gewonnen. Es ist wunderbar, andere Einflüsse aufnehmen zu können. Alle Begegnungen haben mich irgendwie beeinflusst und neu inspiriert. Zum Beispiel organisierte eine ehemalige politische Gefangene aus Uruguay das Konzert in Brüssel. In Köln hingegen waren es einfach gute Freunde. In Paris gab ich ein Konzert zu Ehren von Mario Benedetti in der Maison de l‘Amérique Latine. Dieses Haus ist sehr solidarisch mit kulturellen Aktivitäten aus Lateinamerika. Dort haben uns auch die Vertreter des uruguayischen Konsulats unterstützt.
Mein nächstes Album werde ich „Lieder für die Menschlichkeit“ nennen. Angesichts von soviel Unmenschlichkeit wie in Irak, Afghanistan und Guantánamo, dieser Folterwerkstatt der USA in Kuba, wo soll man da anfangen? Lieder für die Menschlichkeit schreiben.

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