„Pepe“ muss in die Stichwahl

Am 29. November kommt es in Uruguay zum Showdown. Dann müssen sich José „Pepe“ Mujica und Luis Alberto Lacalle einer Stichwahl stellen. Nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vom 25. Oktober geht es laut den beiden Kandidaten nicht mehr vorrangig um links oder rechts, nicht um Frente Amplio gegen Blancos, sondern nur noch darum, wer der nächste Präsident aller UruguayInnen werden wird. Beide Lager packten schon am Wahlabend ihre Parteifahnen ein und legten sich die Nationalflagge über die Schulter.
Dass es an diesem Abend nicht klappen würde, war schon knapp zwei Stunden nach Schließung der Wahllokale klar. Die euphorische Stimmung der AnhängerInnen der Frente Amplio (Breite Front), die sich an der Uferpromenade in Montevideo versammelt hatten, um ihren neuen Präsidenten „Pepe“ Mujica zu feiern, kippte abrupt. Nach dem deutlichen Anstieg der Umfrageergebnisse für die Mitte-Links-Koalition und einer ausgelassenen Feierstimmung in den letzten Tagen vor der Wahl, hatten fast alle mit einem Sieg im ersten Durchgang gerechnet.
Entsprechend lang waren die Gesichter von José Mujica und Danilo Astori, dem Kandidaten für die Vizepräsidentschaft, am Wahlabend. Die erste Reaktion des ehemaligen Tupamaros Mujica in der Pressekonferenz war eine trotzige Durchhalteparole: „Wir sind Kämpfer. Niemand hat uns jemals etwas geschenkt, niemals“. Wenige Momente später hatte er sich wieder gefasst und rief seinen AnhängerInnen in einer Mischung aus Ärger und Kampfeswillen zu: „Jetzt werden wir zeigen, dass das Unmögliche zu erreichen noch etwas mehr an Anstrengung kostet und dass es mit euch möglich wird. Nicht Pepe wird gewinnen. Wer gewinnen wird, bist du“. Die Unterstützung der Basis werden Mujica und Astori dringend benötigen, denn 40.000 Stimmen gingen dem Parteienbündnis seit 2004 verloren. Das seit Gründung der Frente Amplio im Jahre 1971 scheinbar nicht zu stoppende Wachstum der Linken in Uruguay ist zum Erliegen gekommen.
Für das Tandem Mujica-Astori stimmten am 25. Oktober 48 Prozent der WählerInnen, 50 Prozent plus eine Stimme wären zum Sieg im ersten Wahlgang notwendig gewesen. Die konservativen Blancos mit ihrem neoliberalen Kandidaten Luis Alberto Lacalle erreichten 29 und die rechtsliberalen Colorados mit ihrem Spitzenkandidaten Pedro Bordaberry 17 Prozent. Auf die Asamblea Popular (Volksversammlung), die 2006 von aus der Frente Amplio ausgetretenen linken Parteien und Bewegungen gegründet wurde, fielen 0,6 Prozent der abgegebenen Stimmen, 2,5 Prozent machten ihr Kreuz bei der sich selbst als sozialdemokratisch bezeichnenden Unabhängigen Partei. Insgesamt also fast ein Patt: die Hälfte der UruguayerInnen wählte links, die andere Hälfte rechts.
Eines ihrer Wahlziele aber hat die Linke schon erreicht. In beiden Kammern des uruguayischen Parlaments konnte sie ihre Mehrheit verteidigen. In der Abgeordnetenversammlung stellt die Frente Amplio zukünftig 50 von 99 ParlamentarierInnen, im Senat erreichte sie 16 von 30 Sitzen. Wenn das Team Mujica-Astori am 29. November gewinnt, kommt noch ein Sitz für Astori hinzu, da der Vizepräsident dem Senat vorsteht. Die Blancos haben hingegen auf ganzer Linie verloren. Trotzdem feierten sie sich am Wahlabend selbst als Sieger, denn letztlich hatten die meisten mit einem direkten Durchmarsch von Mujica gerechnet. Aber in allen 19 Provinzen des Landes haben sie Stimmen verloren. Die Colorados, die zweite der beiden rechten „Traditionsparteien“, die seit der Unabhängigkeit 1828 abwechselnd den Präsident stellten, konnten sich dagegen von ihrem historischen Tief von 2004, als sie nur 10,4 Prozent der Stimmen erreichten, erholen.
Vor diesem Panorama bleiben Mujica jetzt knapp vier Wochen Zeit bis zur Stichwahl, in denen er seine AnhängerInnen motivieren und möglichst viele Wechsel- und NichtwählerInnen gewinnen muss. Und er befindet sich durchaus im Vorteil. Zwar kündigte der Kandidat der Colorados, der Sohn des ehemaligen Diktators Juan María Bordaberry, noch am Wahlabend seine Unterstützung für Lacalle an. Die Frente Amplio liegt jedoch über zwei Prozentpunkte vor der frisch vereinten Rechten. Die Anteile der beiden kleinen Parteien wird Mujica zu einem Teil für sich gewinnen können, auch wenn der harte Kern der Asamblea Popular lieber ungültig wählen wird, als für den „Verräter“ Mujica zu stimmen.
Mujica wird nun vor allem die Kontinuität der Politik des sehr populären amtierenden Präsidenten Tabaré Vázquez betonen. Seinem Kandidaten für die Vizepräsidentschaft, dem ehemaligen Wirtschafts- und Finanzminister (2005 bis 2008) Danilo Astori, wird in diesem Wahlkampf eine wichtige Rolle zufallen. Links der Frente ist kaum noch was zu holen, wie das Wahlergebnis der Asamblea Popular zeigt. Astori, der in der Regierung Vázquez für eine sozialdemokratische, wachstumsorientierte und US-freundliche Politik stand, genießt das Vertrauen der Wirtschaft und der Finanzwelt. Er wird vor der mit einem Präsidenten Lacalle drohenden Rückkehr zum Neoliberalismus der 1990er Jahre warnen. Allerdings steht auch Astori nicht für eine grundlegende Veränderung des Systems. Unter ihm werden wohl eher die kapitalistischen, marktorientierten Strukturen ausgebaut werden.
KritikerInnen innerhalb der Frente beobachten das eher beunruhigt. Sie werfen sowohl Mujica als auch Astori vor, zu wenig für eine wirkliche Umverteilung des in den letzten vier Jahren erreichten Reichtums getan und vor allem den Ausverkauf des Landes an multinationale Konzerne gefördert zu haben. Angesichts eines drohenden Wahlsiegs von Lacalle werden die internen KritikerInnen aber ausnahmslos Mujica und Astori unterstützen, zumindest bis zum 29. November. Auch die über 40.000 Stimmen aus der Mittelschicht, die vor allem in Montevideo verloren gingen, kann nur Astori zurückgewinnen.
Bei der Stichwahl, bei der wie in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen Wahlpflicht herrscht, ist zusätzlich mit zwei weiteren Phänomenen zu rechnen. Einmal werden WählerInnen der Frente, die zwar bei der Parlamentswahl ihre Parteiliste stärken wollten, „Pepe“ Mujica nicht wählen, da sie ihn für absolut nicht präsidiabel halten. Sie wollen sich international nicht von einem ungelernten Blumenzüchter und ehemaligem Stadtguerillero mit losem Mundwerk, der zudem ein schlechtes Spanisch spricht, repräsentiert sehen.
Auf der anderen Seite gibt es einige Sektoren der Nationalpartei und der Colorados, die zwar bei der Parlamentswahl die KandidatInnen ihrer Liste gewählt haben, aber auf keinen Fall bei der Stichwahl den ehemaligen Präsidenten Luis Alberto Lacalle wählen werden. Ihre Ablehnung liegt vor allem darin begründet, dass in dessen Amtszeit von 1990 bis 1995 unzählige Korruptionsfälle öffentlich wurden und Lacalle den Vorwurf, sich persönlich bereichert zu haben, nie entkräften konnte.
Indirekt ist jedoch der ehemalige Tupamaro Mujica selbst sein gefährlichster Gegner. Immer wieder läuft er aus dem Ruder: Noch im September beschimpfte er die SozialistInnen und KommunistInnen innerhalb der Frente Amplio, holte zu einem Rundumschlag gegen den argentinischen Nachbarn aus und bezweifelte die Notwenigkeit einer unabhängigen Justiz. Allerdings ist sein Konkurrent Lacalle genauso unberechenbar: Im Wahlkampf kündigte der Besitzer mehrerer Eukalyptus-Plantagen an, die Sozialausgaben mit der Motorsäge zu kürzen, die Armen nannte er „Penner“ und wollte sie mit Sanitäranlagen beglücken, damit sie sich endlich einmal waschen können. Den bescheidenen kleinen Bauernhof von Mujica bezeichnete der Eigner mehrerer Häuser und Apartments in Montevideo und Punta del Este angewidert als „Höhle“. So könnten sich die beiden gegenseitig dabei unter die Arme greifen, einander zu diskreditieren. Die entscheidende Frage ist, wer von beiden es schafft, die nötigen Wählerstimmen zu mobilisieren.
Mujica kann dabei auf einige eindeutige Erfolge in der Bilanz der Linksregierung verweisen. In viereinhalb Regierungsjahren stieg beispielsweise das Bruttoinlandsprodukt um 35 Prozent, es gab ein jährliches Wachstum von bis zu acht Prozent und eine Arbeitslosenquote von nur sieben Prozent Anfang 2009. Zudem stieg der Reallohn um 30 Prozent, der Mindestlohn wurde auf circa 140 Euro verdoppelt, der Bildungsetat fast verdreifacht und die Rechte der Gewerkschaften wurden deutlich gestärkt. Außerdem wurde ein Sozialministerium eingerichtet, das unter anderem einen Notstandsplan ins Leben rief, von dem zu Beginn der Regierung Vázquez circa 200.000 UruguayerInnen profitierten. Programme wie der Plan Ceibal, durch den über 360.000 GrundschülerInnen einen Laptop aus dem Projekt OLPC (One Laptop per Child) erhalten haben, werden international anerkannt und gelobt.
Ein wirklicher politischer und kultureller Wechsel in der uruguayischen Gesellschaft wurde jedoch nicht erreicht. Denn die Frente Amplio hat während der vergangenen Jahre ihre Integrationsfähigkeit verloren: Die tragende Säule des Wachstums der Linken in den letzten 25 Jahren, die Basiskomitees wurden entmachtet, von Partizipation gibt es keine Spur mehr. Der „Konsens im Dissens“ ist zerbrochen und eine (zwar noch eher marginale) organisierte Opposition links von der Frente Amplio ist entstanden. Zentrale Punkte im Programm des ältesten Linksbündnisses Lateinamerikas, eine Landreform, der (Wieder)Aufbau einer nationalen Industrie und eine anti-imperialistische Politik, wurden unter dem teilweise autoritär regierenden Präsidenten Vázquez nicht umgesetzt.
Inwieweit ein Präsident Mujica für einen Richtungswechsel eintritt, also zu den Prinzipien und Stärken der Frente Amplio zurückfindet, ist bei der politischen Unberechenbarkeit des „alten Anarchisten“, wie sich Mujica selbst nennt, völlig unklar. Außenpolitisch wird „Pepe“ sich sicher stärker seinen Kollegen Lula da Silva, Evo Morales und Hugo Chávez annähern. Und auch eine Verbesserung der Beziehungen zu Argentinien, die seit über drei Jahren wegen des Konflikts um die Ansiedlung einer Zellstofffabrik auf der uruguayischen Seite des Río Uruguay nahezu paralysiert sind, wird unter Mujica nicht lange auf sich warten lassen. Ob es aber auch wirtschafts- und sozialpolitisch einen „Linksruck“ geben wird, ist zu bezweifeln. Dass es dazu nicht kommt, dafür wird schon allein Danilo Astori sorgen, der nicht müde wird, die Erfolge der Regierung Vázquez zu betonen. Sein Einsatz wird im Falle von Mujicas Wahlsieg mit einer außerordentlichen Machtfülle belohnt werden.

Kasten:
Kein Ende der Straflosigkeit – Referendum gescheitert
Ebenfalls am 25. Oktober stimmten die UruguayerInnen in einem Referendum über die Annullierung des so genannten Gesetzes über die Nichtigkeit des Strafverfolgungsanspruchs des Staates für während der Militärdiktatur (1973 bis 1985) von Polizei und Militärs begangenen Verbrechen ab. 47 Prozent der Bevölkerung sprachen sich für ein Ende der Straflosgkeit aus. Damit wurde jedoch eine Mehrheit verfehlt und das Gesetz bleibt weiterhin in Kraft. So wurde eine historische Chance verpasst, endlich die Verbrechen der Diktatur aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
1989 wurde schon einmal in einer Volksabstimmung über das 1986 verabschiedete Gesetz abgestimmt. Damals war die Angst vor einer Rückkehr des Staatsterrors innerhalb der Bevölkerung noch präsent. Und die damalige rechte Regierung unter Julio María Sanguinetti schürte diese Angst geschickt. Trotzdem stimmten schon damals 43 Prozent der UruguayerInnen für die Abschaffung des mit den Militärs ausgehandelten Gesetzes.
20 Jahre später hatten Angehörige von Opfern, Menschenrechtsorganisationen, Basiskomitees und Gewerkschaften zwei Jahre lang massiv für das „Ja“ gegen das von Juristen als verfassungswidrig eingestufte Gesetz mobilisiert. In einer Kampagne wurden Tür um Tür 340.000 Unterschriften für ein erneutes Referendum gesammelt. Das die Mehrheit diesmal so knapp verfehlt wurde, ist eine bittere Niederlage für die BefürworterInnen der Strafverfolgung.
Dafür machen sie auch die amtierende Linksregierung mitverantwortlich, der sie mangelnde Unterstützung vorwerfen. Weder der Präsident Tabaré Vásquez, der sich schon zu Beginn seiner Amtszeit gegen ein erneutes Plebiszit ausgesprochen hatte, noch José Mujica, der Präsidentschaftskandidat der Frente Amplio, engagierten sich in der Kampagne für das „Sí“ zur Aufhebung des Gesetzes. So ging die Initiative im Wahlkampfgetöse unter.
Dabei gab es nur sechs Tage vor der Wahl eine unerwartete Argumentationshilfe: Einstimmig erklärte der Oberste Gerichtshof das Gesetz für verfassungswidrig. Obwohl diese Entscheidung nur für den Fall der 1974 von Militärs ermordeten 24-jährigen Nibia Sabalsagaray, einer in der kommunistischen Jugend aktiven Lehrerin, gilt, war es doch eine wichtige Grundsatzentscheidung. Zudem wurde am 22. Oktober der ehemalige Diktator Gregorio Álvarez zu 25 Jahren Haft verurteilt. Eine komplett andere Ausgangssituation als 1989.
Die strafrechtliche Verfolgung aller Verbrechen von Polizei und Militärs in Uruguay lässt also weiter auf sich warten. Bei den wenigen Fällen, die während der letzten vier Jahre juristisch verfolgt wurden, machte Tabaré Vázquez von seinem präsidialen Recht Gebrauch, einzelne Fälle aus dem Gesetz über die Straflosigkeit herauszunehmen.
Und auch eine Debatte über die Post-Diktatur-Zeit in Uruguay und über ein demokratisches System, das auch die Menschenrechte zu seinen Grundlagen zählt und nicht nur die Spielregeln bei Wahlen beherrscht, steht insofern immer noch aus.
Die Frente Amplio kann mit ihrer wiedererlangten Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments das Gesetz einfach abschaffen. Dazu hatte sie schon seit März 2005 die Gelegenheit. Es wird spannend, ob „Pepe“ Mujica, so er denn zum Präsidenten gewählt wird, das unterstützen wird. Oder ob er wie sein Vorgänger der Meinung sein wird, dass es nicht um die Bewältigung der Vergangenheit, sondern um Versöhnung geht. Dass das eine ohne das andere zu haben ist, bezweifeln nicht nur die Menschenrechtsorganisationen und die Familienangehörigen der über 200 Verschwundenen in Uruguay, sondern zumindest auch 47 Prozent aller UruguayerInnen.

Die Angst im Nacken

Langsam setzt das Flugzeug zum Landeanflug auf den Flughafen von Montevideo an. Der Río de la Plata liegt dunkel da, die Straßen der Stadt sind leer. Die Bilder, mit denen María Teresa Curzio ihren Dokumentarfilm beginnen lässt, könnten auch die letzten Eindrücke von María Emilia Islas Gatti de Zaffaroni von ihrer Geburtsstadt gewesen sein, bevor sie an einen bis heute unbekannten Ort transportiert und dort ermordet wurde. Aber sicher ist das nicht; dokumentiert ist nur, dass die damals 23-Jährige am 27.09.1976 in Buenos Aires zusammen mit ihrem Ehemann und deren 18 Monate altem Kind festgenommen wurde und in die berüchtigte Foltergarage Automotores Orletti gebracht wurde. Möglicherweise wurde sie dann mit dem Flugzeug nach Montevideo gebracht. Danach verliert sich ihre Geschichte, wie die der über 200 Verschwundenen aus der Zeit der uruguayischen Militärdiktatur (1973 bis 1985).
Die Regisseurin María Teresa Curzio lässt in ihrem Film verschiedene Personen, deren Lebenswege von der Diktatur stark beeinflusst wurden, sehr persönlich über die damalige Zeit berichten. So schildert die Mutter von María Emilia Islas die Suche nach ihrem Enkelkind Mariana Zaffaroni, das nach der Ermordung der Eltern entführt worden war. Es dauerte 16 Jahre, bis sie sie in der Familie eines Mitglieds des argentinischen Geheimdienstes SIDE in Buenos Aires fand. Aber auch nachdem die Enkelin ihre wahre Identität erfahren hatte, entschied sie sich, unter ihrem Namen Danila Romina Furci, weiterhin bei ihrer Adoptivfamilie zu bleiben. Sehr berührend erzählt die Großmutter, María Esther Gatti, die Geschichte der Suche nach ihrer Enkelin und es lässt sich die Kraft und Liebe dieser Frau spüren, die in ihrem Kampf um Gerechtigkeit und Aufklärung nie aufgegeben hat. In einem Moment durchbricht sie die für Dokumentarfilme typische Interviewsituation. Während sie direkt in die Kamera blickt, aber weiter mit der Interviewerin spricht, wird deutlich, dass sie sich eigentlich an die Enkelin richtet. Leider sind solche Momente viel zu selten und es überwiegen die Standardinterviewsituation derTalking Heads.
„Ich war mir den Film selbst schuldig und ich wollte Dinge hochbringen, die vorher unausgesprochen geblieben sind“, so Maria Teresa Curzio. Diesem Unausgesprochenen versucht der Film nahezukommen, um seine Bestandteile zu ergründen. Ein Teil davon ist für eine ihrer ProtagonistInnen die Angst, die den Uruguayern immer noch im Nacken sitzt, hervorgerufen durch den damaligen Staatsterrorismus und die Macht der Militärs. Diese sind nach wie vor durch ein Gesetz von 1986, das so genannte Amnestiegesetz, vor Strafverfolgung für während der Militärdiktatur begangene Menschenrechtsverletzungen geschützt. Bereits 1989 gab es den Versuch, durch einen Volksentscheid dieses Gesetz zu annullieren. Damals gelang es den Militärs, ein Klima der Angst vor einer Neuauflage der Diktatur zu schaffen, so dass keine ausreichende Mehrheit für die Abschaffung des Gesetzes zustande kam (siehe auch LN 348). Am 27. Oktober wird nicht nur der neue Präsident gewählt, sondern auch erneut über die Annullierung des Amnestiegesetzes abgestimmt. Dann wird sich zeigen, ob die Uruguayer ihre Demokratie inzwischen als stark genug ansehen und für die Annullierung stimmen werden – oder ob das Schweigen der Militärs weiter bestehen kann.

Vacuum // Regie: Maria Teresa Curzio // Dokumentarfilm // Uruguay/Deutschland 2008 // 90 Minuten // OmU // www.vacuumlapelicula.blogspot.com // Verleih: Hanfgarn & Ufer // www.hu-film.de

Eine Tür zur Gerechtigkeit

Ihr Dokumentarfilm Vacuum ist ein sehr persönliches Zeugnis über Uruguay, die Zeit vor, während und nach der Diktatur und über Menschen, die für ihre Ideale kämpften und kämpfen. Wie entstand die Idee zu diesem Film?
Vacuum ist vor allem ein Film über Themen, die in erster Linie meinen Herkunftsort betreffen. Ich wuchs in der Zeit der Diktatur auf, und erst als ich 17 Jahre alt war, endete die Diktatur. Ich habe also als Jugendliche nie ein Land ohne Diktatur gekannt. Für mich war es sehr wichtig zu wissen, was damals wirklich passiert war. Es ist ein Film, den ich mir selber schuldete und darum ist es ein sehr persönlicher Film. Aber ich glaube auch, dass das Thema des Films die uruguayische Erfahrung transzendiert und uns helfen kann, über die Natur von allen Kriegen, die es auf der Welt gibt, zu reflektieren. Ich glaube, dass alle Kriege, Diktaturen und Ungerechtigkeiten etwas gemeinsam haben und es sind diese generellen Charakteristiken, über die wir nachdenken müssen. Über ihre Herkunft, über die Motive, über die Akteure dieser Kriege und über die Verantwortung, die jeder von uns hat. Auch wenn man es nicht glaubt, weil man immer gleich denkt, es gebe keine Möglichkeit, etwas zu beeinflussen, aber so ist es nicht. Wir alle haben, auch wenn es nur kleine Entscheidungen im alltäglichen Leben sind, die Möglichkeit uns in einer bestimmten Art und Weise auszudrücken. Deshalb habe ich diesen Film gemacht.

Mit dem Sieg der Frente Amplio bei den Wahlen 2004 hat es in Uruguay einige Veränderungen gegeben, was die Aufarbeitung der eigenen Geschichte angeht. Beispielsweise wurde per Gesetz die vollständige Aufarbeitung aller Fälle von Verschwundenen durchgesetzt und in einem fünfbändigen Werk, der Investigación Histórica sobre Detenidos Desaparecidos, zusammengefasst. Wie sehen Sie diese Entwicklungen?
Die demokratischen Institutionen wurden im Laufe der Jahre teilweise wiederhergestellt. Aber Spuren, wie das Gesetz Ley de Caducidad de la Pretensión Punitiva del Estado, das so genannte Amnestiegesetz, über das jetzt im Oktober in einem Volksentscheid abgestimmt werden wird, gibt es nach über 20 Jahren immer noch; dieses Gesetz, das den Staat daran hindert, die während der Zeit der Diktatur geschehenen Verbrechen zu untersuchen. Diese Dinge sehe ich als Spuren an, Dinge, die aus dieser Zeit bleiben, mit Folgen bis in die Gegenwart. Die Angelegenheit der Verschwundenen muss aufgedeckt werden, es muss Transparenz geben und aufgeklärt werden, wer, wie, wo und warum verschwunden ist. Die Fälle sind registriert, aber das Problem ist, dass dieser Regierung Informationen fehlen. Es gibt mehr als 200 Verschwundene und nur sehr wenige wurden gefunden. Ich glaube, sie werden weiter suchen müssen. Aber dass dieses Gesetz, das die Hauptakteure der Repression beschützt, aufgehoben wird, das scheint mir sehr wichtig zu sein, weil es befreien und eine Tür öffnen würde, um Gerechtigkeit zu erlangen und um ohne Hindernisse zu untersuchen, was wirklich passiert ist.

Eine Konstante ihres Films ist die Auseinandersetzung mit der Angst. Aber ich frage mich, was deren Inhalt ist. Wenn es nicht die Angst vor etwas Zukünftigem ist beispielsweise einer erneuten Militärdiktatur, etwas das sehr unwahrscheinlich ist, warum wirkt dann noch die Angst aus dieser Zeit nach?
Für mich ist dieses Thema so komplex, dass ich diesen 90-minütigen Film gemacht habe. Er handelt von der Angst. Einige Elemente der Angst sind die direkte Angst, die jemand gegenüber dem haben kann, was er erlebt hat. Es gibt aber auch Ängste, die sich übertragen, die nicht verbalisiert werden, wie ‚Sie beobachten uns, es kann etwas passieren, misch dich nicht ein.’ Und auch die Ängste vor Wiederholungen: ‚Du musst dich gut benehmen, denn wenn du dich schlecht benimmst, können sie noch einmal kommen.’ Aber das ist eine sehr oberflächliche Art und Weise, diese Angst zu beschreiben. Ich glaube es hat noch viele andere Facetten, die in dem Dokumentarfilm beschrieben werden. Anne-Marie sagt in dem Film, dass die Uruguayer Angst haben. Man müsste sie fragen, was sie unter dieser Angst versteht, denn sie ist in Schweden geboren und denkt das. Ich glaube, wenn jemand eine gewalttätige traumatische Erfahrung gemacht hat, hat er natürlich Angst. Der Archäologe in dem Film sagt etwas was mir sehr interessant erscheint: ‚Es gibt Dinge, die durch alle Lagen eines komplexen Problems gehen.’ Es sind Dinge, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden und voranschreiten. Aber ich glaube, dass diese Übung, Sachen zu verbalisieren, dafür sorgt, dass diese Angst sich auflöst.

Ihr Film ist kurz vor den Wahlen und der Volksabstimmung über die Annullierung des Amnestiegesetzes erschienen. Ist das Ihr Beitrag zur Mobilisierungskampagne?
Der Sinn des Films liegt für mich, mit oder ohne Volksabstimmung, vor allem im Nachdenken über die Geschehnisse in Uruguay und über die Kriege, die es auf der Welt gibt. Die ganze Zeit wird in der deutschen und der uruguayischen Erinnerungskultur darüber gesprochen, dass sich die Dinge nicht wiederholen dürfen. Aber tatsächlich wiederholen sich in der menschlichen Geschichte die Dinge die ganze Zeit – und ich frage mich, warum das geschieht? Denn ich habe diesen utopischen Wunsch, dass sich der menschliche Charakter ändern kann, dass wir als Individuen ausreichend großmütig sein können, damit diese Dinge nie wieder geschehen. Ich glaube, dass der einzig mögliche Weg dahin ist, auch wenn es total verrückt erscheint, dass sich jeder von uns im Inneren sich ändert. Und wir von Generation zu Generation weitergeben, dass es andere Werte gibt, als die, dem anderen mit dem Stock eins überzuziehen, um für sich das größere Stück zu behalten.

Das grüne Gold

Mate ist für die meisten seiner Konsumenten mehr als nur ein Getränk. Der stark konzentrierte, bittere Sud der Yerba-Mate-Blätter, der durch einen metallenen Strohhalm (bombilla) aus einem speziellen becherartigen Gefäß (mate) gesogen wird, ist vor allem in Argentinien, Uruguay und Paraguay, aber auch in Teilen Chiles und Brasiliens fester Bestandteil der Alltagskultur. Aroma des Südens ist eine von sehr wenigen deutschsprachigen Veröffentlichungen über Brauch und Gebrauch des Mates.
Die Guaraní tranken Mate schon lange bevor sie die Spanier entdeckten. Nicht zuletzt wohl auch wegen seiner positiven Eigenschaften. Er vertreibt Hunger und Müdigkeit und soll sogar gut für die Haut sein. In einer Zeit, in der Schlankheit, Schönheit und Leistungsfähigkeit vielerorts wie eine heilige Dreifaltigkeit verehrt werden, sollte einer steilen Karriere des Mate also eigentlich nichts im Weg stehen. Dennoch gehört der Mate nicht gerade zu den berühmtesten kulturellen Eigenarten Lateinamerikas. Und in unseren Breiten und Längen wird er in absehbarer Zeit wohl auch kein Importschlager werden. Denn irgendwie entspricht die Teetradition nicht so recht dem europäischen Zeitgeist. Zum einen braucht man für einen Mate wesentlich mehr Zeit und Ruhe, als für einen Coffee to go. Zum anderen trinkt die ganze Runde gemeinsam aus ein und derselben bombilla. Undenkbar vor allem hierzulande, wo viele Menschen, nicht erst seit den großen Grippepandemien, Flaschenhälse abwischen, bevor sie den Mund als Zweite ansetzen.
Für alle, die den bitteren Geschmack des Mates dennoch mögen und einen Sinn für gesellige und entschleunigende Rituale haben, gibt es nun das Büchlein Aroma des Südens mit dem etwas hölzernen Untertitel „Das kleine Buch zu Mate“. Darin trägt die Autorin Margarita Barretto viel Wissenswertes über das bittere Heißgetränk zusammen. Von der Zeremonie über die notwendigen Zutaten und Gerätschaften, bis hin zur Geschichte des Mate und deren Verarbeitung in Mythen und Folklore. Auf 80 Seiten, die auch viele Darstellungen enthalten, erfahren die LeserInnen, dass der Yerba-Mate-Baum nur alle drei bis vier Jahre geerntet werden kann, die fertige Yerba im 19. Jahrhundert als „grünes Gold“ zur Bezahlung von Tagelöhnern diente und dass, wer sich für einen Mate bedankt, in der nächsten Runde ausgelassen wird.
Leider war die Autorin offenbar vor allem auf Vollständigkeit bedacht. Sehr sachlich und systematisch wird das Thema von Anfang bis Ende abgehandelt. So heißt es in einem insgesamt eher überflüssigen Kapitel über den Wasserkessel: „Die sogenannten Pfeif- oder Flötenkessel verfügen über eine Dampfpfeife, die beim Ausströmen von Dampf einen Ton erzeugt. Heute stehen uns auch elektrische Wasserkocher zur Verfügung“. Auch eine Aufzählung der über 21 chemischen Bestandteile der Yerba-Mate bleibt den LeserInnen nicht erspart.
Doch wer aufmerksam über inhaltliche Längen und sprachliche Holprigkeiten hinweg liest, entdeckt auch die eine oder andere Anekdote, wie beispielsweise die von der Erfindung des „hygienischen“ Mate um 1920. Das Ensemble bestand aus einem abwaschbaren Wasserglas, anstelle der sonst typischen Gefäße aus Kalebassen oder Holz, einem ebenso leicht zu reinigenden Aluminiumsieb und einer bombilla mit abnehmbaren Mundstücken. Eines für jeden Teilnehmer und jede Teilnehmerin der Runde. Aufgrund des Migrationshintergrundes seiner Erfinder wird dieser Mate auch „deutscher Mate“ genannt.

Margarita Barretto // Aroma des Südens – Das kleine Buch zu Mate // Schmetterling Verlag// Stuttgart 2009 // 80 Seiten // 14,80 Euro // www.schmetterling-verlag.de

Klare Fronten vor der Präsidentschaftswahl

Seit 1998 sind in Lateinamerika in mindestens zehn verschiedenen Ländern linksgerichtete Regierungen gewählt worden (Venezuela, Brasilien, Chile, Argentinien, Bolivien, Ecuador, Uruguay, Paraguay, Nicaragua, El Salvador). Mal mehr, mal weniger links, immer aber wurden explizit rechte Regierungen abgewählt. Ein ehemaliger Metallarbeiter in Brasilien, ein Aymara-Indígena in Bolivien, ein ehemaliger Militär in Venezuela, eine im Exil politisierte Kinderärztin in Chile, ein Befreiungstheologe und laizierter Bischof in Paraguay, ein keynesianischer Ökonom in Ecuador, ein Onkologe in Uruguay, ein Fernsehjournalist in El Salvador: Nachdem über Jahrzehnte in vielen Ländern die sprichwörtlichen Caudillos und Vertreter urbaner konservativer Eliten mit ihren rechten beziehungsweise Mitte-Rechts-Parteien die Politik dominierten, ist das politische, soziale und professionelle Profil der Personen ebenso neu und ausdifferenziert, wie das politische Spektrum der Parteien und Bewegungen in Lateinamerika heute.
Aber ist der Linksrutsch vorbei, bevor sich in einigen Ländern tatsächlich strukturelle Veränderungen durchgesetzt haben? Kommt jetzt wieder die rechte Welle? Oder polarisiert sich der Subkontinent in zwei klare Blöcke mit einem mächtigen Brasilien als Regionalmacht irgendwo dazwischen? In Argentinien sieht es so aus, als ob die Uhr für die Kirchners abläuft, in Panama wurde im Mai 2009 ein rechter Millionär zum Präsidenten gewählt, in Chile, wo im Dezember 2009 Wahlen anstehen, stehen die Chancen für das Mitte-Rechts-Bündnis gut und eine Prognose für die Zeit in Brasilien nach Dezember 2010, die Post-Lula-Ära, traut sich heute kaum jemand zu.
In Uruguay ist diese Polarisierung seit den Vorwahlen vom dem 28. Juni offiziell. Mit dem 75-jährigen José „Pepe“ Mujica und „Cuqui“, dem 67-jährigen Luis Alberto Lacalle, stehen sich zwei Personen mit völlig unterschiedlichen politischen Konzepten und Biografien gegenüber. Der ehemalige Tupamaro Mujica, der insgesamt 14 Jahre seines Lebens im Kerker verbrachte, ist Senator und Anführer der Bewegung für die Beteiligung des Volkes (MPP). Der ungelernte Blumenzüchter, der eine direkte und mitunter auch „blumige“ Sprache spricht und der besonders bei den einfachen Leuten sehr beliebt ist, sitzt seit 1995 im Parlament. Auf der anderen Seite tritt mit dem konservativen Lacalle ein Vertreter jener Klasse an, die seit der Staatsgründung im Jahr 1828 die Politik in Uruguay bestimmt hat. Während seiner Präsidentschaft von 1990 bis 1995 stand er für eine neoliberale Privatisierungspolitik. Die wurde allerdings in seinem „eigenartigen Land“, wie der am 17. Mai diesen Jahres verstorbene uruguayische Dichter Mario Benedetti es in einem Artikel vom 30. November 1994 für die spanische El Pais nannte, vom Volk gestoppt: „ … 1992, als die ganze westliche Welt von einer Privatisierungswelle erfasst wurde und Präsident Lacalle bereit war, den internationalen Entscheidungen mit Freude nachzugeben, vernichtete eine weitere Volksabstimmung überlegen diese Privatisierungsgebärden.“ Trotzdem steht die Regierungszeit von Lacalle für unzählige Korruptionsfälle (vor allem bei der Privatisierung von staatlichen Banken), mehrere Mitglieder seiner Regierung sowie verschiedene seiner Geschäftspartner wurden angeklagt. Der Jurist Lacalle selbst vergrößerte sein privates Geldvermögen und seinen Landbesitz während seiner Regierungszeit um ein Vielfaches. Mit Bankenskandalen kennt sich Lacalle also aus, vielleicht ist gerade das in Zeiten der Krise, die mit einigen Monaten Verspätung auch in Uruguay angekommen ist, mit ein Grund dafür, dass er den Vorwahlkampf seiner Partei für sich entschied. Eigentlich ist es schwer vorstellbar, dass nach all diesen Erfahrungen eine Mehrheit der UruguayerInnen Lacalle wieder wählt. Aber in Italien regiert auch wieder Berlusconi und in Buenos Aires wurde Ende 2007 der rechte Unternehmer Mauricio Macri zum Bürgermeister gewählt, insofern ist auch in Uruguay gar nichts auszuschließen. So konkurrieren mit Mujica und Lacalle zwei sehr unterschiedliche Kandidaten darum, nach einem Wahlsieg im Oktober am 1. März 2010 die Nachfolge des amtierenden Mitte-Links-Präsidenten Tabaré Vázquez anzutreten, der laut Verfassung nicht wiedergewählt werden kann.
Einen ersten Fingerzeig, wohin die Reise geht, lieferten die Vorwahlen am 28. Juni. Diese dienen in erster Linie dazu, die parteiinternen PräsidentschaftskandidtInnen zu ermitteln, geben aber auch gleichzeitig einen Hinweis auf die Kräftekonstellationen zwischen den Parteien. Allerdings nur einen verzerrten, denn im Gegensatz zu den „richtigen“ Wahlen gibt es keinen Wahlzwang und somit auch eine wesentlich niedrigere Wahlbeteiligung. Bei diesen stimmten 41 Prozent der WählerInnen für die Kandidaten des seit März 2005 regierenden Mitte-Links-Bündnisses Frente Amplio (Breite Front). Innerhalb des Bündnisses konnte sich Mujica mit 59 Prozent deutlich gegen den wirtschaftsliberalen Danilo Astori, bis August 2008 Wirtschafts- und Finanzminister, durchsetzen. Überraschend konnte Mujica schon zwei Tage nach der Wahl den Unterlegenen zur Kandidatur für die Vizepräsidentschaft überreden. Welche Kompromisse er eingehen, welche „Kröten“ er schlucken muss, wie er das selbst nennt, um die Mittelschicht in Land, die nicht für ihn stimmte, zu gewinnen, wird noch verhandelt. Ohne personelle und programmatische Zugeständnisse wird es nicht gehen. Denn obwohl Mujica fast gebetsmühlenartig immer und immer wieder die Einheit der Frente Amplio beschwört, tun sich doch zwischen den Positionen des Astori-Blocks und Mujicas MPP, den Kommunisten und anderen linken kleineren Parteien innerhalb der Frente Amplio tiefe Gräben auf. Die radikalen linken Parteien und Bewegungen Uruguays sind ohnehin fast alle bereits während der Regierungszeit von Vázquez aus der Frente Amplio ausgetreten, der sie teilweise seit deren Gründung im Jahr 1971 angehörten. Die gemäßigten Linken, die in der Frente Amplio die Mehrheit stellen, sympathisieren mit Chávez, Morales und natürlich der Kubanischen Revolution, wollen die ausländischen Direktinvestitionen im Land an Bedingungen knüpfen und die Abhängigkeit von den internationalen Finanzinstitutionen verringern. Zudem soll wieder eine staatliche Fleischindustrie aufgebaut werden, nachdem in den letzten Jahren die wichtigen Industriezweige komplett in die Hände ausländischer, vor allem brasilianischer und argentinischer Unternehmen fielen. Astori will das alles nicht, sieht vielmehr im weiteren Öffnen der Märkte und in ausländischen Investitionen die Zukunft für Uruguay, ist US-freundlich und kritisch gegenüber dem Gemeinsamen Südamerikanischen Markt Mercosur orientiert.
Das Schachern um politische Schlüsselpositionen, vor allem im Wirtschafts- und Finanzbereich, den der Astori-Sektor als eine Art Erbhof betrachtet, ist jetzt voll im Gange. Nach einem Jahr gegenseitiger Blockade, in dem es in einem personalisierten Vorwahlkampf fast ausschließlich nur um Mujica oder Astori ging, haben nicht wenige Sektoren der Frente Amplio aber jetzt genug davon: „Wir wollen eine Politik der Frente Amplio, nicht eine von Mujica und Astori“, so ein Mitglied der MPP. Tatsächlich hat „Pepe“ nur mit der Unterstützung Astoris gute Chancen, Präsident zu werden. Allerdings darf er die linken Basiskomitees der Frente nicht weiter verprellen, von denen viele nach der Regierungszeit des populären, aber wegen seiner autoritären Entscheidungen auch in der Frente selbst umstrittenen Präsidenten Vázquez enttäuscht sind. Die blieben nämlich in unerwartet großer Zahl bei den Vorwahlen zu Hause und sorgten so dafür, dass Lacalles Nationalpartei mit 46 Prozent besser als die Frente abschnitt, die eigentlich mit ihren hunderten von Basiskomitees viel besser organisiert ist. Obwohl einige KommentatorInnen die für den Rio de la Plata ungewöhnliche Winterkälte mit Temperaturen um den Gefrierpunkt als Grund für das Fernbleiben von mehr als 50 Prozent der Wahlberechtigten von den Wahlurnen ausmachten, gehen ernsthafte politische Analysen etwas tiefer. So spricht Juan Castillo, Mitglied im Führungsgremium des Gewerkschaftsdachverbandes PIT-CNT sowie der Kommunistischen Partei innerhalb des Mitte-Linksbündnisses, von „strukturellen und organisatorischen Fehlern, die wir gemacht haben“. Im Klartext heißt das: Die traditionell starke Basis ist frustriert, fühlt sich von „ihrer“ Regierung missachtet und ist heute viel schwerer zu motivieren als zu der Zeit, als die „Breite Front“ in der Opposition war.
Allerdings könnte die Kandidatenkür des politischen Gegners für eine künftig größere Motivation der Linken sorgen: Bei der Nationalpartei, den Blancos, erhielt Luis Alberto Lacalle 55 Prozent und schlug somit seinen Konkurrenten Jorge Larrañaga deutlich. Das Dream Team für die Präsidentschaftswahl stand hier schon am Wahlabend fest: Lacalle, der für den Neoliberalismus der 1990er Jahre steht und diese Rezepte auch heute noch für die geeigneten hält, bot dem als innerparteilichen Reformer gehandelten, IWF-kritischen Larrañaga die Vizepräsidentschaftskandidatur an, was dieser ohne Bedingungen akzeptierte. Wie das alles programmatisch zusammengeht, weiß zwar keiner, aber das ist zweitrangig. Zuerst geht es darum, die Linken zu schlagen und vor allem Mujica zu verhindern. Dazu will auch die dritte Kraft im Lande beitragen, die rechtsliberale Colorado-Partei. Die schnitt mit zwölf Prozent nicht so schlecht ab, wie prognostiziert. Und das trotz oder wegen Pedro Bordaberry. Der Sohn des ehemaligen Diktators Juan María Bordaberry (1972-1976) gewann die Vorwahl seiner Partei mit 71 Prozent. Summiert man die zwölf Prozent Stimmen für die Colorados mit den 46 Prozent der Blancos ergibt das Ergebnis vom Sonntag eine klare Tendenz: Die Frente Amplio wäre abgewählt gewesen. Für die Wahl am 25. Oktober 2009 bedeutet das nichts Gutes. Falls dann weder Mujica noch Lacalle mehr als 50 Prozent erhalten, könnten die Colorados dem Duo Lacalle-Larrañaga bei der Stichwahl einen Monat später die entscheidenden Stimmen zum Sieg verschaffen. Und Lacalle würde mit Bordaberry eine Koalitionsregierung bilden, der nicht zum Parteiestablishment gehörende Larrañaga hätte seine Schuldigkeit getan. Beide „Traditionsparteien“, wie Blancos und Colorados bis zum Erstarken der Frente Amplio in den 1990er Jahren genannt wurden, werden alles und jeden mobilisieren, um das Linksbündnis zu schlagen. Schon die Niederlage im Oktober 2004 war für sie eine Katastrophe. Würde es die Frente Amplio ein zweites Mal schaffen, die Regierung zu stellen, wären alle die Pfründe und Erbhöfe vielleicht ja auf Dauer verloren.
In den vier Monaten bis Oktober ist ein harter polarisierter Wahlkampf zu erwarten, alles sieht nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen aus. Doch am Ende könnte sich mit José „Pepe“ Mujica eine weitere schillernde Persönlichkeit in die Riege der lateinamerikanischen Präsidenten einreihen. „Wir müssen daran denken, dass die Welt sich geändert hat, weil ein Schwarzer in den USA regiert, weil Lula in Brasilien dran ist und Evo in Bolivien. Ich will, dass alle wissen, dass ich die vertrete, die unten sind und ich empfinde Stolz und Verpflichtung dabei“, so Mujica nach Bekanntgabe der ersten Ergebnisse. Und für „El Pepe“, der sich als Freund von Chávez bezeichnet, ist das brasilianische Modell das Vorbild, mehr noch: „Mein Modell für Uruguay ist Lula. Lula hat eine Revolution erreicht. Er hat erreicht, dass eine große Anzahl von Menschen die Leiter emporklettern konnte“.
„Pepe“ hat in seiner Chacra, seinem kleinen Bauernhof, auf dem er heute noch Blumen züchtet, ein Foto von Che Guevara an der Wand und eine Fahne von Kuba an der Tür hängen. Hugo Chávez, die Castro Brüder und Evo Morales wird das sicher freuen. Der 25. Oktober 2009 könnte aber auch der Anfang eines „Rechtsrutsches“ sein, wenn in Uruguay mit Lacalle eine Figur aus dem Laboratorium des Neoliberalismus der 1990er Jahren im Jahre 2010 wieder den Dienst antritt.
Am 25. Oktober wird noch eine weitere Abstimmung in Uruguay stattfinden. Zeitgleich mit der Wahl wird ein Referendum darüber entscheiden, ob das „Gesetz über die Hinfälligkeit des Strafanspruchs des Staates“ von 1986, das allen Polizei- und Militärangehörigen Straffreiheit für vor dem 1. März 1985 begangene Menschenrechtsverletzungen zusichert, abgeschafft wird. Ein erstes Referendum dazu scheiterte 1989, begleitet von Drohungen der Militärs kurz nach dem Ende der Diktatur. Doch dieses Mal stehen die Chancen gut, dass, ganz gleich wer der nächste Präsident sein wird, auch in Uruguay die Straflosigkeit definitiv ein Ende findet, weil die Bevölkerung es mehrheitlich so entscheidet. Wie so oft in Benedettis „eigenartigem Land“.

Kein Vergessen. Nirgends

Bringt ein Mensch böswillig einen anderen um, so ist der Tatbestand des Mordes gegeben. Kann ihm oder ihr die Tat nachgewiesen werden, wird der oder die MörderIn nach geltendem Recht verurteilt. Dass dieser Grundsatz umso schwieriger einzufordern ist, je gravierender die begangene Menschenrechtsverletzung ausfällt, zeigen Knut Rauchfuss und Bianca Schmolze anhand von zwölf Beispielen in ihrem Buch Kein Vergeben. Kein Vergessen. Der internationale Kampf gegen Straflosigkeit.
Alfredo Astiz ist einer der wenigen lateinamerikanischen Militärverbrecher, die man auch in Europa namentlich zuordnen kann. Dabei gehörte er keineswegs zu der absoluten Führungsriege der argentinischen Militärdiktatur, die das Land von 1976 bis 1983 regierte und die für Entführung, Folter und Mord von bis zu 30.000 Zivilpersonen verantwortlich ist.
Alfredo Astiz’ traurige Berühmtheit gründet sich auf einen Auftrag, dessen späteren Symbolcharakter er damals, im Jahr 1977, noch gar nicht abschätzen konnte. Der Geheimdienstler sollte sich als Spitzel in eine Angehörigenorganisation einschleusen, die öffentlich für die Herausgabe der Entführten demonstrierte. Astiz erfüllte seinen Auftrag derart gut, dass die Frauen und Mütter ihn schon bald den „blonden Engel“ nannten.
Er konnte zehn der Frauen an die Entführungskommandos denunzieren, bevor man ihn entdeckte. Und obwohl die Mütter der Plaza de Mayo heute zu Recht zur vielleicht berühmtesten NRO der Welt avanciert sind, sollte es fast 30 Jahre dauern, bis Astiz schließlich auch in Argentinien 2006 rechtskräftig verurteilt werden konnte.
Bis dahin war es ein weiter Weg, der sich über Knut Rauchfuss’ detaillierte Ausführungen nachvollziehen lässt. Denn viele der lateinamerikanischen Militärdiktaturen erließen Gesetze, welche die begangenen Menschenrechtsverletzungen unter Straffreiheit stellten, sodass es bis heute oftmals nicht möglich ist, die Täter von Verbrechen wie Entführung, Folter oder Mord juristisch zu belangen. Rauchfuss beschreibt, welcher juristischen Leistungen es bedarf, um in der verfahrenen Situation der Straffreiheit in Lateinamerika den Einzelerfolg einer Verurteilung oder gar einen nationalen Prozess wie die Wiederaufnahme der Verhandlungen in Argentinien in Gang zu setzen.
In fünf dicht recherchierten Kapiteln führt er aus, wie die zumindest formaldemokratischen Nachfolgeregierungen in Argentinien, Chile, Uruguay, Paraguay und Guatemala mit dem Erbe der Diktatur umgehen. Anhand der beiden Instrumente Amnestiegesetz und Wahrheitskommission zeigt Rauchfuss das Ringen um Strafverfolgung zwischen Regierung und Zivilbevölkerung, das nun schon mehrere Dekaden andauert.
Rauchfuss’ Ausführungen bleiben dabei immer basisorientiert, und der Autor hat mit seiner Gewichtung völlig Recht. Denn in vielen Fällen sind es gerade Einzelne, kleine Zusammenschlüsse von Angehörigen und Überlebenden des Staatsterrors, die sich dem staatlichen Willen zum Vergeben und Vergessen entgegenstellen.
Wie der Fall des paraguayischen Anwalts Martín Almada, der Anfang der 70er Jahre verdächtigt wurde, ein „Linker“ zu sein. Er teilte das Schicksal von vielen, er wurde entführt und gefoltert. Seine Frau musste sich zu Hause seine Schmerzensschreie über das Telefon anhören. Mit der Nachricht seines angeblichen Todes konfrontiert, starb sie an einem Herzinfarkt. Martín Almada jedoch überlebte und widmet seither sein Leben der Verfolgung der Militärverbrecher. Denn da, wo alle Bestrebungen des Staates und seiner Organe darauf hinauslaufen, abzuwiegeln und zu vergessen, kann die Forderung nach Gerechtigkeit nur von Zivilpersonen kommen. Mit erstaunlichem Mut, mit Beharrlichkeit und Kreativität fanden einige sogar Möglichkeiten, die Straflosigkeit zu unterwandern. Die Abuelas de Plaza de Mayo (Großmütter des Platzes der Mairevolution) etwa entdeckten mit dem Tatbestand der Kindesentführung ein Verbrechen, das nicht von der argentinischen Amnestieregelung gedeckt wurde. Heute gibt es sogar einen Paragraphen in der Internationalen Kinderrechtskonvention, der nach ihnen benannt ist.
Bianca Schmolze beschäftigt sich im zweiten Teil des Buches mit Ländern aus anderen Teilen der Welt wie Ruanda, Sierra Leone oder Osttimor, die ebenfalls eine Tragödie in der jüngeren Landesgeschichte aufzuarbeiten haben. Ein deutlicher Unterschied zu den Nachfolgeregierungen in Lateinamerika besteht jedoch darin, dass die schweren Menschenrechtsverletzungen in den von Schmolze betrachteten Beispielen meist jüngeren Datums sind und ein überstaatliches Strafgericht zu deren Aufklärung eingriff.
Schmolze gelingt es, auch bei der Betrachtung der Internationalen Strafgerichtshöfe den basisorientierten Ansatz des Buches weiterzuverfolgen. Weniger als für die Täter interessiert sich Schmolze dafür, was die Tribunale für die oftmals stark traumatisierte Gesellschaft bedeuten können. Die Autorin zeigt, dass die Verurteilung einiger weniger Schlüsselfiguren von der Bevölkerung als zu abstrakt abgelehnt wird. Aufbauend auf den Erfahrungen aus den Internationalen Strafgerichtshöfen für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und Ruanda spannt Schmolze einen Bogen zum neueren Modell der gemischten Tribunale, wie sie etwa in Sierra Leone eingesetzt wurden. In diesen Hybridtribunalen, die auch auf nationale Belegschaft und Rechtsprechung zurückgreifen, sieht die Autorin zumindest eine Möglichkeit, der Bevölkerung erneut Vertrauen in ihre Regierung zu vermitteln.
Überraschend ist deshalb, dass in den letzten beiden Kapiteln, die sich ausschließlich mit dem ICTY beschäftigen, der basisorientierte Ansatz beinahe gänzlich aufgegeben wird. Wie es um die Glaubwürdigkeit des ICTY bei der Bevölkerung bestellt ist, wird hier nur gestreift.
Beide AutorInnen bemühen sich, dem Leser größtmögliche Aktualität zu gewährleisten. Was auffällig ist und unter dem Hinweis der „besseren Lesbarkeit“ fehlt, ist, neben einem vernünftigen Lektorat, das wohl der gebotenen Eile zum Opfer gefallen ist, ein Literaturverzeichnis. Zwar kann man auf der Website der NGO Gerechtigkeit heilt, bei der die AutorInnen auch Mitglieder sind, Bücher einsehen, aber natürlich fehlen auch hier die Verweise. Rauchfuss/Schmolze haben mit Kein Vergeben. Kein Vergessen einen wichtigen Beitrag zu einem wichtigen Thema vorgelegt, der ganz bewusst das Engagement der Einzelnen in den Vordergrund stellt, was in den „offiziellen“ Betrachtungen ja gerne etwas zu kurz kommt. Aber mit dieser Herangehensweise haben sie ihre eigene Abhandlung auch ins Niemandsland katapultiert: Vielleicht etwas zu detailreich für NormalleserInnen sind die Texte wissenschaftlich kaum weiter zu verwenden. Was schade ist, denn für dieses „Nirgends“ ist das Buch einfach zu gut.

Bianca Schmolze, Knut Rauchfuss (Hg.) // Kein Vergeben. Kein Vergessen. Der internationale Kampf gegen Straflosigkeit // Assoziation A // Berlin/Hamburg 2009 // 422 Seiten // 20 Euro // www.assoziation-a.de

Ein „Extremist des Optimismus“

Einer der ganz Großen der lateinamerikanischen Literatur ist gegangen. „Mario war ein Extremist des Optimismus und der Hoffnung, ohne dabei seinen kritischen Sinn und seine tiefe Sorge um die Menschen zu vernachlässigen“, so sein Wegbegleiter, der Komponist und Sänger Daniel Viglietti, der seit 1978 die legendären Konzertlesungen „A Dos Voces“ (Mit Zwei Stimmen) mit Mario Benedetti bestritt. Und er war ein Mensch von beispielloser Bescheidenheit, wie ein anderer berühmter Freund, der Schriftsteller Eduardo Galeano, ihn charakterisierte: „Er war sich gar nicht bewusst, dass er Mario Benedetti war.” Am 17. Mai 2009 verstarb der im uruguayischen Paso de los Toros als Sohn italienischer Immigranten geborene Mario Benedetti in Montevideo. Er wurde 88 Jahre alt. Obwohl er schon seit längerem an Herzproblemen litt, war die Nachricht ein Schock für die meisten UruguayerInnen und für seine zahlreichen FreundInnen und LeserInnen in ganz Lateinamerika. Der uruguayische Präsident ordnete Nationaltrauer an und zehntausende seiner Landsleute aus allen sozialen Schichten nahmen im Parlamentsgebäude von ihrem geliebten Dichter, dem meist gelesenen Autor Uruguays, Abschied.
Benedetti, der selbst einmal bezeugte, „Mein erstes Gedicht schrieb ich auf Deutsch“, besuchte von 1928 bis 1933 die Deutsche Schule in Montevideo. Danach verdingte er sich als Autoersatzteilverkäufer, Buchhalter in einer Immobilienfirma und Angestellter im Wirtschaftsministerium. Von 1938 bis 1941 lebte er in Buenos Aires. Zurück in Montevideo, wurde er 1945 Redaktionsmitglied der linken Wochenzeitschrift Marcha, bei der er ab 1954 als literarischer Direktor arbeitete, bis das renommierte Magazin 1974 von der Militärregierung verboten wurde. Politisiert wurde Benedetti von der kubanischen Revolution, die er bis zu seinem Tode unterstützte – wofür er von einigen SchriftstellerkollegInnen kritisiert wurde. 1971 war er Gründungsmitglied der Bewegung der Unabhängigen 26. März, des politischen Arms der Stadtguerilla Tupamaros. Diese vertrat er von 1971 bis 1973 auch in der Linkskoalition Frente Amplio. 1973 wurde er von der Militärdiktatur ins Exil getrieben. Er flüchtete für kurze Zeit nach Argentinien, weitere Stationen waren Peru, Kuba und Spanien. 1983, noch zur Zeit der Militärdiktatur, kehrte er nach Uruguay zurück.
Im Alter von 25 Jahren veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband. Zu seinen bekanntesten Büchern gehört der 1960 publizierte Roman Die Gnadenfrist. Zugleich Liebesgeschichte und Drama, behandelt das in 19 Sprachen übersetzte Werk das Leben eines Buchhalters kurz vor der Pensionierung. Unter dem Titel La Tregua („Der Waffenstillstand“) wurde es 1974 in Argentinien verfilmt. Ein anderes berühmtes Werk ist Montevideanos, ein ebenfalls 1960 veröffentlichter Sammelband von Kurzgeschichten, in dem Charakter und Stimmungen der uruguayischen Hauptstadt gespiegelt werden. Auch heute noch sind diese so oder so ähnlich in Montevideo zu beobachten und zu spüren. Mit seiner Rückkehr nach Uruguay begann die literarische Verarbeitung des Exils und vor allem des „desexilio“, wie Benedetti den Neuanfang in seinem Heimatland bezeichnete. Zu den wichtigsten Werken dieser Zeit zählen El amor, las mujeres y la vida, eine Sammlung von Liebesgedichten, und der Roman Andamios. Benedetti hat ein umfassendes Gesamtwerk von mehr als 80 Titeln hinterlassen, darunter Romane, Gedichtbände, Essays und Kurzgeschichten.

In der Höhle des Löwen

Eines Nachts begaben sie sich in die „Höhle des Löwen“. Ein Kommando der uruguayischen Stadtguerilla MLN-Tupamaros überfiel am 30. Mai 1970 kurz nach Mitternacht das Ausbildungszentrum der Marine CIM im Hafenviertel von Montevideo. Ohne dass ein einziger Schuss fiel, gelang es ihnen, die Kaserne einzunehmen und die anwesenden Soldaten zu überwältigen. Die halbe Nacht über verluden sie die Beute – mehrere hundert Gewehre und eine große Anzahl weiterer Waffen – in Lastwagen. Zum Abschluss der Aktion hissten sie am frühen Morgen am Fahnenmast der Kaserne die Flagge der Befreiungsbewegung MLN. Unter den zwanzig Männern und zwei Frauen befand sich auch Yessie Macchi.
Macchi wurde am 14. Juli 1946 als Spross einer uruguayischen Offiziersfamilie geboren. Mit 14 Jahren zog sie von zu Hause aus und stürzte sich ins Leben. Sie betrieb einen Kult des Risikos, raste über rote Ampeln. „Die Angst kam erst danach“, sagte sie später. Ihr selbstbewusstes, offensives Auftreten als Frau war in der konservativen Gesellschaft Uruguays eine Provokation. Als geschminkte und modisch gekleidete Sekretärin verstieß sie aber auch gegen den Kleidungskodex der Linken. „Ich werde die Revolution nicht in Jeans, sondern im Minirock machen“, verkündete sie.
Yessie Macchi politisierte sich zunehmend. Innerhalb kurzer Zeit durchlief sie mehrere politische Organisationen, von der Kommunistischen Jugend bis zum maoistischen MIR. Schon bald langweilten sie die sterilen ideologischen Grabenkämpfe. Sie suchte eine praktische Antwort. Über einen Genossen bekam sie Kontakt zur MLN, der entstehenden Stadtguerilla. Tagsüber Sekretärin einer multinationalen Firma, verwandelte sie sich nachts in eine Militante der MLN.
Ab 1967 wurde das Land zunehmend militarisiert und der neue Präsident Jorge Pacheco begann mit Notstandsdekreten zu regieren. Die Tupamaros gingen von Propagandaaktionen zu einer neuen Etappe des Kampfes über. Im Oktober 1969 führten die „Tupas“ ihre bis dahin spektakulärste Aktion durch: Als Trauerzug getarnt besetzten sie die Stadt Pando. Obwohl die Aktion militärisch in einem Fiasko endete – auf dem Rückzug wurden drei Genossen erschossen und weitere verhaftet – machte sie die Tupamaros mit einem Schlag weltweit bekannt.
Yessie Macchi war an der Vorbereitung der Aktion beteiligt, wurde aber wenige Tage vor der Durchführung verhaftet. Im Frauengefängnis Cabildo wurde sie anschließend von Nonnen bewacht. Doch schon nach kurzer Zeit gelang ihr mit zwölf weiteren Tupamaras während der Messe die Flucht aus der Gefängniskapelle. Macchi schloss sich nun der Kolonne des Landesinnern an, die vom Gründer der Tupamaros, Raúl Sendic, geleitet wurde. Am 31. Januar 1971 wurde Yessie Macchi zum zweiten Mal verhaftet, wieder kam sie in das Gefängnis Cabildo, wo die Nonnen mittlerweile durch weniger gottesfürchtige Gefängniswärterinnen abgelöst worden waren. Und erneut gelang Yessie die Flucht. Am 30. Juli 1971 entkam sie zusammen mit 37 weiteren Frauen durch einen Tunnel und weiter durch die Kloaken der Stadt. Nach ihrem erneuten Gefängnisausbruch war Macchi endgültig zu einer der meist gesuchten Frauen Uruguays geworden.
Im Februar 1972 lernte Yessie den Mann kennen, den sie später als die „Liebe ihres Lebens“ bezeichnete: Leonel Martínez Platero. Trotz aller Widrigkeiten des Lebens in der Illegalität beschlossen die beiden, ein Kind zu bekommen. Auch im Rückblick wird Yessie Macchi diese Phase der Klandestinität und des bewaffneten Kampfes als die glücklichste Zeit ihres Lebens bezeichnen, in der sie genau das tat, was sie für richtig hielt: Im Kollektiv leben und kämpfen, im Rahmen einer Organisation, der sie rückhaltlos vertraute.
Doch die Tupamaros unterschätzten den Gegner. Das Militär, dem mittlerweile die Bekämpfung der Guerilla übertragen worden war, und dem die MLN ihrerseits den Krieg erklärt hatte, zerschlug die Bewegung innerhalb weniger Monate – nicht zuletzt durch den systematischen Einsatz der Folter. Am 13. Juni 1972 geriet die Gruppe um Yessie Macchi in der Kleinstadt Parque de la Plata östlich von Montevideo in eine Konfrontation mit der Polizei. Leonel Platero wurde hinterrücks erschossen und Yessie schwer verletzt festgenommen. Nach der Verhaftung verlor sie ihr Kind aufgrund von gezielten Tritten in den Unterleib.
Sobald es ihr Zustand erlaubte, wurde sie aus dem Krankenhaus in eine Militärkaserne verschleppt. Es begann eine Zeit der Rotation durch verschiedene Kasernen des Landes – und der Folter, über die Yessie nie im Detail gesprochen hat. Von einem Militärgericht wurde sie zu über 40 Jahren Haft verurteilt und schließlich in das Frauengefängnis Punta de Rieles gebracht, wo sie ein stürmisches Wiedersehen mit ihren Genossinnen erlebte. Doch auch dies war nur ein kurzes Zwischenspiel. Ein Woche vor dem Putsch der Militärs am 27. Juni 1973 wurden neun Frauen, kurz darauf auch neun Männer, zu Geiseln des Staates erklärt, denen für den Fall einer weiteren Aktion der Tupamaros mit Erschießung gedroht wurde. Die Geiseln verbrachten die nächsten drei Jahre unter barbarischen Bedingungen in winzigen Verliesen in Militärkasernen. „Keine Woche verging ohne zwei bis vier Folterverhöre“, so Macchi.
Während der Geiselhaft in der Kaserne La Paloma im Stadtteil Cerro von Montevideo lernte Yessie den Mitgefangenen Mario Soto kennen, mit dem sie sich durch ein Loch in der Zellenwand verständigen konnte. Mit der Zeit entwickelte sich zwischen den beiden unter schwierigsten Verhältnissen eine „klandestine Romanze“. Trotz der unabsehbaren Folgen beschlossen die beiden, ein Kind zu zeugen. Dank der Solidarität eines Wachsoldaten gelang es ihnen, zwei- oder dreimal zusammen zu sein. Ihre Entscheidung war für Yessie ein Akt der Rebellion, eine Entscheidung für das Leben inmitten einer Atmosphäre des Todes. Doch das junge Paar wurde schnell wieder getrennt, Yessie in das Frauengefängnis Punta de Rieles zurück verlegt. Die gemeinsame Tochter Paloma wurde im Gefängnis geboren, aber nach wenigen Monaten von der Mutter getrennt und fortan von den Großeltern großgezogen.
Als nach langen Jahren am 1. März 1985 eine neu gewählte Zivilregierung die Militärs an der Macht ablöste, wurde ein Großteil der politischen Gefangenen freigelassen. Am 14. März 1985 öffneten sich schließlich auch für die letzten 63 politischen Gefangenen – unter ihnen Yessie Macchi – die Gefängnistore. Die ersten Tage und Wochen der Freiheit waren wie ein Rausch. „Dann kam die Zeit, die wir die Depression nach der Freilassung nennen.“ Die Wiedereingliederung in das Alltagsleben nach so vielen Jahren Gefängnis war für die frei gekommenen Frauen extrem schwer. „Freiheit heißt nicht, dass sie dir die Türen vom Knast aufmachen. Die Freiheit zu erlangen dauert viel länger“, erzählte Yessie Macchi später. Zeitweise konnte Yessie die Gespenster der Vergangenheit und die Zumutungen der Gegenwart nur mit Medikamenten und Alkohol ertragen. „Es war ein beständiger Kampf gegen die Selbstzerstörung.“
Nach ihrer Haftentlassung engagierte sich Yessie Macchi in verschiedenen sozialen und politischen Projekten. Ihr Interesse an der Frauenbewegung erwachte, in der MLN versuchte sie eine Frauenkommission zu etablieren und zu stärken. Es ging ihr um die Organisierung eines feministischen Raums. Sie thematisierte die Diskriminierung der lohnarbeitenden Frau, den Sexismus, die Gewalt in der Familie, das Recht auf Abtreibung.
Einen ersten Job fand sie bei einem Hilfswerk, das sich um entlassene Gefangene und RückkehrerInnen aus dem Exil kümmerte. Danach arbeitete sie als Hörfunkjournalistin für das Radio CX 44 Panamericana, das 1988 von den Tupamaros, die sich mittlerweile als legale politische Bewegung neu konstituiert hatten, übernommen worden war. Yessie war hier für das Programm „Vamos Mujer“ zuständig. Yessie Macchi war darüber hinaus Gründungsmitglied der Organisation Freundinnen der Alternativen Kommunikation ACA und der linken Nachrichtenagentur COMCOSUR, für die sie bis zu ihrem Tod das Programm Comcosur Mujer betreute.
Ab den 1990er Jahren entwickelte sie darüber hinaus ein intensives Verhältnis zur Linken in Deutschland. Sie war häufig zu Besuch, um die Erfahrungen der Tupamaros zu vermitteln und einen politischen Austausch über die Kontinente hinweg zu etablieren. Aus ihren vielfältigen Kontakten und Freundschaften entstanden unter anderem der Film Und plötzlich sahen wir den Himmel (1997), der zahlreiche Interviews mit ehemaligen Gefangenen und sozialen Kämpferinnen in Uruguay und Deutschland vereint, sowie der Interviewband Aber wir haben immer auf das Leben gesetzt (1998).
Mit den Jahren wuchs ihre politische Distanz zur MLN-Tupamaros, die ab 2004 als stärkste Fraktion innerhalb der Frente Amplio an der Regierung beteiligt war. Sie wählte den Weg der Rückbesinnung auf die sozialen Kämpfe und Probleme, insbesondere die der Frauen. Den Mund halten wollte und konnte Yessie Macchi nie. Sie war in jeder Hinsicht eine antiautoritäre, durch und durch rebellische Frau. Sie verkörperte die „andere“ Geschichte der Tupamaros, die der Frauen, die unabgegoltene, mit der „kein Staat zu machen“ ist. Als Freundin war sie solidarisch, humorvoll und zugewandt, aber auch aufbrausend, manchmal sarkastisch und für ihre Temperamentausbrüche gefürchtet. Oft ging mehr als Porzellan in die Brüche.
Weite Strecken ihres Lebens hat Yessie Macchi in der „Höhle des Löwen“ zugebracht. Rote Ampeln zu ignorieren war einer ihrer Wesenszüge. Am 3. Februar 2009 hörte ihr Herz in der Folge einer Krebserkrankung auf zu schlagen.
// Theo Bruns und Angela Habersetzer

Die Breite Front wird schmaler

„Wenn Astori gewinnt, gibt es kein Erdbeben“ – so der erste Titel der populären uruguayischen Wochenzeitschrift Caras y Caretas im neuen Jahr 2009. Eine Prognose, die unterstellt, dass es ein Erdbeben gibt, sollte José „Pepe“ Mujica bei den Nationalwahlen Ende Oktober 2009 gewinnen. Es ist ein altes Muster: Die Angst vor der Stadtguerilla im Besonderen und dem „Kommunismus“ im Allgemeinen soll wieder geschürt werden. Die Vorlage dazu lieferte Mujica allerdings selbst. In einem Interview mit der uruguayischen Tageszeitung Busqueda vom 31. Dezember 2008 sagte er: „Wenn ich Präsident würde, wäre das ein Erdbeben für Uruguay.“ Die Chancen für eine Präsidentschaft Mujicas stehen tatsächlich nicht schlecht. Der heutige Senator trug bereits von März 2005 bis März 2008 in der Mitte-Links-Regierung von Tabaré Vázquez als Landwirtschaftsminister Regierungsverantwortung und führt bis heute die Bewegung der Bürgerbeteiligung (MPP), die stärkste Liste im Linksbündnis Frente Amplio (Breite Front, FA).
Der Nationalkongress der FA kürte den ehemaligen Tupamaro José Mujica am 14. Dezember 2008 zum offiziellen Präsidentschaftskandidaten für die Nationalwahlen. Dabei erhielt Mujica über 71 Prozent der 2.400 Delegiertenstimmen des Kongresses. Sein liberaler Konkurrent Danilo Astori landete mit nur 23 Prozent Zustimmung sogar noch hinter einem Kompromisskandidaten auf dem dritten Platz. Der unterlegene Astori leitete von März 2005 bis September 2008 das Wirtschafts- und Finanzministerium Uruguays und war schon während der gemeinsamen Regierungszeit der politische Widerpart von Mujica. Ein klarer Punktsieg nun also für Mujica. Dennoch ist endgültig noch nichts entschieden.
Der Fahrplan der Kandidatenkür, auf den sich die unterschiedlichen Strömungen des Linksbündnisses geeinigt haben, sieht vor, dass Mujica zunächst als offizieller Kandidat antritt. Im Juni 2009 müssen sich aber alle Kandidaten erneut einem Votum stellen. An dieser Abstimmung nehmen dann alle Mitglieder der Frente Amplio teil – und nicht nur die Delegierten des Nationalkongresses. Erst dadurch soll der Kandidat endgültig bestimmt werden. Für das älteste Linksbündnis Lateinamerikas ist das ein komplett neues Verfahren: Damit wird bis kurz vor den Oktoberwahlen der Wahlkampf innerhalb der Frente Amplio die Diskussionen bestimmen. Diese Entwicklung wird einerseits von allen politischen Flügeln kritisiert und bedauert, andererseits will aber auch niemand nachgeben.
Der amtierende Präsident Tabaré Vázquez darf laut Verfassung nicht direkt wieder gewählt werden. Im Volk ist er äußerst beliebt, in den eigenen Reihen der FA wird er mittlerweile wegen seiner einsamen Entscheidungen aber immer häufiger auch offen kritisiert. Die Distanz zwischen dem Präsidenten und der Frente Amplio zeigte sich zuletzt bei seinem Veto gegen die von beiden Kammern des Parlamentes beschlossene Liberalisierung des Abtreibungsrechts im November 2008. Gegen die fast einhellige Mehrheit der Linken, gegen den Willen von mehr als zwei Dritteln seiner MinisterInnen und gegen die übergroße Mehrheit des Volkes blockierte er ein Gesetz, das Abtreibung unter bestimmten Voraussetzungen straffrei stellen sollte. Zur Begründung führte der Katholik persönliche, vor allem religiöse und ethische Motive an. Das Votum des Nationalkongresses vom Dezember für Mujica ist somit auch eine Klatsche für den Präsidenten. Vázquez hatte sich nämlich klar für Astori als seinen Nachfolger ausgesprochen und für Mujica nur die Rolle des (repräsentativen) Vize-Präsidenten vorgesehen. Etwas, was „El Pepe“, wie der 74jährige Senator von Freund und Feind nur genannt wird, mit öffentlichem Grummeln kommentierte. Allerdings ohne den Präsidenten direkt anzusprechen.
Der Opposition, die von den liberal-konservativen Blancos dominiert wird, kommt dieser Richtungskampf in der Frente Amplio gerade recht. Dabei ist das Partido Nacional (PN), wie die Blancos offiziell heißen, selbst zerstritten: Gegen den ehemaligen Präsidenten Luis Alberto Lacalle, der von 1995 bis 2000 regierte, tritt im parteiinternen Vorwahlkampf der selbsternannte Modernisierer Jorge Larrañaga, ein Caudillo vom Land, an. In der Stimmungsmache gegen José Mujica sind die Konservativen jedoch vereint. Dabei hilft auch Julio María Sanguinetti, der zweifache Präsident seit dem Ende der Militärdiktatur im Jahre 1985 und Mitglied der rechts-konservativen Colorados, veröffentlichte jüngst ein neues Buch, in dem er den Tupamaros – und damit auch direkt Mujica, einer der Gründungsfiguren der uruguayischen Stadtguerilla in den 1960er Jahren – die Hauptschuld an der Entstehung der Diktatur von 1973 bis 1985 gibt. Lacalle und Larrañaga warnen beide vor dem Abzug aller ausländischen Investoren im Falle eines Wahlsieges Mujicas.
Gegen Astori würde diese Angstmache nicht greifen. Der ehemalige Minister wird gerade aus den eigenen Reihen dafür kritisiert, dass er, um die makroökonomischen Daten und die Kreditwürdigkeit Uruguays zu verbessern, Direktinvestitionen mit Subventionen gefördert hat und mitverantwortlich ist für den Ausverkauf des Landes an multinationale Konzerne (vor allem im Forstwirtschaftssektor und im Reis- und Gensojaanbau).
Der Schaukampf zwischen Astori und Mujica wird sich bis zum Juni 2009 zuspitzen. Noch beschwören beide Kandidaten die traditionelle Einheit der Frente Amplio. So skandierte Mujica nach seiner Wahl zum Kandidaten in seiner kurzen Rede stakkatomäßig „Einheit, Einheit…“ und lobte seinen unterlegenen „Compañero Danilo“. Dieser wiederum versprach, alle Fraktionen der Frente Amplio in seine zukünftige Regierung zu integrieren und verkündete: „Nur wenn die Linke im Oktober nicht gewinnt, fühle ich mich besiegt.“
Tatsächlich geht es bei dieser innerparteilichen Wahl nicht nur um Personen: Die beiden Kontrahenten stehen auch für unterschiedliche Politikkonzepte, die die uruguayische Linke aktuell spalten. Auf der einen Seite sind diejenigen, die die Frente als „Front“ sehen, deren Schlagkraft auf der Stärke der Basiskomitees und politischen AktivistInnen basiert (mehr als 500 Basisorganisationen sind im ganzen Land aktiv und stellen die Delegierten für den Nationalkongress). Ihrer Meinung nach müssen die politischen Entscheidungen von der Partei ausgehen. Auf der anderen Seite stehen die liberalen AnhängerInnen Astoris, die für ein den US-amerikanischen Vorwahlen vergleichbares Modell plädieren, bei der alle Mitglieder der Frente Amplio und nicht die gewählten Delegierten den Kandidaten bestimmen sollen.
Astori ist es auch, der immer wieder auf die Erfolge der vierjährigen Regierungszeit der Mitte-Links-Koalition verweist. Er führt das überdurchschnittliche Wachstum, die guten wirtschaftlichen Aussichten (für 2009 wird eine Steigerung der Investitionen um 40 Prozent prognostiziert), die stark gesunkenen Arbeitslosenzahlen, die Steuer-, Gesundheits- und Erziehungsreform an. Astoris Politikkonzept steht für ein „Weiter-So“ und damit auch für eine Annäherung an die USA und eine Distanz zum Mercosur. Die AnhängerInnen Mujicas setzen dagegen auf regionale Integration, plädieren für enge Beziehungen zur Regierung von Hugo Chávez und eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung. Sie nehmen den Wahlslogan aus 2004 vom „País productivo“ (Ein produktives Land) wieder auf. Denn die von Astori angeführte Regierungsbilanz basiert vor allem auf milliardenschweren Investitionen multinationaler Forstwirtschaftskonzerne, die für die Wertschöpfung im Lande aber keinerlei Beitrag leisten. Auf diesem Feld hat es allerdings auch Mujica in seiner Amtszeit als Landwirtschaftsminister nicht vermocht, eigene Akzente zu setzen. Im Gegenteil: Gerade unter der Linken haben sich die Gensoja- und Eukalyptus-Monokulturen extrem ausgeweitet, auf Exporte müssen keine Ausfuhrzölle entrichtet werden und 25 Prozent des Landes ist mittlerweile im Besitz ausländischer Konzerne. Insgesamt hat sich unter der FA-Regierung die Basisversorgung der armen Bevölkerungsschichten zwar verbessert, eine gesellschaftliche Umverteilung hat aber nicht stattgefunden. Die Kluft zwischen Reich und Arm hat laut Studien der Universität der Republik eher zugenommen.
Astoris politische Leitlinien im Falle eines Wahlsieges sind somit vorhersehbar. Dagegen bleibt Mujica in seinen Aussagen bisher eher diffus. Mit dem von ihm selbst ins Spiel gebrachten „Erdbeben“ bezieht er sich nicht nur auf die Tatsache, dass im Falle seiner Wahl ein ehemaliger Guerillero, der insgesamt 14 Jahre seines Lebens im Gefängnis verbracht hat, an der Staatsspitze stehen würde sondern auch auf das, „was danach kommen würde“. Für dieses „danach“ hat der Senator zwar einige symbolische Pflöcke eingeschlagen, die die Richtung aufzeigen und damit seinen profillosen Kurs während seiner Amtszeit als Minister ein Stück weit aufgeben: So will er als Präsident auf seiner Chacra – einer Art innerstädtischem Kleinbauernhof, auf dem er jahrelang Blumen züchtete und auf dem Wochenmarkt verkauft – wohnen bleiben und sein Präsidentengehalt an eine Stiftung weitergeben. Bei den politischen Hard-Facts bleibt Mujica jedoch immer noch schwammig. Seine obersten politischen Ziele sind die Schaffung eines „neuen Menschen“, der freier von materiellen Zwängen ist, und die Forderung nach Einschränkung des Privateigentums auf die wesentlichen Dinge. Das alles soll innerhalb der bestehenden Gesellschaft realisiert werden, deren Motor heute einzig der „Gewinn“ ist.
Obwohl sich seit dem Regierungsantritt von Tabaré Vázquez im März 2005 nicht wenige Linke in Uruguay enttäuscht von der Frente Amplio abgewendet haben, gibt es jetzt wieder die erstarkte Hoffnung, dass es mit einem Präsidenten Mujica einen wirklich linken Umschwung geben könnte. Sollten diese Hoffnungen von Mujica enttäuscht oder Astori zum Präsidenten gewählt werden, kann es passieren, dass sich die uruguayische Linke in eine weitere Traditionspartei verwandelt, die sich nur noch unwesentlich von den Blancos und Colorados unterscheidet.

„Bolívars Traum wird umgesetzt werden“

Wie schätzen Sie die aktuellen Transformationsprozesse in Lateinamerika ein?
Ich denke, dass Bolívars Traum von den Vereinigten Staaten von Lateinamerika in zehn oder fünfzehn Jahren umgesetzt werden wird. Die Grenzen auf dem Subkontinent sind total künstlich. Wir haben dieselbe Sprache, dieselbe Religion, dieselbe Sichtweise. Ich glaube, wir müssen dem Beispiel der Europäer folgen und einen lateinamerikanischen Markt schaffen. Der Rest wird sich von allein ergeben. Wie Bolívar es wollte.
Wir sehen, dass in Lateinamerika eine ganz neue Bewegung entstanden ist. Früher war es nur ein Traum zu denken, dass die Bevölkerung sozialistische Regierungen wählen würde. Aber jetzt gibt es die Prozesse in Venezuela, Kuba, Ecuador, Bolivien, Paraguay, Brasilien und Uruguay. Das ist ein Prinzip: Früher waren alle lateinamerikanischen Regierungen so wie die aktuelle Regierung in Kolumbien. Militärdiktaturen oder Regierungen, die viel versprachen, aber nichts verändert haben.

Werden denn die jetzigen linken Regierungen ihren Ansprüchen gerecht?
Es sind einige positive Sachen umgesetzt worden. Aber die Angst ist, dass die Bevölkerung, die große Erwartungen gehabt hat, müde wird. Diese Angst existiert auch in Argentinien. Wenn die ökonomischen Probleme großer Teile der Bevölkerung nicht gelöst werden, wird die Bevölkerung müde. Und dann kommen vielleicht wieder die Militärs mit Hilfe der Vereinigten Staaten. Das war immer die Erfahrung, die Argentinien gemacht hat.

Wo verorten Sie Argentinien im lateinamerikanischen Zusammenhang?
Kirchner ist nicht so eine typische Repräsentantin des Kapitalismus. Der linke Peronismus, der manchmal auch ganz rechts sein kann, hat verschiedene Aspekte. Cristina hat in ihrer einjährigen Amtszeit bereits viele Fehler gemacht. Beispielsweise die gleiche Besteuerung der kleinen und der großen Landbesitzer. Zum ersten Mal in der argentinischen Geschichte haben sich die kleinen und die großen Landbesitzer vereinigt. Die Regierung ist jetzt in einer so genannten Minderheitenregierung, eine Art Patt-Situation. Im Inneren Argentiniens hat Cristina sehr viel an Sympathie verloren. Auf der anderen Seite hat sich die Linke zusammen geschlossen und sie gegen die Großgrundbesitzer unterstützt. Jetzt herrscht eine Periode der Sprachlosigkeit. Fernández hat einige Abgeordnete im Kabinett ausgetauscht. Wir erwarten jetzt von dieser Regierung eine soziale Politik.

Besitzt Cristina Fernández de Kirchner denn innerhalb ihrer Partei eine Basis, auf die sie sich verlassen kann?
Der Peronismus ist im Moment total geteilt. Nur die Bürokraten der Gewerkschaftsdachverbände CGT und der CTA unterstützen Kirchner. Aber die kleine Bourgeoisie, die kleinen Landbesitzer und verschiedene Gouverneure, die vorher für Kirchner waren, sind jetzt gegen die Regierung. Es ist eine Frage der Ethik, ob nach der Regierungszeit eines Präsidenten die Frau des Präsidenten an die Macht kommt. Das ist für eine Demokratie nicht richtig. Cristina hat als Senatorin viele gute Sachen gemacht, aber sie ist der Präsidentschaft nicht gewachsen.

Wie sieht die wirtschaftliche Situation unter der Regierung Fernández de Kirchner aus?
Die Inflation in der letzten Zeit ist nicht so groß, aber es ist wie immer: viele Arbeitslose, die Preise steigen jeden Monat und die Arbeiter müssen kämpfen, um mehr Gehalt zu bekommen. Und jetzt will Kirchner den Tren Bala, den Zug, der mit fast 300 Stundenkilometern fährt. Es ist ein staatliches Projekt, aber es gibt eine große Opposition gegen den Bau und scheinbar hat Argentinien gerade kein Geld, ihn umzusetzen. Dafür haben wir gekämpft – keine Luxuszüge, sondern keine hungernden Kinder.

Manche HistorikerInnen sind der Meinung, dass man angesichts der heutigen Probleme die Vergangenheit in Argentinien ruhen lassen sollte.
Wir haben beide Arten von Problemen, die der Geschichte und die heutigen. Warum gab es in Argentinien 14 Diktaturen? Warum hat nicht einmal jemand die Demokratie verteidigt? Wir hatten keinen Präsidenten wie Salvador Allende in Chile, der sich den Militärs entgegengestellt oder das Volk aufgerufen hat, die Demokratie zu verteidigen. Und in der Bevölkerung hat sich auch niemand bewegt.

Woran liegt es, dass sich in Argentinien niemand hinter die Demokratie gestellt hat?
Wir hatten nie wirklich ideologische Parteien. Chile hatte eine starke sozialistische Partei. In Argentinien war die sozialistische Partei sehr klein und hatte nur ein paar Repräsentanten in wenigen Städten. Die zwei großen Parteien, die immer gewählt wurden (die Peronistische und die Radikale Partei; Anm. D. Red.), waren nicht sehr klar umrissen. Der Peronismus hat sehr viel für die Arbeiter getan, aber es war kein Sozialismus, sondern Populismus. Die Zustände blieben wie immer, nur dass sich die Lebensbedingungen für die Arbeiter ein bisschen verbesserten. Mit der radikalen Partei war es ähnlich, eine Art liberale Partei.

Wie schätzen Sie die Vergangenheitspolitik der Kirchners ein?
Der erste, der etwas getan hat, war Néstor Kirchner, das muss man ganz laut sagen. Es geht ganz langsam voran, nicht so, wie wir wollten. Aber wenigstens müssen die ersten Verbrecher der Diktatur mittlerweile ins Gefängnis – nach 30 Jahren. Wir müssen weiter kämpfen, um die Sache zu beschleunigen, denn sonst werden alle wie Videla vor ihrer Haft sterben.
// Interview: Katja Fritsche

Kasten:

Osvaldo Bayer
geboren 1927 in der argentinischen Provinz Santa Fe, ist unter anderem Anarchist, Publizist, Historiker, Menschenrechtsaktivist und Drehbuchautor. Berühmt wurde er unter anderem durch Werke wie Patagonia Rebelde über Arbeiteraufstände Anfang des 20. Jahrhunderts in Patagonien. Für die gleichnamige Verfilmung des Regisseurs Héctor Olivera schrieb Bayer das Drehbuch. Beide wurden wegen des Films politisch verfolgt. Bayer lebte von 1976 bis 83 im Exil in Deutschland. Von 1958 bis 1973 war er Redaktionssekretär der argentinischen Zeitung Clarín, später Herausgeber der Zeitschrift Imagen. Heute ist er Mitarbeiter der Tageszeitung Página 12 und war bis 2006 Professor für das Fach Menschenrecht an der Philosophischen Fakultät der Universität von Buenos Aires.

Fokus Emanzipation

OrganisatorInnen sowie die große Mehrheit der TeilnehmerInnen zogen eine positive Bilanz des 3. Amerikanischen Sozialforums (FSA), das vom 7. bis 12. Oktober 2008 in Guatemala-Stadt veranstaltet wurde. Die eher überschaubare TeilnehmerInnenzahl sowie die Abwesenheit vieler bekannter Persönlichkeiten der globalisierungskritischen Bewegung öffneten den Raum für eingehende Diskussionen im kleinen Kreis. Es erstaunte kaum, dass die Anliegen der Indígena-Bewegung in Vordergrund standen, da deren Themen ähnlich wie in Bolivien oder Ecuador seit Jahren auf der Tagesordnung stehen. Überraschend war hingegen die breite Präsenz von Frauengruppen, denen es gelang, die Diskussion über Herausforderungen eines neuen Feminismus zum zweiten zentralen Diskussionsstrang dieses Forums zu machen.
Dabei waren die Ausgangsbedingungen alles andere als günstig. Es gab unzählige organisatorische Schwierigkeiten, zumal die Behörden Guatemalas in Vorfeld versucht hatten, die Ausrichtung des FSA zu blockieren. Als endlich die nationale San Carlos Universität (USAC) als Veranstaltungsort errungen werden konnte, weigerte sich die Unileitung, dem Forum vernünftige Räume zur Verfügung zu stellen. So fand das Forum in Mitten des Lehrbetriebs statt, viele Räume wurden abwechselnd von Forumsveranstaltungen und normalen Uni-Seminaren genutzt. Es mangelte auch an gemeinsamen Treffpunkten, die dem FSA einen verbindlicheren Charakter gegeben hätte. Da die USAC weit außerhalb liegt, kam es jenseits der Veranstaltungen kaum zu gemeinsamen Aktionen. Andererseits war es das erste Mal, dass ein solches Forum in Mittelamerika stattfand, einer Region, die auf der politischen Landkarte der wichtigsten Bewegungen Südamerikas weit entfernt liegt. Um so wichtiger das politische Signal, dass die globalisierungskritische Bewegung auch auf dem Isthmus zwischen Mexiko und Kolumbien präsent ist.
Auf dem Campus war die Stimmung gut, aus ganz Amerika waren Delegationen, VertreterInnen sozialer Bewegungen, AktivistInnen und WissenschaftlerInnen angereist. Die offiziell knapp 7.000 TeilnehmerInnen verteilten sich auf weit über Hundert Veranstaltungen, die nach sechs Themengruppen sortiert waren. Es ging um regionale Integration, Militarisierung, Perspektiven der sozialen Bewegungen angesichts der Aufbruchstimmung in Südamerika sowie Reaktion auf die zunehmende Kriminalisierung dieser Akteure, Femizid, Solidarität mit der indigenen Regierung Boliviens und vieles mehr. Präsent war auch eine Vielzahl alternativer Medien, die im Geflecht der sozialen Bewegungen eine immer wichtigere Rolle einnehmen. In einem Zentrum unabhängiger Medien, das ebenfalls unter Raummangel und technischen Barrieren zu leiden hatte, versammelten sich MedienvertreterInnen des ganzen Kontinents und berichteten in Text, Ton und Bild über das Geschehen. Mehrere Radioinitiativen, darunter Pulsar aus Buenos Aires und Brasilien, Aler aus Ecuador und Onda aus Berlin, berichteten live per streaming oder mittels Reportagen auf ihren Internetseiten. Ein wichtiges Gegengewicht zu dem weitgehenden Boykott seitens der guatemaltekischen Massenmedien, die dem FSA in all den Tagen nur wenige Zeilen und kaum Sendeplatz widmeten. Ein wichtiges Thema war die Diskussion um ein Freihandelsabkommen zwischen Zentralamerika und der Europäischen Union. Weit weniger bekannt als die Einigungsbemühungen mit dem südamerikanischen Mercosur, ist es den lokalen Bewegungen umso wichtiger, auf die sozialen Auswirkungen eines solchen Abkommens hinzuweisen. Ganz im Gegensatz zur offiziellen Lesart würde ein solches Abkommen wie schon im Fall von Mexiko höchstens bestimmten Wirtschaftssektoren, aber nicht der verarmten Bevölkerung zu Gute kommen. Erstaunlich in diesem Zusammenhang, dass die momentane Finanzkrise kaum thematisiert wurde, obwohl doch gerade dieser Kollaps des neoliberalen Dogmas zeigt, wie wenig die altbekannten Vorschläge zur Wirtschaftsförderung eine nachhaltige Ökonomie herbeiführen.
Trotz des generell herrschenden Konsens bezüglich der Kritik des herrschenden wirtschaftlichen und politischen Systems in der Region sowie bezüglich der Rolle und Forderungen der sozialen Bewegungen als ProtagonistInnen der Veränderung, gab es zumindest an einem Punkt handfesten Streit: Nicaragua und die Politik des umstrittenen Präsidenten Daniel Ortega. Für einige AktivistInnen ist das neu-sandinistische Nicaragua ein weiteres Land, dass sich in die Gruppe der fortschrittlichen Regierungen von Venezuela, Bolivien und Ecuador – nach eher gemäßigter Lesart auch Brasilien, Uruguay, Paraguay, Chile und Argentinien – einreiht. Andere hingegen prangerten den autoritären Regierungsstil Ortegas und das Ausbleiben einer sozialen Politik bei zugleich höchst revolutionärer Rhetorik an und kritisierten vor allem dessen reaktionäre Haltung in Sachen Abtreibung. Insbesondere Frauengruppen verwehrten sich dagegen, einen Präsidenten, der allen Forderungen nach Selbstbestimmung von Frauen eine Absage erteilt, als fortschrittlich zu bezeichnen. Schade – wenn auch vorhersehbar – war, dass Boliviens Präsident Evo Morales seinen geplanten Besuch kurzfristig absagte. Es wäre ein wichtiges Signal gewesen, wenn der Repräsentant eines jahrelangen und erfolgreichen Indígena-Kampfes aus Südamerika zu den Menschen in Guatemala, die einen ähnlichen Leidensweg haben, aber bisher noch wenig politische Errungenschaften vorweisen können, gesprochen hätte. Zwar bedeutet die Präsidentschaft von Álvaro Colom durchaus einen gewissen Fortschritt für das nach wie vor durch Repression und Kriegsfolgen gekennzeichnete Guatemala, doch beschränkt sich dieser angesichts vieler Kompromisse mit althergebrachten Machthabern eher auf Gesten denn auf konkrete Veränderungen.
Eine dieser Gesten sind die riesigen Transparente an der Fassade des Präsidentenpalastes mit den Konterfeis der beiden Präsidenten, die vor dem Putsch von 1954 einen neunjährigen politischen Frühling in dem zentralamerikanischen Land ermöglicht hatten. Die Abschlussdemonstration des 3. Amerikanischen Sozialforums entsprach mit rund 2.000 Menschen nicht ganz den Erwartungen. Dass sie am Sonntagmittag auf dem zentralen Platz von Guatemala-Stadt unter dem Augenschein dieser beiden Präsidenten Arévalo und Árbenz stattfand, wäre allerdings vor gerade einmal zehn Jahren undenkbar gewesen. Wirklich Neues hat es auf dem Treffen nicht gegeben, doch es zeigt sich, dass die von einigen schon tot gesagte Organisation der Sozialforen immer noch ein wichtiger Anziehungspunkt für die Bewegung darstellt. Viele der Diskussion wurden allerdings schon vorzeitig vertagt, mit Hinweis auf das Weltsozialforum, dass Ende Januar 2009 in der Amazonasregion stattfinden wird. Austragungsort wird das brasilianische Belém sein (siehe Schwerpunkt in dieser Ausgabe), wo sich dann entscheiden dürfte, ob Foren, die nur breiten Diskussionen und dem Austausch dienen, aber keine politischen Richtlinien verabschieden, auch das nächste Jahrzehnt noch schmücken werden.
// Andreas Behn

Schwieriger Weg zum Wandel

Eine klare Linie sieht anders aus. In den ersten Tagen seiner Regierung positionierte sich Präsident Fernando Lugo Méndez zunächst an der Seite von Venezuela, Bolivien und Ecuador. Direkt nach seiner Amtseinführung empfing er seinen venezolanischen Amtskollegen Hugo Chávez. Doch inzwischen hat er mehrfach abgewiegelt und sich auf Chile und Uruguay als Vorbilder berufen. Je nachdem, woher der Druck kommt, gibt er – zumindest in seinen Reden – nach.
Die größte Kraft der Regierung ist die Unterstützung und das Vertrauen vieler gesellschaftlicher Sektoren, die ihre Hoffnungen in Lugo setzen. Nach der jahrzehntelangen Herrschaft der Colorado-Partei hoffen die bisher vom politischen System Ausgeschlossenen auf einen grundlegenden Wandel. Doch deshalb steht die Regierung auch unter einem enormen Druck: Wenn sie es nicht schafft, schnell spürbare Lösungen für die drängendsten sozialen Probleme zu finden, könnte es mit dieser Unterstützung schnell wieder vorbei sein.
Die Regierung wird es nicht leicht haben, die Erwartungen zu erfüllen. Das größte Problem sind die Altlasten des vorhergehenden Systems. Die Colorado-Partei und die mit ihr verbündeten AgrarunternehmerInnen besitzen weiterhin Einfluss auf die Legislative und Judikative des Landes. Im Parlament haben die Abgeordneten der Opposition eine Mehrheit.
Und auch innerhalb der staatlichen Institutionen sind die alten Mächte noch präsent. In den Ministerien wurden nur die Führungskader ausgewechselt. Das bedeutet, dass der größte Teil der alten MitarbeiterInnen übernommen wurde. Diese werden wohl innerhalb der betreffenden Institutionen mindestens passiven Widerstand leisten.
Aus diesem Grund vermochte es die neue Regierung bisher nicht, einen strukturellen Wandel einzuleiten. Vielmehr handelt es sich um einen Übergangsprozess, der verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren Möglichkeiten bietet, sich zu organisieren und Kräfte zu akkumulieren.
Wichtigste Plattform der „neuen“ politischen Akteure ist die Sozial-Populäre Front (FSP). Die FSP wurde nach dem Wahlsieg vom 20. April von verschiedenen Basisorganisationen als Instanz gegründet, welche die Debatten, Analysen und Vorschläge der sozialen Bewegungen bündeln und der neuen Regierung vortragen soll. Damit wollen die beteiligten Organisationen eine Politik der öffentlichen Hand erreichen, die auch wirklich für die Interessen der Armen und Ausgeschlossenen arbeitet. In der FSP sind über 100 Organisationen vereinigt. Darunter sind Kleinbauern und -bäuerinnen, Indígenas, Gewerkschaften, Frauenorganisationen, Obdachlose, arbeitende Kinder, KünstlerInnen, StudentInnen, RentnerInnen, kleine und mittlere Unternehmen und die Sozialpastorale der katholischen Kirche. Dabei betont die FSP, von der neuen Regierung unabhängig zu sein. Wichtigstes Ergebnis der Arbeit ist ein so genannter agrarischer Notstandsplan. Er zielt darauf ab, die bäuerliche Familienlandwirtschaft wieder zu beleben und zu stärken.
Das Landwirtschaftsministerium hat diesen Plan aber bislang nicht akzeptiert. Der neue Landwirtschaftsminister Cándido Vera Bejarano ist ein Mann ohne neue Visionen. Er will mit Gentechnologie die Welt vor dem Hunger retten. Andererseits ist die FSP bei der Agrarreformbehörde INDERT auf offene Ohren gestoßen. In der obersten Hierarchie der Behörde sitzen seit Lugos Regierungsantritt Vertrauensleute der FSP. Auch im Gesundheitsministerium oder der Indigenenbehörde INDI sitzen nun Leute aus den sozialen Bewegungen oder wenigstens solche, die deren Vertrauen genießen, auf verantwortungsvollen Posten.
Ein anderes Problem ist, dass es die Regierung bis heute nicht geschafft hat, materielle Antworten auf die Klagen der Bevölkerung zu finden. Dies hat seine Gründe auch in der fünfmonatigen Übergangszeit zwischen April und August, also dem Wahlsieg Lugos und seiner Amtsübernahme. In dieser Zeit plünderten die Mitglieder der früheren Regierung regelrecht die Institutionen des Staates: Gelder landeten in den Taschen der PolitikerInnen und etliche Archive wurden zerstört, um Spuren zu vernichten. Der damalige Präsident Nicanor Duarte Frutos sabotierte alle Versuche, derartige Exzesse zu kontrollieren oder einzudämmen.
Um diese von Korruption geprägte Situation zu beenden, wären juristische Schritte und Gerichtsverfahren nötig. Die Justiz liegt jedoch weiterhin in den Händen der Mafia aus GroßgrundbesitzerInnen sowie Drogen- und Waffenschmugglern um den ehemaligen Präsidenten Nicanor Duarte Frutos. Das Justizsystem ist das Bollwerk der Colorado-Partei. Sämtliche Mitglieder des Obersten Gerichtshofes wurden auf Fingerzeig Duarte Frutos‘ ernannt. Eine unabhängige Justiz existiert nicht einmal in Ansätzen. Auch die Staatsanwaltschaft wird von der Colorado-Partei kontrolliert.
Doch langsam bekommt die Hegemonie der Colorados und ihrer Verbündeten Risse. Auf dem Land mobilisieren derzeit Landlose, Indigene sowie Kleinbäuerinnen und -bauern in 130 Zeltlagern gegen die mechanisierte und gentechnische Landwirtschaft in Monokulturen. Sie fordern, dass der Großgrundbesitz neu vermessen wird, um irregulär angeeignetes Staatsland zu identifizieren. Dazu legte die Agrarreformbehörde INDERT kürzlich einen Bericht vor, wonach fast acht Millionen Hektar Staatsland illegal an die Parteielite, Militärs und UnternehmerInnen verteilt wurde. Die Landlosen fordern die Enteignung und Neuverteilung dieser illegal angeeigneten Ländereien.
Auf der anderen Seite mobilisieren die Landlosen, Indigenen und Kleinbäuerinnen und -bauern gegen Umweltverschmutzung und Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen. Dabei geht es vor allem um die massive Besprühung von Sojamonokulturen mit Pestiziden, von denen die Gemeinden betroffen sind, die neben den Latifundien liegen. Dabei erhalten sie auch Unterstützung vom Gesundheitsministerium, das immer stärker die negativen Folgen des massiven Pestizideinsatzes für die Bevölkerung in Paraguay thematisiert. Ebenfalls wenden sich die Menschen in den Protestcamps gegen die Vernichtung von Sumpflandschaften und den letzten Wäldern.
Obwohl sich die Camps nicht auf Privatland befinden, geht die Staatsanwaltschaft repressiv gegen die Mobilisierungen vor. Seit dem 15. August räumte die Polizei bereits 27 Protestcamps. Dabei wurden viele Leute verhaftet und verletzt. Doch die Repression der GroßgrundbesitzerInnen und der mit ihnen verbündeten Staatsanwaltschaft beschränkt sich nicht auf Räumungen. Am 4. August wurde in Paraguarí Sindulfo Britez, ein Anführer der paraguayischen Bauernbewegung MCP, in seinem eigenen Haus ermordet. Mutmaßlich waren die TäterInnen AuftragsmörderInnen, die von GroßgrundbesitzerInnen bezahlt wurden. Am 3. Oktober wurde Bienvenido Melgarejo ermordet, diesmal waren die Täter PolizistInnen. Es gibt Berichte, dass sich um die 800 brasilianische Paramilitärs in Paraguay befinden, die im Auftrag der GroßgrundbesitzerInnen die anstehende Soja-Aussaat schützen sollen.
In der Provinz San Pedro stoppten Kleinbäuerinnen und -bauern schon einige Traktoren der Sojabauern und wurden dafür kriminalisiert. Die Spannung steigt täglich. Die Systemfrage in der Landwirtschaft wird sich in Paraguay in den nächsten Wochen noch dringlicher stellen, denn für die Kleinbäuerinnen und Landlosen geht es ums Überleben. Wenn sie es nicht schaffen, in diesem Jahr die Sojaexpansion zu bremsen, sind sie zum Untergang verurteilt.
Die alten Eliten aus Colorado-PolitikerInnen, Militärs, UnternehmerInnen und GroßgrundbesitzerInnen, die seit Jahrzehnten daran gewöhnt sind, die praktischen AlleinherrscherInnen Paraguays zu sein, versuchten noch aggressiver, ihre Macht zu bewahren. Anfang September machte Präsident Fernando Lugo im Fernsehen eine Putschverschwörung öffentlich. Dabei handelte es sich um ein Treffen im Haus des Ex-Generals Lino César Oviedo mit Ex-Präsident Nicanor Duarte Frutos, Generalstaatsanwalt Rubén Candia Amarilla und Juan Manuel Morales vom Obersten Wahlgericht. Zu ihrem Treffen luden sie General Máximo Díaz ein, Verbindungsmann zwischen Parlament und Streitkräften. Von ihm wollten sie wissen, was das Heer von der Krise im Senat hält, wo die Regierung kaum über Rückhalt verfügt. Der General antwortete, dass dies ein politisches Problem sei und er sich als Militär dazu nicht äußern könne. Am nächsten Morgen berichtete er dem Präsidenten von dem Treffen. Wegen General Díaz‘ Warnungen konnte dieser Putschversuch im Keim erstickt werden. Doch zeigt sich, dass der Konflikt um die Zukunft Paraguays noch viel Sprengstoff birgt.
Der soziale Prozess, den Lugo auf den Präsidentensitz gehievt hat, ist von seiner Schwäche und Improvisation gekennzeichnet. Keinesfalls kann man den Prozess in Paraguay mit dem in Bolivien vergleichen, wo die sozialen Bewegungen der Motor der Veränderung waren.
Die nächsten Wochen werden wegweisend sein. Der Wille von Lugo, die Familien der Kleinbäuerinnen und -bauern vor der Vergiftungen durch Pestizide zu schützen, scheint da zu sein. Doch der Druck der SojaproduzentInnen ist enorm. Es bleibt zu hoffen, dass sich die neue Regierung in diesem Spannungsfeld geschickt und strategisch verhält und Paraguay eine weitere Eskalation der Gewalt erspart bleibt.

Agrarbusiness setzt sich durch

Der Konflikt zwischen der Regierung und den AgrarproduzentInnen in Argentinien wurde zumindest für den Moment beigelegt. Indem Vizepräsident Julio Cobos bei der Abstimmung über die Erhöhung der Quellensteuer für Agrarexporte mit einer überraschenden Geste im Senat für eine Pattsituation sorgte, wurde das entsprechende Gesetz nicht verabschiedet.
Die Steuer auf Exporte wurde ursprünglich als Dekret entworfen, aufgrund der Proteste im Landwirtschaftssektor schließlich aber dennoch dem Parlament vorgelegt. Anfang Juli stimmten die Abgeordneten in der zweiten Kammer des Parlamentes knapp für die Vorlage. Im Senat kam diese aufgrund des unerwarteten Votums des Vizepräsidenten allerdings nicht durch. Das Verhalten von Cobos und die Pattsituation im Senat sind Ausdruck einer tiefen politischen Spaltung in der Frage, welches die Ziele und Instrumente der ökonomischen Entwicklung sind. Um zu verstehen, wer die Abstimmung im Senat vom 18. Juli 2008 gewonnen hat, lohnt es sich zu rekapitulieren, wer die AgrarproduzentInnen, ihre politischen Alliierten und ihre GegnerInnen sind.
Von den rund 330.000 landwirtschaftlichen ProduzentInnen in Argentinien waren etwa 70.000 in die Proteste der letzten Monate verwickelt. Ihre Anbauflächen befinden sich in der so genannten Feuchtpampa, die die Provinzen von Buenos Aires, Entre Rios, Santa Fé, La Pampa und Teile der Provinz Córdoba umfasst. Hier konzentrieren sich 88 Prozent der Sojaproduktion des Landes.
Die große Mehrheit der AgrarproduzentInnen sind hingegen Kleinbauern und -bäuerinnen, die auf ihren Anbauflächen leben und den Binnenmarkt beliefern. Diese wären von den vorgesehenen erhöhten Exportzöllen nicht betroffen gewesen. Die Steuererhöhung hätte vielmehr die AgrarexporteurInnen getroffen, allen voran die SojaexporteurInnen.
Soja wird auf riesigen Flächen angebaut. Die Sojaproduktion boomt seit Mitte der 1990er Jahre und wird vornehmlich von Familien der Oberschicht betrieben. Ebenso wie in Paraguay und seit einiger Zeit in Brasilien wurden auch in Argentinien Kleinbauern und -bäuerinnen und BesitzerInnen von kleinen Parzellen von ihrem Boden vertrieben und zum Verkauf ihres Landes gezwungen. Die erfolgreichen Proteste der Landbesitzervereinigungen bekräftigen nun dieses Modell, anstatt es in Frage zu stellen.
Wer aber sind die GegnerInnen der geplanten Erhöhung der Exportzölle? Sie vereinen einerseits Opponenten des „Kirchnerismus“ wie Elisa Carrío, die eigentlich den Mitte-Links-Flügel der argentinischen Politik repräsentiert, und Eduardo Duhalde, der Nestór Kirchner in seiner Anfangszeit als Präsident unterstützt hatte. Andererseits lehnten der Bürgermeister von Buenos Aires, Mauricio Macri, sowie die Brüder Rodríguez Saa oder Carlos Reutemann als Repräsentanten der Rechten die Maßnahmen ab.
Bei den Gewerkschaften spaltete sich [an der Frage der Exportzölle, Anm. d. Red.] die peronistische CGT. Die unabhängigen Gewerkschaften wie die CTA unterstützten ebenso wie die Menschenrechtsorganisationen die Regierung.
Auch Intellektuelle äußerten sich zum Thema. Eine Gruppe von „ÖkonomInnen gegen den Lockout“, zu der einige namhafte VertreterInnen der argentinischen Nationalakademie gehören, schrieb in ihrem Blog: „Die Steuern sind ein Werkzeug, um zu verhindern, dass die ansteigenden internationalen Preise die nationalen Preise beeinflussen und um eine diversifizierte Produktion zu begünstigen.” Sie erklärten, dass durch derartige Steuern die Inflation kontrolliert werden könne, weil sie sich auf lange Sicht positiv auf einen wettbewerbsfähigen Wechselkurs auswirkten. Die Proteste der SteuergegnerInnen beurteilten sie folgendermaßen: „Wir sehen mit Besorgnis, dass der aktuelle Druck zum Ziel hat, den regulativen Spielraum des Staates zu beschränken.“
Der Ökonom Mario Rapoport hat eine Analyse der Beziehungen zwischen dem Agrarexportsektor und der argentinischen Politik im 20. Jahrhundert durchgeführt. Er zeigt dabei auf, wie sich die durch große Gewinne mächtig gewordene Agraroligarchie immer wieder dem demokratischen Projekt widersetzte und die Politik destabilisierte. So wurde beispielsweise das wiederholte Scheitern des Präsidenten Hipólito Yrigoyen (1919, 1922 und 1924) beim Versuch, eine Steuer auf die Gewinne zu erheben, wie heute von einer konservativen Mehrheit im Senat vereitelt. Außerdem erklärt Rapoport, dass „die Konzentration des Landes nicht nur ein Hindernis in Bezug auf die produktive Verarbeitungskette ist, sondern durch die politische Macht der Landbesitzer auch verhindert, dass die Gewinne des Agrarsektors durch eine Grundsteuer oder relevante Exportzölle belegt werden.“
Das ist der Charakter des Konfliktes um die Exportabgaben in Argentinien. Dabei ist es wichtig zu verstehen, wer hier wen repräsentiert, ganz unabhängig von einer Bewertung über die Art der Auseinandersetzung. Die Niederlage der Regierung Cristina Fernández de Kirchner markiert eine Neugruppierung der Kräfte der Rechten innerhalb und außerhalb des Peronismus. Und die Wahl von Mauricio Macri in Buenos Aires hat gezeigt, dass die argentinische Rechte, die durch das „Sie sollen alle abhauen“(„Que se vayan todos“, Ende 2001) einen herben Schlag erlitten hatte, sich neu gesammelt hat und nicht wenige Anhänger mobilisieren kann.
Das, was in Argentinien passiert ist, ist für andere Agrarexportländer wie Uruguay sehr lehrreich. Die Lebensmittelpreise explodieren und die Preise für fruchtbares Land steigen weiter an. Studien zeigen, dass das außergewöhnliche Wachstum des Agrarsektors in Uruguay nicht nach unten durchgesickert ist: Die Beschäftigungszahlen im Agrarsektor sind zurückgegangen und die Löhne sind gesunken.
Erinnern wir uns, dass der Batllismus [zurückgehend auf den Reformpräsidenten José Batlle y Ordoñez, Anm. des Übers.] zu Beginn des letzten Jahrhunderts auf der Basis der Gewinne entstanden ist, welche auf dem Land geschaffen wurden und welche unter der Mittelklasse, den ArbeiterInnen und dem Staat verteilt wurden. Und erinnern wir uns, dass der zweite Batllismus versuchte, dieses Modell neu aufzulegen. Die Phasen des ersten und zweiten Batllismus sind in Uruguay diejenigen Perioden des 20. Jahrhunderts mit dem höchsten Wohlstand, sie werden als „goldene Zeit“ erinnert. Ohne einen eingreifenden Staat, der in der Lage ist, die Gewinnsucht der Agrarexporteliten zu begrenzen, wäre dieses Modell der sozialen Modernisierung in der uruguayischen Geschichte nicht möglich gewesen. Was wir zurzeit in Argentinien sehen ist eine Auseinandersetzung eines neuen Typs, die jedoch auf einem alten politischen Konflikt beruht. Ein Konflikt, der unsere Länder bestimmt hat, seit wir unabhängig wurden.

Land am Fluss der bunten Vögel

Noch immer gibt es in Uruguay, dem Land am Fluss der bunten Vögel (so die Übersetzung von Rio Uruguay aus dem Guaraní), die endlosen Graslandschaften, die sprichwörtliche Pampa, noch immer ziehen die Gauchos über die riesigen Estancias. Auf 3,5 Millionen EinwohnerInnen kommen im flächenmäßig zweitkleinsten Land Südamerikas (allerdings immerhin halb so groß wie Deutschland) zwölf Millionen Rinder und 18 Millionen Schafe. Oberflächlich betrachtet scheint die Zeit stehen geblieben im Interior, wie das kaum besiedelte Hinterland außerhalb der Hauptstadt Montevideo genannt wird. Aber gerade seit Antritt der Mitte-Links-Regierung im März 2005 haben sich die Konflikte zwischen GroßgrundbesitzerInnen und internationalen Agrarkonzernen auf der einen Seite und Kleinbauern -und bäuerinnen und ViehhirtInnen auf der anderen Seite verschärft. Immer mehr Land geht in den Besitz von ausländischen Multis über (vor allem brasilianische, argentinische und US-Amerikanische Gesellschaften), jährlich werden viele hunderttausende Hektar fruchtbares Land in Monokulturen umgewandelt: Reis, Mais, Soja, Zuckerrohr sowie Eukalyptusplantagen verdrängen zunehmend die Kleinbauern und kleinen Agrarproduzenten, die hauptsächlich milchwirtschaftliche Produkte herstellen. Und die mit überbordenden Hoffnungen erwartete Regierung der Mitte-Links-Koalition Frente Amplio hat gerade auf dem Land nicht wenige Menschen enttäuscht. Trotz des Wahlslogans „Ein produktives Land“ fühlen sich vor allem die kleinen Milchbauern betrogen. Und einige dieser Enttäuschten besetzen im Dezember 2006 mehrere Hektar brachliegendes Land im Department Artigas, an der Grenze zu Brasilien gelegen. Sie nehmen den alten Kampfspruch der einstigen Stadtguerilla Tupamaros, die heute die größte Fraktion in der Regierungskoalition stellen, ernst: „Das Land denjenigen, die es bearbeiten“. Dieser Slogan war schon in den 1960er Jahren aufgekommen, als die ZuckerrohrarbeiterInnen zusammen mit Raúl Sendic, dem legendären Gründer der Tupamaros, die Enteignung der GroßgrundbesitzerInnen verlangten, um das „produktive Land“ voranzubringen. Diese Forderung wieder auf die Tagesordnung zu setzen und Themen wie Landbesitz, Agrarreform und Arbeitsbedingungen der LohnarbeiterInnen auf dem Land wieder ins Bewusstsein zu rücken, ist auch das Ziel der „Peludos“, der Bärtigen genannten ZuckerrohrarbeiterInnen, die seit Anfang 2006, ebenfalls in Artigas, 34 Hektar besetzt halten, um gegen den Ausverkauf des Landes an ausländische Unternehmen und die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse zu protestieren.
Santiago Flores wurde 1978 in Montevideo geboren. Er studierte Grafik Design an der Universität ORT in Montevideo, seit 2002 arbeitet er als selbständiger Fotograf. Er ist Mitarbeiter der Radiosender Alternativa FM und N‘idea-D FM, gründete 2001 das alternative Mediennetzwerk Indymedia Uruguay und 2006 das Fotojournalismus Kollektiv RebelArte. Seine Fotos stellte er u.a. bei den Weltsozialforen 2002 und 2003 in Porto Alegre, Brasilien aus. Von Juni bis Oktober werden seine Bilder in verschiedenen deutschen Städten gezeigt.

Land am Fluss der bunten Vögel

Noch immer gibt es in Uruguay, dem Land am Fluss der bunten Vögel (so die Übersetzung von Rio Uruguay aus dem Guaraní), die endlosen Graslandschaften, die sprichwörtliche Pampa, noch immer ziehen die Gauchos über die riesigen Estancias. Auf 3,5 Millionen EinwohnerInnen kommen im flächenmäßig zweitkleinsten Land Südamerikas (allerdings immerhin halb so groß wie Deutschland) zwölf Millionen Rinder und 18 Millionen Schafe. Oberflächlich betrachtet scheint die Zeit stehen geblieben im Interior, wie das kaum besiedelte Hinterland außerhalb der Hauptstadt Montevideo genannt wird. Aber gerade seit Antritt der Mitte-Links-Regierung im März 2005 haben sich die Konflikte zwischen GroßgrundbesitzerInnen und internationalen Agrarkonzernen auf der einen Seite und Kleinbauern -und bäuerinnen und ViehhirtInnen auf der anderen Seite verschärft. Immer mehr Land geht in den Besitz von ausländischen Multis über (vor allem brasilianische, argentinische und US-Amerikanische Gesellschaften), jährlich werden viele hunderttausende Hektar fruchtbares Land in Monokulturen umgewandelt: Reis, Mais, Soja, Zuckerrohr sowie Eukalyptusplantagen verdrängen zunehmend die Kleinbauern und kleinen Agrarproduzenten, die hauptsächlich milchwirtschaftliche Produkte herstellen. Und die mit überbordenden Hoffnungen erwartete Regierung der Mitte-Links-Koalition Frente Amplio hat gerade auf dem Land nicht wenige Menschen enttäuscht. Trotz des Wahlslogans „Ein produktives Land“ fühlen sich vor allem die kleinen Milchbauern betrogen. Und einige dieser Enttäuschten besetzen im Dezember 2006 mehrere Hektar brachliegendes Land im Department Artigas, an der Grenze zu Brasilien gelegen. Sie nehmen den alten Kampfspruch der einstigen Stadtguerilla Tupamaros, die heute die größte Fraktion in der Regierungskoalition stellen, ernst: „Das Land denjenigen, die es bearbeiten“. Dieser Slogan war schon in den 1960er Jahren aufgekommen, als die ZuckerrohrarbeiterInnen zusammen mit Raúl Sendic, dem legendären Gründer der Tupamaros, die Enteignung der GroßgrundbesitzerInnen verlangten, um das „produktive Land“ voranzubringen. Diese Forderung wieder auf die Tagesordnung zu setzen und Themen wie Landbesitz, Agrarreform und Arbeitsbedingungen der LohnarbeiterInnen auf dem Land wieder ins Bewusstsein zu rücken, ist auch das Ziel der „Peludos“, der Bärtigen genannten ZuckerrohrarbeiterInnen, die seit Anfang 2006, ebenfalls in Artigas, 34 Hektar besetzt halten, um gegen den Ausverkauf des Landes an ausländische Unternehmen und die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse zu protestieren.
Santiago Flores wurde 1978 in Montevideo geboren. Er studierte Grafik Design an der Universität ORT in Montevideo, seit 2002 arbeitet er als selbständiger Fotograf. Er ist Mitarbeiter der Radiosender Alternativa FM und N‘idea-D FM, gründete 2001 das alternative Mediennetzwerk Indymedia Uruguay und 2006 das Fotojournalismus Kollektiv RebelArte. Seine Fotos stellte er u.a. bei den Weltsozialforen 2002 und 2003 in Porto Alegre, Brasilien aus. Von Juni bis Oktober werden seine Bilder in verschiedenen deutschen Städten gezeigt.

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