Integrationsfieber

“Die große ökonomische Lehre diese Jahrhunderts ist, daß der Protektionismus den Fortschritt verhindert und daß der freie Markt Wachstum und Entwicklung gewährleistet”, meinte George Bush, Präsident des Landes, welches laut einer OECD*-Studie die meisten und höchsten Handelsbarrieren in der Welt aufweist. Doch dieser neoliberale Exkurs war nur die Einleitung seiner “historischen” Rede am 27. Juni, mit der er eine “neue” Politik der USA gegenüber Lateinamerika ankündigte.
Eine gesamt-amerikanische Freihandelszone schlug er seinen NachbarInnen vor, damit “Amerika der erste völlig freie und demokratische Kontinent wird”. Drei Standbeine hat diese “Bush-Initiative”: 1) Reduzierung eines Teiles der lateiname­rikanischen Schulden bei der US-Regierung 2) Schaffung eines “Entwicklungs­fonds” zur Förderung der Auslands-Investitionen in Lateiname­rika und 3) völlige Liberalisierung des Handels in der Region, also Abbau aller Zölle und Handels­schranken (Freihandelszone). So weit, so einfach. Interessant wird es bei den Zahlen: Die US-Regierungsforderungen gegenüber Lateiname­rika betragen 12 Mrd. US-Dollar. Das sind 2,4 % der Gesamtschuld Lateinameri­kas, die nach neuesten Zahlen 437 Mrd. US-Dollar beträgt. Und davon sollen 7 Mrd. erlassen werden… Der “Entwicklungstopf” für Lateinamerika soll sage und schreibe 300 Millionen US-Dollar für die ersten fünf Jahre zur Verfügung haben, wobei sich die USA, Japan und die EG in gleichem Maße beteiligen sollen, so zumindest Bush’s Idee. Zum Vergleich: Die zur Investitionsförderung und für Strukturmaß­nahmen geschaffene Entwicklungsbank für Osteuropa hat ein Volumen von 12 Mrd. US-Dollar für fünf Jahre. Allein im Jahr 1989 hat Latein­amerika 25 Mrd. US-Dollar durch Zinszahlungen ins Ausland transferiert, daß sind 84 mal mehr als der vorgesehene Betrag für den Lateinamerika-Topf. Dar­überhinaus betonte der US-Regierungschef, daß natürlich nur die Länder in den “Genuß” der Freihan­delszone kommen könnten, die sich vorher einer Liberalisie­rungskur mit Unter­stützung des IWF unterziehen.
Dennoch ist der Optimismus der Regierungen Lateinamerikas bei ihren Reaktio­nen auf den Bush-Plan kaum zu bremsen: “Ein guter Schritt vorwärts”, kommen­tierte der argentinische Präsident Menem. “Der Plan ist geeignet, die Entwick­lung und die Lösung der Probleme Lateinamerikas ein gutes Stück voranzubrin­gen”, sagte ein Sprecher der UNO-Wirtschaftsorganisation für Lateinamerika CEPAL und Chiles Finanzminister meint gar: “Lateinamerika kann mit Optimis­mus in die Zukunft sehen”.

Schwindende Hegemonialmacht bekommt Torschlußpanik

Der eigentliche Grund für diesen US-Vorschlag dürfte weniger im Interesse an einer Entwicklung des Subkontinents als vielmehr an den Problemen im eigenen Landes liegen. Das chronische Außenhandelsdefizit der USA braucht eine Lö­sung, soll die Wirtschaft nicht noch weiter den Bach runter gehen. Für die Löcher in der Handelsbilanz werden natürlich Absatzmärkte gesucht. Die USA sind für Lateinamerika immer noch der wichtigste Handelspartner. 1989 gingen 52% der lateinamerikanischen Exporte in die Vereinigten Staaten, während 59% der Importe Lateinamerikas aus den USA kamen. Dennoch ist die US-Handelsbilanz mit Lateinamerika extrem negativ: in den letzten fünf Jahren hat sich ein Saldo von 48 Mrd. US-Dollar angesammelt. Es geht den USA also offensichtlich nicht darum mehr zu kaufen, sondern mehr zu verkaufen. “Neue Märkte für US-Pro­dukte und mehr Arbeit für nordamerikanische Arbeiter” verspricht der Präsident dann auch unverhüllt seinen Landleuten. Gleichzeitig könnte es dem Weißen Haus darum gehen, durch eine gezielte Intervention die lateinamerikanischen Integrationsbemühungen zu unterminieren und zu vereinnahmen, zielt der Plan doch hauptsächlich auf Länder, die sich zum einen bereits einer weitgehenden Liberalisierung unterzogen haben und zum anderen eine regionale Integration anstreben.
Die USA geraten darüberhinaus angesichts der sich anbahnenden wirtschaftli­chen Machtkonzentrationen in Europa und Asien in Zugzwang , wollen sie ihre Hegemonie in der Welt nicht gänzlich verlieren. Eine Rückbesinnung auf den traditionellen “Hinterhof” und eine noch stärkere wirtschaftliche Dominierung des Kontinents könnten dieses “Defizit” ausgleichen. So ist es nicht verwunder­lich, daß Bush diese Initiative wenige Tage vor dem Weltwirtschaftsgipfel in Houston (G7) aus dem Hut zauberte. Stärke zeigen! Doch die dort Anwesenden waren zwar nicht angetan von Bushs Plan, lamentierten allerdings weniger über eine ökonomisch gewendete Monroe-Doktrin, als daß sie vielmehr sofort ihre Chancen, in Amerika einen größeren Absatzmarkt zu finden, kalkulierten.

“Die Zukunft Lateinamerikas liegt im freien Markt…”

In Lateinamerika findet Bush mit seiner Initiative einen guten Nährboden vor. Die Länder stehen wirtschaftlich fast alle mit dem Rücken zur Wand. Nicht, daß sie, wie noch in den 70er Jahren durch Militärdiktaturen zur neolibearlen Anpas­sung á la IWF gezwungen werden müßten: Heute führen die demokratisch ge­wählten Präsidenten genau dieselbe Wirtschaftspolitik durch wie ihre Vorgänger in Uniform. Die Wirtschaftspläne von Collar, Menem Fujimori und wie sie alle heißen gleichen sich dabei fast aufs Haar. “Es ist eine neue Art von Führung ent­standen, die sich auf das Mandat des Volkes berufen kann und versteht, daß die Zukunft Lateinamerikas in der freien Regierung und im freien Markt liegt”, zollt Bush dieser Entwicklung Beifall.
Was dieser “freie Markt” für die Mehrheit der Bevölkerung bedeutet, wird am tagtäglich wachsenden Elend in der Region deutlich. Mehr als ein Drittel der städtischen und fast zwei Drittel der ländlichen Bevölkerung des Kontinents le­ben unterhalb der Armutsgrenze. Die Verelendung in Lateinamerika hat gerade in den 80er Jahren, in denen in fast allen Ländern die neoliberale Politik trium­phierte erschreckende Ausmaße angenommen und zeigt sich in allen Bereichen des sozialen Lebens. Doch diese Bevölkerungsmehrheit wird natürlich nicht ge­fragt, wenn von “Wachstum und Entwicklung dank des freien Marktes” gespro­chen wird.
Nach den ersten euphorischen Reaktionen aus Lateinamerika wurde der Bush-Plan nun erst einmal zur weiteren Begutachtung an verschiedene Ausschüsse und Organisationen übergeben, die den genauen Inhalt prüfen sollen. SELA (Sístema Económico Latinoamericano, lateinamerikanisches Wirtschaftssystem) legte Anfang September einen ersten Zwischenbericht vor, in dem zwar der Wandel in der US-Politik gegenüber Lateinamerika von der militärischen zur ökonomischen Motivation begrüßt, der Plan an sich allerdings eher skeptisch betrachtet und kritisiert wird. Der Versuch der USA, einen neuen Block zu bil­den, stelle einen “Handel zwischen sehr ungleichen Partnern dar” und könne leicht in ein Instrument zum einseitigen Nutzen der USA umgewandelt werden. Dennoch sehen die Wirtschaftsexperten in dem Plan eine Möglichkeit, IWF und andere Gläubigerinstitutionen zu beeinflussen und zu einer Reduzierung der Auslandsschulden zu bewegen.

…und die Vergangenheit auch

Anders urteilte die lateinamerikanische Linke auf ihrem Anfang Juli in Sao Paulo abgehaltenen Kongress: “Der Bush-Plan zielt darauf ab, unsere nationalen Öko­nomien für den unlauteren und ungleichen Wettbewerb mit dem ökonomischen Hegemonieapparat komplett zu öffnen, uns ihrer Hegemonie völlig zu unterwer­fen und unsere produktiven Strukturen zu zerstören, indem er uns in eine Frei­handelszone integriert, organisiert und bestimmt von den nordamerikanischen Interessen.” So wahr wie einfach, aber aus dem Dilemma der wirtschaftlichen Krise hilft ein solches Anprangern des US-Imperialismus auch nicht heraus.
Kubas Staatschef Fidel Castro setzt noch einen drauf: Eine gemeinsame Verteidi­gungsfront gegen diesen imperialistischen Angriff der USA solle gebildet wer­den, um eine noch größere Penetration durch die nordamerikanischen Multis zu verhindern.
Die ist allerdings auch ohne Freihandel schon viel zu groß: 7 Mrd. US-Dollar Reingewinn zogen die US-amerikanischen Multis allein 1989 aus dem strangu­lierten Kontinent. Das Lamentieren darüber, daß der Plan lediglich dazu dient, die lateinamerikanischen Märkte für ein besseres Vordringen der US-Industrie zu öffnen, hilft ebenfalls wenig weiter, denn die Märkte der meißten Länder sind be­reits in den letzten Jahren auch ohne die Freihandelszone durch den Druck des IWF sperangelweit aufgerissen worden. Klar ist allerdings, daß die nationalen lateinamerikanischen Industrien in der Konkurrenz mit den US-Produkten in den wenigsten Fällen eine Chance haben. Die USA versuchen eher Lateinamerika weiterhin auf die Rolle des billigen Rohstofflieferanten für die eigene Industrie und als Absatzmarkt für ihre Produkte festzuschreiben. “In den letzten zehn Jah­ren haben die USA einen Großteil ihrer traditionellen Märkte verloren”, gesteht dann auch der US-Finanzsekretär David Mulford freimütig ein.

Menem und Collor heben ab

Zehn Tage nach der Offensive des US-Präsidenten warteten der argentinische Präsident Carlos Menem und sein brasilianischer Amtskollege Collor de Mello mit einem etwas kleiner dimensionierten Plan auf: Schaffung eines gemeinsamen argentinisch-brasilianischen Marktes zum 1.1.1995 “In dieser Zeit der Krisen ist es gut, daß wir große Dinge tun können”, kommentierte Menem schlicht und ergrei­fend. Großes haben die beiden Regierungen vor, wollen sie bis Anfang 1995 alle Voraussetzungen für die Einführung eines gemeinsamen Marktes nach dem Vorbild der EG geschaffen haben.
Die Idee fußt auf den Integrationsprotokollen der vorhergehenden Präsidenten Alfonsín und Sarney, die 1986 einen ökonomischen Integrationspakt unterzeich­neten, der die Grundlage für die spätere Einführung eines gemeinsamen Marktes bilden sollte. Im Januar 1987 wurden dann 20 Integrationsprotokolle unterzeich­net, die die wirtschaftliche Zusammenarbeit für einzelne Sektoren regelten. Im April des darauffolgenden Jahres legten sie den Termin für einen gemeinsamen Markt auf das Jahr 2000 fest. Mit der wirtschaftlichen Integration der beiden Ländern tat man sich allerdings in den letzten Jahren erheblich schwerer, als er­wartet wurde. So stieg der Handel zwischen beiden Ländern seit 1985 zwar um 81% an, besitzt allerdings am jeweiligen Gesamtexport der beiden Länder gemes­sen immer noch eine sehr geringe Bedeutung.
Collor und Menem wollen nun dieser Integration mehr Schubkraft verleihen und zogen den Termin für den gemeinsamen Markt kurzerhand fünf Jahre vor. Gleichzeitig soll eine Komission, die seit Anfang September tagt, alle Weichen für die einzelnen Wirtschaftsbereiche und Problemfelder stellen und konkrete Maß­nahmen ausarbeiten, um den Termin einzuhalten. Mit der Unterzeichnung dieses Plans wurden außerdem die bestehenden Integrationsprotokolle um mehrer hundert Produkte ausgeweitet, so daß eine Erhöhung des Handelsvolumens um 530 Millionen Dollar allein in diesem Jahr ermöglicht werden soll. Gleichzeitig wurden die Quoten für die bisherigen Produkte erhöht und die Schaffung von bi-nationalen Unternehmen soll forciert werden.
Bezüglich des Bush-Plans merkten die beiden Staatschefs an, daß “die Integration des Cono Sur mit der Bush-Initiative vereinbar ist” und schufen eine gemeinsame Komission zur Beratung über den Plan. Das lateinamerikanische Vorhaben ist allerdings weitgehender, sieht es doch nicht nur Freihandel zwischen den Län­dern, sondern eben einen gemeinsamen Markt, mit gemeinsamer ökonomischer Außenpolitik, einer gemeinsamen Währung und dem vereinigten Auftreten der Delegationen im Ausland vor, um eine bessere internationale Verhandlungspo­sition zu erlangen. In der Uruguay-Runde des Gatt (Allgemeines Zoll- und Han­delsabkommen), welche den weltweiten Freihandel regeln will, werden die bei­den Länder auf jeden Fall gemeinsam ihre Interessen vertreten, die sich in erster Linie gegen den Protektionismus der EG bezüglich der Agrargüter richten.

Die “Kleinen” dürfen auch mitmachen

Ignoriert wurde bei diesen Verhandlungen allerdings der Juniorpartner Uru­guay, welcher in den vorangegangenen Integrationsbemühungen immer mitein­geschlossen war. So mokierte der uruguayische Präsident Lacalle noch am Tag des Treffens Collor-Menem, daß er nicht einmal eingeladen worden sei. Auf einer Sitzung Anfang August wurden dann allerdings nicht nur Uruguay, sondern gleich auch noch Chile mit in das Vorhaben einbezogen. Paraguay wurde als fünfter im Bunde direkt aufgefordert, sich an dem “Integrationsprogramm 1995” zu beteiligen. In einer zweiten Phase sollen dann nach der Schaffung des gemein­samen Marktes zwischen diesen fünf Ländern alle anderen Staaten der “Lateinamerikanischen Integrations-Organisation” (ALADI) miteinbezogen wer­den, also Mexiko, Kolumbien, Ecuador, Peru und Venezuela. Doch dieses Wunschdenken lenkt davon ab, daß der eigentliche Kern, die Integration im Cono Sur durchaus realistische Verwirklichungschancen hat. Der gemeinsame Markt von Chile, Uruguay, Argentinien und Brasilien wäre die Heimat von zwei Dritteln der Bevölkerung Lateinamerikas mit einem jährlichen Wirtschaftsvolu­men von 280 Mrd. US-Dollar.
Voraussetzung für all diese Zukunftspläne dürfte allerdings die Bewältigung der derzeitigen Krise in Brasilien und Argentinien sein. Denn einen gemeinsamen Markt der Inflation und Armut wollen die Herren wohl kaum. Anscheinend hilft eben kein neoliberales Konzept, um die Inflation der Länder unter Kontrolle zu bekommen, sondern stürzt sie vielmehr gleichzeitig in eine tiefe Rezession.

Kasten:

Fußball-Integration

“Wir Brasilianer haben im Endspiel der Fußball-WM für Argentinien geschrien, denn die lateinamerikanische Integration vollzieht sich auch über die Zuneigung – und die Leidenschaft für den Fußball ist eine der gemeinsamen Sachen unserer beiden Länder.” (Collor de Mello) Na dann können wir ja auf eine gemeinsame argentinisch-brasilianische Auswahl bei der nächsten oder übernächsten WM gespannt sein.

Fujimori: Der Mythos zerplatzt

6.000 Verhaftungen und mindestens 15 Tote weist die Bilanz der ersten Woche nach dem 8.August aus. Schon vor der Verkündung des Wirtschaftsprogramms war das Land in Ungewißheit über die zu erwartenden Reissteigerungen praktisch stillgelegt. HändlerInnen hielten die Waren zurück, oder verkauften nur zu astronomisch hohen Schwarzmarktpreisen, während die Polizei dafür eingesetzt wurde, gehortete Waren demonstrativ zum offiziellen Preis zwangszuverkaufen. Kaum war das Ausmaß der von Fujimori geplanten Anpassungsmaßahmen bekannt, entlud sich die Entrüstung der Bevölkerung in Demonstrationen und Plünderungen. Einen Tag vor der Vorstellung des Programms hatte der Präsident gerade noch rechtzeitig den Ausnahmezustand für Lima und neun weitere Departements verlängert, so daß Militär und Polizei nahezu ungehindert von gesetzlichen Beschränkungen einschreiten konnten.
Die Radikalität der Maßnahmen Fujimoris dürfte vor allem das Ergebnis seiner vor kurzem in Japan und den USA geführten Gespräche sowohl mit Regierungsstellen als auch mit Vertretern von IWF und Weltbank sein. Um die Kredit-ürdigkeit Perus wiederherzustellen, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich nach den aus Washington gestellten Bedingungen zu richten. Die völlige Ausplünderung der Devisenreserven mangels anderer Geldquellen und die tiefste wirtschaftliche Krise der neueren peruanischen Geschichte lassen ihm da keine andere Möglichkeit. Obwohl er die Wahl gegen Mario Vargas Llosa gerade wegen seiner Ablehnung eines Schockprogramms zur “Gesundung” der Wirtschaft gewonnen hatte, hält sich Fujimori an die von den Washingtoner Institutionen etablierten Spielregeln: Der Wechselkurs des Inti wurde freigegeben. Ab sofort soll das freie Spiel der Marktkräfte den Wert des Inti gegenüber dem Dollar regulieren. Die Beschränkungen auf Importe wurden weitgehend aufgehoben. Grundsätzlich gilt wie 1985 in Bolivien, 1989 in Brasilien, und in so vielen anderen Ländern der Peripherie, daß freie importe die nationalen Produzenten der internationalen Konkurrenz aussetzen und somit effektivieren sollen. Es sei denn, die nationale Produktion stirbt vorher eines schnellen Todes. Die Erfahrungen mit der Durchführung von Strukturanpassungsprogrammen in vielen Ländern zeigen, daß die Gefahr einer Rezession bis hin zur Existenzbedrohung der nationalen Produktion außerordentlich groß ist. Genauso oft ist dies heraus-gestellt und kritisiert worden, aber nichtsdestotrotz wird das universal gültige IWF-Sanierungsrezept bisher nicht modifiziert.
Der für die Menschen in Peru am unmittelbarsten spürbare Teil des Maßnahmenkataloges besteht in den Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel und Benzin. Für Zucker, Milch, Brot und Nudeln stiegen die Preise zwischen 200 und 300%. Am schwersten wiegt die Benzinpreissteigerung um das Dreißigfache(!). Jede Verteuerung des Benzins bedeutet höhere Transportkosten und schlägt somit wiederum auf fast alle anderen Preise durch. Zur sozialen Abfederung erhöhte Fujimori den Mindestlohn auf umgerechnet 50 US$.Fast gleichzeitig wurde der Warenkorb des Mindestnotwendigen amtlich mit 270 US$ im Monat angegeben: Die Kapitulation vor der Armut, statistisch fixiert.

Der Präsident auf der Suche nach Verbündeten

Fujimori wurde gewählt, weil er den Ausweg aus der Wirtschaftskrise ohne Schockprogramm versprach. Nun führt er genau dieses durch und muß sich um politische Unterstützung bemühen. Entgegen verbreiteter Spekulationen und Unterstellungen im Wahlkampf hat Fujirnori die APRA konsequent von den wichtigen Positionen seiner Regierung ferngehalten. Die APRA ihrerseits erregt sich über den Wahlbetrug und darüber, daß sich das Wirtschaftsprogramm kaum von den Vorschlägen Vargas Llosas unterscheidet. Dies kann allerdings kaum darüber hinwegtäuschen, daß die Ex-Regierungspartei zunächst einmal mit ihrer eigenen Krise beschäftigt ist und außerdem wohl eine Einladung zum Mitregieren nicht ausgeschlagen hätte. Der verschmähte Bräutigam ist beleidigt.
Programmatisch steht Fujimori inzwischen Vargas Llosas Vorschlägen am nächsten, ohne jedoch auf die Unterstützung der Rechten bauen zu können, nachdem er ihr in der Wahl gerade erst den sicher geglaubten Sieg abgenommen hat. Vargas Llosa hat sich nach Europa zurückgezogen. Sein “Movimiento Libertad”, in-zwischen in “Liberale Partei” umbenannt, soll nach dem Verständnis der Parteiführer um Alvaro Vargas Llosa und Enrique Ghersi die reine Lehre der totalen Marktwirtschaft in Opposition zur Regierung weitertragen. Ihr Diskurs beruft sich auf Modernität und Effektivität. Die traditionellen Konservativen sind für sie die eigentlichen Schuldigen an der Wahlniederlage, da sie zu sehr der “alten” Klientelwirtschaft und Korruption verhaftet seien. Stattdessen soll wiederum Vargas Llosa diese neue Rechte 1995 in den Wahlkampf führen. Trotz der inhaltlichen Nähe zu Fujimori können sie ihn von rechts durch einen zumindest verbal noch radikaleren marktwirtschaftlichen Diskurs attackieren, ohne für die Folgen der Anpassungsmaßnahmen jetzt politisch verantwortlich zu sein. Nur müßten sie es schaffen, bei einem Scheitern Fujimoris das Volk für ein, gegenwärtig nicht gerade populäres, noch radikaleres marktwirtschaftliches “Rettungsprojekt” zu gewinnen.

Das Kabinett: Alle dürfen mal

Abgesehen von der eindeutigen Ablehnung der Ex-Regierungspartei und der (zumindest bisherigen) Opposition der Neuen Rechten zeigt Fujimoris Kabinettsliste eine eklektische Mischung von Inhalten und Personen:
Starker Mann im Kabinett ist Juan Carlos Hurtado Miller, in Personalunion Ministerpräsident und Wirtschaftsminister. Er kommt aus der Acción Popular(AP) des konservativen Ex-Präsidenten Belaunde, eine der im Wahlkampf zum Rechtsbündnis FREDEMO zusammengeschlossenen Parteien zur Unterstützung der Kandidatur Mario Vargas Llosas. Hurtado hätte die AP wohl gerne in eine Koalition mit Fujimoris “Cambio 90 geführt. Trotz des Bruchs der FREDEMO konnte er die AP aber nicht dazu bewegen, und so mußte er aus der Partei aus-treten, um das Regierungsamt antreten zu können. ihm blieb die undankbare Aufgabe überlassen, für den Wirtschaftsplan der ersten Tage zusammen mit Fujimori verantwortlich zu zeichnen.
Drei Ministerien gingen an linke PolitikerInnen : Fernando Sanchez Albaneyra als Minister für Energiewirtschaft und Carlos Amat y León für Landwirtschaft kommen von der “Izquierda Socialista”(IS), Erziehungsministerin Gloria Helfer von der “Izquierda Unida”(IU) . Die politische Linie der beiden zerstrittenen Bruchstücke der einstmals starken IU ist noch nicht auszumachen. Einerseits befinden sich die drei MinisterInnen im Kabinett, andererseits stehen die Parteiführungen, ganz zu schweigen von der Basis, in klarer Opposition gegen die Schockpolitik.

Machtgrundlage Militär: Priorität für dasautoritäre Modell

Zwei wichtige Positionen werden von Militärs besetzt: Innenminister wurde General Adolfo Alvarado, ein aktiver Offizier, während das Verteidigungsministerium von einem General im Ruhestand, Jorge Torres Aciego, übernommen wurde. Torres war Berater des reformistischen Militärregimes Velasco Alvarado gewesen. Neben der Suche nach einer Mehrheit in Abgeordnetenhaus und Senat baut Fujimori offensichtlich auf die Streitkräfte als Machtbasis. Direkt nach Amtsantritt nahm er Umbesetzungen an der Spitze des Militärs vor. Marineoberbefehlshaber Admiral Alfonso Panizo mußte gehen, ebenso wie Luftwaffengeneral Germán Vucetich. Solidantätsadressen an die abgesetzten Offiziere zeigen, daß die Entscheidungen im Militär nicht unumstritten sind. Die argentinische “Página12 berichtet sogar von offener Rebellion in der Marine gegen die Degradierungen. Aber Fujimori hat sich in der ersten Machtprobe durchgesetzt. Dazu der FREDEMO-Senator Raúl Ferrero: “Fujimori scheint ein autoritäres Herrschaftsmodell mit der Unterstützung der Streitkräfte anzustreben.” Zunächst einmal hat Fujimori seine Kandidaten in Führungspositionen untergebracht, aber eine weitere Machtprobe steht ihm bevor. Spätestens im November stehen die Beförderungen bei den Streitkräften an, die vom Senat ratifiziert werden müssen. Es ist denkbar, daß die unter Fujimori Zukurzgekommenen versuchen werden, direkt mit den großen Fraktionen im Senat zu verhandeln. Fujimori selbst verfügt dort nur über 23% der Stimmen -nicht genug, um sich ohne politischen Partner bei den Streitkräften den Rücken freizuhalten. Womit er wiederum vor dem Problem der Partnersuche steht …
Während Fujimori am Heranziehen zusätzlicher Stützen seiner Macht arbeitet, bröckeln schon die Pfeiler, auf die er sich verlassen zu können glaubte. Wichtige Mitarbeiter seiner eigenen Partei kündigten ihm bereits die Mitarbeit auf. Darunter ist Santiago Roca, der als Wirtschaftsberater Fujimoris im Wahlkampf gegen die Schockstrategie Vargas Llosas ein Konzept der graduellen Anpassung setzte und vom Sinneswandel Fujimoris genauso kalt erwischt wurde wie die Öffentlichkeit.

Zunehmende Militarisierung der Auseinandersetzungen

Der Verlauf des ersten Monats nach der Verkündung des Wirtschaftsprogramms bestätigt die Befürchtungen über die zunehmende Militarisierung der politischen Auseinandersetzung. Für den 16. August riefen die beiden großen Gewerkschaftsdachverbände, die kommunistische CGTP (Confederacion General de Trabajadores del Perú) und die apristische CTP (Confederacion de los Trabajadores del Perú) zu einem nationalen Protesttag auf. Versuchte Demonstrationen wurden von Polizei und Militär aufgelöst. Von Gewerkschaftsseite wurde von 30 Verletzten und über 200 Verhafteten gesprochen. Eine Streikwelle angefangen von den Bankangestellten bis zu den Sozialversicherungen legt immer wieder Teile des Landes lahm. Für den 21/22. erklärte die CGTP den Generalstreik, ebenso wie die CTP für den 24.August. Die Berichte über dessen Verlauf sind scheint weitgehend befolgt worden zu sein.
Ebenfalls für den 2l.und 22.August rief Sendero Luminoso zu einem “Paro Armado”, einem bewaffneten Streik, auf. Sowohl Sendero als auch MRTA haben seit Anfang August wieder durch ganze Serien von Anschlägen auf sich aufmerksam gemacht. So plazierte Sendero z.B. eine Autobombe direkt hinter dem Präsidentenpalast. Die Meldungen von Juli über die tiefe Krise Senderos scheinen etwas verfrüht gewesen zu sein. Trotzdem war der 21.August offenbar kein voller Erfolg für die Senderistas. Der Streik verlief -unter dem Druck der Repression-relativ ruhig.

Allein gegen fast alle

Die Frage für Fujimori ist, ob er das Strukturanpassungsprogramm gegen die entschiedene Opposition der meisten politischen Kräfte, ohne Mehrheit im Parlament, diskreditiert in der öffentlichen Meinung und gestützt fast nur auf bestimmte Kreise der Streitkräfte und einige Abgeordnete durchsetzen kann. In Bolivien 1985 waren die Maßnahmen kaum weniger einschneidend, aber die Volksbewegung befand sich in einer tiefen Krise, und in der Bevölkerung gab es eine ausgeprägte “Da müssen wir durch” -Stimmung. Die Proteste der Opfer -der Bevölkerung der Minengebiete z.B. -wurden in der öffentlichen Meinung schlicht nicht zur Kenntnis genommen, noch weniger auf politischer Ebene. Zwar ist inzwischen eine leichte Stabilisierung zu beobachten, einige Preise wurden wieder etwas herabgesetzt, weil die Nachfrage fast auf Null gesunken war. Trotzdem wird in Peru eine höhere Opferbereitschaft der Bevölkerung für den wirtschaftspolitischen Kurs der Regierung nicht so leicht zu erreichen sein. Ohne ein Konzept zur Beendigung des Krieges wird kein peruanischer Präsident eine breite Unterstützung im Volk bekommen. In den “Sectores Populares”, der Masse der Bevölkerung, sind Sympathien für Sendero nur sehr begrenzt vorhanden. Eine Zusammenarbeit mit den Organisationen der Volksbewegung, ohne die Sendero nicht zu bekämpfen ist, ist aber unter den Prämissen von wirtschaftlichem Schockprogramm und Militarisierung der politischen Auseinandersetzung nicht vorstellbar. So scheint Fujimori schließlich auf dem Weg in die gleiche Sackgasse wie seine Vorgänger zu sein. Er wählt Repression und erklärt damit nicht nur Sendero, sondern auch gleich Gewerkschaften und Volksorganisationen zu seinen Gegnern. Bis jetzt ist er konsequent in der Anwendung seiner Mittel: für die Woche vor dem 18.9. werden allein aus Lima 25.000 vorläufige Verhaftungen gemeldet. 4.000 der Betroffenen wurden bis jetzt nicht wieder frei-gelassen. Als Legitimation dient der “Kampf gegen die Subversion”.
Wie sagte Herr Alberto Fupmori so schön, als er sich zum ersten mal nach Amts-antritt wieder in der Öffentlichkeit zeigte: “Alles, was heute scheinbar nicht vorteilhaft für das Volk ist, ist es im Grunde genommen doch.” Na also!

Editorial Ausgabe 196 – September 1990

Ein US-Präsident brachte einst das pragmatische Verhältnis der Supermacht zu ihren weltweit amtierenden Diktatoren auf folgenden Punkt: “He may be a son of a bitch, but he is our son of a bitch!” Nur ein halbes Jahr, nachdem der panamai­sche Son-of-a-bitch sich gegen seine Ziehväter und Geldgeber stellte und vom US-South-Command erledigt werden mußte, nun also Saddam Hussein: Die Hurensöhne der Welt verselbständigen sich.
Aber der Golfkonflikt, das ist inzwischen hinlänglich bekannt, ist von anderem Kaliber und Dimensionen. Da ist nix mit “schneller Eingreiftruppe”, stattdessen ein langsamer Mammutaufmarsch von hunderttausenden von Soldaten. Wäh­rend die hiesigen Oppositionsbuchhalter “die Kosten der Einheit” beklagen, haben die Gerontokraten von Washington die Kosten der Weltmacht durchge­rechnet und den Außenminister auf Kollekten-Tournee geschickt: “Eine Mark für Charly, denn Charly, der ist pleite…” Die Diskrepanz zwischen Supermacht-Anspruch und der maroden US-Ökonomie ist so offensichtlich wie nie zuvor: Das einstige Intellektuellen-Schlagwort vom “imperial overstretch” – der “imperialen Überdehnung” der USA – wird greifbare Realität.
Während die USA auf ihre Breschnew-Ära zusteuern (?), lauern die ambitionier­ten Mit-Großmächte der neu entstehenden Weltordnung auf ihren Positionen. Das Dicke Deutschland kauft sich mit 3,3 Mrd. DM in die Golf-Kriegs-AG ein, und darf nun auch auf einen Platz im Aufsichtsrat der Weltsicherheit hoffen. Doch bei aller Neuformierung findet sich “der Norden” in dem ersten mi­litärischen Konflikt seit dem Ende des kalten Ost-West-Krieges denkbar einig.
Nun wär’s ja um Saddam selbst nicht so furchtbar schade, nur ist so elendig naheliegend, daß dieses Schema auch in anderen Konflikten Anwendung finden wird, wo “Bruch des internationalen Rechts” u.ä. tatsächlich nur als konstruierter Vorwand für ökonomische Interessen, Rohstoffsicherung etc. dient. Und die Ver­liererInnen der Weltwirtschaft im Süden werden dabei in Zukunft ziemlich ver­geblich nach BündnispartnerInnen im Norden Ausschau halten.
Auf der anderen Seite wird – so schnell, wie derzeit die Allianzen kippen und die Bündnisse wechseln – jeder der vom Norden so eifrig hochgerüsteten “eigenen Hurensöhne” zu einer potentiellen Zeitbombe für den Norden selbst. So könnte es anstelle der Kampagnen der Solidaritätsbewegung letztendlich das “höhere Eigeninteresse” des Nordens sein, das die Profiteure der florierenden Rüstungs­exporte in die “Dritte Welt” in die Bredouille bringt…

Polizei und Menschenrechte – Traurige Realität Mexikos

Die Anklage konkretisiert sich: “Beamten aller Einheiten der Sicherheitskräfte werden der Folter und willkürlicher Verhaftungen angeklagt. Insbesondere die Bundes-Justizpolizei (Policia Judicial) ist Gegenstand schwerster Anklagen. Deren Agenten genießen eine enorme Autonomie und Straffreiheit, trotz der Ungesetzlichkeit ihrer Aktionen.”(Proceso, 20.8.90) Dies ist die Erkenntnis eines US-Menschenrechtskomitees von Rechtsanwälten im Juli dieses Jahres.
In Mexiko herrscht ein Klima der “öffentlichen Unsicherheit”. Tagtäglich berich­ten die Zeitungen über Zwischenfälle, über politisch motivierte Morde, Klagen gegen Folter oder Übergriffe von PolizistInnen auf PassantInnen und Autofahre­rInnen. JedeR weiß, daß die größte Gefahr, überfallen zu werden, von PolizistInnen ausgeht, die bis in die untersten Ränge so korrupt sind, daß sie nach Belieben Leute auf der Straße ausrauben können, ohne mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen zu müssen.
Das Menschenrechtszentrum “Fray Francisco de Victoria” O.P vom Dominika­nerorden hat eine chronologische Dokumentation aller angezeigten Menschen­rechtsverletzungen der letzten zwei Jahre erstellt, deren Veröffentlichung im Time-Magazin der Organisation unangenehme offizielle Proteste einbrachte. 1.200 Fälle werden dort aufgezählt, und die Dunkelziffer ist kaum abzuschätzen.
Die Anlässe der Übergriffe reichen von simplen Verbrechen über gewalttätige Verbrechensbekämpfung, meist in Zusammenhang mit Rauschgifthandel, bis zu politischer Repression im Zuge von Wahlauseinandersetzungen oder Landbesetz­ungen. Hauptangeklagte sind die Bundespolizei, Staatspolizei und die regionale Polizei. Danach kommen, nach Einschätzung eines Berichtes von “Americas Watch”, die Kaziken (inoffizielle regionale Machthaber), Solda­ten, bezahlte Killer und paramilitärische Gruppen. Besonders pro­blematisch ist die Lage auf dem Land, wo Bäuerinnen und Bauern sowie Indigenas schutzlos jeder Art von Aggression ausgesetzt sind. Sogar das staatliche “Instituto Nacional Indigenista (INI) schätzt die Zahl der unrechtmäßig verhafteten BäuerInnen auf über 5000.

Menschenrechtskommission oder Imageaufbesserung ?

Auf Weisung von Salinas de Gortari wurde am 6.Juni dieses Jahres eine Men­schenrechtskommission ins Leben gerufen. Ihre RepräsentantInnen haben einen guten Ruf, neben dem Ex-Rektor der UNAM, Jorge Carpizo und dem Sozialwis­senschaftler Rodolfo Stavenhagen verpflichtete sich auch der Schriftsteller Carlos Fuentes. Dennoch ist die Skepsis groß. Hierarchisch ist die Nationale Menschen­rechtskommission (CNDH) dem Innenministerium untergeordnet, wodurch trotz gegenteiliger Versicherungen deren Unabhängigkeit nicht gewährleistet ist. Außerdem stehen ihr kaum wirksame Instrumente zur Verfügung, um zu inter­venieren – lediglich Gesetze und moralische Autorität. Schon bei den ersten Aus­einandersetzungen mit der Staatsanwaltschaft zeigte sich, daß die Appelle der CNDH bezüglich der Behandlung von Festgenommenen kaum ernstgenommen werden.
Andererseits bewirkt die Kommission, daß die Diskussion um die Menschen­rechtsfrage intensiver geführt wird, und sogar die Generalstaatsanwaltschaft sah sich gezwungen, Weisungen gegen Folter als Vernehmungsmethode auszugeben, womit sie solche Praktiken innerhalb der Justiz indirekt bestätigt. Da die Kom­mission bisher kaum Erfolge zu verzeichnen hat, wenden sich die Betroffenen weiterhin an andere Organisationen, die seit langem versuchen, in Sachen Men­schenrechte Druck auszuüben. Immer häufiger werden die Anklagen im Ausland erhoben, da dort eine breitere Öffentlichkeit erreicht wird und sich der interna­tionale Druck langsam erhöht. Vor kurzem reiste Rosario Ibarra de Piedra vom Komitee zur Verteidigung der Verfolgten und Verschwundenen (Eureka) nach Kalifornien und Kuba und berichtete , daß die Fälle von 556 Verschwundenen immer noch ungeklärt sind. Zwölf dieser Fälle ereigneten sich in den ersten zwei Regierungsjahren von Salinas. Auch die Tatsache, daß die CNDH wenige Tage vor dem Besuch von Salinas in den USA gegründet wurde, verleitet zur Annahme, daß die Sorge um das internationale Ansehen Mexikos die Regierung zu dieser Initiative bewog. In der Praxis macht die PRI (Institutionalisierte ‘Revolutions’partei) keinerlei Anstalten, neue Gesetze zu erlassen oder effektiv gegen die Korruption in Justiz und Polizei vorzugehen.

Justizpolizei und Staatsanwaltschaft

Die Verbindungen von Polizei und Staatsanwaltschaft veranschaulichen, daß Gewalttätigkeiten der Exekutive weder kontrolliert noch legal verhindert werden können. Die Justizpolizei, die der Staatsanwaltschaft als Untersuchungsinstru­ment dient, steht theoretisch unter deren Kontrolle. In der Praxis jedoch agieren deren BeamtInnen ohne jegliche Einschränkung. Mit oder ohne das Wissen ihrer Vorgesetzten begehen sie jede Art von Verbrechen. In einer Dokumentation berichtet die US-Menschenrechtskommission von RechtsanwältInnen über wei­tere Details dieses Unrechtsapparates. Als wichtigste Instanz der Staatsanwalt­schaft ist die Justizpolizei auch mit der Aufklärung der von ihr begangenen Ver­brechen betraut. Kein Wunder, daß diese Untersuchungen langsam vorangehen und nie zu einer Aufklärung führen. Besonders berüchtigt sind die zivilen Be­amtInnen der Justizpolizei, deren Namen nirgends auftauchen und die unter dem Schutz ihrer Behörde bzw. in deren Auftrag Verbrechen begehen. Sie sind allgemein als “madrinas” bekannt. Ihre einzige Untersuchungsmethode ist die Folter. Auch dienen sie als InformantInnen und SpionInnen. Als rechte Hand der Justizpolizei sind sie schwer bewaffnet, bekommen Autos und Hotelzimmer zur Verfügung gestellt und viele vermeintliche Delikte werden von ihnen definitiv “geklärt”, bevor andere Instanzen überhaupt davon erfahren. Vielen von ihnen wird außerdem nachgesagt, im Drogengeschäft mitzumischen.
Andere Klagen richten sich gegen die mexikanische Armee und gegen die Anti-Drogenpolizei. Im Namen des Kampfes gegen die Drogen verhaften, foltern und morden AgentInnen beider Institutionen, vor allem auf dem Land, wo BäuerIn­nen des illegalen Anbaus bezichtigt werden. Illegale Festnahmen und Folter werden in Mexiko inzwischen als reguläre Untersuchungsmethoden bezeichnet. Viele RichterInnen berichten, daß die Angeklagten in den Prozessen offensichtli­che Folterspuren aufweisen. Das Schlimme ist, daß jegliche Aussage, egal unter welchen Umständen zustande gekommen, vor Gericht als definitiv gilt. So ent­scheiden die ersten Stunden nach der Festnahme über das Schicksal des/der Betroffenen und diese Zeit verbringt sie/er in den Händen eines korrupten und gewalttätigen Polizeiapparates.

Kasten:

Anlaß dieses Artikels ist die Beschreibung der Bedrohung und politischen Verfolgung einer Familie in Mexiko, die den LN mit der Bitte um Veröffentlichung zugesandt wurde. Die Betroffenen bitten darum, Telegramme an die mexikanische Regierung zu schicken, in denen die Freiheit und ein Lebensbeweis für die folgenden Personen verlangt werden: Ana Vera Smith, Luis Escala Rabadan, Victoria Osona Tapia de Rocha, Esther Dolores Tapia Garcia de Osona, Esther Osona Tapia.

Krieg – Verhandlungen – Wahlen

1. Der Verlauf der UNO-vermittelten Friedensverhandlungen zwischen der Re­gierung El Salvadors und der Befreiungsbewegung FMLN seit April 1990 und der derzeitige Stillstand in diesem Verhandlungsprozeß haben den Kern des Problems klar und deutlich herausgeschält: In den Worten von Maria Julia Hernández, Leiterin des Rechtshilfebüros der Erzdiozöse von San Salvador: “Das Problem ist ein strukturelles. Das Militär hat mehr Macht als der Präsident. Der Präsident hat… keine Kontrolle über das Militär, obwohl er formal Oberbefehls­haber der Streitkräfte ist. Der Krieg, die Repression werden vom Militär kontrol­liert. So war es bei Duarte, und so ist es bei Cristiani, und so wird es unter jedem Präsidenten sein, solange die Strukturen nicht geändert werden.” Noch prä­gnanter hat es der demokratische US-Abgeordnete Edward J.Markey in einer Debatte über die US-Militärhilfe ausgedrückt: “El Salvador ist nicht so sehr ein Land mit einem korrupten Militär als ein korruptes Militär mit einem Land.”

2. An der Frage struktureller Veränderungen in den Streitkräften, einer tiefgrei­fenden Militärreform, genauer noch an den “Essentials” Säuberung der Streit­kräfte und Beendigung ihrer Straffreiheit ist die derzeitige Verhandlungsrunde zum Stillstand gekommen. Drei mehrtägige Verhandlungsrunden haben sich auf diesen Punkt konzentriert – ergebnislos.

3. In Anbetracht der Tatsache, daß dieser zentrale Punkt schon bei den letztjähri­gen Gesprächsrunden (Mexiko und Costa Rica) auf dem Verhandlungstisch lag, ist der Stellenwert des militärischen Druckes, der relative Erfolg der November-Offensive der FMLN und jener der nächsten Offensive genauer zu betrachten. Laut Jesús Rojas von der FMLN (s. Arbeiterkampf Nr.311) ging die FMLN mit ei­ner Reihe von Fehleinschätzungen in die Offensive:
– Mit dem massiven Einsatz von Bomben und schwerer Artillerie durch die Streitkräfte wurde nicht gerechnet bzw., es wurde mit einer heftigen internatio­nalen Reaktion gerechnet, die nicht statfand.
– Das Gewicht des radikalen, gut organisierten Teils der Massenbewegung wurde zu hoch bewertet.
– Das angepeilte Optimum, die Einnahme einer wichtigen Kaserne oder gar einer Departmentshauptstadt, wurde nicht erreicht.
Einerseits hat die Novemberoffensive den Übergang von Gesprächen zu Ver­handlungen erreicht und die Vermittlung durch die Vereinten Nationen, also eine neue Qualität in den Bemühungen um eine politische Lösung. Andererseits kann von der mit dem mittelamerikanischen Friedensvertrag Esquipulas II ein­geleiteten Dynamik nicht abgesehen werden: Er sieht Verhandlungen zwischen in jedem Falle legitimen und verfassungsmäßigen Regierungen und “irregulären” bzw. “aufständischen” Kräften vor, wobei dieser feine Unterschied in der Praxis seit Esquipulas II (August 1987) einer zwar falschen, aber schwergewichtigen Gleichsetzung Platz gemacht hat. Eine Beteiligung der Vereinten Nationen im Rahmen dieses sog. Friedensprozesses in Mittelamerika hat der UN-Sicherheits­rat mit seiner Resolution 637 bereits im Juli 1989 beschlossen. Bei dem für die FMLN fatalen mittelamerikanischen Präsidentengipfel in San Isidro Coronado, Costa Rica, im Dezember 1989 wurde dann die Notwendigkeit einer aktiven Rolle des Generalsekretärs der UNO ausdrücklich bestätigt. Die FMLN hat frei­lich diesen einzigen für sie günstigen Punkt geschickt aufgegriffen und die Betei­ligung des Generalsekretärs bzw. seines Beauftragten Alvaro de Soto gegenüber der ARENA-Regierung durchgesetzt. Zweifellos hat also die Offensive das sal­vadorianische Kräfteverhältnis zugunsten des Befreiungsprojektes verschoben. Aber die erwähnten Umstände und die Tatsache, daß die neuen Verhandlungen an genau derselben Stelle in die Sackgasse geraten sind, wie die Gespräche im vergangenen Herbst, machen deutlich, daß eine entscheidende Veränderung des Kräftegleichgewichtes noch nicht gelungen ist.

4. Was kann in der heutigen Situation die Verhandlungen wieder in Gang brin­gen und eventuell das Kräfteverhältnis entscheidend verändern? Drei Faktoren sind auszumachen: der militärische Druck der FMLN, der politische Druck, d.h. die Kraft und Mobilisierung der sozialen und politischen Opposition und schließlich eine Veränderung der US-Politik in El Salvador.

5. Die Comandancia General der FMLN hat offenbar die schwere Entscheidung getroffen: “Es wird eine Offensive geben”, sagt ein Regionalkommandant in Morazán. Auch die Verhandlungstaktik der FMLN, die in vielem jener vom Herbst 1989 ähnelt, läßt diese Entscheidung im Hintergrund erkennen; von Mai bis August hat die FMLN Kompromißmöglichkeiten ausgelotet, indem sie an den Rand ihrer Flexibilität ging, wo sie sich z.B. in der Frage der Straffreiheit auf die vier “Schlüsselfälle” konzentrierte: Die Ermordung des Erzbischofs Romero, der Bombenanschlag auf das Lokal des Gewerkschaftsverbandes FENASTRAS, bei dem 10 GewerkschafterInnen ermordet wurden, die Ermordung der sechs Jesui­ten, ihrer Haushälterin und deren Tochter sowie die Ermordung des sozialdemo­kratischen Oppositionspolitikers Hector Oquelí und dazu “exemplarische Ge­richtsverfahren” verlangte. Ihre große Kompromißbereitschaft läßt sich auch an dem Teilabkommen zur Menschenrechtsfrage (Verhandlungsrunde in San José, 20. bis 26.7. 1990) ablesen, wo sie von dem Prinzip Waffenstillstand auf der Grundlage von politischen Übereinkünften abgewichen ist, indem sie der Ein­richtung einer UNO-Mission zur Verifizierung der Menschenrechtslage erst nach Beginn des Waffenstillstandes zustimmte (wogegen sich dann auch alsbald die gesamte politische und soziale Opposition wandte). Beides zeitigte keinerlei Ergebnisse. Deshalb kam die FMLN zur nächsten Verhandlungsrunde vom 17. bis 21.8. 1990, wiederum in San José, mit einem Maximalvorschlag: Konzertierte vollständige Entmilitarisierung, sprich Auflösung der beiden Streitkräfte. Der Spielraum für die nächste Offensive wird auf jeden Fall kleiner sein:
– Die Regierung wird aller Wahrscheinlichkeit nach die Verhandlungen nicht ab­brechen, so daß wiederum mit einer internationalen Verurteilung der FMLN zu rechnen ist.
– Die diversen Fehleinschätzungen vor der November-Offensive haben immer­hin zu über 1.700 zivilen Toten in den Städten San Salvador und San Miguel geführt. Da ist es zu einfach, wenn Jesús Rojas sagt, die Frage, ob eine militäri­sche Macht­demonstration der FMLN in einem dichtbesiedelten Gebiet zum Volksaufstand führt, hätte nur in der Praxis verifiziert werden können. Mag sein, daß letztend­lich nur die Praxis Auskunft über die Richtigkeit einer Annahme gibt. Aber in diesem Fall war einfach die Analyse zu kurz und der Preis für “trial and error” zu hoch. Auch der politische: Neben der internatio­nalen Verurteilung der FMLN haben Umfragen inzwischen auch ergeben, daß eine Mehrheit der Bevölkerung die FMLN für die Opfer und die materiellen Schäden der Bombardierungen als Reaktion auf die Offensive verantwortlich macht. Es liegt auf der Hand, daß eine Offensive wie im November nicht in Frage kommt und daß militärischer Druck allein, vorgetragen in wiederholten Offensiven, das Kräfteverhältnis nicht verän­dert. Das ist, wie aus Gesprächen erkennbar, auch mehrheitliche Meinung inner­halb der FMLN.
– Auch der internationale Spielraum ist noch enger geworden. Heute ist ungleich klarer als im vergangenen November – als es bei dem Bush-Gorbatschow-Treffen vor Malta noch Dissens in der Mittelamerika-Frage gab – daß die Sowjetunion be­reit ist, bei der Lösung sogenannter Regionalkonflikte (eben auch einschließlich der US-Aufstandsbekämpfungskriege) mit den USA zusammenzuarbeiten. Heute ist auch bekannt, daß dies von langer Hand kommt: Nachdem am 25. No­vember 1989 ein aus Nicaragua kommendes, mit Waffen für die FMLN vollge­packtes Kleinflugzeug in El Salvador abstürzte, wurde ein sowjetisches Schiff mit Waffen für Nicaragua zurückbeordert und eine Soforthilfe für das sandinistische Nicaragua im Wahlkampf gestrichen.
– Durch die eingangs erwähnte Verhandlungstaktik der FMLN ist zumindest in Teilen der interessierten internationalen Öffentlichkeit der Eindruck entstan­den, daß die FMLN den Verhandlungsspielraum wieder nicht voll ausschöpft. In der Frage der Auflösung der Zivilverteidigungsgruppen und der Unter­ordnung der Sicherheitskräfte unter die zivile Gewalt hatten sich Regierung und Streitkräfte bewegt – aber eben nicht in den Kernfragen: Säuberung und Beendigung der Straffreiheit.
– In der recht lebhaften und vielversprechenden Debatte in den USA über die Militärhilfe für El Salvador hat die Auffassung viele AnhängerInnen gefunden, die die FMLN am Verhandlungstisch halten will, indem sie die Reduktion der Militärhilfe um 50% davon abhängig macht, daß die FMLN keine Offensive lan­ciert, die die Regierung gefährdet.
All diese Faktoren, die den Spielraum für die nächste Offensive markieren, haben zu der in der US-Presse bereits offen gehandelten Spekulation geführt, daß die nächste Offensive nicht in der Hauptstadt sein wird, daß sie sich auf militärische und wirtschaftliche Ziele konzentrieren und ca. Mitte Oktober stattfinden wird, damit danach noch Zeit für die Fortsetzung der Verhandlungen und für die März-Wahlen auf der Grundlage gewisser Verhandlungsergebnisse bleibt.

6. Wenn ein entscheidender militärischer Durchbruch der FMLN unrealistisch ist und eine soziale Explosion, die im Volksaufstand mündet, unwahrscheinlich ist, dann kommt in der Tat der Mobilisierung der sozialen und politischen Opposi­tion unter den internen Faktoren eine Schlüsselbedeutung zu. Günstig für die an­stehenden Mobilisierungen ist, daß der nationale Konsens für eine Verhand­lungslösung und für die Säuberung der Streitkräfte und Beendigung der Straf­freiheit für Uniformierte, insgesamt für eine Entmilitarisierung der Gesellschaft umfangreich geworden ist. Ungünstig ist die in der Bevölkerungsmehrheit tief verwurzelte Furcht als Ergebnis des jahrelangen systematischen Terrors. Die FMLN und die soziale und politische Opposition sind entschlossener denn je, dieses Hindernis zu überwinden. Jesús Rojas sagt dazu: “…wir müssen die Mas­sen mit politischen Mitteln für uns gewinnen…die einzige Möglichkeit, der Re­volution in der Zukunft den Weg offen zu halten, ist ein Projekt des nationalen Konsens.” Und der christsoziale Oppositionsführer Rubén Zamora “Wir werden den Kampf für die Entmilitarisierung des Landes, dafür, daß das Gesetz des Dschungels aufhört, die Straffreiheit für die Militärs und für die Suche nach ei­nem wirklichen Demokratisierungsprozeß nie einstellen”.

7. Die Bedeutung der Wahlen von 1991 (Parlaments- und Kommunalwahlen) und 1994 (Präsidentschaftswahlen), ihr anderer Charakter gegenüber den bishe­rigen Wahlprozessen, resultiert nicht aus der Möglichkeit, daß sie 1991 be­reits auf der Grundlage von substanziellen Teil-Verhandlungsergebnissen statt­finden könnten, sondern auf der Tatsache, daß die Herausbildung und Ent­faltung des nationalen Konsens für Entmilitarisierung, Demokratisierung und soziale Gerechtigkeit Priorität hat gegenüber den Lösungsstrategien militärischer Sieg und/oder Volksaufstand.
Zu Beginn der UNO-vermittelten Verhandlungen war man bezüglich der Märzwahlen 1991 von optimalen Voraussetzungen ausgegangen: Bis dorthin werden Teil-Verhandlungsergebnisse vorliegen; es kommt zu einem Wahlbünd­nis der Christdemokratischen Partei (PDC) und der Demokratischen Konvergenz (CD; deren beide wichtigste Parteien immer noch ein Bündnis mit der FMLN ha­ben); ARENA wird in den Wahlen besiegt und dieser Teilerfolg gibt den weiteren Verhandlungen einen kräftigen Impuls.
Heute ist mit anderen Voraussetzungen zu rechnen:
– Bis zum März 1991 liegen noch keine Verhandlungsergebnisse vor.
– Ein Wahlbündnis PDC/CD kommt nicht zustande, weil die PDC nach wie vor deutlich machen will, daß sie die wählerstärkere Partei ist.
– Die FMLN kommt in das relative Dilemma, einen Weg zu finden zwischen ei­nem aktiven militärischen Wahlboykott, der die gegenwärtige Dynamik des sal­vadorianischen Prozesses nicht mehr entspräche und einer Quasi-Duldung von Wahlen unter für den Verhandlungsprozeß ungünstigen Bedingungen.
– Die ARENA hat ungleich günstigere Ausgangsbedingungen (immer noch weit­gehende Unterstützung der Streitkräfte und der Oligarchie; Medien­monopol; eventuell gespaltene Opposition; Unterstützung aus den USA). Möglich ist aber auch noch, daß die politischen Parteien die Wahlbeteiligung verweigern, weil es nicht zu einer Wahlrechtsreform kommt. Und schließlich wird auch noch mit der Möglichkeit spekuliert, daß es zu einem Wahlbetrug durch die ARENA kommt, der dann den Volksaufstand auslöst.

8. Der internationale wenn nicht sogar der entscheidende Faktor für den Durch­bruch bei den Verhandlungen ist die künftige Politik der US-Regierung. Verän­derungen sind im Gang. Zum einen spiegelt die Militärhilfe-Debatte die Er­kenntnis nicht nur der Politiker, sondern weiter Teile der interessierten öffentli­chen Meinung wieder, daß 10 Jahre lang in eine korrupte, erfolglose Mörder­bande investiert wurde. Zum anderen gibt es, wenn auch mit abnehmender re­aler Bedeutung, die diskreten Verhandlungen zwischen Washington und Mos­kau über eine Entschärfung des sogenannten Mittelamerika-Konfliktes. Die So­wjetregierung hat versucht, das US-amerikanische Argument, die Contra könnte nicht entwaffnet werden, solange sich die Sandinisten nicht zu politischen Zuge­ständnissen bereit erklärten, auf den salvadorianischen Fall zu wenden: wenn die FMLN, argumentiert sie, vor politischen Vereinbarungen die Waffen niederlegt, gibt es kein Druckmittel auf Regierung und Streitkräfte El Salvadors mehr. Es kam in zahlreichen diskreten Gesprächen zwischen den beiden Außenministern und den Lateinamerikabauftragten Aronson und Pavlov zu der Übereinkunft, daß die Sowjetregierung auf die Sandinisten Druck ausübt und die US-Regierung auf ihre Klientel in El Salvador.
Dies und die Opposition im Kongreß gegen eine fortgesetzte Militärhilfe haben immerhin dazu geführt, daß sich die Bush-Regierung ernsthafter um einen Kon­sens mit beiden Kongreß-Parteien bemüht und die Vermittlerrolle der Vereinten Nationen nicht sabotiert hat.
Die Schwäche der Sowjetunion freilich und die Existenz politischer Kräfte in den USA, die FSLN und FMLN liquidieren wollen, sind der Grund für die auch noch offene US-Option die FMLN und die politische Opposition analog zu dem Ver­fahren in Nicaragua an der Wahlurne zu schlagen, bzw. bei einer militärischen Zuspitzung in El Salvador direkt einzugreifen. Daraus wiederum resultiert die Notwendigkeit für die Befreiungskräfte El Salvadors, neben der Mobilisierung für den nationalen Konsens und dem militärischen Druck auch in den kommen­den Wahlkampf zu investieren. Wie es in einem Kommentar von Radio Vence­remos heißt: “Was also tun? Die Antwort lautet: Weiter kämpfen bis zur Beendi­gung der Straflosigkeit durch eine vollständige Entmilitarisierung der Ge­sellschaft. Wenn wir weiterkämpfen sagen, meinen wir alle Möglichkeiten des Kampfes. Die Straßen, den Wahlkampf, den Verhandlungstisch und den bewaff­neten Kampf, denn wir haben es nicht mit Parlamentariern zu tun, sondern mit einem mörderischen Heer, das nicht nur gegen die FMLN, sondern gegen die ganze Gesellschaft Krieg führt.”

9. Für die internationale Solidarität in Europa, in diesem super-eurozentristi­schen Europa, das gleichwohl den Fuß in der mittelamerikanischen Tür hält zur Unterstützung des Ober-Weltpolizisten, aber auch für den Fall wenn dessen Rolle übernommen werden kann, bedeutet dies: Die nächste Offensive der FMLN ist beschlossen.
Die nächsten Wahlen werden in jedem Fall stattfinden.
Die Friedensverhandlungen gehen weiter.
Es gilt dann, die vorhersehbaren negativen Auswirkungen der nächsten FMLN-Offensive politisch abzufangen; nicht zu fragen, ob es wohl eine neue FMLN-Of­fensive geben wird, sondern zu antworten, warum diese Offensive notwendig geworden ist, wer die Verhandlungen, nicht nur die am großen Verhandlungs­tisch, sondern überall in der salvadorianischen Gesellschaft, bei den Forderungen der Bauern und Landarbeiter, der Kriegsvertriebenen und RücksiedlerInnen, der Menschenrechtsorganisationen, der Oppositionsparteien blockiert.
Zweitens gilt es, sich auf Wahlen auf vermutlich ungünstigen Bedingungen für das Befreiungsprojekt einzustellen. Klar ist, daß wenn die Opposition antritt, eine Niederlage fatal für den ganzen Prozeß wäre. Die strategische Einheit von militä­rischer Aktion, Verhandlungsanstrengungen und Wahlkampf erfordert selbst­verständlich eine nachhaltige politische und materielle Unterstützung für die FMLN, die Massenorganisationen und die Demokratische Konvergenz.

Die Macht der Kaffeebarone

Die Kaffeekrise und ein Aufstand

Seit der Einführung des Kaffees Mitte des letzten Jahrhunderts wurden die Geschicke El Salvadors und v.a. seiner BewohnerInnen vom Kaffee bestimmt, präziser gesagt, von den Familien der Kaffeepflanzer. Die reiche Oberschicht eignete sich per Regierungsdekrete und simplen Betrug die Gemeindeländereien der indianischen Urbevölkerung an, auf deren fruchtbaren vulkanischen Böden Grundnahrungsmittel angebaut wurden.
Die Folgen der heute von IWF und Weltbank und den nordatlantischen Demokratien propagierten Einbindung der Peripherie in den Weltmarkt via ver­stärkten Exporten, hatten die SalvadorianerInnen bereits vor 60 Jahren zu spüren bekommen. Fielen die Preise für Kaffee – wie 1930 – so ließen die Kaffeepflanzer die Kaffeekirschen an den Sträuchern verfaulen, die SaisonarbeiterInnen hun­gerten. Als diese sich 1932 in einem Aufstand gegen die menschenunwürdigen Bedingungen wehrten, wurden sie massakriert; damals starben so 30.000 Menschen.
Nach der Niederschlagung des Aufstands nahm die Zahl der LandarbeiterInnen und der landlosen Bauern stetig zu; Mitte der 70er Jahre hatten über 80% der Landbevölkerung kein Land oder zuwenig, um davon leben zu können. Ihre Situation stand in scharfen Kontrast zu der starken Konzentration von Landbesitz in den Händen weniger Familien. 1961 besaßen 2,26% der kaffee­produzierenden Betriebe 43,9% der gesamten Kaffeefläche und erzeugten über die Hälfte der Gesamternte. 1974 exportierten nur 14 Familien 63,2% der gesamten Produktion.

Der Militärputsch von 1979

Nach dem Putsch gegen General Romero am 15. Oktober 1979 stellte die erste Regierungsjunta verschiedene Reformpläne zusammen, die die Macht der Groß­grundbesitzer und besonders der Kaffeeoligarchie beschneiden sollten. Vor allem unter dem Druck der starken Volksbewegung wurde öffentlich über eine Agrar­reform gesprochen. Die Repression und Massaker der Sicherheitskräfte und der paramilitärischen Gruppen der Kaffeepflanzer gegen die organisierte Bevölke­rung und der Unmöglichkeit, diesem Treiben durch eine reformistische Regie­rung ein Ende zu setzen, führte im Dezember 1979 zum Austritt sämtlicher zivi­ler Mitglieder der Junta, mit Ausnahme der Christdemokraten. Das übriggeblie­bene Rumpfkabinett aus Militärs und Christdemokraten sah v.a. zwei Notwen­digkeiten: Zum einen sollte mittels Reformen und Repression ein Keil in die Volksbewegung getrieben werden oder, wie es ein christdemokratischer Regie­rungsfunktionär, der ungenannt bleiben wollte, 1985 ausdrückte: “Da gab es das US-Projekt der Aufstandsbekämpfung, in dem diese Reformen [Agrarreform und Verstaatlichung des Außenhandels] wichtige Bestandteile waren. Die riesige zukünftige US-amerikanische Finanzhilfe machte es notwendig, rein formal eine Regierung zu präsentieren, die bemüht ist, Reformen zur Umverteilung des Reichtums durchzuführen…”. Zum anderen mußten die Deviseneinahmen für die Regierung gesichert werden, um die Stabilität im Sinne der Junta zu erhalten. Und die wichtigste Devisenquelle des Landes war auch 1979 der Kaffee; sein Export machte 63,7% der Gesamtexporte des Landes aus.

Verstaatlichung des Kaffeexports und Agrarreform

Am 2. Januar 1980 gründete die Junta durch das Dekret 75 das “Nationale Kaffee­institut”, INCAFE, und verstaatlichte den Außenhandel. Sie sicherte sich damit die Kontrolle über die Devisen des weitaus wichtigsten Produktes des Landes.
Am 6. März 1980 verkündete die Regierung inmitten einer brutalen Repres­sionswelle gegen die Volksbewegung die Agrarreform. Die zur Enteignung vor­gesehenen Ländereien über 500 ha wurden militärisch besetzt, und Hunderte von organisierten LandarbeiterInnen und PächterInnen wurden ermordet oder vertrieben. Die ersten beiden Phasen der Agrarreform betrafen in unterschiedli­cher Weise die Kaffeeoligarchie: In der Phase I wurde die Enteignung von Gütern über 500 ha festgelegt. Die Entschädigung der alten Besitzer wurde den neuge­gründeten Kooperativen aufgebürdet. Noch nach der Feststellung des Wertes wurde von den ehemaligen Besitzern zwischen 25% und 40% aller landwirt­schaftlichen Maschinen, das Saatgut, Dünger und Pestizide von den enteigneten Fincas fortgeschafft, 30% des gesamten Viehbestandes wurde geschlachtet. 45% der in der Phase I enteigneten Landes war für landwirtschaftliche Produktion nicht geeignet, ein Großteil des verbleibenden Landes war von schlechter Quali­tät. Die Phase I betraf die großen Kaffeeproduzenten nur zu einem geringen Teil, da vergleichsweise wenige Kaffeeplantagen eine Größe über 500 ha aufwiesen. Der Großteil der Flächen, auf denen Kaffeeverarbeitungsanlagen (im folgenden: “Beneficios”) installiert waren, wurden in Zusammenarbeit von Grundbesitzern und Regierung als “städtische Gebiete” deklariert und fielen somit nicht mehr unter das Agrarreformgesetz. Von den bis 1981 enteigneten 311 Fincas wurden insgesamt 99 kaffeeproduzierende Betriebe mit einem Anteil von 12 bis 14% der gesamten Kaffeeanbaufläche an die Kooperativen übergeben. 17,7% der in der Phase I enteigneten Ländereien waren im Besitz der 36 wichtigsten Kaffeeprodu­zenten gewesen, aber davon waren nur 2,9% Kaffeefincas. Die meisten Kaffee­fincas, die sich auf den fruchtbarsten Böden des Landes befinden – im Gegensatz zu den Flächen der Phase I, auf denen vielfach extensive Weidewirtschaft betrie­ben wurde – wiesen eine Größe unter 500 ha auf und sollten ursprünglich in der Phase II betroffen werden. Die in dieser Phase vorgesehene Enteignung der Güter zwischen 100 und 500 ha fand nie statt. Der Artikel 105 der neuen Verfas­sung (Präsident der Verfassunggebenden Versammlung war ARENA-Gründer Roberto D’Abuisson) von 1983 reduzierte die zu enteignenden Güter auf Betriebe zwischen 100 ha und 245 ha. Zudem sah die Verfassung drei Jahre bis zur Ent­eignung vor, in denen die über 245 ha hinausgehenden Flächen auf die Fami­lienmitglieder umgeschrieben werden konnten. Trotz vollmundiger Bekundun­gen der christdemokratischen Regierung ab 1984 wurde aber selbst diese einge­schränkte Phase II nicht mehr umgesetzt.

Kooperativen ausgetrickst

Durch die Enteignung von Kaffeeplantagen im Zuge der Agrarreform übernahm das neugegründete INCAFE insgesamt 16 Beneficios, die sich auf den entspre­chenden Gütern befanden. Dabei wurde per Gesetz festgelegt, daß nach späte­stens drei Jahren die Anlagen in die Hand der Kooperativen übergehen oder aber in Form von gemischten Gesellschaften, in denen INCAFE 25% der Anteile behält, betrieben werden. Nach dieser Übergangszeit stellte sich bei den Benefi­cios folgendes Panorama dar: Vier Anlagen gehörten INCAFE, sechs wurden von Kooperativen betrieben, fünf von staatlich-privaten Unternehmen, und über fünf weitere behielt INCAFE die Kontrolle.
1980/81, zu Zeiten des Aufschwungs der Volksbewegung bzw. dem Beginn des bewaffneten Befreiungskampfes durch die FMLN, brauchte die salvadorianische Regierung Geld, um zusammen mit der US-Hilfe das Aufstandsbekämpfungs­programm zu finanzieren. Die Verstaatlichung des Außenhandels, die Gründung von INCAFE und die Übernahme der 16 Beneficios ermöglichten, daß sich die Regierung in den Besitz der dringend benötigten Devisen brachte; durch Exporte, Verarbeitung und Ankauf/Verkauf des wichtigsten Exportgutes des Landes: Kaffee.

Der “El Salvador-Deal” – Rothfos KG Hamburg und die Aufstandsbekämpfung

In diese Zeit fällt auch der erste “El Salvador-Deal” des größten Abnehmers von Kaffee aus El Salvador, der Bernhard Rothfos KG Hamburg: Obwohl nach dem damaligen Internationalen Kaffeeabkommen (ICA) der Kaffee nur entsprechend der festgelegten Quartalsquoten exportiert werden konnte, wurde bei El Salvador eine Ausnahme gemacht: Das Land durfte bereits kurz nach der Ernte seine gesamte Exportmenge in den Freihäfen von Amsterdam, New York und Ham­burg einlagern. 50% der Ernte gingen nach Hamburg, gemanagt von Rothfos. Damit war der Kaffee krisen- und sabotagesicher ausgelagert und El Salvador erhielt 60% des geltenden Weltmarktpreises bereits im Voraus gezahlt. Wichtige Devisen für den Krieg.

Veränderungen durch INCAFE

Einer der Kritikpunkte, mit denen die Verstaatlichung der Kaffeevermarktung begründet wurde, setzte sich auch danach fort und entwickelte sich zu einer lukrativen Auslandskasse für die Regierung: Die Zurückbehaltung von Devisen aus Exporterlösen im Ausland. Machte dieser Anteil 1979 noch 16,7% der gesamten durch die Kaffeeausfuhr erzielten Devisen aus, so stieg er 1980 auf 36,6% an. Erst ab 1982 nahm diese Praxis etwas ab. Zwei weitere Maßnahmen sollten dafür sorgen, daß neben den Steuereinnahmen aus dem Export der Staat zusätzliche Einnahmen erzielte: So wurden die Kosten für die Verarbeitung von 500 Pfund Rohkaffee zu exportfähigem Kaffee von INCAFE festgelegt und stie­gen von 28,29 im Jahr 1979 auf 50 Colones 1980/81 an.
Von 1980 bis 86 strich der Staat Sondereinnahmen v.a. durch seine Wechselkurs­politik ein. Während ein Quintal Kaffee auf dem Weltmarkt 141 US-$ erzielte waren dies nach dem offizellen Wechselkurs von 325,6 Colones, aber nach dem (legalisierten) Parallelkurs 564 Colones. Den Erzeugern wurde jedoch lediglich 180 Colones ausbezahlt. Durch die offizielle Abwertung der Währung Anfang 1986 wurden diese Extraeinnahmen des Staates in ihrem Ausmaß reduziert.

Die Kaffeeoligarchie und die Verstaatlichung

Die Proteste und der Widerstand der Kaffeepflanzer und deren Verbände wie ASCAFE und ABECAFE, gegen die Einmischung des Staates in den Kaffeesektor, waren von Beginn an sehr hartnäckig. Sie machten INCAFE verantwortlich für den Rückgang der Produktion seit 1980 und den damit verbundenen gesunkenen Exporten. Obwohl sie weiterhin, selbst bei den gesunkenen Preisen Gewinne erwirtschafteten, wenn auch geringere als vor 1980, forderten sie Auflösung von INCAFE und die Liberalisierung des Außenhandels. Zwar sank seit 1979 die Produktion von Kaffee, wie auch die Flächenerträge, aber dies ist nicht allein auf INCAFE zurückzuführen. Die wichtigsten Gründe für den Rückgang der Produktion waren u.a. der Krieg, gestiegene Produktionskosten, die Zunahme von Krankheiten und Schädlingen, ohne daß adäquate Behandlungen vorge­nommen wurden. 1984 waren 47% der gesamten Anbaufläche von Kaffee ganz oder teilweise verlassen worden, von denen wiederum 98,5% dem Privatsektor und nur 1,5% dem reformierten Sektor angehörten.
Die Macht der Kaffeeoligarchie war und ist jedoch auch nach den von ihr so heftig bekämpften Reformen keineswegs auch nur annäherungsweise angerührt worden. Verschiedene Mechanismen haben dazu beigetragen, daß sie die Einbu­ßen, die sie durch die Nationalisierung des Außenhandels mit Kaffee hinnehmen mußten, reichlich überkompensieren konnten. Die um 15% gesenkten Erzeuger­preise bei gleichem Weltmarktpreisniveau, die theoretisch auch die Kaffeebarone trafen, konnten diese – da zugleich Besitzer der meisten Beneficios – durch billi­gen Ankauf von Kaffee zur Verarbeitung wettmachen. Gleichzeitig profitierten sie von der Erhöhung der Verarbeitungsspanne in den Beneficios um fast 100%. Sogar in einer Studie der US-“Entwicklungshilfe”-Agentur AID von 1984 wird vermutet, daß die Mehrzahl der kleineren und mittleren Verluste erwirtschaftet: “Die Fincas größer als 14 ha, die nur 5% aller Produzenten ausmachen, erzeugen ca. 81% der gesamten Kaffeeproduktion, Damit scheint der Schluß erlaubt, daß sie die produktivsten Betriebe sind. Das heißt auch, daß z.Zt. 95% aller Betriebe, die weniger als 14 ha besitzen, Verluste erwirtschaften.”

Der Reformprozeß – eine Legende

Waren die Veränderungen der Preise für Verarbeitung und Aufkauf von Kaffee dazu gedacht (und erreichten dies auch anfänglich), dem Staat durch seine Betei­ligung an der Verarbeitung des Kaffees zusätzliche Einnahmen zu verschaffen, wurden diese Maßnahmen von von den großen Kaffeepflanzern bald umgangen. Die überwiegende Mehrzahl der Beneficios, 101 von 121, befinden sich nach wie vor in der Hand der Kaffeepflanzer, die damit den Verarbeitungsprozeß nahezu vollständig kontrollieren. Die extreme Konzentration des Bodenbesitzes und der Einkommen in El Salvador spiegelt sich auch bei den Beneficios. So besitzen nur 48 Personen oder Privatunternehmen 60 Beneficios mit einer Verarbeitungskapa­zität von 83% des Landes. Die sechs Beneficios, über die die Kooperativen verfü­gen, machen dagegen weniger als 5% der landesweiten Kapazität aus. Hinzu kommt, daß die Beneficios des reformierten Sektors i.d.R. nur Kaffee ihrer Kooperativen verarbeiten können und dadurch noch erheblich unter der Kapa­zitätsauslastung und damit unrentabel arbeiten.
INCAFE verarbeitete 1984 3,8% der gesamten Kaffeeproduktion. 1985 war das Beneficio “Santa Ana” kurz vor dem Schließen, weil es über keinen Rohkaffee mehr verfügte. 1987 verarbeitete das Beneficio “Chalchuapa” mit 800 bis 900 Quintales pro Tag, obwohl die Anlage auf 20.000 pro Tag ausgelegt ist. Ursache war und ist v.a. der systematische Boykott der Zulieferung von Kaffee durch die privaten Kaffeepflanzer. Zum einen versuchten sie damit, die Regierung unter Druck zu setzen, sich aus der Kaffeevermarktung zurückzuziehen und INCAFE aufzulösen. Zum anderen richtete sich der Boykott dagegen, daß in allen INCAFE-Beneficios die Belegschaft gewerkschaftlich organisiert ist (SICAFE, Gewerkschaft der KaffeeindustriearbeiterInnen).
1987 kontrollierten 6,77% der Kaffeepflanzer 90% der gesamten Kaffeeproduk­tion; nur 10 Unternehmen verarbeiteten 1985 nahezu 69% der gesamten Produk­tion. Allein aus diesen Zahlen wird deutlich, daß die Macht der alten und neuen Oligarchie trotz Verstaatlichung und Agrarreform nach wie vor unangetastet geblieben ist. Im Gegenteil, die Kaffeebarone konnten ihre dominierende Stellung auf dem Gebiet der Verarbeitung sogar noch ausbauen.
Daß die Wirtschaft des Landes auch in den 80er Jahren noch auf die Bedürfnisse der Oligarchie zugeschnitten wird, zeigt auch das Kreditsystem: 1987 waren 76% aller landwirtschaftlichen Kredite für den Kaffeesektor bestimmt, 1979 waren es noch 51% und 1984 bereits 65% gewesen.
Es wurde zu keiner Zeit ernsthaft der Versuch unternommen, tiefgreifende Veränderungen in der Besitzstruktur des Kaffeeanbaus und seiner verarbeitung durchzuführen. Der einzige Wandel bestand darin, daß INCAFE die Exporte kontrollierte und der Staat seine Einnahmen über Steuern, Preisfestlegungen und Wechselkurspolitik erhöhte. Diese zusätzlichen Einkünfte standen jedoch keineswegs für das Wohl der breiten Bevölkerung zur Verfügung, sondern wurden in das mörderische Projekt der Aufstandsbekämpfung investiert.

Die Kaffeebarone an der politischen Macht

Durch die Machtübernahme des politischen Arms der Kaffeepflanzer, die ARENA-Partei, 1989 unter dem Präsidenten und Kaffeemillionär Cristiani-Burk­hard, ist die Kaffeeoligarchie dem Ziel der Wiederherstellung der alten Macht­verhältnisse auf dem Kaffeesektor bedeutend näher gekommen. Gemäß der wirtschaftsliberalen Vorstellungen beflügeln einzig Privatunternehmen und Privatisierung die Wirtschaft eines Landes. Ein Konzept, das mit verheerenden Folgen für die Bevölkerung in ganz Lateinamerika angewandt wird. Im Einklang mit diesen Ideen forcierte die Cristiani-Regierung die Privatisierung von ehemals staatlichen Institutionen. Im August 1989 erklärte der von ARENA dominierte Oberste Gerichtshof das Kaffeevermarktungsmonopol von INCAFE für verfas­sungswidrig. Danach wurde durch Gesetz beschlossen, daß INCAFE zwar weiterarbeiten kann, allerdings “zu gleichen Bedingungen wie die Privatunter­nehmer.” Im Klartext bedeutet dies, daß man zu den Zeiten vor INCAFE zurück­kehren will, wo die damalige “Compañía Salvadoreña de Café” diejenigen Kosten und Risiken übernommen hatte, die die privaten Verarbeiter und Exporteure nicht zu tragen bereit waren. Die ersten “Erfolge” dieser Liberalisierung sind bereits erkennbar: Zwei Beneficios von INCAFE, in denen die Belegschaft gewerkschaftlich organisiert ist, wurden von der Zufuhr jeglichen Rohkaffees abgeschnitten.

Die Oligarchie und der Verfall der Weltmarktpreise

Seit dem Zusammenbruch des Internationalen Kaffeeabkommens 1989 sinken die Weltmarktpreise für Kaffee dramatisch: Die Preise stürzten im ersten Halbjahr 1990 auf 85 US-$ (1988 = 130 US-$), worauf die Vereinigung der Kaffeepflanzer ASCAFE und die Vereinigung der Verarbeiter und Exporteure ABECAFE mit der Aussetzung ihrer Verkäufe reagierten. Das ökonomische Modell der ARENA-Regierung, wonach der Kaffeesektor die führende Rolle bei der Gesundung der Volkswirtschaft spielen sollte, wird dadurch – zusätzlich zur ungelösten Kriegs­situation – zusehends fragwürdig. Von der Situation werden auf jeden Fall erneut die Kaffeebarone profitieren: Niedrige Weltmarktpreise haben sie schon immer auf die ArbeiterInnen bei Ernte und Verarbeitung sowie auf die Kleinproduzen­ten abgewälzt. Das finanzielle Polster der “Cafetaleros” ist groß genug, um eine Erntesaison auszusetzen, die Kaffeebohnen an den Sträuchern verfaulen zu lassen und die ohnehin schon miserablen Löhne weiter zu kürzen oder gar nichts mehr zu zahlen.
Aber es gibt einen Unterschied zur Situation von 1930-32: Der Krieg gegen die Befreiungsbewegung FMLN und die organisierte Bevölkerung kostet Geld. Steuern und Deviseneinnahmen sind nötig, denn nicht alles wird von den USA bezahlt, trotz der täglichen 1,5 Mio US-$, die aus Washington in die Kriegskasse fließen. In den letzten Jahren kamen noch immer 64% aller Deviseneinnahmen und 15% der Steuereinnahmen des Staates aus dem Export der blutigen Kaffee­bohne…

Professionalität statt Politisierung

Die Präsidentschaft Perus ist gegenwärtig wohl eines der denkbar undankbarsten politischen Ämter überhaupt. Alberto Fujimori übernimmt von seinem Vorgän­ger Alan García ein Land, das sich in der schwersten Wirtschaftskrise seiner Ge­schichte befindet. Allein im Mai lag die Inflation bei 32,8%. Die jährliche Inflati­onsrate erreicht 3000%. Nachdem García zu Anfang seiner Regierungszeit auf Konfrontationskurs zu IWF und Weltbank gegangen war, ist die Kreditwürdig­keit des Landes auf den Nullpunkt gesunken. Währungsreserven sind fast nicht mehr vorhanden. Neben einer Strategie gegen die Wirtschaftskrise muß der neue Präsident außerdem eine Politik zum Umgang mit Sendero Luminoso entwic­keln.

Gegen die Arroganz der weißen Oberschicht

Erste Wahlanalysen zeigen, daß Fujimori seinen Sieg zu einem großen Teil der Radikalität seines Gegenkandidaten zu verdanken hat. Mario Vargas Llosa hatte in seinem Wahlkampf Schockmaßnahmen angekündigt. Die Wirtschaftskrise sollte mit einem Programm à la Collor beigelegt werden, und gegen Sendero stand der totale Krieg im Programm des Schriftstellers. Gegenüber dem super-neoliberalen Vargas Llosa konnte Fujimori sich als Kandidat der Mitte profilie­ren, der den Menschen einen Ausweg mit geringeren Opfern versprach. Die Notwendigkeit von wirtschaftlichen Anpassungsprogrammen wurde nie von ihm bestritten, aber Fujimoris Diskurs war moderater: nicht alle Staatsbetriebe sollten privatisiert werden. Die Reallöhne sollten nicht weiter sinken. Ein “mittlerer Weg” der Anpassung an die ökonomischen Notwendigkeiten sei mög­lich. Darüberhinaus zeigt das Wahlergebnis aber auch die wachsende Polarisie­rung in der peruanischen Bevölkerung. Vargas Llosa war der Kandidat der städ­tischen weißen Oberschicht, für den die Welt der Mestizen und der indianischen Bevölkerung Perus völlig fremd ist. Die Wahl wurde so auch zu einer Protest­wahl der Nicht-Weißen und damit vor allem der sozial Benachteiligten gegen die Arroganz der hauptstädtischen Oberschicht. Auch wenn Fujimori als Sohn von japanischen Einwanderern und Professor an einer Landwirt­schafts­uni­ver­si­tät in Lima nicht viel mehr mit ihnen gemeinsam hat, blieb doch die Tatsache des Nicht-Weißseins, die ihn für sehr viele Menschen zum kleineren Übel machte. Nicht zufällig hat Vargas Llosa die Wahl vor allem auf dem Land verloren, nur in den Städten und vor allem in Lima konnte er rela­tiv besser abschneiden.

Wo bleibt Fujimoris Programm?

Durch sein Programm hat Fujimori kaum die Wahl gewinnen können, denn die­ses zeichnet sich durch Nebulosität aus. Schwerpunkt seiner Wirtschaftspolitik, soweit sie bisher bekannt ist, bildet die Wiederherstellung der Kreditwürdigkeit Perus. Das Land soll wieder Teil des internationalen Finanzsystems werden. Das heißt nichts anderes, als daß eine Übereinkunft mit den Washingtoner Weltwirt­schaftswächtern in IWF und Weltbank gefunden werden muß, um ein Finanzie­rungsmodell für die peruanischen Auslandsschulden in Höhe von rund 20 Mrd. US-$ zu finden. Darauf aufbauend braucht Fujimori den guten Willen potentiel­ler Geldgeber für neue Kredite. Für die geplante “Unterstützergruppe” sind – welche Überraschung – die USA, Japan und die EG als Mitglieder vorgesehen. Noch vor der für den 28. Juli vorgesehenen Übergabe der Präsidentschaft von García, versuchte Fujimori in den vergangenen Wochen bei einer Reise in die USA und nach Japan, die Perspektiven für eine Wiederaufnahme von Kredit­zahlungen an Peru auszuloten. Der Plan zur Stabilisierung der peruanischen Wirtschaft, den er den IWF und Weltbank-Managern vorstellte, sieht u.a. eine 300%ige Erhöhung der Staatseinkünfte aus Steuern, Gebühren für öffentliche Leistungen und Zolleinnahmen vor. Außerdem soll eine neue Währung einge­führt werden mit einem einheitlichen Umtauschkurs. Etwa 250 Staatsbetriebe sollen privatisiert werden. Die zur Sicherung grundlegender öffentlicher Lei­stungen nötigen Staatsbetriebe sollen von der Privatisierung ausgenommen wer­den, allerdings sollen die Preise dieser Leistungen solange steigen, bis die Be­triebe rentabel arbeiten. Fujimori will damit einen ersten Überbrückungskredit erreichen, um die akkumulierten Zahlungsrückstände bei multilateralen Geldge­bern zu begleichen, die etwa bei 1,5 Mrd. US-$ liegen. Er braucht das IWF/Weltbank-Gütesiegel, ohne das er die wichtigsten Industrieländer nicht zum Engagement in einer wie auch immer gearteten Unterstützungsgruppe wird bewegen können. Bisher halten sich die anvisierten Geldgeber allerdings bedeckt. Nachdem in Peru viel über die besonderen Beziehungen Fujimoris zu Japan spe­kuliert worden war, wurde dort eilig klargestellt, daß ein japanischstämmiger peruanischer Präsident noch keinen Anlaß für ein verstärktes finanzielles Enga­gement Japans darstelle.
Es wird vorläufig Fujimoris Geheimnis bleiben, wie er die Bedingungen der Washingtoner Institutionen mit dem Anspruch vereinbaren will, die Schulden­zahlungen an der realen Zahlungsfähigkeit Perus zu orientieren und keine rezes­sive Tendenz zuzulassen, die seinen Plan zur Schaffung beständigen Wirt­schaftswachstums beeinträchtigen könnte. So jedenfalls beschreibt sein Berater Santiago Roca, der als kommender Wirtschaftsminister gehandelt wird, die Leit­linien der zukünftigen Politik. Die Vermutung liegt nahe, daß das “bolivianische Modell” beim Design der wirtschaftspolitischen Strategie Pate steht. In einer ähnlichen durch Hyperinflation und drohendem Zusammenbruch der Wirtschaft gekennzeichneten Situation hatte seit 1985 die Regierung Paz Estenssoro durch ein radikales Liberalisierungsprogramm eine relative Stabilisierung der bolivia­nischen Wirtschaft erreicht. In Bolivien war dies allerdings mit erheblichen so­zialen Kosten verbunden. Massenentlassungen und die Stabilisierung der Preise auf einem hohen Niveau waren die für die BolivianerInnen schmerzhaft spürba­ren Folgen. Fujimori ist mit dem Versprechen angetreten, gerade diese sozialen Folgen in Grenzen zu halten, die von seinem Gegenspieler Vargas Llosa als un­vermeidlich vorausgesetzt worden waren. Wird ein Mittelweg unter den Kondi­tionen von IWF und Weltbank möglich sein?

Der Präsident ohne Mehrheit

Ein weiteres Problem für Fujimori wird sein, sich die notwendigen Mehrheiten für seine Politik im Parlament zu beschaffen. Seine “Partei” Cambio 90, eigentlich mehr ein eigens für seine Kandidatur gegründeter Wahlverein, ist hinter der FREDEMO Vargas Llosas und der bisherigen Regierungspartei APRA nur die drittstärkste politische Kraft. Er wird Koalitionspartner suchen müssen.
Nach seinem Wahlerfolg proklamierte er eine “Regierung der nationalen Einheit”, eine aus anderen lateinamerikanischen Ländern nicht unbekannte Forderung von gerade gewählten Präsidenten, denen die notwendige parlamentarische Mehrheit fehlt. Fujimori wird möglicherweise vom Zerfall der FREDEMO profitieren. Das “Movimiento Libertad” Vargas Llosas hat das Bündnis bereits aufgekündigt und will als “Liberale Partei” zur selbstständigen politischen Kraft in enger Allianz mit den Unternehmerverbänden werden. Diese ihrerseits verhalten sich abwar­tend. Unternehmerpräsident Jorge Camet: “Wir müssen erst einmal Fujimoris Regierungsprogramm kennenlernen”. Von den bis jetzt in der FREDEMO organi­sierten traditionellen, konservativen Parteien macht die AP (Alianza Popular) Fujimori bereits Avancen. Auch die APRA, die den Sieg Fujimoris als “Niederlage der Rechten und Ablehnung monetaristischer Wirtschaftsstrategien” feierte, würde gerne einen Teil ihrer Macht über ein Bündnis mit Cambio 90 be­halten. Hier aber bewegt sich Fujimori auf Glatteis, denn im Wahlkampf war ei­ner der beherrschenden Vorwürfe gegen ihn, versteckter Aprist zu sein. Ange­sichts der Diskreditierung der APRA in der öffentlichen Meinung nach dem Scheitern ihres Präsidenten García könnte er ein Zusammengehen mit der ge­scheiterten Ex-Regierungspartei nur schwer rechtfertigen.
Sogar der Führer der Guerillabewegung MRTA, Victor Polay, bot Fujimori aus dem Gefängnis einen Waffenstillstand an, um, verknüpft mit Bedingungen, einer anderen Politik eine Chance zu geben. Auf die Reaktion Fujimoris darf man ge­spannt sein, denn Polay ist vor kurzem zusammen mit mindestens 40 Militanten des MRTA aus dem Hochsicherheitsgefängnis in Lima ausgebrochen und kann wieder aus dem Untergrund politisch aktiv werden, wenn er nicht wieder aufge­griffen wird.
Wie immer ein zukünftiges parlamentarisches Bündnis aussehen mag, die soziale Basis der Macht Fujimoris besteht in den WählerInnen, die ein Ende des rapiden Verfalls der Reallöhne und eine allgemeine Stabilisierung erwarten. Diese Er­wartungen nicht zu enttäuschen, wird ihm schwerfallen.

Der Krieg wird ausgeblendet

Für die Auseinandersetzung mit Sendero Luminoso scheint Fujimori bislang nicht die Spur eines Konzeptes zu haben. Es ist nicht ersichtlich, daß er der unge­bremsten und doch in der Bekämpfung Senderos weitgehend erfolglosen Repres­sion durch das Militär ein anderes Konzept entgegenzusetzen hat, das den Ursa­chen für die Existenz und Stärke Senderos Rechnung tragen würde. Seine bishe­rigen Äußerungen lassen nicht darauf schließen. Befragt nach seiner Haltung zu den Streitkräften und nach der Gefahr eines Putsches antwortete er, die Vorstel­lung eines Putsches sei ein psychologischer Trick seiner Gegner im Wahlkampf gewesen, und: “Unsere Streitkräfte haben genügend Reife erlangt und sind die besten Verteidiger unserer Verfassung!” Bei Fortsetzung der vom Militär prakti­zierten Form der “Verteidigung der Verfassung” werden die Gründe für die Exi­stenz Sendero Luminosos und für die in bestimmten Teilen der Bevölkerung vorhandenen Sympathien für Sendero nicht an Stichhaltigkeit verlieren.

Nur minimale Chancen auf Erfolg

Der Erfolg der Regierung Fujimori wird von Faktoren abhängen, die weitgehend außerhalb seiner politischen Entscheidungsmöglichkeiten liegen. Fujimori kann nur auf ein Einsehen der potentiellen Kreditgeber in die mehr als schwierige ökonomische Lage Perus hoffen, aber IWF, Weltbank und die führenden Indu­strieländer haben keinen Grund, Peru Sonderkonditionen einzuräumen, die über die in so vielen Ländern der Peripherie angewandten Strukturanpassungsmaß­nahmen mit allen sozialen Folgekosten hinausgehen. Die Hoffnung der Peruane­rInnen auf eine bessere wirtschaftliche Situation werden enttäuscht werden müs­sen, denn ohne ein Abwälzen der Kosten solcher Programme auf den Lebens­standard der Bevölkerung ist unter den gegebenen internationalen Rahmenbe­dingungen Stabilisierung nicht zu haben. Es ist eine offene Frage, in welcher Form sich der Protest der Bevölkerung äußern wird, ob es zu einem Anwachsen der Unterstützung für die verschiedenen Guerillas kommen wird, ob Gewerk­schaften und soziale Bewegungen zu einer neuen Stärke finden können, oder ob, wie in Bolivien, mangels politischer Alternative eine relative politische Stabilität erreicht werden kann. Da ein Ende des Krieges zwischen Militär und Guerillas nicht abzusehen ist, scheint Letzteres unwahrscheinlich. Eher zu erwarten ist vielmehr eine verschärfte Polarisierung, die das Militär tatsächlich zum Putsch bewegen könnte, sobald das Scheitern Fujmoris offensichtlich wird. Eine “Regierung der nationalen Einheit”, selbst wenn Fujimori ihre Formierung aus verschiedenen politischen Kräften gelingen sollte, wird eine Einheit nur auf Re­gierungsebene darstellen. Die gesellschaftlichen Konfliktlinien verlaufen anders, sie haben im Parteienspektrum schon lang keine adäquate Entsprechung mehr. Technokratisches Wirtschaftsmanagement à la Fujimori ohne Angehen der Pro­bleme extremer Ungleichheit und rassisch bedingter Unterdrückung wird in Peru nicht den Ausweg aus der Krise weisen können.

Demokratie – Anmerkungen zur Geschichte eines Kampfbegriffes

Antike Aufladung

Die ersten systematischen und in der Ideengeschichte folgenreichsten Überle­gungen zum “Wesen der Demokratie” – so die antike Fragestellung – hat zwei­felsohne Aristoteles angestellt. Bei Aristoteles finden sich mehrere Versuche diese Frage zu lösen; der schlüssigste geht von der Fragestellung aus, daß es trotz viel­fältiger Erscheinungsformen im Grunde nur zwei Verfassungen gibt: Demokratie und Oligarchie. Denn die Bürgerschaft besteht zwar aus verschiedenen Teilen, aber diese Teile sind austauschbar: Ein Bauer kann auch Krieger sein und umge­kehrt, aber ein Armer kann nicht zugleich reich sein. Die grundlegende Unter­scheidung in einem Gemeinwesen ist also die zwischen Armen und Reichen. Ari­stoteles definiert nun Demokratie als Herrschaft der Vielen und Armen (Oligarchie demnach als Herrschaft der Wenigen und Reichen). Bei der Diskus­sion der Frage welches dieser beiden Kriterien, Zahl oder Vermögen, ausschlag­gebend ist, entscheidet sich Aristoteles für das Kriterium Vermögen. In der Pra­xis, so meint Aristoteles, spiele das zwar keine Rolle, denn die Vielen sind auch die Armen, aber systematisch ist es für ihn wichtig: Demokratie ist Herrschaft der Armen. Und mit Herrschaft meint Aristoteles tatsächlich die Ausübung von Herrschaft, nicht deren Regulierung.
Wahlen sind für Aristoteles ein aristokratisches Mittel, weil sie zwangsweise zur Auswahl der “Besten” führen. Das genuin demokratische Mittel ist das Los. In ei­ner Demokratie werden Ämter verlost.
Es ist klar, daß mit einem solchen Konzept der Demokratie kein Staat zu machen war (unter gegebenen Machtverhältnissen!), Aristoteles war natürlich ein Anti­demokrat, wie praktisch die gesamte griechische Elite antidemokratisch war. (Bei den Überlegungen Aristoteles sollte man/frau natürlich nicht vergessen, daß er nur über Frei-Bürger redet: Sklaven und Frauen – die Mehrheit der Bevölkerung also – sind von vornherein ausgeschlossen.)

Moderne Entlastungen

Für die gesamte Folgezeit, das Mittelalter und die frühe Neuzeit, war die antike Erfahrung und Theorie der Ausgangspunkt, wenn über Demokratie geredet wurde. Und es war ein negativer Ausgangspunkt. Die Demokratie wurde allge­mein als unmöglich verworfen, sie sei allenfalls in kleinen Stadtstaaten möglich, in denen sich die Bürger in Vollversammlungen treffen können. Demokratie war bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts ein durchweg negativ besetzter Begriff, De­mokrat ein Schimpfwort. Das lag aber auch daran, daß man/frau unter Demo­kratie in antiker Tradition die unmittelbare Herrschaftsausübung durch das Volk verstand. Charakteristisch sind einige Äußerungen Rousseaus, der im Grunde der Demokratie positiver gegenüberstand als die herrschende Meinung seiner Zeit:
“Die Wörter tun nichts zur Sache, wenn das Volk Oberhäupter hat, die für es re­gieren, ist es immer eine Aristokratie, welche Namen die Oberhäupter auch tra­gen.”
Daher:
“Wenn es ein Volk von Göttern gäbe, würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung paßt für Menschen nicht.”
Die Idee der Demokratie drohte an solchen Vollkommenheitsansprüchen zu scheitern. Die Rettung kam aus England. Etwa zur gleichen Zeit wie Rousseau jene Sätze geschrieben hat, taucht in England der Begriff der “repräsentativen Demokratie” auf, das heißt der Demokratie via Parlament. Diese Vorstellung von Demokratie hat einen beispiellosen, wenn auch schwierigen Siegeszug angetre­ten. Herzstück der Demokratie sind die freien, gleichen und allgemeinen Wahlen.
Ideengeschichtlich bedeutet das ein großes Umdeutungsmanöver. In einer “repräsentativen Demokratie” herrscht das Volk nicht, es wird beherrscht, wenn auch von gewählten Herrschern. Aristoteles und Jahrhunderte nacharistoteli­scher Tradition hätten eine solche Herrschaft als Aristokratie mit demokratischen Elementen bezeichnet. Die Idee der Demokratie tritt ihren Siegeszug an, nach­dem sie von weitreichenden Implikationen entlastet worden ist. Gegen alle Be­schönigungen haben die Elitetheoretiker dies auf den Begriff gebracht. Die Ver­treter des Elitedenkens, geschichtlich immer die schärfsten Kritiker der Demo­kratie, wurden in diesem Jahrhundert im angelsächsischen Bereich die herr­schenden Theoretiker der Demokratie.
Schumpeter hat 1942 vielleicht das einflußreichste Buch über Demokratie ge­schrieben. Dessen entscheidende Thesen sind:
1.Es regiert nicht das Volk, sondern die vom Volk gebilligte Regierung
2.Die Demokratie ist die Herrschaft des Politikers
3.Die Demokratie ist eine Methode, die darauf abzielt, eine starke entschei­dungs- und durchsetzungsfähige Regierung hervorzubringen.
Damit ist nicht nur das Volk von der Last zu herrschen befreit, sondern auch die Idee der Demokratie von allen inhaltlichen Implikationen wie Gerechtigkeit, Freiheit, Solidarität. Sie ist zu einer Methode zur Auswahl der Elie degradiert.
Solche Demokratietheorien waren natürlich nicht konkurrenzlos. Eine wichtige prinzipielle und einflußreiche Gegenposition, die an die klassische Tradition an­knüpft, ist die sogenannte Identitätstheorie. Demokratie ist demnach die “Identität von Regierung und Volk”. Ihre bedeutendsten Vertreter waren Georg Lukasz und Carl Schmitt. Lukasz Hauptwerk “Geschichte und Klassenbewußt­sein” war aber nur als Rechtfertigung des Stalinismus zu lesen und Carl Schmitt, von dem die gerade zitierte Definition stammt, war Vordenker und Bejubeler des Nationalsozialismus.
Zum Siegeszug der Elitetheoretiker hat sicherlich beigetragen, daß sich der iden­titätstheoretische Einwand durch die historischen Erfahrungen von Faschismus und Stalinismus gründlich diskreditiert hatte. So wurde nach dem zweiten Welt­krieg der reduzierte Demokratiebegriff auch für eine ernüchterte Linke als “kleineres Übel” tragbar. Der in den 20iger Jahren von rechten und linjken Intel­lektuellen gegeißelte und verspottete Parlamentarismus war hoffähig geworden.
Aber die Elitetheorie entspricht auch nicht den demokratischen Sonntagsreden und Selbststilisierungen der Demokraten. Die vielleicht am häufigsten zitierte Kurzformel über Demokratie ist die sogenannte Gettysburg-Formel von Abra­ham Lincoln: “Gouvernment of the people, by the people, for the people” Dieser Satz wurde 1949 weltweit zur Diskussion gestellt. Ergebnis:
– Es gab keine antidemokratischen Antworten
– Aber viele Antworten ließen nur den ersten Teil gelten, die beiden anderen Bestimmungen wurden als problematisch angesehen.
Hier erreichen wir einen wichtigen Punkt für alle populären Demokratiediskus­sionen: Die demokratische Praxis im Parlamentarismus entspricht dem sachlich-zynischen Blick der Elitetheorie: Gleichzeitig ist aber der Begriff Demokratie em­phatisch aufgeladen, an die Demokratie werden normative Erwartungen ge­knüpft und in deren Verfassungen in der Regel auch formuliert. Diese unrettbare Verknüpfung im Begriff macht es so schwer, aus “Demokratisierung” ein Kon­zept zu entwickeln.

Vor- und Nachteile der Demokratie

In wichtigen Ländern Lateinamerikas (Brasilien und Chile) war die Demokrati­sierung kein Erfolg von Volkskämpfen gegen die Elite, sondern ein bewußtes Konzept (von Teilen) der militärisch-politischen und ökonomischen Elite. Ihr Verlauf ist dann allerdings nicht mehr so recht kontrolliert worden. Dies wider­spricht der gängigen Annahme, die Demokratisierung sei der Elite in Kämpfen des Volkes abgerungen worden. Man/frau darf aber zwei Sachen nicht überse­hen:
1.Die USA sind das Produkt einer demokratischen Revolution, die Demokratie steht im Mittelpunkt der nationalen Identität. Die USA sind demokratisch und wollen daß andere Länder auch demokratisch sind.
2.Diktaturen haben große Schwiergikeiten bei der dauerhaften Sicherung bür­gerlicher Herrschaft.
Punkt eins wird oft übersehen, da sich die USA offensichtlich ganz anders ver­halten, sie unterstützen Putsche und schicken Folterspezialisten in die Welt. Aber das wird erklärbar, wenn wir uns an die Kernaussagen der Elitetheorie erinnern. Die demokratische Methode soll stabile Legitimation von Eliteherrschaft ermög­lichen. Demokratie ist eine Methode, die einem anderen Ziel dient, der Stabilität. Wenn also die Stabilität in einer konkreten historischen Situation bedroht ist, dann sind die USA auch bereit, zu putschen und zu foltern. Das tangiert aber gar nicht den Glauben, daß Demokratie prinzipiell die beste Methode zur Herr­schaftssicherung ist.
Damit sind wir bei Punkt zwei. Grundproblem von Diktaturen ist, Herrschaft dauerhaft zu legitimieren. Diktatorische Herrschaftslegitimationen neigen dazu, transistorisch zu sein, d.h. sie verzehren ihre eigene Basis. Beispiel: “Wir mußten die Macht ergreifen, um der kommunistischen Subversion Herr zu werden.” Nun – entweder beseitigt der Repressionsapparat die Subversion – und damit entfiel die Legitimationsgrundlage – oder er beseitigt sie nicht, und müßte damit sein Versagen zugeben. Diktatorische Regimes personalisieren daher oft die Legiti­mationsfrage, die personalisierten Diktaturen überleben, aber meist nicht die Person des Diktators (Franco). Diktaturen sind im höchsten Grad zusammen­bruchsgefährdet, wenn sie eine aktuelle Krise nicht lösen können (Argentinien, Griechenland).
Aus den strukturellen Problemen diktatorischer Herrschaft ergeben sich dtarke Argumente für Demokratien. Das sind freilich andere Demokratien, als ein emanzipatorisch aufgeladener Demokratiebegriff sie herbeisehnt. Im Prozeß der Demokratisierung fallen aber für eine gewisse Zeit Befreiungssehnsüchte und technologische Herrschaftskonzepte zusammen. Diese Aussage markiert, denke ich, das grundlegende Dilemma des Redens über Demokratisierung in Latein­amerika.
Zum Schluß noch der Hinweis auf einen Vorteil der Demokratie, der etwas aus dem Rahmen der bisherigen Betrachtung fällt. Die Demokratie hat nioch einen ganz anderen Vortreil: Sie ist unterhaltsamer als Diktaturen. Nur in demokrati­schen Systemen können wir erfahren, welch ein Lotterbube der Kerl ist, der US-amerikanischerVerteidigungsminister werden wollte, und was bei Menems alles los ist. Insbesondere Wahlen entwickeln einen hohen Unterhaltungswert. Sie sind quasi Pferderennen, in denen menschliche Schicksale entschieden werden.
Man sollte diesen Punkt angesichts der Gewalt des Fernsehens nicht unterschät­zen. Demokratische Politiker können Stars sein, Pinochet hat bei Wahlen keine Chance, ein Collor oder Menem schon. Es gibt den Verdacht, daß all dies eigent­lich das entscheidende ist, daß in “modernen” westlichen Demokratien die Politik vom Showgeschäft überwuchert ist, daß die großen püolitischen Auseinander­setzungen nur Teil einer gigantischen Simulation sind, während die Apparate , die Bürokratie, die Wirtschaft und die Technik längst von der Politik unbeein­flußt agieren. Die Politik kann diese Entscheidungen nur noch nachvollziehen und agonal in Scheinalternativen auflösen. Die Politik wäre dann eine Institution, die auf vollen Touren im Leerlauf läuft. In Lateinamerika ist die Demokratie in den letzten Jahren sehr ernst genommen worden. Sie hat ihre Würde aus dem Blut der Diktaturen bezogen. Ob das für die Zukunft reicht, ist fraglich.

Das Imperium ist immer und überall

In seinem Beitrag “Demokratie Als Mittel der Aufstandsbekämpfung” unter­nimmt der Autor ein waghalsiges Unternehmen: Vom Isthums bis nach Feuer­land, so die Erkenntnis, hat die “Neue Rechte” in den Vereinigten Staaten ihr Konzept der “beschränkten Demokratie” ausgearbeitet und durchgesetzt. Ronald Reagan, idealtypische Feindfigur einer ganzen Generation von Internatioanali­stInnen in Europa und anderswo, darf seinen Triumph feiern. Wohin mensch auch schaut, überall auf dem Kontinent sieht man in den 80er Jahren das Entste­hen “verordneter Demokratien”, “ohne Veränderungen der gesellschaftlichen Machtverhältnisse, der Eigentumsverhältnisse und ihrer militärisch-repressiven Absicherung.” Der Autor stellt folglich fest, daß die Bevölkerung von “Demokratisierung nichts gemerkt hat” und das es dem Imperialismus geglückt ist einen üblen Widerspruch wenn auch nicht zu lösen, so doch in die nächste Runde zu tragen: Statt der weiteren Stützung der international diskreditierten, da eben offen-repressiven Militärdiktaturen, hat die im Santa Fé Papier ausgearbei­tete und von so cleveren Menschen wie Reagan und Geißler umgesetzte Strategie der Demokratisierungen durch die Institutionalisierung der “Scheingleichheit der StaatsbürgerInnen an der Wahlurne”, eine moderne Aufstandsbekämpfung ge­schaffen. Ohne repressive Diktaturen und ohne offene Intervention der USA ist die Wirtschaftsordnung auf alle Zeiten neu gesichert, die “Kriegsführung niedri­ger Intensität” hat die Entstehung und Durchsetzung einer Demokratisierung von Unten durch die sozialen Bewegungen erfolgreich verhindert. Soweit Frit­sche.
Ebenso wie all die DDR-BürgerInnen die im März ihre Henker gewählt haben, sind doch tatsächlich Millionen von LateinamerikanerInnen auf die Verspre­chungen der “formalen Demokratie” reingefallen. Schlimmer noch, anders als die BürgerInnen der DDR, die ja noch die Chance haben eine Zwei-Drittel-Gesell­schaft zu etablieren und als zehntreichste Nation der Welt an den Segnungen des zentralen Kapitalismus in der Festung Europa teilzunehmen, haben die Völker Lateinamerikas heute Demokratien verordnet bekommen (erkämpft haben kön­nen sie sie ja nun nicht mehr !), die ja nur zum Ziel haben die Diskussionen über soziale Gerechtigkeit und Wirtschaftsdemokratie zu unterdrücken. Natürlich be­dienen sich die Herrschenden aller Mittel zu Sicherung ihrer Macht, aber sind sie wirklich die einzigen die “beschränkte Demokratien” gegen die Dikaturen durch­setzten und die neuen politischen Freiräume nutzen (wollen) ?
Das schlimme Wort des “falschen Bewußtseins” schwingt bei Fritsches Diskurs ebenso mit, wie er unterstellt, daß keine Diskussionen und keine durchaus kon­troversen Auseinandersetzungen über den “richtigen Weg” bei dem “Wahlvolk” in Lateinamerika existiert. In der jetzigen historischen Etappe, in der sich die Linke (radikal oder sozialdemokratisiert) – in Lateinamerika wie auch bei uns – in einer Defensive befindet, sollte man die lateinamerikanische Debatte ehrlich wie­dergeben und eine differenzierte Interpretation um Entstehung, Grenzen und Chancen der “beschränkten Demokratien” ernst nehmen.
Die Analyse von Eduard Fritsch negiert schlicht und einfach die Existenz realer gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, die auch in der “formalen Demokratie” Menschen Handlungsfreiheiten ermöglichten, die angesichts der vorhergegange­nen Erfahrungen unter den Militärs heute als hoch eingeschätzt werden.
Die Linke Lateinamerikas kämpft zur Zeit um ihr historisches Überleben, bei dem unterschiedlichste Strategien und Handlungsfelder berücksichtigt werden. Ein Prozess der durch das permanente Wiederholen alter Positionen längst verlo­rengegangen wäre. Auch wenn neue Konzepte und Strategien in den überaus komplexen Gesellschaften (noch ?) nicht so herangereift sind, daß sich eine inter­nationalistische Bewegung an sie klammern kann (wen interessiert schon die Kommunalpolitik der PT in Sao Paulo) ohne die Widersprüchlichkeit in der sich linke Politik in Lateinamerika befindet mit aufzuzeigen, sollten diese Versuche nicht durch einen erneuten Verweiß auf die Allmacht des Imperiums unter den Tisch fallen.
Ohne Zweifel sind die Enttäuschungen, der “desencanto político” und die Gefah­ren der “formalen Demokratien” und ihr zustandekommen als “Pakte” groß. Kein Mensch- und schon gar nicht die Betroffenen in Lateinamerika selbst – geben sich heute noch Illusionen über die Versprechungen der “PolitikerInnen” hin. Eben­sowenig wie sie auf einen raschen Wandel durch einen Frontalangriff auf das Sy­stem oder durch ein Vertrauen auf die Parteienpolitik bauen. Vielmehr sind die politischen Kräfte die sich nicht selbst auf das Abstellgleis der Geschichte stellen wollen, an einer Nutzung der wiedererlangten Rechte und deren Verteidigung mehr denn je interessiert. Mit einer vergleichbaren Leichtigkeit über die “formalen Demokratie” herzuziehen, bleibt auch in Lateinamerika das Privileg einer intellektuellen Minderheit. Die sich durch die breite Unterstützung der Be­völkerungen ergebene Restaurierung parlamentarischer Demokratien ergebene Dialektik von Reform und radikalen Widerstand, ist durch den Verweis auf “eine Demokratisierung von der die Bevölkerung nichts gemerkt hat” nicht zu erklä­ren.
Auch wenn es uns nicht schmecken mag: Offensichtlich finden die Konzepte der “Neuen Rechten” in den USA auch ein lateinamerikanisches Pendand, das sich in der Ideologie doch wahrlich mehr aus der nationalen Realitär speist, als durch eine Note des jeweiligen US-Botschafters. Ein Aspekt, der durch die Vereinfa­chung der “Verschwörungstheorie” Fritsches schlichtweg ignoriert wird und den Blick auf die realen, gegenwärtigen Auseinandersetzungen verstellt.
Und sit es wirklich von den USA verordnet wenn die ideologischen AUseinan­dersetzungen in Lateinamerika. wie auch bei uns, um Pluralismus, um Wahlen als einen Teil grundsätzlicher Freiheiten, um individeuelle Rechte und Partizipa­tion eine Aufwertung erfahren ? Diese Felder der Rechten zu überlassen – und das macht Fritsche – wäre der größte Fehler überhaupt.
Wie ist nach dem Muster von Fritsche zu erklären, daß es heftigste nationale Auseinandersetzungen über den Weg der Transformation von den Diktaturenm zur Demokratioe gab ? Wie erklärt sich das Entsehen neuer sozialer Akteure bis hin zu neuen Organisationen ? Warum erlangt denn gerade der Kampf um Öf­fentlichkeit, Transparenz und das Betereten neuer Politikfelder (von der Frauen­bewegung bis zur Ökologiebewegung) eine neue Relevanz ? Wohl kaum, weil die Demokratien ein gigantisches Aufstandsbekämpfungsprogramm eben nur diese sozialen bewegungen zulassen.
Fritsch erklärt zwar das die Unsicherheit über den Begriff der Demokratie umso größer ist, je mehr er auf die Wahlen reduziert wird und dennoch leistet er in sei­nem Beitrag genau dieselbe Verkürzung. Wer verkennt, daß die Frage nach Wahlen (und eben nicht nur der für die Parlamente) in allen “redemokratisierten Ländern” auch die Diskussion um eine innere Demokratierung nach sich gezogen hat, der hat die Auseinandersetzungen der letzten Jahre in Lateinamerika nicht verfolgt.
Wie sind die Unterschiede zu erklären, daß sich Hunderttausende UruguayerIn­nen auf ihre wiedererlangte Verfassung berufen um ein Referendum gegen die Straffreiheit der Militärs zu erkämpfen, während in Chile die Menschenrechts­bewegung eine ähnliche politische Marginalisierung zu erlangen droht wie die argentinische ? Wie ist es zu erklären, daß offensichtlich die “Verteidigung der demokratischen Institutionen” erklärtes Ziel auch linksrevolutionärer Organisa­tionen ist ? Sind die Spielregeln, die ohne Zweifel eng sind, auf alle Zeiten unver­änderbar ? Ist die knappe Wahlniederlage Lulas in Brasilien, der Sieg der Frente Amplio in Montevideo tatsächlich nur ein Kampf gegen Windmühlen ? Und der millionenfache Versuch sich zu organisieren, die politischen Freiräume zu nut­zen, die nopch bis vor kurzem hermetisch verschlossen waren ? Alles eh sinnlos, da durch das Santa Fépapier a proiri zum Scheitern verurteilt ?
Ungewollt schließt sich die Argumentation Eduard Fritsches an das gefasel vom “Ende der Geschichte” an, das jüngst aus dem Weißen HAus zu vermehmen war: Alle sozialen Kämpfe und Hoffnungen, sei es von einer Punk Band in Chile die gegen die Linke des Landes verteidigen muß, warum sie ihre Lieder in englisch singt, oder doe Versuche nach einer Zurückdrängung der immer noch existie­renden MAcht der Militärs und des Autoritarismus, sei es in Chile oder in Uru­guayx, sind schon verlorene Kämpfe.
Scheiterten denn die Versuche der Vergangenheit nicht allzuoft an den nationa­len politischen Bedingungen, die determierend waren für den Erfolg oder Mißer­folg linker Politik in Lateinamerika ? Der wiederholte Verweis auf die Allmacht der Hegemoniemacht USA als Wurzel allen Übels, entschuldigt nicht nur die Fehler der eigenen Geschichte der Linken, sonmdern verstellt darüber den Blick auf die Ausarbeitung tragfähiger am Alltagsbewußtsein der Menschen anknüp­fenden politischer Konzepte. Der Spielraum für das vorantreiben emanzipato­rischer Projekte hat sich in den “formalen Demokratien” erst einmal erweitert. Das diese Projekte auch gesellschaftliche Mehrheiten benötigen, ist eine teuer be­zahlte Erfahrung. Nationale reaktionäre Hegemonien aufzubrechen um der neo­loiberalen Welle etwas entgegenzusetzen, bedarf heute der Nutzung und dem Ausbau aller politischen und sozialen Freiräume. Würde der rundumschlag Frit­sches stimmen: Der antiimperialistische Kampf in Lateinamerika hätte längst tri­umphiert !

Auch Verhandlungswege bergen Hinterhalte

Das Treffen zwischen Parteien und Guerilla war im vergangenen März in Oslo zwischen der Nationalen Versöhnungskommission und der Guerilla als erste von mehreren Dialogrunden festgelegt worden. Als nächstes sollen sich die Aufständischen mit UnternehmerInnen, dann mit sozialen und religiösen Gruppen und zuletzt mit der Regierung und mit den Streitkräften treffen. Bei dem Treffen in Madrid konnte es um nicht viel mehr als um juristisch-institutionelle Veränderungen gehen. Einen Waffenstillstand oder die Entmilitarisierung bestimmter Landesteile müssen mit dem Militär verhandelt werden. Einer der wichtigsten Punkte in dem Abkommen von El Escorial verpflichtet denn auch die Parteien, ab 1991 eine Verfassungsgebende Versammlung einzuberufen, an der sich die Guerilla, die “Revolutionäre Nationale Einheit Guatemalas” (URNG), beteiligen wird. Die URNG erklärte in Spanien, daß durch eine Verfas­sungsreform vor allem die Rolle des Militärs als Hüter der inneren Sicher­heit abgeschafft werden müsse, und die Indígenas die Möglichkeit erhal­ten müßten, sich politisch zu beteiligen. Außerdem legt das Abkommen fest, daß Parteien und Guerilla sich regelmäßig treffen werden. Für die Zeit des Wahlkampfs bis zur Amtsübergabe, die sich vom 8. Juni 1990 bis zum Januar 1991 erstreckt, verpflichtet sich die URNG, alle Sabotage­aktionen wie z.B. Anschläge auf Strommasten und Produktionsanlagen einzustellen.

Kein Krieg macht noch keinen Frieden

Seit den ergebnislosen Gesprächen zwischen Regierung und Guerilla im Oktober 1987 hat der christdemokratische Präsident Vinicio Cerezo über 20 Dialogvorschläge der URNG abgelehnt. Anfang dieses Jahres ließ er zum ersten Mal Gesprächsbereitschaft erkennen, vermutlich aufgrund der wachsenden militärischen Stärke der URNG und dem Druck einiger gesellschaftlicher Gruppen, insbesondere der Nationalen Versöhnungs­kommission. Unmittelbar nach der Wahlniederlage der SandinistInnen in Nicaragua jedoch fiel er wieder in die knallharte Position zurück: “Gespräche mit der Subversion wären wie ein Dialog unter Taubstum­men.” Er schloß sich damit der Meinung der guatemaltekischen Rechten an, daß die URNG sowieso bald verschwinden werde, wenn der unter­stellte Waffennachschub aus Nicaragua ausbliebe.
Doch dann änderte sich die Taktik erneut, ungefähr zeitgleich wie auch in El Salvador, offensichtlich auf “Anregung” der USA. Plötzlich bekam die Nationale Versöhnungskommission grünes Licht von Regierung und Militär für das Treffen in Oslo. Nach Oslo beglückwünschte Bernard Aronson, Unterstaatssekretär für Lateinamerika-Angelegenheiten des US-State-Departments, den Vorsitzenden der Nationalen Versöhnungs­kommission, Bischof Quezada Toruños, und die URNG für ihre “Friedensverpflichtung”. Dahinter steht sicherlich die Absicht, die Guerilla “in diesem günstigen Augenblick” zu überreden, die Waffen abzugeben. Dafür soll ihr bestenfalls angeboten werden, sich ins politische Leben ein­zugliedern, jedoch ohne irgendwelche grundlegenden gesellschaftlichen Änderungen zuzugestehen.
Vor allem den USA geht es darum, das “Problem Befreiungsbewegungen” auf dem Verhandlungsweg aus der Welt zu schaffen. Wenn mensch den Machtwechsel in Nicaragua – auch – als Ergebnis des “Friedensprozesses” interpretiert, der in Esquipulas begann, dann war diese Strategie ja durch­aus erfolgreich. Die URNG hat ihre Ziele bei den Verhandlungen klar­gestellt. Es geht ihr nicht darum, einen politischen Raum für sich zu gewinnen. “Wir wollen politische Lösungen für die Gründe, die zu dem internen bewaffneten Konflikt geführt haben. Zusammen mit den verschiedenen politischen, ökonomischen, sozialen und religiösen Kräften streben wir ein integrales Modell der Entwicklung in wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Aspekten an. Darin sollen die unter­schiedlichen Sektoren der Gesellschaft, insbesondere die traditionell unterdrückten Indígenas, volle Mitwirkungsmöglichkeiten besitzen. Dafür suchen wir den notwendigen Handlungsspielraum”, äußerte Luís Becker von der politisch-diplomatischen Vertretung der URNG.
Mit einem klaren Nein antworteten die Vertreter der URNG deshalb auch auf die in Spanien immer wieder gestellte Frage, ob sie sich an den Präsidentschaftswahlen im November beteiligen wollten. Nach “El Escorial” begann dann das Knobeln, ob die Guerilla zur Verfassungs­gebenden Versammlung eine Partei gründen werde. Bis Comandante Pablo Monsanto, Mitunterzeichner von El Escorial, in einem Interview gegenüber der kubanischen Zeitung “Granma” erklärte: “Wir werden als politische Kraft teilnehmen, nicht als politische Partei. Dies bedeutet weder die Entwaffnung der Guerilla noch die Demobilisierung unserer Streitmacht. Das Abkommen legt nur unsere Beteiligung an der Verfas­sungsgebenden Versammlung fest. Das haben wir nicht nur getan, um für die Guerilla Spielräume zu eröffnen, sondern auch für die sozialen Kräfte. Aber auf keinen Fall werden wir die Waffen aus den Händen legen, weil sie die Garantie für die Veränderungen sind, für die wir gekämpft haben. Außerdem: Auch wenn sich die URNG zu irgendeinem Zeitpunkt demo­bilisieren würde, würde der Krieg in Guatemala nicht verschwinden. Andere würden zu den Waffen greifen, weil der Ursprung des Krieges die Ungerechtigkeit, die Unterdrückung, die Ausbeutung und die Diskrimi­nierung sind”.

Erste Risse zwischen den Herrschenden?

Die Taktik der URNG, sich politische Bündnispartner zu suchen, erscheint durchaus nicht aussichtslos. Auch innerhalb der bürgerlichen Gruppen geht vielen die Abhängigkeit Cerezos vom Militär und von der Oligarchie zu weit. Seine Weigerung, mit der URNG zu verhandeln beispielsweise, war eindeutig auf den Druck des Militärs zurückzuführen. Obwohl – oder vielleicht auch weil – Cerezo das Abkommen von Esquipulas II nicht ein­hielt, begann in Guatemala als einzigem der mittelamerikanischen Länder die in Esquipulas festgelegte Nationale Versöhnungskommission ernsthaft zu arbeiten. Besonders auf Initiative der katholischen Kirche, aber auch einiger PolitikerInnen und kleiner UnternehmerInnen und natürlich der Volksorganisationen, wurde im März 1989 der “Nationale Dialog” eröff­net. Obwohl die URNG auf Druck des Militärs nicht teilnehmen konnte, erhielt der Nationale Dialog eine nicht vorhergesehene Dynamik, vor allem durch die “Vereinigte Vertretung der guatemaltekischen Opposi­tion” (RUOG).
Mit dem Putschversuch im Mai desselben Jahres warnte das Militär die Regierung davor, durch den Druck dieses Forums “weich zu werden” und einen Dialog mit der Guerilla zu beginnen. Gleichzeitig begannen Atten­tate und Drohungen gegen die RUOG-Mitglieder, woraufhin sie das Land verließen. Dem Dialog wurde damit die Luft abgeschnürt. Doch die Nationale Versöhnungskommission hat gezeigt, daß sie Personen versammelt, die bereit sind, nach den Gründen des bewaffneten Konflikts zu fragen. Deshalb droht die jüngste Taktik der Regierung, nicht direkt mit der Guerilla zu verhandeln sondern sie auf die Nationale Versöh­nungskommission abzuschieben, in ihr Gegenteil umzuschlagen. Die Gespräche, die in Oslo beschlossen wurden und die in El Escorial begon­nen haben, sind eigentlich ein “Nationaler Dialog”, in dessen Mittelpunkt die URNG steht. Sie bieten ihr die beste Gelegenheit, Allianzen aufzu­bauen. Mit diesem Rückhalt werden sie sich mit Regierung und Militär treffen.
Die unmittelbaren Reaktionen nach dem Abkommen von El Escorial zeigen, daß sich die ersten Gräben innerhalb der Herrschenden auftun. Während einige Finanziers und Industrielle das “Abkommen für den Frieden” öffentlich lobten und ihre Gesprächsbereitschaft für die nächste Runde bekundeten, reagierte die Agraroligarchie wie erwartet wenig enthusiastisch. Seine Äußerung wollte Roberto Cordón, Direktor des Großgrundbesitzerverbandes UNAGRO, allerdings nur als “persönliche Meinungsäußerung” verstanden wissen: “Wenn die Kommandatur der URNG mit ihnen (den Großgrundbesitzern) reden will, müssen sie erst ihre Waffen niederlegen.” Auch Verteidigungsminister General Hugo Bolaños drückte stellvertretend für das Militär die harte Haltung aus: “Gespräche zwischen der Regierung und den Subversiven wird es nur geben, wenn sie die Waffen niederlegen.”
Besonders nach den Äußerungen von Comandante Pablo Monsanto in “Granma” wurde wohl einigen klar, daß die URNG nicht aus einer defen­siven Position heraus verhandelt. Deshalb besteht immer noch die Möglichkeit, daß sich die Militärs weiterhin weigern zu verhandeln. Die im November neugewählte Regierung wird es sich allerdings nur schwerlich leisten wollen, sich gleich am Anfang genauso bedingungslos den Militärs unterzuordnen, wie es die Regierung Cerezo getan hat.

Der schwarze Christus von Esquipulas

Die PolitikerInnen der neun größten Parteien reisten mit dem Hinter­gedanken nach Spanien, sich für den Wahlkampf als FriedensstifterInnen zu profilieren. Nicht ohne sich vorher, genau wie die Nationale Versöh­nungskommission, mit dem Verteidigungsminister Bolaños und hohen Offizieren zu einem ausführlichen “Meinungsaustausch” zu treffen und abzusichern. Aus El Escorial übermittelte die bürgerliche Presse nur posi­tive Töne, freundliches Lächeln und viel Einverständnis zwischen Parteien und Guerilla. Auch aus den Reihen der ParteienvertreterInnen drangen keine Meinungsunterschiede an die Öffentlichkeit. Und
der Politiker Mario Sandoval Alarcón, Generalsekretär der rechtsextremen Partei namens “Bewegung für die Nationale Befreiung” (MLN), animierte die Journa­listInnen zu besonders harmonischen “Stimmungsreportagen”. Der international bekannte Antikommunist rührte die Anwesenden zu Tränen, als er seinen ideo­logischen Erzfeind, den Comandante Carlos Gonzáles, umarmte. Die Zeiten und die Welt hätten sich geändert, sagte er.
Zum krönenden Abschluß machte er der Guerilla sogar ein Geschenk: Er über­reichte jedem Comandante einen schwarzen Christus von Esquipulas – ein zwei­deutiges Symbol für Frieden. Aber GuatemaltekInnen mit einem scharfen Gedächtnis erinnern sich noch weiter zurück: Die Söldnertrup­pen, die 1954 mit Hilfe der USA die demokratische Regierung Arbenz stürzten, trugen diesen schwarzen Christus als “General des Befreiungs­heeres vom Kommunismus” vor sich her…

Modernisierung von oben oder Organisierung von unten?

Die neue PRI-Politik unter Salinas de Gortari

Die Macht der Partei der Institutionellen Revolution (PRI – Partido de la Re­volución Institucional) war 1988 erstmals konkret in Frage gestellt worden; nur mit hauchdünner absoluter Mehrheit gewann sie die Präsidentschaftswah­len, und niemand zweifelt daran, daß sie ohne Wahlfälschungen von der Oppo­sition überrundet worden wäre. So steht das Projekt von Salinas, gegen Korruption, Vetternwirtschaft und zentrale Wirt­schaftsverwaltung durch die traditionelle “Politische Familie” vorzugehen, un­ter nicht gerade de­mokratischen Vorzeichen.
Dennoch kann Salinas anderthalb Jahre nach seinem Amtsantritt beachtliche Er­folge vorweisen. Kaum im Amt, ließ er den Chef der starken ErdölarbeiterIn­nengewerkschaft La Quina festnehmen und legte sich mit der gesamten Ge­werkschaftshierarchie an. Auch scheute Salinas nicht den Streit mit den Unter­nehmern, als er im Frühjahr 1989 Eduardo Legorreta, Börsenmana­ger und Mit­glied einer der einflußreichsten Familien im Norden Mexikos, wegen Betruges hinter Gitter brachte. Seinem Ruf als ersten Präsi­denten Mexikos, der der Korruption die Stirn bietet, wollte er noch einen demokratischen Anstrich geben, indem er erstmals einer Oppositionspartei den Sieg bei einer Gouver­neurswahl zubilligte – der rechten PAN (Partido Acción Nacional) in Baja Cali­fornia. Wurde Präsident Salinas de Gortari noch verher­gesagt, er werde seine sechsjährige Regierungszeit nicht ungeschoren überste­hen, sitzt er jetzt fest im Sattel und scheint sogar die Krise der PRI über­wunden zu haben.
Es herrscht jedoch keine Ruhe im Land. Im Gegenteil, gerade an den Stellen, an denen er mit den traditionellen Politikmustern der PRI gebrochen hat, entstehen Brüche, die sein Demokratisierungsprojekt als ein künstliches, in Mexiko kaum realisierbares entlarven. Zu nennen sind hierbei in erster Linie die Modernisie­rung der mexikanischen Wirtschaft und die zunehmende Gewalt in den politi­schen Auseinandersetzungen (vgl. LN Nr. 192).
Kehrseite der in volkswirtschaftlichen Kategorien recht erfolgreichen Wirt­schaftspolitik ist neben der prekären sozialen Lage im Land die Aufgabe der für die MexikanerInnen so wichtigen nationalen Souveränität. Politik der Mo­dernisierung bedeudet für Salinas die Orientierung an den Vorstellungen der USA, umgesetzt durch die Privatisierung vieler Staatsbetriebe, Auslandsbetei­ligungen in Schlüsselindustrien, Lockerung der Zollpolitik im Rahmen des GATT-Abkommens und die konsequente Bedienung des Schuldendienstes. Nächster Schritt ist die Schaffung eines gemeinsamen Nordamerikanischen Maktes mit den USA und Kanada, der faktisch schon beschlossen ist, doch von mexikani­scher Seite nicht als solcher bezeichnet wird, da dies in Mexiko als Auf­gabe der politischen und wirtschaftlichen Souveränität gewertet werden würde. Zwei wichtige Klammern des PRI-Diskur­ses, die Betonung der nationalen- gegenüber den US-Interessen und die for­melle Bevorzugung von Gewerkschafts- gegenüber Unternehmerinteressen, werden offiziell fallengelassen, wodurch die Integrationskraft des Systems ge­schwächt wird.
Die in allen Bereichen zurückgehende Integrationskraft der PRI muß auch als Ur­sache für die massive Gewaltanwendung in politischen wie sozialen Auseinan­dersetzungen gesehen werden. Während es bisher immer gelang, aufstrebende oppositionelle Kräfte, sei es in Gewerkschaften, Basisbewegungen oder Parteien, durch Kooptation der führenden Köpfe und geringfügige Reformen in die PRI-Politik zu integrieren, zeigte sich im vergangenen Jahr, daß die PRI keine Alter­native mehr zum Einsatz massiver Gewalt sah. Seitdem schwelen monate­lange Arbeitskämpfe in verschiedenen Landesteilen, und der erstmalige Einsatz des Militärs nach den Wahlen in Michoacán und Guerrero forderte schon über 50 Todesopfer (s. LN Nr. 192).
Noch ist nicht abzusehen, welchen Ausgang Salinas’ Projekt einer Demokrati­sierung durch Modernisierung von Wirtschaft und Politik nimmt. Seine Position ist ausreichend gefestigt, um den eingeschlagenen Weg fortzusetzen, doch je weiter er kommt, umso fraglicher wird, was dieser Weg mit Demokratie zu tun hat.

Das Charisma von Cuauthémoc Cárdenas

Krise und die geleugnete Wahlniederlage der Regierungspartei sind nicht nur hausgemacht. In der traditionell zersplitterten mexikanischen Linken hat 1988 ein Einigungsprozeß stattgefunden, der genauso einmalig in deren Geschichte wie riskant in seiner Ausrichtung ist. Die Vereinigung ist auf die Person von Cuauthémoc Cárdenas zugespitzt, Sohn des allseits beliebten Präsidenten von 1934-1940, Lázaro Cárdenas.
Nachdem sein Reformprojekt innerhalb der PRI mißglückt war, lief er mit Be­ginn des Wahlkampfes 1988 mitsamt seiner Corriente Democrática del PRI (Demokratische Strömung in der PRI) zur Opposition über und gründete die FDN (Demokratisch Nationale Front), der sich Zug um Zug fast alle linken Par­teien und Gruppierungen anschlossen. Damit existierte erstmals eine Oppo­sitionskoalition, die real die Machtfrage stellen konnte und dies auch tat. Obwohl die Wahlniederlage der PRI politisch nicht durchgesetzt werden konnte, hat die
Kampagne und landesweite Mobilisierungsfähigkeit unter Cárdenas zu einer Po­litisierung geführt, die auch die eher passiven Sektoren der mexika­nischen Be­völkerung erreicht hat.
Doch der Schlüssel zum Erfolg ist zugleich eine große Gefahr für die Linke. Der mexikanische Sozialwissenschaftler Enrique Semo schreibt ein Jahr nach der Wahl: “Die Linke, die sich der Neocardenistischen Bewegung anschloß, be­wahrte ihre Präsenz in der Massenbewegung unter Inkaufnahme eines schweren Identi­tätsverlust. Das heißt: Die sozialistische Linke hat heute eine Anhän­gerschaft, die sie (noch) nie erreichen konnte, hat aber die Fähigkeit verlo­ren, sie mit eigener Stimme zu leiten. Die Volksrebellion folgte dem Ruf von Cárdenas. Die Linke nimmt an ihr Teil, führt sie aber nicht.” (Enrique Semo, Veinte Años Después, Juni 1989, Mexico D.F.) Wie so häufig steht und fällt eine Bewegung mit ihrem charismatischen Führer und ist zudem an dessen politische Ausrichtung gebun­den.
Nachfolgerin der FDN wurde die PRD (Partido de la Revolución Demócrata – Partei der Demokratischen Revolution), die zu ihrer Gründung die offizielle Re­gistrierung der sozialistischen PMS übernahm und nun unter Cárdenas die Poli­tik der Parteilinken bestimmt. In dem Versuch, den erneuten Vormarsch der PRI aufzuhalten, konzentriert sich die PRD auf die anstehenden regionalen Wahlen und profiliert sich hauptsächlich bei den Auseinandersetzungen um Wahlfäl­schungen in ihren Hochburgen – was vielen Mitgliedern das Leben kostete.
In einem Rückblick auf das erste Jahr der PRD zeigt die linke Tageszeitung “La Jornada” am 15.5.90 die Schwachstellen dieser Partei auf:
Nach außen: viele Tote und Verhaftete, Hetzkampagne der Medien, Anfeindung von Regierung und Wirtschaftsverbänden.
Nach Innen: Alte Politikmuster, Intrigen, keine gemeinsame Linie der einzelnen vorher existierenden Gruppierungen, Streit zwischen “Revolutionären” und “Reformisten”, schwerfälliger Apparat und autoritäre Führung.

Programmatik: Überholte Ökonomievorstellungen und fehlende Klarheit bei politischen Aussagen.

Angetreten ist Cárdenas mit dem Anspruch, die Politikstruktur Mexikos zu de­mokratisieren – zuerst innerhalb der PRI, und als dies scheiterte, gegen die PRI. Seine Erfolge haben zum einen die PRI gezwungen, sensibler mit den Er­wartungen und Forderungen der Bevölkerung umzugehen, soweit ihre eigene Machtposition nicht gefährdet war. Zum anderen entwickelte sich das Bewußt­sein, daß auch gegen die Regierungspartei Politik zu machen ist, was seinen Ausdruck in oppositionellen Aktivitäten in fast allen Lebensbereichen findet. Je­doch steht zu befürchten, daß nach dem Kulminationspunkt Präsidentschafts­wahlen 1988 die Parteilinke wieder in den alten Trott verfällt und nicht in der Lage sein wird, die errungenen Positionen auszubauen.
Noch vor dem Auftreten von Cárdenas führte 1985 das verheerende Erdbeben in Mexiko-Stadt zu einer breiten Mobilisierung der Basisbewegungen, deren Ent­wicklung parallel zum Neocardenismus eine steile Aufwärtstendenz zeigt. Vor allem in der Hauptstadt führte die Untätigkeit der Regierung nach dem Erd­
beben dazu, daß eine Vielzahl von Selbsthilfeorganisationen entstand, die bald in eine aktive Stadtteilbewegung, unterstützt von unabhängigen Gewerkschaf­ten, mündete.

Die Basisbewegung im Aufschwung

Trotz ihres Mißtrauens gegen Parteipolitik gliederten sich fast alle Gruppen der Basisbewegung in die Kampagne von Cárdenas ein, kämpften gegen den Wahl­betrug, forderten eine gerechte Mietpolitik, unterstützten die unabhängi­gen Ge­werkschaften in ihren Lohnforderungen und nahmen schließlich auch an der Kampagne zur Streichung der Auslandsschulden teil. Auch die politischen Or­ganisationen auf dem Land und unabhängige BäuerInnengewerkschaften gewan­nen neue Mitglieder hinzu und unterstüztzen die PRD in den jeweiligen Bun­desstaaten, insbesondere in Guerrero, Michoacán und Oaxaca.
Die wichtigsten Träger dieser neuen sozialen Bewegungen entstanden unmittel­bar in Folge des Erdbebens. Dazu zählt die Näherinnengewerkschaft 19. Sep­tember, die nach der Zerstörung vieler Konfektionsunternehmen durch das Erd­beben eine Organisierung der von Entlassung bedrohten Näherinnen ermög­lichte, Forderungen nach kollektiven Arbeitsverträgen durchsetzte und beim Aufbau von Kooperativen mithalf.
Die Asamblea de Barrios (Stadtteilversammlung) nahm sich der Wohnungs- und Mietpolitik an, indem sie aus der unmittelbaren Selbsthilfe beim Wiederaufbau nach dem Erdbeben eine politische Organisation der betroffenen Familien auf­baute, die durch konkrete Forderungen und Vorschläge an die Regierung Ein­fluß nahm und durch Besetzungen von Grundstücken und Gebäuden den Woh­nungsnotstand bekämpfte. Führer dieser Bewegung ist “Superbarrio”, der im Ge­gensatz zu Cárdenas kein Caudillo, sondern nur ein Symbol des Widerstandes ist. Er ist Freistilringer (Lucha Libre) und stellt in Schaukämpfen das Gute dar, das über das jeweils Böse, den Miethai, den Schuldeneintreiber, oder über Aids siegt. Da er immer maskiert auftritt, ist er nicht als Person identifi­zierbar, son­dern repräsentiert auf antiautoritäre Weise die Hoffnungen der Bevölkerung in den Stadtteilen. Er taucht auf allen politischen Veranstaltun­gen auf, nimmt an Demonstrationen teil und verhandelt mit Politikern, ohne jemals die Maske ab­zunehmen.
Dachorganisation der Basisbewegung in der Hauptstadt ist die CONAMUP (Coordinación Nacional del Movimiento Urbano Popular – Nationale Koordina­tion der Stadt- und Basisbewegung). Sie vereinigt Gruppen, deren Aktivitäten Öko­logie, Versorgung, Wohnungsprobleme, Bürgerrechte, Gewalt gegen Frauen und vieles mehr umfassen. Unmittelbar zielt die Arbeit der Gruppen auf eine Ver­besserung der Lebensumstände der Bevölkerung ab. Nach eigenen Aussagen will die Bewegung jedoch versuchen, den lokalen Charakter ihrer Aktivitäten zu überwinden, um sich in eine Alternative zur bestehenden Regierung zu verwan­deln (Zeitschrift Barrio Nuevo Nr. 2, Mexico D.F.).
Genau hier liegt das Problem der Basisbewegungen. Sie sind zwar keine “Einpunktbewegungen”, die nur kurze Zeit nach ihrem Auslöser oder während einer Konjunktur wie den Präsidentschaftswahlen existieren, doch fehlt ihnen ein politisches Konzept mit konkreten Alternativen, die über die bestehenden Kon­
flikte hinausgehen. Im Gegensatz zu den Parteien haben sie eine reale, verläßli­che Basis, sie ist aber beschränkt auf das unmittelbare Aktionsgebiet und noch besteht keine Infrastruktur, um die Regionalisierung zu überwinden.

Demokratie ohne Träger oder undemokratische Träger

Wenn es um Demokratie geht, ist es um Mexiko schlecht bestellt. Das korrupte Einparteinsystem, im demokratischen Mantel, ohne militaristische Strukturen und außenpolitisch mit progressivem Image, gab bisher weder Anlaß noch Mög­lichkeiten zu einem demokratischen Wandel. Gleichzeitig verhinderte es effek­tiv eine Organisierung von unten – alle integrierbaren Ansätze wurden koop­tiert, die übrigen verfolgt und aufgerieben.
So ist der Begriff einer “Demokratisierung von oben” in Mexiko schon auf­grund der internen Konstellation in Frage zu stellen. Modernisierung von Wirtschaft und Politik, verbunden mit hohen sozialen Kosten und abgesichert durch for­melle Wahlen nach westlichem Vorbild (kein Wahlbetrug mehr, dafür sinkende Beteiligung und ökonomische Erpressung), birgt weder Garantien für eine Auf­lösung des korrupten Apparates, noch ist zu erwarten, daß der Wandel des bis­herigen Systems reibungslos zu bewerkstelligen ist. Gewalt zur Durch­setzung der Demokratie ist die Realität dieser Alternative.
Und die “Demokratisierung von unten” ist vor allem zeitlich noch nicht in Sicht. Das Manko der linken Oppositionskräfte ist die fehlende Interventions­fähigkeit. Die Basisbewegungen befinden sich erst im Aufbau, haben keine kontinuierliche Tradition vorzuweisen und sind gezwungen, sich auf die sozialen Konflikte und die Abwehr staatlicher Repression zu konzentrieren. Die Ergeb­nisse dieses Wi­derstandes sind allerdings ermutigend. Eher zuviel Tradition weisen demgegen­über die linken Parteien auf, deren heutige Schlagkraft zu großen Teilen der In­tegrationsfigur Cuauthémoc Cárdenas geschuldet ist. Die theoretische Auseinan­dersetzung über ein sozialistisches oder eher an mögli­chen Reformen orientiertes Parteiprogramm ist im vollen Gange und verhindert ein einheitliches Auftreten der PRD (Tageszeitung La Jornada, 17.5.90).
Trotz der guten Zusammenarbeit von PRD und Basisbewegung ist die Linke nicht in der Lage, der Stabilisierung der neuen PRI-Politik entscheidende Hin­dernisse in den Weg zu stellen. So wird Salinas de Gortari weiter auf Mo­dernisierung setzen, und es steht zu befürchten, daß die Entwicklung der po­litischen und sozialen Gewalt der der Demokratie weiterhin vorauseilt.

Die gesellschaftliche Struktur der Straffreiheit

“Niemals in der Geschichte von El Salvador hatte sich irgendein Militärangehöri­ger vor Gericht zu verantworten […] hier war kein Militärangehöriger jemals – und darf es auch in Zukunft nicht werden – an irgendein Gesetz der Republik ge­bunden.” Der Satz stammt von einem gewissen Aguiles Baires, mutmaßlicher Kommandant der Todesschwadron “Maximiliano Hernández Martínez”, der Al­lianz der Antikommunistischen Aktion. Der Satz spiegelt eine tiefe Überzeugung breiter Schichten der salvadorianischen Armee wieder.
“Hier war kein Militärangehöriger jemals – und darf es auch in Zukunft nicht werden – an irgendein Gesetz der Republik gebunden”; dies muß auch Oberst Benavides in jener Nacht des 15. November vergangenen Jahres gedacht haben, als er die Sitzung des Generalstabs verließ und die Kommando-Einheit des Ba­taillons Atlacatl einberief, um die Leutnants Espinoza Guerra und Mendoza Vallecillos mit der “Mission” zu beauftragen, die Jesuiten zu ermorden, weil “das Vaterland in Gefahr” sei. Der Widerstand gewisser Sektoren innerhalb des Mili­tärs gegen die gerichtliche Verfolgung von Benavides läßt sich angemessen nur durch diese allgemeine Wahrnehmung der Offiziere erklären. Sie glauben sich, wie Nietzsches Übermensch, an einem Ort, jenseits von Gut und Böse, dort, wo sie kein Gesetz der Republik erreichen kann. Ironischerweise maßen sie sich je­doch gleichzeitig an, Legalität für sich in Anspruch zu nehmen.
Als am 6. Januar der Präsident Cristiani öffentlich verkündete, was Tutela Legal (Menschenrechtsorganisation der kath. Erzdiozöse; d. Übers.) schon sechs Wo­chen vorher behauptet hatte, nämlich, daß die Armee an dem Massaker an den Je­suiten beteiligt war, schien die bisher ungebrochene Straffreiheit der Militärs für Menschenrechtsverletzungen Risse zu bekommen. Einige glaubten sogar, El Sal­vador würde zu einer richtigen Demokratie werden. Diese Hoffnung verstärkte sich noch, als der Präsident eine Woche später die Namen der Offiziere enthüllte, die an dem Massaker beteiligt waren. Das hatte es in der Geschichte des Landes noch nie gegeben, daß ein Oberst in einer solchen Angelegenheit vor Gericht ge­stellt wurde. Aber die Ressourcen der Straffreiheit sind unerschöpflich; die Nach­richt, daß Benavides ein Privatappartement habe, häufig Besuch erhalte und be­sonderes Essen serviert bekomme, erschien zuerst in der Washington Post am 22. Februar, blieb aber zunächst völlig unbeachtet. Die Zeitung fügte hinzu, daß Cri­stiani ärgerlich sei über die konfortable Luxusbehandlung Benavides`; die Situa­tion sei jedoch – so Cristiani – tolerierbar, solange Benavides an seinem Zwangs­aufenthalt verbleibe.
Die Situation ist ernst, nicht so sehr wegen der materiellen Bequemlichkeiten, die Benavides genießt, sondern vielmehr wegen der gesellschaftlichen Struktur der Straffreiheit, die dies ermöglicht. Das übergeordnete Problem des Respekts der Menschenrechte in El Salvador wurzelt in eben dieser Struktur der Straffreiheit für die Streitkräfte, die die Menschenrechte konsequent und immer wieder mit Füßen treten. Die Bemühungen der USA, die Idee der Achtung der Men­schenrechte innerhalb der Armee zu verankern, sind kläglich gescheitert. Die USA haben während des zehnjährigen Krieges nicht ein einziges Mal wirksame Maßnahmen ergriffen, um zu verhindern, daß Soldaten straffrei davonkom­men. Man konnte nach dem Massaker an den Jesuiten glauben, daß sich die Si­tuation zu verbessern begänne, aber die Tatsache, daß die Armee als Institution an der “Strafverfolgung” maßgebend beteiligt ist und Benavides ein solch luxu­riöses Leben bereitet, könnte den größten Optimisten demoralisieren. Die Struk­tur der Straffreiheit der Streitkräfte nach Menschenrechtsverletzungen ist so tief verwurzelt, daß auch die USA nichts dagegen unternehmen konnten. Wenn dies in einem Fall wie dem der Jesuiten passiert, in dem Protest und Abscheu welt­weit zu vernehmen waren und in dem die USA soviel Druck ausgeübt haben, was ist dann bei Gewalttaten zu erwarten, die Soldaten in irgendeinem abgelege­nen Dorf verüben?
Dieses Problem der Straffreiheit hat auch wichtige Konsequenzen für die Durch­führbarkeit des sogenannten demokratischen Prozesses in El Salvador. Streng genommen handelt es sich um ein strukturelles Problem eines jeden politischen Systems, das eine demokratische Struktur über einem hypertrophierten Militär­apparat installieren möchte. Es ist kaum zu erwarten, daß “wer bewaffnet ist, be­reitwillig dem gehorcht, der unbewaffnet ist”, formulierte Machiavelli im Jahre 1513. Die Menschen unter Waffen sind von daher immer versucht, die politische Kontrolle von Demokratien zu übernehmen, deren Bestehen sie eigentlich garan­tieren sollten. Die Geschichte Lateinamerikas bietet dafür überreiches Anschau­ungsmaterial. El Salvador ist dabei keine Ausnahme gewesen. Aber es gibt ver­schiedene Niveaus von Straffreiheit, und hier kann sehr wohl davon gesprochen werden, daß unser Land zu den Ausnahmefällen gehört.
Einigen Militärdiktaturen schlug bereits – wenngleich noch schüchtern – mit dem Beginn der Demokratie ihre Stunde von Nürnberg. Die südamerikanischen Mili­tärs haben begonnen zu begreifen, daß sie nicht straffrei ihre Gewehre auf die zi­vile Gesellschaft richten können. In El Salvador hingegen existiert noch keine Rechtsstruktur, die in der Lage wäre, einen uniformierten Kriminellen zur Ver­antwortung zu ziehen. Dies ist nicht nur ein Mangel der Vergangenheit. Wir ha­ben hier im letzten Vierteljahr die Massaker an der UCA, von Cuscatancingo und von Guancorita erleben müssen. Dies wird – ohne Ermittlungsverfahren und An­klageerhebung – so weitergehen, während die salvadorianischen Militärs sich auch zukünftig als eine gesellschaftliche Kaste wähnen, die über “den Gesetzen der Republik” steht.

Volksherrschaft in Sao Paulo?

Das erste Jahr: Solide Haushaltspolitik statt Chaos

Viele hatten der Bürgermeisterin prophezeit, sie würde die Stadt direkt ins Chaos führen. Daß sich diese -vom wishfull-thinking und bösem Handeln genährten -Erwartungen nicht erfüllt haben, ist vielleicht der größte Erfolg des ersten Jahres der Verwaltung Erundina. “Jede Bewertung muß in Rechnung stellen, daß wir interne und externe Schulden in Höhe von über einer Mrd. Dollar geerbt haben, Schulden mit kurzer Laufzeit, die sich akkumuliert hatten.” (Erundina im Interview mit Isto E) Das Wunder des ersten Jahres war die Sanierung des Haushaltes. Anders gesagt: Die Regierung begann mit einem Notprogramm. Statt mit spektakulären Entscheidungen für Aufsehen zu sorgen -und, wie viele hofften, die “Massen” zu mobilisieren -begann die neue Verwaltung eine recht solide und technisch geschickte Haushaltspolitik. Sie schaffte damit -nach ihrer Argumentation -die Voraussetzungen, um die strategischen Ziele der Regierung anzuvisieren. Erleichtert wurde diese Politik durch eine Steuerreform (Konsequenz der neuen Verfassung). Die Steuereinnahmen der Stadt waren 1989 64% höher als 1988. Auf der anderen Seite wurden allerdings Zuschüsse der Bundes-und Landesregierung gestoppt. Um aber den Spielraum der Verwaltung zu beurteilen, muß man einige Voraussetzungen beachten. Erundina wurde mit einem Stimmenanteil von etwa 30% gewählt, die einfache Mehrheit in einem Wahlgang reichte aus. Die Wahl war weniger die Zustimmung zu einem klar formulierten Programm alternativer Kommunalpolitik, als ein Protest gegen die diskreditierte Bundesregierung (Sarney). Aber damit nicht genug. Erundina war in ihrer eigenen Partei -gelinde gesagt -umstritten. Die Mehrheitsfraktion der PT (Ariculacao) wollte Plino Sampair, einen der progressiven Kirche nahestehenden “seriösen” Politiker als Kandidaten aufstellen. Erundinas Kandidatur wurde durch ein Bündnis verschiedener linker, teilweise trotzkistischer Strömungen der PT ermöglicht und ihre Wahlkampagne zunächst von einem großen Teil der Partei eher sabotiert als unterstützt.
Die Regierung Erundina verfügt über keine Mehrheit im Stadtparlament und sie wird von Teilen der Partei nur halbherzig unterstützt. Wie kaum anders zu er-warten war, wird Erundina nicht nur von den “Rechten” in der Partei kritisiert, sondern auch von den enttäuschten Linken. In einer solchen Situation eine Stadt wie Sao Paulo zu regieren, scheint fast ein Ding der Unmöglichkeit.

Ansätze einer neuen Politik

Dennoch, nach einem Jahr konnte die Verwaltung Erundina eine beachtliche Erfolgsbilanz vorlegen und zeigen, daß ihr Handeln über die Verwaltung des Not-standes hinausgeht. Erster und wirklich beachtlicher Punkt ist die Umkehrung der Prioritäten im Haushalt. Die Ausgaben im Bereich “Soziales” sind 1989 im Vergleich zum Vorjahr um 62% gestiegen, herausragend dabei die Ausgaben für den öffentlichen Verkehr mit einer Steigerungsrate von über 200%. Allerdings muß bei diesen Zahlen beachtet werden, daß auch der Gesamthaushalt von 1989 angestiegen ist. Die prozentuale Verteilung zeigt aber an, daß die “Umkehrung der Prioritäten” tatsächlich realisiert worden ist: 1988 wurden 37% des Haushaltes im Bereich “Soziales” ausgegeben, 1989 58%. Die Bereiche Erziehung, Gesundheit und öffentlicher Transport sind deutlich aufgewertet worden -die größten Einbußen erlitt der Bereich “Straßenbau”, dessen Anteil von 36% (!) auf 12,7% gesenkt wurde. Eine weitere Umverteilung innerhalb des Haushaltes ist nicht beabsichtigt, das äußerte deutlich der Planungssekretär Paulo Singer im Gespräch mit den LN.
Bei allen diesen Zahlen ist eins zu beachten: Der größte Teil der Ausgabenerhöhung ist erfolgt, um die Gehälter der Angestellten der Stadt zu verbessern. Der Vorgänger Erundinas, Janio Quadros, hatte durch einen Lohnstopp (bei hoher Inflation) die Gehälter der Beschäftigten drastisch gesenkt, damit auch die öffentliche Verwaltung in vielen Bereichen fast lahmgelegt. Die PT-Verwaltung ging da-von aus, daß eine Moralisierung des öffentlichen Dienstes nur über Lohnverbesserungen zu erreichen ist. Von Dezember 88 bis November 89 wurden die Löhne drastisch erhöht, im Schnitt um Ca. 100% (Inflationsbereinigt), Erhöhungen, die im Wesentlichen den vorangegangenen Lohnraub kompensierten.
Darüberhinaus konnte die Verwaltung eine ganze Reihe von einzelnen Verbesserungen erreichen. So wurde das Programm der Schulnahrung um 30% erweitert und der Speiseplan verbessert. Die Kinder bekommen jetzt auch Fleisch und Fisch (die VegetarierInnen mögen es verzeihen!)
Die PT-Verwaltung sieht es als ihren größten Erfolg des ersten Jahres an, daß die Prioritäten des Haushaltes umgewertet und ein solider Haushalt vorgelegt wurde, ohne zwei Grundforderungen neoliberaler Politik zu erfüllen: die Privatisierung des öffentlichen Dienstes und die Verringerung der Zahl der öffentlichen Angestellten. “Wir haben ein neues ökonomisches Modell eingeführt”, heißt es stolz im Rechenschaftsbericht.
Nun, alles dies sind viele Zahlen, und es sagt wenig darüber aus, wie sich die konkrete Politik oder gar das Leben der Menschen in Sao Paulo verändert hat. Im Folgenden will ich an zwei Beispielen die Realisierungsversuche der alternativen Politik umreißen.

Ein neues Verkehrskonzept?

Wer jemals in Stoßzeiten Busse oder Nahverkehrszüge in Sao Paulo benutzt hat, wird sich mit Sehnsucht an die überfüllten U-Bahnen in Berlin nach dem 9.November erinnern. Aufgrund der großen Entfernungen dauert das tägliche Inferno für viele Menschen 2 -4 Stunden. Und an den Haltestellen ist kaum ein gutes Wort über die Verkehrspolitik der PT zu hören. “Es ist dieselbe Schweinerei wie vorher -wenn nicht noch schlimmer!”-so der eindeutige Tenor.
Daß es bisher kaum wahrnehmbare Verbesserungen gibt, gesteht auch der Sekretär für Verkehr, Adhemar Gianini, ohne Zögern ein. Gianini repräsentiert nicht gerade den typischen PT’ler, er ist einer der wenigen Unternehmer in den Reihen der Arbeiterpartei. Seine Politik ist symptomatisch dafür, wie die Verwaltung Probleme umgeht.
Der Nahverkehr in Sao Paulo wird überwiegend durch private Busgesellschaften bewältigt. Die städtische CMTC hatte 1988 einen Anteil von 20% am Passagier- aufkommen. Ziel der Regierung ist es, diesen Anteil bis zum Ende der Amtszeit auf 70% zu erhöhen. In den letzten Jahren hatte sich der öffentliche Nahverkehr dramatisch verschlechtert. 1979 verkehrten in Sao Paulo 8000 Busse, 1988 8329. Die Bevölkerung war aber inzwischen um 4 Millionen Menschen angewachsen. {b Im Wahlkampf hatte die PT die Verstaatlichung des Nahverkehrs auf ihre Fahnen geschrieben. Das heißt Enteignung der privaten Gesellschaften? Weit gefehlt. Gianini stellt ein ganzes Arsenal von Maßnahmen vor, daß zu einer Verbesserung des kollektiven Verkehrs im allgemeinen dient (Stichwort: mehr Busspuren), zum anderen die städtische Gesellschaft CMTC systematisch aufwertet. Tatsächlich fand die neue Regierung die CMTC in einem katastrophalen Zustand vor: Fast 800 der 3000 Busse lagen brach, weil Ersatzteile fehlten. Inzwischen ist der Anteil der täglich fahrenden Busse erhöht, 200 neue Busse sind angeschafft, 800 sollen dieses Jahr dazukommen und der Anteil der CMTC am Passagieraufkommen ist von 20 auf 30% erhöht.
Einer der umstrittensten Punkte der bisherigen Verkehrspolitik waren die (städtisch kontrollierten) Fahrpreise. Die bürgerliche Presse legte mit großer Aufmachung dar, daß die Bustarife im Jahre 1989 über die Inflationsrate hinaus gestiegen waren. Gianini legt Gegenrechnungen vor, bei verschiedenen Inflationsindices, oder unterschiedlichen Anfangspunkten der Rechnung kein Kunststück. Eine Diskussion für Fachleute die Gianini zugunsten der PT-Verwaltung entscheiden konnte. Nur: Eine deutlich spürbare Senkung der Buspreise hat es nicht gegeben -und kann es im Rahmen der überwiegend privaten Struktur auch nicht geben.
Die Verkehrspolitik Ist aber nicht nur ins Kreuzfeuer der bürgerlichen Verwaltung geraten. Auch Teile der linken Opposition in der PT und die albanistische (ja, ja) Kommunistische Partei (PC do B), die ein Wahlbündnis mit der PT eingegangen war, setzen hier mit ihrer Kritik an. Sie fordern, die Verkehrspolitik zum strategischen Schwerpunkt der Kommunalpolitik zu machen. Die Verwaltung
dürfe sich nicht in vielen Bereichen verzetteln, sondern müsse an einem Punkt exemplarisch den Konflikt mit der Bourgeoisie führen und sofort spürbare Verbesserungen erreichen. Statt den Konflikt mit Unterstützung der Massen zu wagen, setze die Verwaltung auf technische Lösungen, so die Kritik.

Eine Frauenbeauftragte für Sao Paulo

Daß mit Erundina eine Frau zur Bürgermeisterin der größten Stadt Brasilien gewählt worden ist, muß schon in der männerbeherrschten brasilianischen Politik als Sensation gelten. Erundina hat sich zwar nie als Feministin verstanden, aber ein überparteiliches Komitee von Frauen zur Unterstützung ihrer Kandidatur hat im Wahlkampf eine wichtige Rolle gespielt und Frauenforderungen in die Kampagne eingebracht. Eine Forderung von Teilen der Frauenbewegung, die Errichtung eines selbständigen Frauensekretariats, wurde nicht erfüllt, und erst im November 1989 wurde eine spezielle Frauenkoordination gebildet, die “coordinaria especial de mulher”. An ihre Spitze trat Simone Deniz, eine Arztin, Mitarbeiterin des “Feministischen Kollektives Gesundheit und Sexualität”.
Eine wichtige Entscheidung, da damit eine erklärte Feministin die Koordination
der Frauenpolitik in Sao Paulo übernommen hat, und keineswegs eine selbstverständliche, da auch in der PT orthodox-marxistische Einstellungen existieren, die Feministinnen mit Argwohn gegenüberstehen, wie Simone Deniz erklärt.
Die coordinaria, in der 11 Frauen arbeiten, verfügt zwar über eigene Mittel, ist aber dem “Sekretariat für außerordentliche Geschäfte” zugeordnet und damit einem männlichen Sekretär unterstellt. Die “secretaria de negocios extraordinarios” vereinigt die “Räte” spezieller Bevölkerungsgruppen, wie, den “Rat der Alten”, den “Rat der Behinderten” und die “Koordination der Schwarzen”. Damit ist die Frauenpolitik in das unheilige Sammelbecken sogenannter Minderheitenpolitik geworfen. Simone Deniz sieht dieses Problem durchaus, sie meint aber, mit der Bildung einer eigenständigen Koordination, die in der Praxis autonom arbeitet, wäre wenigsten ein erster Schritt gemacht. In einem Gespräch benennt sie vier Schwerpunkte der geplanten Frauenpolitik: Gesundheit und Sexualität, Frauen in der Arbeitswelt, Erziehung, Gewalt. Im Mittelpunkt stehen bisher zwei Projekte: Die Einrichtung zweier Frauenhäuser; Einrichtungen, die Frauen aufnehmen können, die Opfer von Gewalt sind, existieren zur Zeit nicht in Sao Paulo. Das zweite Projekt ist die Einrichtung einer Geburtsklinik, die eine Musterklinik wer-den soll. Dafür gibt es einen einleuchtenden Grund: Verletzungen bei der Geburt sind in Sao Paulo die Haupttodesursache für Kinder im Alter bis zu einem Jahr. Die Quote der Kindersterblichkeit lag 1984 in Sao Paulo bei 48,4 pro Tausend. in den USA liegt die Quote bei 8,5, in Japan bei 5,5. Circa 11 der 48 Todesfälle sind Folge von Verletzungen bei der Geburt, eine Zahl, die die miserablen Bedingungen in den Geburtskliniken anzeigt. Ein bereits verwirklichtes Projekt ist die Eröffnung eines Beratungszentrums für Frauen, die Opfer von Gewalt sind.

Räterepublik für Sao Paulo?

Die PT-Verwaltung hat im Rahmen ihrer äußerst engen Möglichkeiten Beachtliches geleistet. Aber sie ist nicht angetreten, um lediglich eine ehrliche, unbestechliche und technisch effektive Politik zu gestalten, sondern als Verwaltung einer sozialistischen Partei. “Die Maschinerie der Kommunalverwaltung ist nicht neutral, ist nicht übergreifend, wie die Bourgeoisie glauben machen will, um sie in ihren Dienst zu stellen. Die Verwaltung in den Dienst der Arbeiter zu stellen, bedeutet deshalb, sich auf Konflikte einzulassen, die nicht harmonisiert werden * dürfen.” (Dokument der PT-S.P. vom Mai ’89). Die PT sollte sich nicht von vorn-herein mit den ökonomischen und institutionellen Restriktionen einer Kommunalverwaltung abgeben, sondern ihre Position nutzen, um die Bevölkerung zu mobilisieren. Das entscheidende Merkmal einer PT-Regierung sollte nicht diese Schulspeisung oder jeher neue Bus sein, sondern die Beteiligung der Bevölkerung an der Regierung. Die Bildung von “Volksräten” (conselhos populares) war als
entscheidendes Mittel der autonomen Organisation gedacht. “Ohne diese Instrumente ist es unmöglich, die Vorschläge der PT-Regierung zu verwirklichen.” Die Volksräte sollten “die institutionalisierten Räte der Volksbeteiligung” sein, wobei es allerdings keine präzisierten Vorschläge gab, wie diese Räte gebildet werden könnten.
Die “conselhos populares” gibt es bis heute nicht -und sie sind auch aus der Diskussion. Zwar hat die Verwaltung regionale Beratungsgremien geschaffen, um lokale Probleme mit einem möglichst breiten Kreis von beteiligten Gruppen zu diskutieren, aber das ist eben keine institutionalisierte Partizipation.
Die Bewertung des ersten Jahres PT-Verwaltung durch das Direktorium der PT-Sao Paulo gipfelt denn auch in dem Vorwurf des “administrarismo”, des reinen Verwaltens. “Wir verstehen unter ‘administrarismo’ eine Politik der Anpassung an die politische und ökonomische Macht in der Gesellschaft und die mit dem bürokratischen Apparat verknüpften privaten Interessen. Dieses Konzept unter-stellt, daß es möglich ist, für alle zu regieren.”
Die Verwaltung habe, statt die politische Debatte zu forcieren, nur technische Lösungen für die Probleme der Stadt gesucht. “Das Ergebnis dieser administrativen Politik ist bekannt. Nach den Ergebnissen einer Umfrage von “Data Folha” reduzierte sich die Zustimmung zur Politik der Verwaltung auf 20%, der 18.Platz unter 23 befragten Hauptstädten. Tatsächlich wurde Erundina der Vonvurf gemacht, durch ihre Politik der Wahlkampagne Lulas geschadet zu haben.
Die Analyse, daß die Verwaltung in erster Linie technische Lösungen gesucht hat, ist wohl zutreffend. Die Frage ist nur, ob sie wirklich andere Möglichkeiten hatte. Die Wahl Erundinas war ja nicht das Ergebnis langer organisierter Kämpfe, sie wurde nicht von einer strukturierten Massenbewegung getragen. Natürlich haben organisierte Sektoren der zivilen Gesellschaft, insbesondere die Bewegung der Favela-BewohnerInnen, Erundina gestützt und zu ihrer Wahl beigetragen, aber das sind eben einzelne Sektoren. Die Bildung der Volksräte konnte nicht von oben per Dekret erfolgen (so argumentiert die Verwaltung), und eine Massenbewegung, die eine populäre Verwaltung von unten aufbaut ist nicht in Sicht. Der “administrarismo”der Verwaltung hat seine realen Gründe, und gegenüber diesen bleibt die Kritik der PT plakativ.
Erundina hat in dem bereits zitierten Interview mit der Zeitschrift Isto E einige bemerkenswerte Antworten auf die Vorwürfe der Partei gegeben: “Ich bekräftige noch einmal und versuche, es in der Praxis zu beweisen, daß ich nicht die Bürgermeisterin der PT bin. Ich bin eine ‘pedista’ in der Verwaltung und bin die Bürgermeisterin der Stadt.” Und in einem anderen Zusammenhang sagt sie: “Am Anfang gab es gegenseitige Vorurteile, auf unserer Seite gegenüber den Unternehmern und auf Seite der Unternehmer gegenüber uns. Aber die Erfahrung zeigte, daß es möglich ist, einvernehmlich zusammenzuleben und die Interessen der Stadt zu garantieren, ausgehend von einem transparenten, ehrlichen und offenen Verhältnis.”
Dies bestätigt die Aussage, die Verwaltung versuche eine Politik im (angeblichen) Interesse der Stadt zu machen statt Klassenpolitik. Solche Außerungen legen den Verdacht nahe, daß der politische Wille, in der Konfrontation mit den mächtigen Interessen die Hegemonie einer populären Verwaltung durchzusetzen, nur schwach entwickelt ist.

Shell, Samba und Coca Cola -oder die Linke in postmodernen Zeiten

“Wir werden die Verwaltung für die öffentliche Meinung verkaufen, wie man Coca Cola verkauft” sagte im April diesen Jahres ein Mitarbeiter Erundinas, um die neue Offentlichkeitspolitik zu erläutern. Damit reagierte die Bürgermeisterin auf die schlechten Umfrageergebnisse und auf die Kritik, ihre Medienpolitik sei absolut unzureichend. Ein Wettbewerb wurde ausgeschrieben und im Juni er-hielt die größte brasilianische Werbeagentur den Zuschlag. Sie wird versuchen, durch Werbekampagnen das Image der Verwaltung und Erundinas aufzubessern.
Politik muß inszeniert sein, muß Spektakuläres vorzeigen, mit neuen Schulspeisungen allein ist auch in der Stadt kein Staat zu machen. Nicht nur eine neue Medienpolitik sondern auch wirksame Show-Effekte will die Verwaltung. Der erste Coup ist ihr bereits gelungen: “Sao Paulo gibt Gas” heißt es stolz in der Einjahresbilanz. Damit sind nicht neue Sozial-Pläne gemeint, sondern die Formel I. Nach zehn Jahren ist es Erundina gelungen, das Rennen des “Großen Preises von Brasilien” wieder von Rio nach Sao Paulo zurückzuholen -durch einen Vertrag mit Shell. Der Multi restaurierte im Eiltempo die Rennstrecke Interlayes und er-hielt dafür die Konzession, zwanzig Grundstücke zehn Jahre lang zu nutzen. “Ein optimales Geschäft”, proklamierte Erundina. “Ein Verrat an den nationalen Interessen”, rief die rechte Opposition. Von dem internationalen Boykottaufruf gegen Shell hatte niemand etwas gehört, er spielte in der Diskussion keine Rolle. Auf jeden Fall war der 25.März, der Tag des Rennens, ein Erfolgstag für Erundina. Die ZuschauerInnen brachten ihr Ovationen dar.
Als weitere Projekte der Politik der Spektakel sind nun die Errichtung eines Sambastadions nach dem Vorbild von Rio und eine Neugestaltung des Stadtzentrums geplant. In diesem Jahr hatte Sao Paulo zum ersten Mal einen offiziellen Karneval. Das Gesetz 282/89 garantiert nun die Realisierung des Karnevals durch die Bürgermeisterin.
Genützt haben diese Bemühungen um ein neues Image allerdings bisher wenig. Nach einer jüngsten Umfrage der Folha de Sao Paulo (1.7.) ist der Anteil derer, die die Regierung Erundina für gut halten, sogar noch auf 21 % gesunken. Solche Umfragen sind allerdings fragwürdig. Denn eines kann man immer wieder hören: Erundina macht zwar Fehler, aber sie ist ehrlich. Eine Politikerin, die niemand für korrupt hält, das ist schon etwas in Brasilien.

Neue Frente – alte Contra

Zunächst erinnerten die Äußerungen von einigen FSLN-Comandantes, die in verschiedenen Interviews mit der BARRICADA ihre Meinung zum Demokrati­sierungsprozeß der Frente kundtaten, an die Nationallei­tungs-Astrologie, mit der schon seit Jahren BerichterstatterInnen versucht hatten, Unterschiede und Kon­fliktlinien innerhalb der sandinistischen Führung herauszubekommen, indem zwischen den Zei­len die Wahrheiten vermutet wurden. Und auch in den vergan­genen Monaten fiel es schwer, aus den durchaus unterschiedlich nuan­cierten Stellungnahmen von Bayardo Arce, Victor Tirado und Tomas Borge eine neue Linie herauszufinden. Einig waren sich alle darin, daß es einen Erneuerungspro­zeß geben müsse, daß vor allem hierar­chische Strukturen innerhalb der Frente und undemokratische Ent­scheidungsprozesse abgebaut werden müßten. Plötz­lich bezichtigte sich die Frente selbst – sicher auch angesichts der großen Zahl der nach der Wahlniederlage als solche zu identifizierenden Oppor­tunistInnen in ih­ren Reihen – als eine Organisation mit vertikalen Strukturen, in der die Entschei­dungen von oben nach unten gefällt wurden und für langwierige Überzeu­gungsarbeit kein Raum war, als verbürokratisierte Mammutorganisation, die auch von Korruption nicht frei war. Die erste Entscheidung, die als Konsequenz aus dieser Einschätzung gefällt wurde, war die Öffnung zur “Massenpartei”, das heißt, die Abschaffung der politischen Bewäh­rungsprobe für Eintrittswillige. Be­gründung: Wer in diesen Zeiten Mitglied der Frente werden will, tut dies nicht aus Karriere-Grün­den.
Problematisch war in dieser Phase der Diskussion, daß die Tagesak­tualitäten, die Contra-Entwaffnung, die Abschaffung revolutionärer Errungenschaften und die außenpolitische Isolation der Frente einen sofortigen Handlungsbedarf erzeug­ten, der mit einer länger­fristigen Diskussion über Programmatik und Strukturen der Partei nicht in Einklang zu bringen schien. Gleichzeitig war aber inner­halb der Basis der FSLN ein Prozeß der Kritik an Führung und Strukturen bereits in Gang gesetzt, den abzublocken einem politi­schen Selbstmord der Leitungsebene gleichgekommen wäre. So kam es vorrangig darauf an, die Diskussion – die die Gefahr der Spaltung beinhaltete – in strukturierte und produktive Bahnen zu len­ken. So fanden auf allen kommunalen Ebenen bereits Neuwahlen der Leitungs­gremien statt, die mit einer kritischen Auswertung der Arbeit der letzten Jahre verbunden waren. Für die Strukturdebatte auf natio­naler Ebene wurde ein kon­kreter Zeitplan erarbeitet. Erster Kulmi­nationspunkt dieser Debatte war eine sandinistische Delegierten­versammlung Mitte Juni, auf der beschlossen wurde, die geplante erstmalige Neuwahl der Nationalleitung auf dem Parteitag – auch dem ersten – im Februar 1991 durchzuführen.
Innerhalb der FSLN gab es eine heftige Auseinandersetzungen zwischen den als solchen beschimpften “pactistas” und den “radikal linken” Positio­nen. Anlaß wa­ren Einzelaktionen der National­leitung: be­schwichtigende Haltung beim ersten Streik der Staats­angestellten Anfang Mai, geplanter Eintritt in die Sozialistische Internationale, Politik der Kooperation mit der UNO-Regierung, bzw. dem als “moderat” eingeschätzten Teil der UNO um Violeta Cha­morro. Es setzte sich eine Kompromiß-Position durch, die klar formu­liert, daß es in der derzeiti­gen Situation überhaupt keinen Grund gibt, mit der UNO-Regierung zu paktie­ren und damit eine Mitverant­wortung für die sich ständig verschlechternden Le­bensbedingungen zu übernehmen, sondern daß es vielmehr darauf ankomme, den Charak­ter der UNO-Politik deutlich zu machen und in der Verteidigung der sozialen Rechte der Bevölkerung auch gerade diejenigen zu errei­chen und wie­derzugewinnen, die am 25.Februar in Erwartung einer schnellen Lösung der wirtschaftlichen Misere des Landes der UNO ihre Stimme gegeben hatten. Das bedeutet eine fundamentale Opposi­tion zum Politik-Modell der UNO und insbe­sondere der rechtsextre­men Kräfte, die durch die Godoy-Gruppe und die aus Miami zurück­kehrenden somozistischen Unternehmer repräsentiert werden. Über die Formen aber, wie diese fundamentale Opposition auszusehen hätte, wurde durchaus kontrovers diskutiert, wobei die Transforma­tion der FSLN von einem “Ministerium für Mobilisierung” in eine politische Partei, die Überzeu­gungsarbeit zu leisten hat, im Mit­telpunkt steht. Auf der parlamentarischen Ebene wird es, um der FSLN Spielräume der politischen Betätigung zu erhalten, Kompro­misse geben müssen. Es wurde auch formuliert, daß es nicht das Ziel der FSLN ist, derzeit und so schnell wie möglich einen Sturz der Chamorro-Regie­rung herbeizuführen, sondern daß zunächst die politische Hegemonie zumindest in einer Mehrheit der Bevölkerung zurückerkämpft werden müsse. Was hätte die Frente auch anzubieten, würde die Regierung jetzt wieder an sie übergehen? (Selbst wenn das in einem friedlichen Szenario derzeit kaum denkbar erscheint.)
Dennoch, die Position der FSLN im jüngsten Generalstreik Anfang Juli verdeut­licht die neue Haltung. Zunächst erklärte die Frente ihre unbedingte Unterstüt­zung der Streikenden und ihrer Forderun­gen und rief die sandinistische Basis auf, sich in die Reihen der FNT (Nationale ArbeiterInnenfront) einzugliedern (s.Erklärung vom 3.7.). Als die Situation unkontrollierbar erschien und in Mana­gua eine Aufstandsstimmung wie 1979 registriert wurde, versuchte die FSLN er­neut zu schlichten und beruhigend einzuwirken.
Der Antrag auf Eintritt als Vollmitglied in die Sozialistische In­ternationale, den die Nationalleitung der FSLN ohne breite Diskus­sion gestellt hatte, wurde zu­rückgezogen, eine Entscheidung dar­über soll auf dem Parteitag im Februar ge­fällt werden.
Wenn der bisherige Prozeß der Diskussion innerhalb der Frente bewertet werden soll, dann sind zwei gegenläufige Tendenzen zu erkennen: Auf der einen Seite eine starke Kritik von Seiten der Basis an den hierarchischen Strukturen, die sich in der Abwahl von Leitungsmitgliedern und radikalen Forderungen zur Umge­staltung der Frente äußert; auf der anderen Seite eine Basis, die in der Zeit der “Orientierungslosigkeit” nach der Wahl, als es keine klaren Anweisungen von oben gab, zeitweise paralysiert schien und kaum handlungsfähig war. Neuer An­spruch und alte Verhaltensmuster werden sicherlich noch über den Parteitag im Februar hinaus die Realität der FSLN bestimmen.
Entwicklungszonen für die Contra – Entwaffnung eine Farce
Alle demonstrierten sie Optimismus: die Presse, die UNO-Regierung, Kardinal Obando y Bravo, der für die Contras eine Messe hielt und nicht zuletzt die San­dinistInnen, die durch die scheinbar abge­schlossenen Entwaffnung der Contra ein strategisches Ziel erreicht sahen, auch wenn sie das die Regierung gekostet hatte. Die Contra-Verbände gaben in pressewirksam inszenierten Aktionen ihre Waffen an die Soldaten der UN-Truppen ab, die diese dann – ebenso presse­wirksam – unmittelbar mit Schneidbrennern zerstörten. Daß noch Waffen in der Gegend um Chontales in der fünften Region versteckt waren, daran zweifelte niemand, doch schien der Moment gekommen, da die Contra als geschlossener militärischer Verband aufgehört hatte zu existieren.
Dies zu verhindern, war das von der Contra-Führung verfolgte Ziel bei Aus­handlung der sogenannten “Entwicklungszonen”, Zonen also, in denen sich die Contras mit der finanziellen Ausstattung der USA für ihre “Reintegration” ansie­deln konnten, um zum zivilen Leben zurückzukehren, aber gleichzeitig in den bestehenden Verbänden zu­sammenzubleiben und insofern jederzeit bei intakt bleibender Be­fehlsstruktur wieder einsatzfähig zu sein. Große Worte waren mit der “Demobilisierungsfeier” verbunden, die von der internationalen Presse ver­folgt wurde. Da sprach Israel Galeano, alias Comandante Franklyn, von einem “Nicaragua ohne Waffen und Soldaten”, von der friedlichen Zukunft, die das Land erwarte, jetzt, da es demokra­tisch geworden sei.
Die Ernüchterung für alle Zweck-OptimistInnen kam in den Tagen des General­streiks Anfang bis Mitte Juli, als sich plötzlich bewaff­nete Regierungsanhänger mit sandinistischen Streikenden in Managua Feuergefechte lieferten, bei denen es sechs Tote und über dreißig Verletzte gab. Woher mögen die Waffen wohl ge­kommen sein, die plötzlich in Managua auftauchten? Die ersten Meldungen, nach denen die Contra in der explosiven Situation des Generalstreikes wieder voll einsatzfähig sei, mögen übertrieben gewesen sein, doch wurde die Gefahr für alle Welt sichtbar, die aus der laxen und nur unzu­reichend kontrollierten Entwaffnung der Contra für den Ablauf der sozialen Konflikte erwächst, die in Nicaragua sicher erst am An­fang stehen.
Dabei war die Einrichtung der Entwicklungszonen zunächst ein Zuge­ständnis an die Contra gewesen, daß auch von sandinistischer Seite aus als relativ ungefähr­lich eingeschätzt worden war. Die hiesigen Meldungen, daß der Contra ein Ter­ritorium zur freien Verfügung ge­stellt worden sei, das einem Sechstel des Landes entspreche, beru­hen auf einem Mißverständnis, wie der ehemalige Bürgermeister von Managua, Carlos Carrión bei einem Besuch in West-Berlin klar­stellte: Inner­halb dieses Territoriums können einzelne Gebiete zur Ansiedlung ausgewählt werden, vorrangig in bislang unbewohntem Ge­biet, wo dann neue Infrastruktur erstellt wird. Um die genauen Orte werden allerdings noch heftige Konflikte ge­führt, z.B. wehr­ten sich die BewohnerInnen von San Juan del Sur, einer Ge­meinde innerhalb des für die Contra-Ansiedlung vorgesehenen Gebietes, ge­gen die Schaffung von Ansiedlungszonen in ihrem Einzugsgebiet. Diese Gemeinde ist eine der wenigen, die noch von der FSLN regiert werden, aber nicht nur dort regt sich Widerstand. Auch in den Au­tonomen Regionalparlamenten der Atlan­tikküste, wo die bislang ebenfalls bewaffnet gegen die sandinistische Regierung kämpfende Indianer-Organisation YATAMA über eine Stimmenmehrheit ver­fügt, stimmten YATAMA und FSLN gemeinsam gegen eine Ansiedlung von Contras auf dem Gebiet der Autonomen Region.
Die Frage der eigenen Polizei, die die Contra unterhalten soll, wird von sandini­stischer Seite aus eher gelassen gesehen. Es han­dele sich um eine Polizei, die le­diglich normale Ordnungsaufgaben in diesen Gebieten übernehmen solle und zudem unter dem Oberbefehl der nationalen Sandinistischen Polizei stehe. Diese Lösung sei besser, als wenn bei normalen kriminellen Handlungen die für die Contras nicht zu akzeptierende Sandinistische Polizei oder gar das Heer ein­schreiten müsse.

Die Zuspitzung in der Chamorro-Re­publik

Bei einer Solidaritätsveranstaltung in Hamburg am 4.4.90 sah Miguel d`Escoto, nicaraguanischer Ex-Außenminister, die Ursachen für diesen Streik darin, daß die Chamorro-Regierung von den USA gezwungen wird, Maßnahmen durch­zuführen, die an die Substanz des nicaraguanischen Volkes gehen, um die ver­sprochenen 300 Mio. Dollar zu erhalten. Das sind – für alle der den IWF-zerschla­genden Bewegung Zugehörigen bestens bekannt –
a) die Privatisierung des gesamten öffentlich-staatlichen Sektors
b) die Streichung sämtlicher Subventionen
c) Reduzierung des Staatshaushaltes für den Sozialbereich (Gesundheit, Erzie­hung usw.)
Folge dieser Politik sind Massenentlassungen von LehrerInnen und Personal im Gesundheitsbereich, die Aufhebung der Subventionen z.B.:
– für den Transport für Schüler, Studenten und Lehrer,
– für die verschiedensten Bereiche der gesundheitlichen Versorgung, wie ko­stenlose Schwangerenvorsorgeuntersuchung und Kleinkinderuntersuchun­gen, u.v.a.m.
Weitere Folgen sind die ersten Versuche bzw. bereits vollzogenen Rückgaben von Staatsländereien (UPE`s ) an ihre alten Besitzer. Dazu wurde das verfas­sungswidrige Dekrekt 10-90 erlassen, das alle ineffizient arbeitenden Betriebe zur Reprivatisierung freigibt. Ein Dekret, dessen Inhalt eindeutig an der verfas­sungsmässig verankerten Agrar-Reform rüttelt und daher über die Nationalver­sammlung mit 2/3 Mehrheit hätte verabschiedet werden müssen, ist an dieser vorbei erlassen worden.
Zu den ersten Rückgaben, die der Landwirtschaftsminister Roberto Rondon laut Nuevo Diario vom 16.6. bereits formell vollzogen hat, gehören auch La Paz del Tuma und La Colonia, die UPE`s (staatliche Produktionseinheiten), die von der bundesdeutschen Solibewegung seit Jahren durch Brigadeneinsätze und auch fi­nanziell unterstützt werden. Rondón kündigte darüberhinaus an, daß er inner­halb von 2 bis 3 Wochen all die “unrechtmässig konfiszierten” alten Kaffeeha­ciendas wieder ihren “rechtmäßigen” Eignern zurückerstatten wolle. Sie sollen dann zu Viehzuchtbetrieben gemacht werden. In La Paz del Tuma ist eine der modernsten Kaffeeverarbeitungsanlagen kurz vor der Fertigstellung.
Dieses Dekret rüttelt also entscheidend an den Errungenschaften der Revolution, die es laut d`Escoto von der revolutionären Kraft in der Opposition an erster Stelle zu verteidigen gilt. Gelingt diese Reprivatisierung der staatlichen Lände­reien, so befürchten zurecht die Kooperativen und Kleinbauern, daß dann das nächste Dekret kommt, was ihre Ländereien reprivatisiert. Daher läuft im Land­wirtschaftsbereich eine verstärkte Mobilisierung der LandarbeiterInnen und ihrer Gewerkschaften mit dem Ziel, daß diese formelle Reprivatisierung nicht prak­tisch vollzogen bzw. rückgängig gemacht wird.
Weitere Forderungen der Streikenden sind die Sicherung des Arbeitsschutzge­setzes und die Weiter-Finanzierung der staatlichen Industriebetriebe. Aktuelle Politik der Regierung ist die der Aushungerung dieses Bereiches. Viele staatliche Industriebetriebe sind aus diesem Grund seit Wochen `vorrübergehend’ dicht, womit deren `Ineffizienz’ auf der Hand liegt.

“….befehle ich heute der Armee, daß sie gemeinsam mit der Natio­nalpolizei die öffentliche Ordnung unverzüglich herstellt…”

…verkündete Violeta Barrios de Chamorro am 9. Juli, zu einem Zeitpunkt, als von Seiten der Regierung die Verhandlungen zum Scheitern gebracht wurden. Der Streik wurde hinsichtlich des größten Teils der aufgestellten Forderungen als il­legitim erklärt und als politische Machtprobe tituliert. So wurde Verhandlungs­bereitschaft nur angesichts der klar umrissenen ökonomischen Forderungen de­monstriert, worauf sich die Streikenden jedoch nicht einließen.
Der Streik entwickelte sich zunächst über die Angestellten des Öffentlichen Dienstes und die LandarbeiterInnen. Am Nachmittag des 4.7.90 wurden 8 Ge­werkschaftsführer von der Polizei `vorgeladen’. Das forderte eine sofortige Ver­sammlung der Streikenden vor dem Gebäude heraus. Nach 1 1/2 Stunden waren die acht wieder frei, und diese Vorladung bewirkte ein Anwachsen der Streikbe­wegung auf über 80.000 beteiligte. Angeschlossen waren jetzt auch die Arbeite­rInnen der Metallbetriebe, der Bierbrauereien, des Textilbereichs, des Transport­bereiches u.a.. In einzelnen Landregionen wurden Fincas besetzt und überall gab es eine massive Organisierung der LandarbeiterInnen, um die Reprivatisierung aufzuhalten.
Der Stufenplan des Gewerkschaftsverbandes schaffte eine beständig anwach­sende Mobilisierung. Am Montag, dem 9.Juli war Managua zugepflastert mit Barrikaden, die an allen wichtigen Kreuzungen aufgebaut waren und die Stadt lahmlegten. Überall brannten Autoreifen und die Situation glich mehr und mehr einem `Aufstand’. Angesichts dieser Entwicklung bot die Chamorro-Regierung den Streikenden als Antwort das Militär an.

Die Aufpeitscher aus dem rechten Sumpf

Der ultra-rechte Unternehmerverband COSEP mit all seinen verbündeten Krei­sen, wie den Politikern, die sich um den Vize-Präsident Godoy versammeln, den natürlich niemals entwaffneten Contras, den diversen Radiosendern und der katholischen Amtskirche versucht, diesen Konflikt aktiv für sich auszunutzen und erneut die Machtfrage zu stellen. In Verlautbarungen des COSEP wird die Chamorro-Regierung massivst angegriffen, da sie nicht in der Lage sei, das Land zu regieren und immer noch von den Sandinisten kontrolliert sei. Über Radio Católica, Radio Mundial und Radio Corporación – den Radios, die schon immer Sprachrohr der Contra waren – wird permanent aufgehetzt und die gewalttätige Einmischung in den Streik gefordert. Das führte zu den ersten Todesopfern in dieser Auseinandersetzung durch vereinzelte aufgehetzte Rechte, die in die Menge der Streikenden schossen.
Die Aktivitäten dieser Kreise gipfeln in der Aufforderung des COSEP an die US-Regierung, durch militärische Intervention in diesen innenpolitischen Konflikt einzugreifen. Auch der geistige Schutzengel und eine der Zentralfiguren der rechtsextremistischen Koalition, Kardinal Obando y Bravo, sprach sich in ver­schiedenen Radiosendungen zugunsten einer solchen Intervention aus. Parallel dazu wurden am 12.7 im US-Bundesstaat Kalifornien, am Fort Ord, Sonderein­satztruppen der US-Streitkräfte in Alarmbereitschaft gesetzt. Fort Ord ist eine der US-Basen, die innerhalb der militärischen Strategie der US-Regierung als Aus­gangspunkt für Einsätze in Lateinamerika fungieren. (So starteten die Truppen, die in Panama einmarschierten, von dieser Basis aus.)
Dieser Strategie der Eskalation durch die Ultra-Rechten, die zum Bürgerkrieg bzw. zur militärischen Intervention der USA führen könnte, versuchte der FNT mit seinem Vorgehen die Basis zu entziehen, angesichts der bisherigen Ereignisse ein schwieriges Vorhaben. Von Beginn an waren die Streikhandlungen darauf abgestimmt, die Lahmlegung der Arbeit auf einer Ebene effektiv zu bewirken, die nicht das Eingreifen der Polizei herausfordert. Nach dem Aufruf Violeta Chamorros an das Militär, u.a. zum Abbau der Barrikaden einzugreifen, wurden diese Barrikaden von den Streikenden selbst, allerdings auch mit polizeilichen Tränengas-Einsätzen in die Barrios verlagert und auch dort nur noch in redu­zierter Form wieder aufgebaut.

Naht das Ende der Chamorro-Regierung?

Ihr Spielraum scheint ausgereizt zu sein. Der aktuelle Streik zeigt deutlich, daß die nicaraguanische Bevölkerung nicht bereit ist, sich kampflos mit den von ihr verordneten IWF-Maßnahmen abspeisen zu lassen und den Somozismus wieder­aufkommen zu lassen.
Die ultra-rechte Koalition stellt mit ihrem aktuellen Aufbäumen gegen die Cha­morro/Lacayo-Fraktion die Machtfrage. So ist die Bereitschaft Lacayos, am 11.7. mit der FNT zu Übereinkünften zu kommen, von den Rechten zurückgewiesen worden. Und Godoy rief zur Gründung eines ‘Komitees zur nationalen Rettung’ auf. Der Chamorro-Clan verfügt – im Gegensatz zu den `Godoyisten’ – kaum über eine soziale Basis innerhalb des Landes . Dazu kommt der Druck der USA, die anfangs erwähnten Wirtschaftsmaßnahmen umgehend durchzusetzen.
Die Ergebnisse des Streikes, der am 12.Juli durch eine Verhandlungslösung beendet wurde, sind nur vorläufig zufriedenstellend: Die Rückgabe der Agrarbetriebe im Baumwollbereich ist vorerst ausgesetzt, es soll keine Repressalien und Entlassungen der am Streik beteiligten geben. Über die Festlegung eines Mindestlohnes soll, dann in “Gold-Cordoba” erst im September verhandelt werden, vorerst wurden 43% Lohnerhöhung zugestanden, was kaum einem Inflationsausgleich entspricht.
Der Zerstörung der Senderäume des rechten Hetzsenders Radio Corporación wurde von allen politischen Kräften, einschließlich der FSLN, verurteilt.

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