Das produzierte Territorium

Er sieht es als göttlichen Auftrag. Dr. Albrecht Glatzle aus Filadelfia, der größten Stadt des Chaco, verteidigt den Ausbau der Viehwirtschaft im nördlichen Chacogebiet Paraguays. Er begründet dies mit der Bibel, aus der er einen „göttlichen Auftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren“ herausliest. Mit diesem Argument versucht der in Deutschland promovierte Agrarbiologe die fortschreitende Abholzung des Trockenwaldes in der Chacoregion zu rechtfertigen. Der Spezialist für tropische Viehwirtschaft erklärte in verschiedenen Leserbriefen und anderen journalistischen Beiträgen, dass die Viehwirtschaft im Chaco mitnichten die Biodiversität verringern oder der Wüstenbildung Vorschub leisten würde. Stattdessen sieht er in der Viehwirtschaft eine nachhaltige Wirtschaftsform, die Devisen und Fortschritt ins Land bringen würde. In anderen Äußerungen leugnet er auch den menschengemachten Klimawandel.
Auch wenn man seine Ansichten nicht teilt, kann man nicht behaupten, dass Dr. Albrecht Glatzle nicht wüsste, wovon er spricht. Seit 1990 ist er Viehzüchter im Chaco, als Direktor eines privaten Instituts für Raumplanung und Viehzucht hat er maßgeblich zur heutigen Raumordnung des Chaco beigetragen. Für ihn ist die Integration des Chaco in die Weltwirtschaft eine Erfolgsgeschichte, die weitergeführt werden sollte: Der leere und nutzlose Raum Chaco wurde und wird durch die Viehwirtschaft in Wert gesetzt und somit auch für die Nation Paraguay erobert.
Leer war dieser Raum aber noch nie. Im Chaco leben seit tausenden Jahren Indigene verschiedener Ethnien. Während der Kolonialzeit galt die regenarme und heiße Tiefebene den aus Europa kommenden Kolonialherren als nutzlos und lebensfeindlich. Sie ignorierten das Gebiet, das etwas größer als Polen ist. Deshalb blieben bis weit ins 20. Jahrhundert viele Indigene des Chaco isoliert von der restlichen Welt; einige sogar bis heute.
Einige Gruppen der Ayoreo Totobiegosode vermeiden auch heute noch jeglichen Kontakt zur Außenwelt. Sie leben als Jäger_innen und Sammler_innen und ernähren sich von Landschildkröten, Chaco-Pekaris, Wurzeln und wildem Honig. Sie verkaufen ihre Produkte nicht, sie sind nicht in den Weltmarkt eingebunden. Sie identifizieren sich weder als Paraguayer_innen, noch als Bolivianer_innen und leben außerhalb nationaler Räume.
Aus diesem Grund besitzen die Ayoreo Totobiegosode keine legalen Besitztitel des paraguayischen Staates über ihr Land. Aber Viehzuchtunternehmen wie die spanisch-argentinische Carlos Casado S.A. oder die brasilianische Yaguareté Porã S.A. besitzen sie. Carlos Casado S.A. ist seit 1886, als der paraguayische Staat die vermeintlich „leeren“ Ländereien des Chaco zu verkaufen begann, auf dem Papier der größte Landeigentümer der Region.
Insbesondere diese beiden Firmen – aber auch zahlreiche andere – dringen immer weiter in den nördlichen Chaco ein, um den artenreichen Trockenwald zu roden und vor allem Viehweiden anzulegen, aber auch um Sesam oder andere trockenheitsresistente Feldfrüchte anzubauen. Neue Technologien – schwere Bulldozer und Wasserspeicheranlagen – geben die Möglichkeiten dazu. In Loma Plata, mit etwas weniger als 6.000 Einwohner_innen eine der größten Städte des Chaco, ist eine der modernsten Viehschlachtanlagen der Welt entstanden. Sie funktioniert ausschließlich mit Regenwasser, das immer wieder aufbereitet und gereinigt wird. Der Chaco ist für die globale Agrarindustrie geöffnet und Investor_innen aus aller Welt, vor allem aus Brasilien, drängen in das vermeintliche Niemandsland.
Den Ayoreo bleibt nichts übrig, als ihre überlieferte Lebensweise aufzugeben. In den 1970er Jahren haben evangelikale Missionare aus den USA etliche Ayoreo-Gruppen – oft mit Gewalt – sesshaft gemacht. Diese Ayoreo, die sich frei zwischen den nationalen Räumen Boliviens und Paraguays bewegten, sind unter Zwang in die jeweiligen Nationen und die kapitalistische Wirtschaft integriert worden. Nur einige Gruppen der Ayoreo Totobiegosode bleiben außerhalb der Nationen.
Doch die Integration der Ayoreo blieb unvollständig. Bis heute haben die meisten von ihnen enorme Anpassungsschwierigkeiten. Lohnarbeit ist ein Konzept, dass den ehemaligen Jäger_innen und Sammler_innen fremd ist und bleibt. In den Städten im paraguayischen Chaco und im Südosten Boliviens leben die Ayoreo in Slums unter menschenunwürdigen Bedingungen. Für die meisten Familien sind Sexarbeit und Betteln die einzigen Einnahmequellen. Bei vielen sesshaft gemachten Ayoreo grassiert eine rätselhafte Lungenkrankheit, der Tuberkolose ähnlich, die weder verstanden noch behandelt wird. Die kapitalistische Inwertsetzung des Chaco war für sie keine Erfolgsgeschichte wie für Herrn Dr. Glatzle.
Die Pionierarbeit für die wirtschaftliche Erschließung des Chaco leisteten deutschsprachige Mennonit_innen, die ab 1921 aus Kanada und der Sowjetunion den Chaco besiedelten. Hintergrund für ihre Ansiedlung war der Konflikt zwischen Bolivien und Paraguay um das umstrittenen Gebiet. Die beiden Länder lieferten sich einen Wettlauf um die „Kolonisierung des Chaco“, wie dies damals genannt wurde. Das „herrenlose“ Land zwischen den beiden Staaten sollte in Nationalterritorium umgewandelt werden. Paraguay lud die Mitglieder verschiedener mennonitischer Kirchen in den Chaco ein, damit sie diesen Raum für Paraguay integrierten.
Die mennonitischen Immigrant_innen sollten im Raum die Nation repräsentieren, auch wenn die meisten bis heute in den Schulen auf Deutsch lernen und zu Hause ihren Plautdietsch genannten Dialekt pflegen. Sie gründeten die wichtigsten Städte Filadelfia und Loma, in denen auch heute viele Hinweisschilder auf Deutsch geschrieben sind. In der rassistisch geprägten Welt galten die weißen Siedler_innen dennoch als angemessenere Repräsentant_innen der paraguayischen Nation als die Indigenen, die als „barbarisch“ und „zurückgeblieben“ diffamiert wurden. Nur eine Nutzung des Raums, die in die kapitalistische Weltwirtschaft integriert war, galt als legitim. Der Raum, den die Indigenen nutzen und beleben, war nicht in die Nation integriert und sollte umstrukturiert, als Nationalterritorium produziert werden.
Dieses Muster ist im Streit um die Raumnutzung des Chaco und anderer „staatsferner Räume“ in Lateinamerika bis heute erkennbar. Als 2003 das Biosphärenreservat des Chaco gegründet wurde, protestierten Farmer_innen in Filadelfia dagegen. Sie hielten Schilder hoch, auf denen stand: „Ihr wollt den Tod der Produzenten!“. Auch der Agronom Dr. Glatzle sieht das so. Er will nicht auf die „Nutzung einer Fläche von der Größe Bayerns, Baden-Württembergs und Hessens“ verzichten, wegen einer „Handvoll Waldbewohner“. Die Produktion der Ayoreo Totobiegosode, auch wenn sie den Wald und seine Biodiversität schont, wird nicht anerkannt und als unangemessen dargestellt. Sie beleben ihren Raum, und doch stellen die Agrarunternehmer_innen diesen Raum weiterhin als „leer“ dar.
Staatliche Institutionen teilen meistens diese Sicht. In Brasilien stellen nationalistische Gruppen und Militärs Indigene und Umweltorganisationen in der Amazonasregion als „Feinde der Nation“ dar, da sie dem wirtschaftlichen Fortschritt im Weg stehen. Nur kapitalistisch genutzter Raum gilt als Nationalterritorium, anderen Formen der Raumnutzung wird die Berechtigung abgesprochen.
So auch im Chaco. Das paraguayische Umweltministerium SEDAM hat im März dieses Jahres den Unternehmen Yaguarté Porã S.A. und Carlos Casado S.A. das Recht bestätigt, mit der Rodung im Chaco fortzufahren. Ministerin Cristina Morales beruft sich dabei auf die von Gerichten bestätigten Landtitel der Unternehmen. Dieses Recht ist aber strukturell rassistisch, da es die jahrhundertealte Landnutzung der Ayoreo Totobiegosode nicht berücksichtigt.
Doch selbst die legalen Landrechte der Indigenen werden nicht respektiert. Im Februar dieses Jahres drangen Bulldozer auf das Land der Ayoreo Cuyabia, dass ihnen die Indigenenbehörde INDI zugestanden hatte. Ein Vertreter des Agrarunternehmens zeigte dabei Dokumente vor, denen zufolge dieses Gebiet von der INDI auf eine Julia Beatriz Vargas Meza übertragen wurde. Laut Artikel 64 der paraguayischen Verfassung ist es illegal, indigenes Land ohne die Zustimmung der Bewohner_innen zu veräußern. Doch Agrarunternehmen haben in Paraguay die besseren Beziehungen zu Politik und Gerichten als die Ayoreo. Dagegen leisten die Indigenen des Chaco – nicht nur die Ayoreo – zunehmend Widerstand.
Im vergangenen Jahr haben Ayoreo die Transchaco-Straße, den wichtigsten Verkehrsweg der Region, blockiert, um gegen ihre weitergehende Enteignung durch Agrarunternehmen zu protestieren. Sie fordern Landtitel und den Stopp weiterer Rodungen des Chacowaldes. Sie forderten auch, dass das Land der letzten im Wald lebenden Totobiegosode respektiert wird. Sie forderten letztlich, dass die Landnutzung der Ayoreo, die den Naturraum Chaco nur wenig beeinflusst, als legitime Landnutzung anerkannt wird. Die Zeit eilt. Eine Studie der Universität Maryland vom Januar kommt zu dem Ergebnis, dass durch die Ausweitung der Rinderzucht der Chaco die höchste Abholzungsrate der Welt vorweist.

Info: Survival International führt eine Kampagne zur Unterstützung der Indigenen in ihrem Kampf um ihr Land im Chaco: http://www.survivalinternational.de/indigene/ayoreo


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“Frequenzen konnten vererbt werden“

Eigentlich sollte das neue Mediengesetz mehr Raum für kontroverse Debatten und kulturelle Vielfalt schaffen. Zugleich gibt es aber immer wieder auch Nachrichten darüber, dass einzelne Menschen oder Nichtregierungsorganisationen (NGOs) bei ihrer Arbeit massiv behindert werden. Wie passt das zusammen?
Was in Ecuador gerade passiert, ist schon ziemlich beunruhigend. Es gibt verschiedene Beispiele, die zeigen, wie brüchig die Meinungsfreiheit ist. Ende vergangenen Jahres wurde beispielsweise die Stiftung Pacha Mama geschlossen, wegen ihrer Beteiligung an sozialen Protesten. Bei einer Demonstration gab es einen Zwischenfall, ein ausländischer Diplomat wurde mit einem Speer verletzt. Doch anstatt wie sonst üblich einen strafrechtlichen Prozess gegen den Täter einzuleiten, nahm die Regierung den Vorfall zum Anlass, Pacha Mama zu schließen. Ihre Begründung: Als NGO hätten sie nicht das Recht, sich in die Politik einzumischen oder Wahlkampf zu machen. Und der Beleg dafür war eben die Anwesenheit von Mitarbeitern der Stiftung auf dieser Demonstration.

Gibt es auch Angriffe auf einzelne Medienschaffende, die kritisch oder zu kontroversen Themen in Ecuador arbeiten?
Ja, auch solche Übergriffe beobachten wir immer wieder. Vor einiger Zeit schrieb eine junge Journalistin aus den USA über ein Massaker an zwei Gruppen der Taromenane-Indigenen. Kurze Zeit später erklärte Präsident Rafael Correa in einer Fernsehansprache, dass diese Ausländerin kein Recht habe, sich darüber eine Meinung zu bilden und dass ihre Schilderungen nicht stimmen würden. Correa erniedrigte sie nicht nur öffentlich, einige Menschen nahmen diese Anschuldigungen auch sehr ernst. Ein Shitstorm entlud sich in den sozialen Netzwerken, eine mediale Lynchjustiz setzte ein. Ich finde es furchtbar, die Bevölkerung so gegen eine Person aufzuhetzen. Jede und jeder hat doch das Recht seine oder ihre Meinung zu sagen und an öffentlichen Debatten teilzunehmen.

Sind auch Personen des öffentlichen Lebens in Ecuador von solchen Hasskampagnen betroffen?
Der Fall von Jaime Guevara, der für seine Protestlieder bekannt ist, hat für Aufsehen gesorgt. Guevara machte auf einer Demo eine obszöne Handbewegung als der Wagen des Präsidenten vorbeifuhr. Daraufhin stieg Correa aus und ordnete an, den Sänger wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit festzunehmen. Im Polizeibericht wurden dann diese Anschuldigungen einfach übernommen, Trunkenheit und Drogenkonsum. Einige Tage später machten Freunde des Verhafteten jedoch darauf aufmerksam, dass Guevara aus gesundheitlichen Gründen starke Medikamente nimmt und seit jeher völlig abstinent lebt. Correa entgegnete darauf, es sei ja wohl nicht seine Schuld, dass er betrunken gewirkt habe.
All diese Zwischenfälle zeigen, dass wir an einen Punkt gelangt sind, an dem die Regierung jegliche Kritik, jede Geste sofort als einen Angriff, als einen oppositionellen Akt wahrnimmt. Es sollte doch möglich sein, ein gemeinsames Terrain zu finden und so auch wieder die positiven Seiten der aktuellen staatlichen Politik ansprechen zu können, denn die gibt es ja auch. Doch dafür ist es notwendig, dass sich die Regierung den gesellschaftlichen Debatten stellt.

Zumindest der Forderung nach einem neuen Mediengesetz scheint die Regierung ja nachgekommen zu sein. Wie verliefen die Verhandlungen?
Es war schon ein ziemlich langwieriger Prozess. Gemeinsam mit vielen sozialen Organisationen haben wir jahrelang darauf hingearbeitet, die Kommunikationsmittel zu demokratisieren und anders als bisher zu regulieren. Gemeinsam waren wir direkt daran beteiligt, die Novellierung der Gesetze inhaltlich zu begleiten.

Und was waren Ihre konkreten Forderungen und Prinzipien, mit denen Sie die Medienlandschaft demokratisieren wollten?
Im Radiobereich griffen wir auf das inzwischen bekannte Prinzip einer paritätischen Dreiteilung aller verfügbaren Frequenzen zurück, das beispielsweise auch in Bolivien Anwendung findet: ein Drittel der Kanäle für öffentlich-staatliche Sender, ein Drittel für kommerzielle Anbieter und ein Drittel für kommunitäre Medien (wie Gemeinderadios; Anm. d. Red). Anfangs hat den staatlichen Vertretern diese Idee überhaupt nicht gefallen. Bei unserem ersten Treffen haben sie uns ausgelacht und gesagt, man könne das elektromagnetische Spektrum doch nicht wie eine Torte aufteilen. Aber dieselben, die anfangs nur lachten, machten sich später unser Argument zu eigen.

Das Problem ist doch auch, dass gerade in größeren Städten oft keine Frequenzen mehr frei sind für unabhängige, nicht-kommerzielle Projekte. Wie läuft das in Ecuador?
Die Regierung setzte eigens eine Kommission ein, die die Praktiken der Frequenzvergabe prüfen sollte. Das war ein ganz wichtiger Schritt und die dokumentierten Ergebnisse sehr plastisch. In Ecuador wurden Frequenzen schlicht und einfach verkauft, es war möglich, Frequenzen zu vererben und es gab auch spezifische Verfahren, Frequenzen an Freunde zu überschreiben. Correa sagte darauf, das sei eine Zeitbombe die sofort entschärft werden müsse. Leider verlief der danach angestrebte Reformprozess im Nichts.

Sind seit der Gesetzesreform auch neue kommunitäre Medien entstanden?
Vor dem neuen Gesetz gab es offiziell keine kommunitären Medien, nur einen TV-Sender, der von der Indigenenbewegung in Cotopaxi organisiert wurde. Nun finden kommunitäre Medien gesetzlich explizit Erwähnung und die Regierung übergab insgesamt 14 Sender an indigene Gemeinden, in Anerkennung einer historischen Schuld. Inzwischen sind weitere solche Sender entstanden. Aber es handelt sich eben nicht um einen Prozess, bei dem soziale Organisationen oder Gemeinden selbst eine Genehmigung anstrengen. Die Regierung bereitet alles vor und die späteren Träger unterschreiben nur. Auf diese Weise sind es insgesamt 54 Sender und es werden noch viele folgen. Aber sie sind Ausdruck des Regierungswillens und nicht das Ergebnis sozialer Forderungen.

Und was geschieht mit anderen Anträgen, um beispielsweise ein kommunitäres Radio legal anzuerkennen?
Mit unserer Organisation Radialistas informieren wir die Bevölkerung über ihr Recht, selbstbestimmt ein Radio organisieren zu können. Doch leider sind all diese Anträge bisher in einem Sammelordner abgeheftet worden, um zu einem späteren Zeitpunkt allen Projekten gleichzeitig ihre Lizenzen auszustellen. So heißt es von Regierungsseite. Schauen wir mal, wann das wirklich passiert, ich fürchte, dass es vielleicht gar nicht dazu kommt. Aber wir müssen trotzdem weiter Druck machen.

Worin genau sehen Sie das Problem bei den Sendern, die aktiv vom Staat geschaffen wurden?
Diese Sender wurden von Beginn an stark gefördert. Der Staat stellte jeweils das komplette Equipment zur Verfügung und zwei Techniker, denen jeweils ein monatliches Gehalt von 700 US-Dollar gezahlt wird. Die Sender funktionieren also de facto unter staatlicher Vormundschaft. Der Staat liefert alles und niemand macht sich Gedanken darüber, wie so ein Radio auch selbstverwaltet arbeiten könnte. Ich halte das für gefährlich. Klar, momentan schafft das auch viele positive Effekte für die einzelnen Gemeinden, aber was, wenn der Staat den Geldhahn irgendwann aus irgendeinem Grund zudreht?

Was für Möglichkeiten räumt das Gesetz denn den kommunitären Medien ein, um sich nachhaltig und unabhängig finanzieren zu können?
Solche Medien dürfen entgeltlich Dienstleistungen anbieten und auch Werbung senden, um mit den Einkünften ihren nicht-kommerziellen Betrieb zu gewährleisten. Aber genau das macht eben keiner der neu entstandenen Sender, da sie es wegen der staatlichen Förderung nicht nötig haben. Eine seltsame Situation. Das Gesetz hat den kommunitären Medien nur wenige Grenzen gesteckt, aber niemand erkundet diese Möglichkeiten.

In Lateinamerika wird inzwischen auch vermehrt über Radiofrequenzen als ein Gemeingut nachgedacht. Neben Radio und TV sollen sie auch eine weiterführende kommunitäre Nutzung des elektromagnetischen Spektrums im Auge haben, zum Beispiel den Aufbau nicht-kommerzieller Mobiltelefon- und drahtloser Datennetzwerke. Welche Ideen werden diesbezüglich in Ecuador diskutiert?
Unser Bündnis sozialer Organisationen tritt bei der Digitalisierung terrestrischer TV-Frequenzen zum Beispiel für die Einführung des japanisch-brasilianischen Standards ein. Der würde es erlauben, statt einem analogen Kanal, vier digitale Kanäle auf derselben Frequenz zu senden. Die Zahl der Sender könnte sich potenziell extrem vervielfältigen. Und natürlich treten wir auch im digitalen Spektrum für die bereits angesprochene paritätische Dreiteilung ein. Auch wenn wir vielleicht noch nicht die Kapazitäten für eine konkrete Nutzung haben, ist es wichtig, jetzt wachsam zu sein, um von Beginn an die Weichen für eine gerechte Verteilung zu stellen. Dieser Kampf ist von fundamentaler Bedeutung, um die Nutzung des elektromagnetischen Spektrums zu demokratisieren.

Infokasten

Clara Robayo ist Mitarbeiterin der Organisation Radialistas Apasionadas y Apasionados („Leidenschaftliche Rundfunker_innen“), die sich für eine Demokratisierung der Medien, besonders des Radios, einsetzt. Mit Sitz in Quito bieten sie ihr Knowhow allen Interessierten in Lateinamerika und der Karibik an. Auf ihrer Homepage sind über 4.000 unabhängig produzierte Audiobeiträge abrufbar.
Mehr Infos: www.radialistas.net/


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Menschenrecht der Bäuerinnen

Die Exklusion von Kleinbäuerinnen aus den sozialen Besitzformen der ejidos und comunidades ist eine nicht zu verbergende Realität. Eine Untersuchung des Zentrums für Höhere Studien von Mexiko und Zentralamerika in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Frauenrechte Chiapas ergab, dass Frauen mit nur 22,8 Prozent unter den Landbesitzer_innen auf bundesstaatlicher Ebene vertreten sind. In den indigenen Gebieten sind es noch weniger: In der Region Altos de Chiapas sind es weniger als ein Prozent, in der Region Tulija-Tseltal-Ch´ol 14,7 Prozent.
Die mexikanische Gesetzgebung schreibt gleiche Rechte für Männer und Frauen fest und im Agrargesetz wurde anfangs von familiärem Besitz gesprochen. Vorherrschend ist dagegen die traditionelle patriarchale Vorstellung, das Land gehöre den Männern. Diese offiziell legitimierte Diskriminierung ist auf dem Land sehr üblich und hat zur Folge, dass Frauen in ihrer Mehrheit keine Landtitel innehaben und nicht an den Versammlungen der ejidos teilnehmen können.
In Chiapas sowie in anderen mexikanischen Bundesstaaten hat sich die Situation durch die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte verschlechtert. Diese haben die Privatisierung des Landes, den Preisverfall der ländlichen Produktion und die Abschaffung von Beihilfen zur Produktion durchgesetzt, den Handel mit Saatgut für Grundnahrungsmittel liberalisiert sowie die Preise für den Konsum erhöht. Da sie mit dem importierten, subventionierten Mais aus den USA nicht konkurrieren können, reduzierten Kleinbäuerinnen und -bauern ihre Maisproduktion seit Ende des vergangenen Jahrhunderts oder stellten die Aussaat ganz ein. Angesichts der Krise entschieden sich viele zur Migration in den Norden des Landes oder in die Vereinigten Staaten, was einen schwerwiegenden Strukturverfall des ländlichen Lebens verursacht hat. „Die jungen Leute wollen nicht mehr säen, sie lieben die Mutter Erde nicht mehr“, klagt ein alter Bauer der Tsotsil (eine der indigenen Gemeinschaften in Chiapas; Anm. d. Übers.).
Die neoliberalen staatlichen Maßnahmen haben auf dem Land tiefgreifende Veränderungen in der geschlechterspezifischen Arbeitsteilung hervorgebracht. Die Migration der Männer führt bestenfalls dazu, dass die Frauen die Erde bestellen, um Mais für den täglichen Bedarf zu erhalten. Doch in vielen Fällen muss das Land verkauft werden oder geht aufgrund von unbeglichenen Darlehen verloren, mit denen der_die Schlepper_in bezahlt wurde, der_die die Migrierenden über die Grenze bringt. Die Frauen, denen ein Stück Land bleibt, leisten Gemeindebeiträge und -dienste, damit der Ehemann den Landtitel nicht verliert und bezahlen die zurückgelassenen Schulden. „Ich bin jetzt Mann und Frau zugleich“, erzählt eine von ihnen. Gleichzeitig müssen sie der Kritik und dem Gerede in der Gemeinde standhalten, weil sie soziale Normen überschreiten.
Einige Frauen bauen parallel zu ihren Überlebensanstrengungen gewisse Alternativen der Befreiung auf. Angesichts der Migration ihrer Ehemänner berichten sie: „Ich fühle mich freier, habe aber auch mehr Arbeit.“ Eine Interpretation besteht darin, dass die veränderten ökonomischen Bedingungen auch die Bevollmächtigung von Frauen sowie ihre Akzeptanz als Unterhalterinnen der Familie fördern. Doch das betrifft die wenigsten und der Preis, den sie dafür bezahlen mussten, ist sehr hoch. „Als mein Mann zurückkam, wollte er wieder bestimmen“, berichtet eine Betroffene.
Hoffnungsvoll warten die Frauen darauf, dass die Ehemänner Geld schicken, doch das, was ankommt, ist oft wenig bis nichts. Die Situation wird noch schwieriger, wenn Schwager oder Schwiegervater das Land entwenden. Oft kommen Frauen dann ins Zentrum für Frauenrechte Chiapas. „Was kann ich tun?“, fragt eine. „Mein Mann kam aus den Vereinigten Staaten zurück und verkaufte unser Land. Mit dem Geld ging er wieder in die USA und wollte mich und die Kinder nachholen. Seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört.“
Die Mehrheit der Frauen, die ihres Grundstücks oder ihrer Parzelle beraubt wurden, sind verheiratet. Doch in anderen Fällen knüpft sich die Ausbeutung an Trennung oder Scheidung, was immer eine Situation großer Verletzbarkeit für die Frauen und ihre Kinder darstellt. Die dokumentierten Fälle zeigen, dass die Ausbeutung in 36 Prozent von den männlichen Verwandten der betroffenen Frau ausgeht, in 25 Prozent vom (Ex-)Partner oder einem männlichen Mitglied aus dessen Familie, in 20 Prozent von den kommunalen Instanzen, in drei Prozent von Bauernorganisationen und in den verbleibenden Fällen meist von einem anderen Mann des ejidos. Ein Drittel der betroffenen Frauen ist älter als 61 Jahre, oft waren ihre erwachsenen Söhne die Verursacher der Ausbeutung. Die Mehrheit ist zwischen 30 und 40 Jahre, hier sind oftmals der Schwiegervater oder der migrierte Ehemann verantwortlich.
Ein beispielhafter Fall ereignete sich im ejido Bella Vista in der Grenzregion Comalapa: Mehrere Frauen, die mit Männern von außerhalb – meist Guatemalteken – verheiratet sind, wurden nicht nur ihres Landes beraubt, sondern mussten zudem ihre Gemeinde verlassen. Diejenigen, die sich geweigert haben, dem Beschluss der Versammlung Folge zu leisten, werden von den Autoritäten belästigt und bedroht. Diese begründen ihre Forderung mit dem Artikel 31 der ejido-Ordnung, welche vorsieht, dass Frauen, die Männer von außerhalb heiraten, aus der Gemeinschaft ausgewiesen werden. Diesen Artikel sehen allerdings viele als verfassungswidrig an, da er nicht nur das Recht der Frauen auf Landbesitz, -nutzung und -nutznießung verletzt, sondern auch auf freie Wahl des Partners/der Partnerin, des Wohnortes und auf Bewegungsfreiheit.
Der Beitrag von Frauen zur Nahrungsmittelproduktion und zur familiären und kommunitären Ökonomie wird nicht anerkannt. Sie dürfen über die selbst produzierten Nahrungsmittel nicht verfügen. „Mein Mann, meine Kinder und ich brachten die Ernte ein. Als ich ein bisschen davon verkaufte, um Seife zu kaufen, wurde mein Mann böse und sagte: ‚Warum verkaufst du Mais, der nicht deiner ist? Er ist meiner.‘ Er selbst aber kauft sich Schuhe. Meine Arbeit auf dem Feld nimmt er nicht wahr“, sagt Crecencia im Frauenzentrum.
Keinen Landtitel innezuhaben bedeutet für die Frauen auch, keine Möglichkeiten zu haben, die Veräußerung des Landes zu verhindern. Sie können weder Privatisierungen stoppen, noch die Billigung anderer Programme, die zum Zweck haben, das Land zu kommerzialisieren.
„Wir kennen unsere Rechte nicht.“ Ein Satz, der anfangs von den meisten Frauen geäußert wird, mit denen das Zentrum für Frauenrechte Chiapas arbeitet. Es ist bezeichnend, dass sie nach und nach ihr Recht auf Land erkennen und sich dazu motivieren, die familiäre Parzelle als ihre eigene zu bepflanzen und zu empfinden. Indem sie sich des Risikos der Ausbeutung von Land und Ernte bewusst sind, nehmen sie die dringende Notwendigkeit wahr, für die Anerkennung des familiären Besitzes zu kämpfen. Für viele ist es mitlerweile wichtig, die familiäre Bedeutung des sozialen Eigentums wiederzuerlangen, die im Jahr 1991 mit der Reform des Artikels 27 der Verfassung eliminiert wurde. Doña Fide im Zentrum für Frauenrechte resümiert: „Wie gut, dass wir uns zusammentun, denn das ist unsere Selbstverteidigung und die unserer Erde.“


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Schweigezonen

Mexiko ist eines der gefährlichsten Länder für Journalist_innen weltweit. Inwieweit beeinflusst diese Situation Ihre Arbeit?
Emiliano Ruiz Parra: Viele Kollegen publizieren weit weniger, als sie wissen – nicht nur aus Angst ermordet zu werden. Gregorio (Jímenez, im Februar 2014 in Veracruz ermordet; Anm. d. Red.) zum Beispiel hat pro veröffentlichter Nachricht einen Euro verdient. Wenn man von einem Vollzeitjob nicht leben kann, beginnt die Versuchung, andere Angebote anzunehmen – und sich zum Beispiel gegen Bezahlung selbst zu zensieren. Die Eigentümer der Medien arbeiten sehr eng mit den lokalen Gemeindevorstehern zusammen und diese gehören in vielen Fällen dem Organisierten Verbrechen an. Kriminelle Vereinigungen finanzieren politische Kampagnen unter der Bedingung, bestimmte Bereiche der Kommunalpolitik, wie z.B. die Vergabe von Bauaufträgen, zu kontrollieren. Manchmal stellen sie aber auch direkt den Bürgermeisterkandidaten. Es gibt keine klaren Linien, wo das Organisierte Verbrechen aufhört und der mexikanische Staat anfängt. Die Journalisten, vor allem auf lokaler Ebene, befinden sich inmitten dieses verwirrenden Netzes aus Komplizenschaften.

Humberto Padgett León: In einem Fall hat ein Kartell in Michoacán nicht nur die Kandidaten aller Parteien gestellt, sondern auch eigene Medien gegründet. Den Journalisten mit einem monatlichen Einkommen von 100 Euro wurden die neuen Chefpositionen angeboten: „Du kannst die Inhalte auswählen und veröffentlichen, was du willst. Das Einzige, was du für mich tun musst, ist vom Abgeordneten A die Finger zu lassen und immer gegen den Abgeordneten B zu schreiben. Und du verdienst 1.000 Euro im Monat.“
In Zacatecas gibt es den Fall der Zeitung Imagen. Die Chefin der Zeitung erhielt konkrete Drohungen gegen sie und ihre Familie, weil sie bestimmte Artikel nicht veröffentlicht hatte. Es ging um eine Nachricht, laut der ein General der Armee das Sinaloa-Kartell bevorteilen würde. Die Veröffentlichung wurde von den rivalisierenden Zetas mit Morddrohungen eingefordert.

E.R.: Wegen dieser Umstände gibt es „Zonen des Schweigens“. Komplette Teile des Landes, wo man nicht weiß, was passiert.

Welche Landesteile sind das?
E.R.: Für lange Zeit war das Tamaulipas (Bundestaat an der Golfküste; Anm. d. Red.). Inzwischen weiß man, dass es dort Kämpfe gibt, weil sie dermaßen offen stattfinden. Aber zwei bis drei Jahre lang wurde außer vielleicht auf Twitter nichts über die dortigen Geschehnisse veröffentlicht. Viele Journalisten mussten die Region verlassen. Südlich von Tamaulipas, im Norden von Veracruz, wird ebenso wenig berichtet, was passiert. Und während der Aufstände der Bürgerwehren in Michoacán gelangte nichts davon in die Nachrichten – nicht weil es nicht wichtig war, sondern weil über diese Themen nicht geredet wird. Dies sind die drei Regionen, in denen das Schweigen am deutlichsten ist. Aber es gibt noch weitere.

Wie arbeiten Sie angesichts dieser Umstände bei Ihren Medien?
E.R.: In der Zeitschrift Gatopardo fühle ich mich wohl. Ich konnte dort bislang veröffentlichen, was ich wollte. Das einzige Manko ist vielleicht, dass ich freiberuflich arbeite und keine soziale Sicherheit habe. Deshalb muss ich auch für andere Zeitschriften schreiben und deren Aufträge erfüllen. Es gibt keine Zeitungen, in denen man sich in Ruhe auf ein Thema und einen Hintergrundtext konzentrieren kann, ohne sich um seine wirtschaftliche Situation sorgen zu müssen.

H.P.: Sinembargo ist ein digitales Medium. Das befreit uns von den Druckkosten, die den höchsten Anteil an den Produktionskosten eines Printmediums in Mexiko ausmachen. Und wir sparen uns das logistische Problem, eine Zeitung auszuliefern. Wir leben nicht von der Werbung der Regierung. Bis jetzt habe ich noch keine Situation erlebt, in der ich aufgefordert wurde, nicht über einen bestimmten Politiker oder eine Situation zu berichten.
Bei den Medien, für die ich früher gearbeitet habe, war das anders. Bei MX konnte die Regierung generell kritisiert werden, aber niemals direkt Felipe Calderón. Denn die Zeitschrift hat von den Anzeigen der Regierung gelebt. Einmal verweigerte Calderón uns ein Interview. Daraufhin haben wir als Titelfoto sein Gesicht gedruckt, in das wir unsere Fragen geschrieben hatten. Wegen der Vorwürfe des Wahlbetrugs 2006 fragten wir: „Werden Sie rechtmäßiger Präsident?“ Und wegen der Sonderbehandlung von Mitgliedern bestimmter Drogenkartelle: „Wer wird der narco dieser Legislaturperiode?“ Calderón wurde wütend und befahl seinem Pressechef Max Cortázar, die Werbung bei MX einzustellen. Zwei Nummern später konnte die Zeitschrift aus Geldmangel nicht mehr erscheinen. Der Leiter der Zeitschrift bat um ein Treffen mit Cortázar und letztlich bekamen wir wieder Anzeigen, aber Felipe Calderón durfte nicht mehr karikiert oder direkt angegriffen werden.
Die mexikanischen Medien hängen fast alle von der Werbung der Regierung ab, selbst die größten. Kritik an Politikern heißt also Kritik am größten Kunden. Wenn man die Titelseiten von gestern oder auch aus den letzten zehn bis 50 Jahren überprüft, sieht man das: Der Protagonist der Nachrichten ist ein Politiker, der ein Mexiko regiert, das nicht existiert – ein Mexiko, das die Menschen- und Frauenrechte respektiert, das die einkommensschwachen Menschen fördert, das seine Umwelt schützt und gute Bildung gewährleistet.

Herr Padgett, wie recherchieren Sie in Mexiko zu einem so heiklen Thema wie dem Organisierten Verbrechen?
H.P.: Ein Teil meiner Arbeit basiert auf der Analyse von Dokumenten. Seit acht Jahren arbeite ich an einer systematischen Zusammenstellung von gerichtlichen Ermittlungen. Diese Dokumente sind unter Verschluss, aber ich habe verschiedene Quellen gefunden, die mir den Zugang ermöglichen. Es sind Dokumente, die laufende Prozesse gegen Drogenhändler in Mexiko und den USA von 1959 bis 2013 auf allen Ebenen der kriminellen Strukturen beschreiben. Das heißt Prozesse gegen capos („Paten“), Geldwäscher, Importeure und Exporteure, Auftragskiller, Drogenkuriere… Das sind 60.000 Seiten Dokumente, die ich fotografiert habe. Ein anderer Teil meiner Arbeit findet in Drogenkonsum- oder -produktionsregionen statt.

Welche Maßnahmen ergreifen Sie, um nicht bedroht oder angegriffen zu werden?
H.P.: Ich habe immer über alle Drogenkartelle gleichermaßen geschrieben. Es gibt keins, über dessen Verbindung zur Politik ich nicht geschrieben hätte. Das ist einerseits unter dem Aspekt ausgewogener Information angebracht, aber auch eine Sicherheitsmaßnahme. Denn man sieht, dass ich keine Gruppe bevorteile. Ich habe nie Geld akzeptiert oder etwas publiziert, das mir von einem Politiker zugespielt wurde. Auch das hat eine ethische und eine praktische Dimension.
Wenn ich für Recherchen reise, befolge ich ein Sicherheitsprotokoll. Ich reise grundsätzlich tagsüber und benutze keine auffälligen Autos. Ich gehe nachts nicht mehr aus – inzwischen auch nicht mehr in meiner Heimatstadt. Ich nehme keine Drogen, da mich dies der Gefahr aussetzt, verhaftet zu werden. Und dann könnte man mir einen Fall anhängen. Außerdem kenne ich das Leid, das der Handel mit Marihuana in meinem Land anrichtet.
Ich habe meine Informanten noch nie über das, was ich später über sie schreibe, getäuscht. Mein Wort muss gelten. Nach der Veröffentlichung muss ich meiner Quelle noch ins Gesicht sehen können. Diese Maßnahmen haben mich in eine privilegierte Position gebracht, um über diese Themen zu schreiben. Ich wurde noch nie bedroht.

Herr Padgett, haben Sie über Ihre Beschäftigung mit dem Organisierten Verbrechen Ansätze gefunden, wie dem Problem begegnet werden könnte?
H.P.: Verschiedene. Der größte Fehler ist die Straflosigkeit der Politiker und Beamten, die in das Organisierte Verbrechen verwickelt sind. Zudem wird das Problem sicherheitspolitisch aufgefasst, obwohl es vielmehr um Sozial- und Wirtschaftspolitik gehen sollte. Ein Bauer, der Mais oder Bohnen anpflanzt, ist leicht vom Organisierten Verbrechen zu korrumpieren, wenn der ihm garantierte Abnahmepreis unter den Produktionskosten liegt. Ich kenne Bauern, die Marihuana anpflanzen und sie haben nichts mit dem Stereotyp des mexikanischen Drogenhändlers zu tun. Sie sind keine gewalttätigen Personen, leben nicht in übermäßigem Reichtum und haben keine Gürtel mit Diamanten. Es sind Menschen, die ihren Söhnen eine bessere Bildung oder ihrer Frau professionelle medizinische Versorgung bieten können, weil sie Marihuana anbauen. Sie haben ein jährliches Einkommen von 5.000 bis 7.000 Euro. Sogar aus der mexikanischen Perspektive sollte dies kein Betrag sein, für den sich jemand einem solchen Risiko aussetzt und seine Freiheit, sein Leben und das seiner Familie aufs Spiel setzt. Aber wir sind eine extrem ungleiche Gesellschaft und die Ungleichheit ist eine Bedingung, die das Organisierte Verbrechen fördert.

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Humberto Padgett León hat Journalismus an der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) studiert. Er arbeitet zu Feminiziden, Korruption sowie Organisierter Kriminalität und deren Verbindungen zu Staatsbeamt­_innen. Derzeit ist er Redakteur des Internetportals www.sinembargo.mx.
Emiliano Ruiz Parra hat Hispanistik an der UNAM sowie Politische Theorie in London studiert. Als Journalist arbeitet er zu Kirche, Politik und Migration in Mexiko. Als freier Journalist veröffentlicht er regelmäßig Beiträge für die Zeitschrift Gatopardo. In letzter Zeit setzt er sich außerdem als Aktivist für die Pressefreiheit in Mexiko ein.
Emiliano Ruiz Parra und Humberto Padgett León sind die aktuellen Preisträger des Walter-Reuter-Medienpreises. Er wird jährlich von der Deutschen Botschaft in Mexiko in Zusammenarbeit mit weiteren deutschen Institutionen vergeben.


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Ein Buch voller Lebensrealitäten

Eine Jugendliche in einer Anstalt, deren Leben durch unvorhergesehene Ereignisse scheinbar aus den Bahnen geraten ist. Ihre Situation können wir durch die Autorin, die sie in der Pflegeeinrichtung besucht, miterleben. Wir sitzen der Jugendlichen gegenüber. Wir hören zu, was sie von ihrem Leben erzählt. Das ist die erste kleine Geschichte des Buches Verdammter Süden.
Der Sammelband ist ein Werk verschiedenster zeitgenössischer Autor_innen Lateinamerikas, die in journalistischer Manier Geschichten ihres Kontinents dokumentieren und dadurch eine lustige, komische, traurige, brutale und faszinierende Lektüre schaffen, die beim Lesen unterschiedlichste Emotionen auslösen. 17 kleine literarische Reportagen führen von Argentinien, Brasilien und Paraguay über Bolivien, Peru, Kolumbien und Panama nach Mexiko und in die USA. Das Buch erzählt von selbstproduzierten Dorf-Telenovelas, von einem Liebesknast, einem Ort, in dem fast nur Zwillinge geboren werden, von Wrestlerinnen aus dem Hochland oder einer Insel in der Karibik, die eigentlich nur aus Müll besteht und durch den Müll der Bewohner_innen stetig wächst. Es wird von Kuriositäten berichtet wie vom letzten Totenwachenkomiker in Soledad, Kolumbien, der Menschen auf Beerdigungen zum Lachen bringt, oder über die vereinsamten Nilpferde Pablo Escobars, die nun statt im Nil im Río Magdalena leben. Es finden sich auch bedrückende Berichte von der Grenze Mexikos und dem Überlebenskampf migrierender Menschen in der Wüste zu den USA.
Es sind keine erfundenen Geschichten, die man zu lesen bekommt, sondern Reportagen, crónicas, die im Stil Kurzgeschichten ähneln. Der Titel „Verdammter Süden“ lässt jedoch nichts über die crónicas erahnen und noch weniger darüber, was die Lektüre tatsächlich zu bieten hat. Das „Verdammte“ am Süden oder am Sammelband erschließt sich nämlich nicht. Die Autor_innen brechen vielmehr mit Klischees und stereotypen Bildern. Durch die Beschreibung der einzelnen Personen und Hauptfiguren ihrer Reportagen führen sie uns an die Wirklichkeit heran und bringen uns individuelle Lebenslagen nahe. Dadurch werden gleichzeitig Einblicke in die jeweilige Gesellschaft und Umgebung freigelegt, in soziale Kontakte und Gebräuche, familiäre Konstellationen, politische Strukturen und Arbeitsfelder.
Die Herausgeberin Carmen Pinilla und der Herausgeber Franz Wegner fassen es passend zusammen: Man braucht Geschichten nicht zu erfinden – es reicht, sie zu entdecken. Sie geben Alltägliches wieder und verdeutlichen Lebensrealitäten, wo das Bizarre im Normalen liegt. Das Buch lädt ein, zum Lachen und Weinen, zum Eintauchen in die Welten vor Ort, es liest sich wie eine kleine Lateinamerika-Reise. Verdammt gutes Lesevergnügen.

Carmen Pinilla und Frank Wegner (Hg.) // Verdammter Süden. Das andere Amerika // Suhrkamp Verlag // Berlin 2014 // 315 Seiten // 20 Euro // www.suhrkamp.de


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„Versteckte Wiederwahl“ gescheitert

Der 1. Juli wird kein leichter Tag für Ricardo Martinelli. An diesem Tag scheidet er als Präsident Panamas aus dem Amt; vor allem aber wird er erneut auf Juan Carlos Varela treffen, seinen ärgsten Widersacher. An den wird er dann den Stab der Macht weiterreichen. Nicht, dass man Martinelli dafür bemitleiden müsste – die Geschichte um die ehemaligen politischen Weggefährten, die zu erbitterten Feinden wurden, verleiht dem Machtwechsel in Panama jedoch eine besondere Note.
Juan Carlos Varela, unter der paradoxen Titulierung „Oppositionskandidat und Vizepräsident“ für die rechtsskonservative Allianz El Pueblo Primero („Das Volk zuerst“) aus der christdemokratischen Volkspartei und Partido Panameñista bei der Wahl am 4. Mai angetreten, hatte überraschend mit 39 Prozent der Stimmen den Sieg davon getragen. Zuvor hatten ihn alle Umfragen – wenn auch knapp – lediglich auf dem dritten Platz gesehen.
Varela war nach der Wahl 2009 zunächst selbst Teil der Regierung gewesen: als Außenminister und Vizepräsident unter Martinelli, ehe er sich mit ihm überwarf. Die Koalition zerbrach 2011 wegen Korruptionsvorwürfen. Varela wurde zunächst als Außenminister abgesetzt, später forderte ihn Martinelli auf, auch sein Amt als Vizepräsident niederzulegen, da er „ohnehin nichts mache“. Varela antwortete, er diene „dem Volk und nicht einer korrupten Regierung“. Formal blieb er bis zu seiner Wahl Vizepräsident. Nur, dass aus politischen Freunden nun erbitterte Gegner geworden waren.
Varela verwies den Kandidat des Regierungslagers, José Domingo Arias von der Partei Demokratischer Wandel (CD), der 32 Prozent erzielte, sowie den ehemaligen Bürgermeister von Panama-Stadt, Juan Carlos Navarro von der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) mit 27 Prozent, auf die Plätze.
Weil der scheidende Präsident Ricardo Martinelli laut Verfassung nicht wiedergewählt werden durfte, hatte er Arias, seinen Wohnungsbauminister, zum Präsidentschaftskandidaten aufgebaut und diesem seine Gattin Marta Linares als Vizepräsidentschaftskandidatin an die Seite gestellt. Die Opposition sprach von einer „versteckten Wiederwahl“. Viele Wähler_innen durchschauten den Zug und straften das Regierungslager ab. Überhaupt verpassen die Panamaer_innen – schaut man sich vergangene Abstimmungen an – den Regierenden gerne einen Denkzettel.
Der Wahlsieg Varelas, laut BBC „Martinellis schlimmster Feind“, zerstört nun alle Hoffnungen Martinellis, weiterhin die Geschicke der Regierung – wenn auch indirekt – mitbestimmen zu können. Die Niederlage seines Kandidaten wird von den meisten Beobachter_innen vor allem als Ablehnung von Martinellis autoritärem Politikstil interpretiert.
Die Wahl vom 4. Mai war zugleich auch Parlaments- und Kommunalwahl. Varelas Wahlbündnis gewann dabei mit knappem Vorsprung auch das Bürgermeisteramt in Panama-Stadt, den zweitwichtigsten politischen Posten im Land. Darüber hinaus kann der neue Präsident im Parlament aber nur auf 12 von 71 Abgeordneten zählen. Auch in den Landkreisen ist seine Partei jeweils in der Minderheit. Varela hat zwar das Präsidentenamt gewonnen, seine Partei aber ist landesweit nur in der zweiten bzw. dritten Reihe gelandet.
Demgegenüber erzielte die von Martinelli selbst gegründete CD im Abgeordnetenhaus mit fast 30 Abgeordneten die relative Mehrheit, die PRD kam auf 23 Sitze. Beobachter_innen spekulieren über eine Koalition aus PRD und Varelas Partido Panameñista. Es wird aber auch nicht ausgeschlossen, dass sich der künftige Präsident mit der CD verständigt. Immerhin waren sie mal Verbündete und liegen inhaltlich nicht weit auseinander.
Bei den Kommunalwahlen wiederum siegte die PRD, die von General Torrijos nach dessen Machtergreifung 1968 gegründet wurde. Sie kann auf eine breite Mitgliederbasis bauen und gewann die meisten der 75 Landkreise. Der eigene Präsidentschaftskandidat Navarro dagegen fiel bei den PRD-Anhänger_innen durch. Trotz mehr als 600.000 Parteimitgliedern votierten nur gut 500.000 für ihn.
Die Linke konnte bei den Wahlen dagegen kaum nennenswert Stimmengewicht hinter sich versammeln. Linke Parteien sind in Panama traditionell schwach. Der unabhängige Kandidat Juan Jované erzielte weniger als ein Prozent der Stimmen. Immerhin gelang es ihm, soziale Probleme des Landes in die Wahlkampfdebatten einzubringen, wie den ruinösen Zustand des Bildungs- und Gesundheitswesens.
Auch der Kandidat der Breiten Front für die Demokratie (FAD), Genaro López, blieb hinter den Erwartungen zurück. Mit einem moderat linken Diskurs in Anlehnung an Lula in Brasilien, Sánchez Cerén in El Salvador oder Mujica in Uruguay versuchte er sich, von der radikalen Linken abzugrenzen. Eine Strategie, die in diesem Fall keinen Erfolg brachte. Mögliche Wähler_innen wechselten ins „Protestlager“, um die Abwahl Martinellis zu sichern.
Martinelli war immer wieder mit Korruption in Verbindung gebracht worden. Ein Silvio Berlusconi nahestehender Unternehmer soll Bestechungsgelder gezahlt haben, um an Staatsaufträge zu kommen. Bewiesen ist bislang nichts. Zudem wurde Martinelli die Einschränkung der Pressefreiheit, die Schwächung staatlicher Institutionen sowie die Verletzung der Gewaltenteilung vorgeworfen. „Die Regierung Martinelli hat die Institutionen des Landes ernsthaft beschädigt; mit der neuen Regierung hoffen wir, zum Respekt vor den Institutionen zurückzukehren“, erklärte die Anwältin María Fernanda Martiz gegenüber dem Nachrichtendienst PanAm Post mit Blick auf die anstehende Ernennung von Verfassungsrichter_innen und Postenvergabe in der Verwaltung des Panamakanals.
Martinelli selbst hatte im Wahlkampf dagegen vor allem die wirtschaftlichen Errungenschaften seiner Amtszeit hervorgehoben, inklusive diverser Infrastruktur-Großprojekte. Erst im April war publikumswirksam in Panama-Stadt die erste U-Bahn Zentralamerikas eröffnet worden. In den ersten Monaten ist die Benutzung kostenlos. Auch ein neues Fußballstadion wurde eingeweiht.
Panama hat sich in den vergangenen Jahren zum Finanzzentrum Mittelamerikas entwickelt. Der Immobilien-Boom der vergangenen Jahre hat der Baubranche volle Auftragsbücher beschert, zugleich aber die Grundstücksspekulation angeheizt. Während die Gewinne der Unternehmen exorbitant gestiegen sind (337 Prozent über die vergangenen acht Jahre), betrug der Lohnzuwachs bei den Bauarbeiter_innen im selben Zeitraum gerade einmal 18 Prozent. Der Bausektor ist einer wichtigsten Motoren von Panamas Wirtschaft, die Wachstumsrate ist mit neun Prozent die höchste in der Region. Auf der anderen Seite lebt jeder Dritte in Panama in Armut oder extremer Armut.
Diese soziale Schieflage wird eine der größten Herausforderungen für Varela werden. Wie zur Einstimmung wurde die Wahl von Lohnstreiks der Bauarbeitergewerkschaft Suntracs sowie Lehrerverbänden begleitet. Beide Arbeitskämpfe sind mittlerweile beigelegt, die sozialen Spannungen aber bestehen fort.
Varela gilt zwar als liberaler Konservativer, genießt aber eine gewisse Glaubwürdigkeit in der Sozialpolitik. Von ihm stammt unter anderem das Programm „100 por 70“ (100 für 70), nach dem über 70-Jährige ohne Einkommen monatliche Hilfen von 100 US-Dollar erhalten. Zudem hat er während seiner Zeit in der Regierung Martinelli die Anhebung des Mindestlohns, das Wohnungsbau-Projekt Curundú für einen der ärmsten Stadtteile der Hauptstadt sowie das Stipendienprogramm Beca Universal, von dem 800.000 Schüler_innen profitieren, mit vorangetrieben.
Als jungen Mann hätten ihn die Erziehung in der Jesuitenschule und die Bürgerkriege in El Salvador und Nicaragua geprägt, so Varela im Wahlkampf. Ein früherer Mathematiklehrer Varelas versicherte im Fernsehkanal Telemetro, dass Varela damals im Schulgebäude sandinistische Fahnen aufgehängt und Geld gesammelt habe, um die Revolution in Nicaragua zu unterstützen. Diese Anekdoten sollten vor der Wahl vor allem Varelas „soziale Ader“ hervorheben, um ihn auch von links wählbar zu machen.
Immer wieder hat sich Varela im Wahlkampf für höhere Sozialausgaben ausgesprochen. Eines seiner Hauptversprechen war die Preiskontrolle von 22 Basisprodukten, um die Inflation zu senken, neue Schulen, Zugang zu sauberem Trinkwasser für alle, sowie die Anhebung von Stipendien und Pensionen. Er setzte sich damit erfolgreich von Martinellis Modell ab, das Land nach unternehmerischen Kriterien zu regieren.
Er ist und bleibt aber ein konservativer Unternehmer, der der traditionellen Oligarchie in Panama entstammt. Seiner Familie gehört eine bekannte Rumfabrik, er selbst ist an mehreren Radiosendern beteiligt. Seinen Abschluss als Industrieingenieur hat er in den USA an der Georgia Tech gemacht. Darüber hinaus ist er Mitglied des Opus Dei, dem erzkonservativen Orden der katholischen Kirche.
Im Wahlkampf inszenierte sich Varela zudem als Kämpfer gegen die Korruption. Seine Regierung werde Leistungen erbringen und aufhören, ein Geschäft zu sein, so Varela noch in der Wahlnacht. „Wer Geschäfte machen will, sollte seine Sachen packen und Richtung Privatwirtschaft verschwinden.“ Und weiter: „Ich werde nicht zulassen, dass auch nur ein Centavo der Gelder, die den vier Millionen Panamaern gehören, ausgegeben wird, ohne dass er dem Volke zugute kommt.“ Dabei waren im Wahlkampf auch Korruptionsvorwürfe gegen Varela aufgetaucht. Die regierungsnahe Zeitung El Panamá América hatte Ende April Varela mit einem Geldwäsche-Netz in den USA in Verbindung gebracht, was von seiner Partei als Verleumdungskampagne zurückgewiesen wurde.
Allgemein wird erwartet, dass Varela die unternehmerfreundliche Freihandelspolitik seines Vorgängers fortsetzt. Seit der US-Invasion von 1989 verfolgt Panama ein neoliberales Wirtschaftsmodell, das auf den Kompontenten Reduzierung des Staates, Freihandel und Deregulierung aufbaut und von sozialer Repression von Gewerkschaften, Kleinbauern sowie Studierendenorganisationen begleitet wird. Der Politologe Marcos A. Gandásegui Jr. erwartet daher auch keinen radikalen Politikwechsel: „Der gewählte Präsident Varela verfolgt eine sehr ähnliche, wenn nicht gar identische Politik wie Martinelli. Varela unterliegt den Richtlinien, die aus den USA die wirtschaftlichen, sozialen und militärischen Belange vorgeben.“
Immerhin hat Varela angekündigt, nach seinem Amtsantritt die diplomatischen Beziehungen zu Venezuela wieder aufzunehmen und den Handel beider Länder anzukurbeln – und sich damit schon mal von seinem Amtsvorgänger abgesetzt. Auch mit Kolumbiens Präsidenten will er zusammentreffen, um Handelsstreitigkeiten beizulegen und das Projekt, die Stromnetze beider Länder zu verbinden, wieder aufzunehmen. Das Schwierigste aber hat Varela noch vor sich: Er muss nun seine zahlreichen Versprechen auch einlösen.


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Widerstand hinter Gittern

Es herrscht eine bunte Geräuschkulisse aus Musik, Familien, die mit Essen vollgestopfte Tüten mitbringen, und grölenden Glücksspielern. Die Sonne knallt auf bekritzelte Wände, aufgehängte Wäsche und einzelne Tortillas, die in der Hitze trocknen. Und auf einen kleinen Pavillon, unter dem in ein paar bunten Plastikbechern Kaffee vor sich hindampft.
Uns gegenüber dieses markante Gesicht, eindrucksvoll geprägt von seiner Geschichte, etwas müde, aber trotzdem mit einem Leuchten in den Augen. Es gehört zu Alejandro Díaz Santis, der seit 1999 zu Unrecht eingesperrt ist. Der mittlerweile 33-jährige lebte zu dem damaligen Zeitpunkt vom Verkauf von Süßigkeiten in den Straßen der Küstenstadt Veracruz und, wie ein Großteil der indigenen Bevölkerung, mit gerade genug Einkommen, um von Tag zu Tag zu leben. Eines Abends geht er mit seiner Frau einkaufen. Seine 19 Monate alte Stieftochter bleibt mit seinem Cousin in der gemeinsamen Unterkunft. Bei der Rückkehr findet das Ehepaar das Kind am Fuß der Treppe, bereits tot. Der Cousin ist verschwunden. Als Alejandro sich aufmacht, einen Krankenwagen zu suchen, und zurückkehrt, wird er von Polizist_innen festgenommen, geschlagen und aufs Revier gebracht. Zu diesem Zeitpunkt spricht Alejandro nur Tzotzil, die indigene Maya-Sprache, jedoch kein Wort Spanisch. Als man ihm am nächsten Tag der Vergewaltigung und Ermordung seiner Stieftochter beschuldigt, hat er keinerlei Möglichkeit zu verstehen, geschweige denn sich zu verteidigen. Aufgrund des Mangels an finanziellen Mitteln bleibt ihm auch das Recht auf einen Anwalt verwehrt. Er wird zu 29 Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt.
Von da an beginnt eine Odyssee durch verschiedenste Gefängnisse in den südmexikanischen Bundesstaaten Veracruz und Chiapas. Bis er im Januar 2010 in das Gefängnis Cereso 05 nahe San Cristóbal verlegt wird. Hier sitzen wir nun und lauschen wie Alejandro uns all das mit unglaublicher Ruhe und Ausführlichkeit erzählt. Und heute in perfektem Castilla, wie die Indigenen das Spanisch nennen. Dies sei nur durch die Begegnung mit Alberto Patishtán hier im Cereso 5 möglich geworden, erzählt er.
Patishtán, Lehrer aus Chiapas und ebenfalls Tzotzil, wurde in den letzten Jahren zum Gesicht einer Kampagne, die die sozialen Missstände, die Ungerechtigkeit und Verstöße gegen die Menschenrechte in Mexiko, besonders gegenüber der indigenen Bevölkerung und politischen Häftlingen, anprangert. Aus dem Gefängnis setzte er sich permanent und kontinuierlich für eine Veränderung und einen Paradigmenwechsel in der Gesellschaft sowohl außerhalb als auch innerhalb des Gefängnisses ein. Patishtán wurde 2013 nach 13 Jahren politischer Haft aus dem Gefängnis entlassen (siehe LN 474).
„Patishtán“, so Alejandro, „hat mir beigebracht stets die Wahrheit zu sagen, und die Dinge stets öffentlich zu machen. Denn wer schweigt, macht sich zum Komplizen.“ Die Tatsache, sich als Unschuldiger in der isolierten Gesellschaft der Inhaftierten wiederzufinden und die Begegnung mit Patishtán hätten ihm die Augen geöffnet. In all den Jahren habe er gelernt, was Ungerechtigkeit sei, was die Abwesenheit von Recht bedeute, wie die Autoritäten in verschiedensten Positionen ihre Macht missbrauchten. Und auch was es heißt, zu kämpfen, sich einzusetzen für einen Wandel, für Gleichheit, für eine umfassende Gerechtigkeit.
Es versammeln sich mehr Leute am Tisch. Einer von ihnen ist Roberto Paciencia, der uns erzählt, wie er im Mai letzten Jahres aus dem Nichts festgenommen wurde, beschuldigt der Entführung einer Person, die er nie gesehen hat. Gefoltert, um ein falsches Geständnis zu erpressen, befindet er sich jetzt hier. Leider keine Ausnahme. Viele der 400 Insassen im Cereso 05 haben so oder ähnlich ihren Weg hier hinein gefunden. 90 Prozent von ihnen sind Indigene, die oft kein oder kaum Spanisch sprechen. Da große Teile der indigenen Bevölkerung in ärmsten Verhältnissen leben, kaum das Castilla beherrschen, von der Gesellschaft diskriminiert werden und ihre Rechte nicht kennen, sind sie leichte Beute, falls einmal ein Schuldiger gebraucht wird. In dem korrupten System bezahlt häufig der wahre Schuldige eine Geldsumme und man sucht sich willkürlich irgendeine Person, die dessen Strafe absitzt. Das sei, so Alejandro, eine etablierte Strategie der Ministerien und der Staatsanwaltschaft.
Leider nicht nur hier in Chiapas, sondern in großen Teilen Mexikos, Mittel- und Südamerikas. In einem Bericht, den die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte am 13. März veröffentlicht hat, wird die katastrophale Situation der mexikanischen Gefängnisse und deren Insassen aufgeführt: Mexiko ist nach den USA und Brasilien der Staat mit der höchsten Anzahl an Inhaftierten. Aktuell sind es 242.000 Häftlinge in 419 Strafvollzugsanstalten im Land. Diese sind durchschnittlich zu 26 Prozent überfüllt. Allein in den letzten fünf Jahren sind mehrere Tausend geflohen und mehr als 600 nahmen sich im Gefängnis das Leben. Von den 242.000 befinden sich 40 Prozent, also mehr als 100.000 Menschen, in vorübergehender Untersuchungshaft – ohne Urteilsspruch, allerdings in den gleichen Gefängnissen, unter den gleichen miserablen Bedingungen. Es ist eine weit verbreitete Meinung, die in der Gesellschaft herrscht: Je mehr Festnahmen, desto sicherer sei es. Unter dem Vorwand, eine Lösung für Kriminalität und Unsicherheit in Mexiko zu kreieren, wurden von der Politik diverse Gesetze modifiziert, um die vorläufigen Festnahmen ohne Untersuchung und Beweise zu legalisieren. Dies führte zu einem extremen Anstieg der Festnahmen in den letzten Jahren.
Bei einem Rundgang durch das Gefängnis bekommen wir ein Bild von der verrückten Welt, in der sich die Häftlinge bewegen und leben. Ich fühle mich wie im Film Carandiru von Hector Babenco über das berüchtigte Gefängnis von São Paulo. Wir schlängeln uns durch engste Gänge, vorbei an freundlich grüßenden Budenbesitzern, die Chips und Zigaretten verkaufen, kleinen Gasküchen und tätowierten Kartenspielern mit traurigen Gesichtern. Wir kommen in winzige Zellen mit bis zu zehn Häftlingen, jede mit einem ein mal zwei Meter großen Bett, das zugleich Kleiderschrank und Wohnraum ist.
Seit Patishtán im Oktober vergangenen Jahres schlussendlich aus der Haft entlassen wurde, nimmt Alejandro Díaz die Rolle ein, die Missstände im Gefängnis anzuprangern – wie zum Beispiel das Fehlen von desinfizierendem Alkohol für medizinische Behandlungen oder die korrupten Strukturen. Im Gefängnis selbst fungiert er als eine Art Ratgeber, um seine Erfahrungen zu teilen und ist Vorbild für den politischen Aktivismus eines Inhaftierten. Die Fortsetzung dieses Kampfes nach der Freilassung Patishtáns und neun weiterer indigener politisch Inhaftierter am 4. Juli 2013 zeigt, dass deren Bemühungen nicht umsonst waren und anderen Kraft gegeben haben.
Alejandro Díaz strahlt. Am 11. Mai sind es 15 Jahre, die er unschuldig im Gefängnis sitzt. Er sei zufrieden, sagt er. Zufrieden über die Freilassung seiner compañeros. Zufrieden damit, im Gefängnis gelandet zu sein. Hier, hinter den Gitterstäben, habe er andere Freiheiten gefunden. Obwohl eingeschlossen, so hätten sich ihm doch ganze Welten eröffnet: das erlernte Spanisch, die gewonnenen Erkenntnisse über die Ungerechtigkeit, der politische Aktivismus und Widerstand. Es sei kein Kampf für eine persönliche Gerechtigkeit, sagt er, sondern für eine allumfassende. Hier zwischen der aufgehängten Wäsche, den Tortillas, die in der Sonne trocknen und dem Kaffee, der inzwischen aufgehört hat zu dampfen.


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„Die Teams waren Stellvertreter der Kartelle“ (Demo)

El Escorpión versteht sich als alternative Fußballzeitschrift. Warum haben Sie diese Zeitschrift gegründet?
Die Idee ist dadurch entstanden, dass es in Kolumbien so etwas wie eine Zeitschrift zur Fußballkultur noch nicht gab. Wie wollen eine Alternative zur traditionellen Berichterstattung bieten, die sich vor allem auf die jeweiligen Stars, die Torschützen und den Glamour drumherum wie zum Beispiel Spielerfrauen konzentriert. Wir wollen eine Zeitschrift machen, die nicht nur textlich qualitativ und vielseitig aufgestellt ist, sondern auch grafisch einen höheren Anspruch hat. Mit guten Fotos, abwechslungsreichen Designs und Illustrationen. Wir bieten unseren Autoren Raum für mehrseitige Taktikanalysen, aber auch für Geschichten und Reportagen, die sich zwar rund um den Fußball drehen, die sich aber nicht ausschließlich mit dem Geschehen auf dem Spielfeld beschäftigen.

An welchen Vorbildern orientierten Sie sich?
Wir haben uns was Inhalt und Design betrifft vor allem durch europäische Zeitschriften wie Panenka (Spanien), SoFut (Frankreich), When Saturday comes (England) und natürlich auch durch 11 Freunde aus Deutschland inspirieren lassen. In Lateinamerika stehen solche Projekte noch ganz am Anfang. Hier gibt es nur wenige Zeitschriften zur Fußballkultur. Eine davon ist beispielsweise Don Julio aus Argentinien.

Die Fanrivalitäten sind wie überall in Lateinamerika auch in Kolumbien sehr ausgeprägt. Sind Sie in der Redaktion alle Fans der selben Mannschaft?
Nein. Zwei von uns sind Fans von Millonarios (größte Mannschaft aus Bogotá, Anm. d. Red.), einer ist Fan von America de Cali, einer von Santa Fé (Bogotá) und so weiter. Die Leute, die als „Freie” für uns schreiben, kommen auch aus allen Teilen Kolumbiens und sind dementsprechend Anhänger solcher Mannschaften wie Deportes Tolima, Deportivo Pasto oder Atlético Nacional aus Medellín, dem Verein mit der größten Anhängerschaft in Kolumbien.

Die Altstars der 1990er wie Carlos „El Pibe” („der Junge“) Valderrama, René „El Loco“ („der Verrückte“) Higuita oder Faustino Asprilla sind Kult in Kolumbien. Es lief sogar eine Telenovela über dieses Team im Fernsehen. Inwieweit unterscheiden sich die Mannschaften von 1994 und 2014?
Die Generation der 90er hat es bis heute verstanden, eine hohe mediale Aufmerksamkeit zu bekommen, auch weil sie die bisher größten Erfolge der kolumbianischen Nationalmannschaft verkörpert. Das ist bei der jetzigen Mannschaft sehr ähnlich.
Ein wesentlicher fußballerischer Unterschied besteht aber darin, dass die Spieler von heute schon früh den Sprung ins Ausland geschafft und daher viel mehr internationale Erfahrung haben. Die Mannschaft heute ist daher auch charakterlich reifer und professioneller und kann schwierige Herausforderungen besser meistern. Die Mannschaft von 1994 war im Vergleich dazu viel provinzieller. Diese Spieler wurden auf einen Schlag berühmt und das hat ihnen nicht immer gut getan. Sie waren exzentrischer, Frauenhelden und allgemein dem schönen Leben nicht abgeneigt. Hinzu kommt der historische Kontext. Seit den 1980er Jahren haben die Drogenkartelle und die großen Capos Unsummen in die Clubs gepumpt. Die Spieler haben hier in Kolumbien wie Könige gelebt und relativ gut verdient: Es gab nicht den finanziellen Anreiz, ins Ausland zu wechseln, weil die Drogenbosse mit großen Dollarbeträgen winkten. Dabei hätten Spieler wie Higuita oder Leonel Álvarez aufgrund ihrer fußballerischen Klasse längst weg sein müssen. Da sind die Spieler heute deutlich weiter. Charakterlich und fußballerisch.

Warum investieren Drogenbosse in den Fußball?
Aus mehreren Gründen. Zuvorderst ist eine professionelle Fußballmannschaft natürlich eine sehr gute Möglichkeit, die Gewinne aus dem Drogenhandel zu waschen. Darüber hinaus sind die Drogenbosse ja auch immer darum bemüht gewesen, sich das Antlitz „normaler“ Geschäftsleute zu geben. Die finanzielle Unterstützung eines Fußballvereins sollte ihr geschäftliches Handeln auch immer ein wenig rechtfertigen, also den Drogenhandel als einen Geschäftsbereich wie jeden anderen aussehen lassen. Und drittens hängt es wohl auch mit der Eitelkeit von Leuten wie Pablo Escobar (Medellin), der Familie Rodriguez Orojuela in Cali oder Gonzalo Rodriguez Gacha bei Millionarios in Bogotá zusammen, eine Fußballmannschaft wenn nicht offiziell zu besitzen, zumindest als Mäzen zu unterstützen, die überall in Südamerika Siege einfährt. Die größten Erfolge kolumbianischer Mannschaften auf internationaler Ebene fallen genau in jene Zeit, während der die großen Capos Geld in die Fußballmannschaften steckten. Doch im Rückblick war es sicherlich keine gute Zeit für den kolumbianischen Fußball.

Warum?
Weil alles von Korruption zerfressen war. Spieler und Schiedsrichter wurden mit Säcken voller Geld bestochen. Diejenigen, die zu viel wussten oder plauderten, wurden erschossen – ob Spieler, Schiedsrichter oder Journalisten. Der ehemalige Präsident von Atlético Nacional aus Medellin saß in den USA wegen Drogenhandels im Gefängnis. Besonders Ende der 1980er Jahre, als der Krieg zwischen den Kartellen immer heftiger wurde, standen sich auf dem Fußballplatz sozusagen die Drogenbosse in Fußballtrikots gegenüber. Die Teams waren Stellvertreter der jeweiligen Kartelle und hatten die Pflicht die Meisterschaft und die clásicos (Spiele gegen andere Traditionsteams, Anm. d. Red.) zu gewinnen. Vor einigen Jahren hat es deshalb sogar einmal die Diskussion gegeben, dass Millionarios aus Bogotá zwei Meistertitel aus den 1980er Jahren zurückgeben soll, weil der Verein sich diese Titel mehr oder weniger mit Drogengeld erkauft hat. Schon 1983 sollen fast die Hälfte der Profiklubs mit Geldern aus dem Drogenhandel unterstützt worden sein. Das hat der damalige Justizminister Rodrigo Lara Bonilla behauptet. Wenige Monate später war er tot (Lara Bonilla, scharfer Kritiker der aufstrebenden Drogenhändler, wurde 1984 von Auftragsmördern Pablo Escobars ermordet; Anm. der Redaktion).

Wie groß ist der Einfluss des Drogenhandels auf den kolumbianischen Fußball heute?
Im Vergleich zu damals ist das Gewicht nicht mehr so hoch. Obwohl es immer mal wieder Gerüchte gibt, gerade bei den Vereinen aus kleineren Städten, dass die Mafia oder auch Paramilitärs Einfluss auf manche Vereine haben. Gustavo Upegui zum Beispiel war einer der Köpfe des „Oficina de Envigado“, einer Mafiastruktur, die aus dem Medellin-Kartell entstanden ist, und zugleich Präsident des Clubs Envigado FC. 2006 wurde er von Auftragsmördern getötet.
Ein weiteres Beispiel ist der Fall von „Macaco“, einem ehemaligen Paramilitär der AUC (Vereinigten Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens; Anm. d. Red.). Er soll sehr gute Verbindungen zur Chefetage des Drittligaklubs Deportivo Perreira gehabt haben.

Info: www.facebook.com/REVISTA.EL.ESCORPION


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Der Macht verfallen

Ungewöhnlich ist es nicht, dass Alvaro García Linera vor die Presse tritt, um die Positionen und Absichten der Regierung bekanntzugeben, zu erklären oder gar von Missverständnissen zu befreien. Doch als er am Dienstagmorgen, dem 26. März, vor die Presse trat, wirkte der bolivianische Vizepräsident ganz anders als sonst. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, sah erschöpft aus. Es war das zweite Mal in nur wenigen Wochen, dass er sich vor der Öffentlichkeit rechtfertigen musste. Das Unternehmen Air Catering, das für das Essen an Bord der staatlichen Fluglinie Boliviana de Aviación BOA zuständig ist, soll zum Teil Silvana del Castillo Tejada, Ehefrau von Mauricio García Linera und Schwägerin des Vizepräsidenten, gehören. So hatte es die Oppositionspartei Unidad Nacional UN am Tag zuvor bekanntgegeben.
In jüngster Vergangenheit sind immer mehr Korruptions- und Erpressungsfälle, die angeblich durch Staatsfunktionäre ausgeführt wurden, öffentlich bekannt geworden. Immer öfter tritt dabei auch der Name García Linera in Erscheinung. Vieles deutet darauf hin, dass die Regierung Evo Morales in Korruption versinkt und dass Alvaro García Linera nicht derjenige ist, für den ihn alle hielten.
Die Unterstützer_innen von Evo Morales‘ Regierung sind überzeugt, dass es sich in erster Linie um eine Kampagne der Opposition handelt. Sie versuche, die Regierung vor den Wahlen so weit wie möglich zu schwächen. Im Gegensatz zu anderen Affären liegt im Falle Air Catering keine eigentliche Straftat vor. Dennoch deutet alles auf eine mögliche widerrechtliche Vorteilsgewährung hin, auf ein Zeichen der üblichen Vetternwirtschaft Boliviens, welcher die regierende Partei Bewegung zum Sozialismus MAS doch eigentlich ein Ende setzen wollte.
Das Unternehmen sei laut Unidad Nacional UN vor weniger als einem Jahr mit einem Ausgangskapital, nicht höher als 140.000 Bolivianos (etwa 14.000 Euro), gegründet worden. Wegen des Vertrags mit der staatlichen Fluggesellschaft sollen sich die jährlichen Einnahmen aber bis auf 26 Millionen Bolivianos (2,6 Millionen Euro) belaufen. Der UN Sprecher Arturo Murillo nimmt an, Air Catering sei ausschließlich gegründet worden, um den BOA Vertrag wahrzunehmen.
Er habe nichts von dem Vertrag gewusst, erklärt García Linera, es handele sich nicht um Vetternwirtschaft, sondern um einen rechtmäßigen Vertrag. Dennoch sagte er: „Kein Angehöriger des Präsidenten oder des Vizepräsidenten darf einen Vertrag mit dem Staat schließen. Ich verlange, dass dieser in den nächsten Stunden aufgelöst wird, damit es keine weiteren Spekulationen gibt.“ Kurz darauf gab die Regierung bekannt, die Schwägerin des Vizepräsidenten werde ihren Anteil des Unternehmens verkaufen.
Raul Prada, früher Anhänger der Regierungspartei MAS und Vizeminister für Wirtschaft und Finanzen im Jahr 2010, ist mittlerweile davon überzeugt, dass die MAS-Regierung sich durch die Korruptionsvorwürfen dem Abgrund nähert. Auch von García Linera ist er enttäuscht: „Er hat die ganze Welt glauben lassen er sei intellektuell, ein Revolutionär, ein Guerrillero, dabei ist er nur in sich selbst und in die Macht verliebt, ein Betrüger.“
Der marxistische Journalist und Autor Hugo Moldiz hingegen argumentiert, der Fall Air Catering werde strategisch ausgenutzt, um die Autorität des Vizepräsidenten zu schwächen und zu unterminieren. „Es besteht die Absicht, Misstrauen selbst in die höchsten Ebenen der Regierung herzustellen“, sagt er.
Der Fall „Air Catering“ ist einer von mehreren Vorfällen, welche die Regierung Evo Morales vor den Präsidentschaftswahlen im Oktober in einem schlechten Licht erscheinen lassen. Im März beschäftigte ein vom US-amerikanischen FBI aufgezeichnetes Video die bolivianische Öffentlichkeit.
Fabricio Ormachea ist Polizist und arbeitete bis Mitte 2013 bei der Antikorruptionseinheit der Polizei. Im August flog er in die USA und erpresste dort den Ex-Inhaber der bolivianischen Fluggesellschaft Aero Sur, Humberto Roca. 2012 wurde Aero Sur die Lizenz entzogen. Roca floh in die USA und behauptete dort, Opfer politischer Verfolgung zu sein und beantragte Asyl. In Bolivien laufen gegen ihn Prozesse wegen illegaler Bereicherung, Schädigung des Staates und Begünstigung seiner eigenen Familie. Ormachea bot ihm an, sich für die Stilllegung der gegen ihn laufenden Prozesse einzusetzen. 30.000 Dollar verlangt er im Gegenzug für seine Gefälligkeiten. Roca gab ihm einen Vorschuss von 5.000. Wenig später wurde Ormachea auf der Straße verhaftet, als er gerade dabei war, die Dollarscheine, welche er bei sich trug, zu zählen. Roca hatte das FBI über das Treffen mit Ormachea infomiert. Der Besuch in Rocas Wohnzimmer war von einer versteckten Kamera aufgezeichnet worden. Ormachea wird wegen Erpressung angeklagt.
Die bolivianische Polizei teilte mit, Ormachea sei nicht der Leiter der Antikorruptionseinheit, sondern ein Deserteur, er habe also auf eigene Faust gehandelt. Im März 2014 wurde Fabricio Ormachea von einem US-amerikanischen Gericht für schuldig erklärt. Das endgültige Urteil wird Ende Mai bekanntgegeben. Die Staatsanwaltschaft hatte eine Freiheitsstrafe von 25 Jahren beantragt.
Im März wurde auch das Erpressungsvideo veröffentlicht. Dort behauptet Ormachea, der Vizepräsident hätte ihn mehrmals zu sich gebeten, um ihm Befehle zu erteilen. Er habe persönlich gesehen, wie Alvaro García Linera selbst über bestimmte Urteile entscheide und der Justiz vorgebe, was zu tun sei. Auch andere Regierungsmitglieder wie der Präsidentschaftsminister Juan Ramón Quintana belastete er und sogar García Lineras Bruder. „Alvaro García Lineras Bruder Raúl hat Millionen. Er steckt in allem drin, in Aufträgen, Ausschreibungen und anderen Gaunereien“, sagte Ormachea auf dem Video.
Auch nach der Veröffentlichung des Videos gab der Vizepräsident eine Pressekonferenz, bei der er bestritt Ormachea zu kennen. „Diesen Ormachea kennen wir nicht einmal im Traum“, sagte er und erklärte, dass die angeblichen Besuche Ormacheas in der Vizepräsidentschaft in keinem einzigen Besucherregister zu finden seien. Über die Aussagen bezüglich seines Bruders ist er empört. „Mein Bruder ist Ingenieur von Beruf, er arbeitet nicht für die Regierung, der Arme lebt zur Miete.“ García machte die Opposition dafür verantwortlich, sich „hinter Verbrechern zu verstecken“, um die Regierung zu attackieren.
Eine weitere Affäre in der Sammlung bolivianischer Korruptionsskandale ist die des Staatsanwalts Marcelo Soza, der an einem der wahrscheinlich größten Justizfälle Boliviens arbeitete. Im April 2009 kamen in Santa Cruz im Kreuzfeuer einer Spezialeinheit der Polizei drei Menschen, die angeblich einer größeren Separatistenbewegung angehörten, ums Leben. Die Separatisten hätten die Absicht gehabt, Evo Morales zu ermorden, erklärte die Regierung. Der Staatsanwalt Marcelo Soza übernahm den Fall. Es wurden über 30 Personen festgenommen und wegen Terrorismus angeklagt. Anfang 2013 während des immer noch laufenden Terrorismusprozesses geriet eine Tonaufnahme an die Öffentlichkeit, in der Soza zwar sich selbst nicht belastet, jedoch behauptet, mehrere Angeklagte seien von regierungsnahen Personen erpresst worden. Abermals kam der Name Raúl García Lineras ins Gespräch. Er sei in Drogengeschäfte verwickelt, behauptete Soza. Nach der Veröffentlichung des Videos trat er zurück.
Anfang 2014 erschienen Beweise für die Erpressungen, die Soza durch seinen Anwalt durchführte. Der Anwalt wurde festgenommen. Marcelo Soza floh nach Brasilien und beantragte Asyl. In einem Brief, den er zurückließ, behauptete er, Regierungsautoritäten hätten ihn oft dazu drängen wollen Ermittlungsmaßnahmen auszuführen, die rechtswidrig seien. Er habe sich immer geweigert, fügte er hinzu.
Sozas Flucht empörte die bolivianische Bevölkerung. Der Journalist Raúl Peñaranda vermutet, man habe den Staatsanwalt fliehen lassen. „Seine Flucht war im Interesse der Regierung. Sonst hätte sich wahrscheinlich herausgestellt, dass die meisten Anklagen aufgrund von Terrorismus nichts anderes als Intrigen waren“. Mit diesem Vorwurf wurde die Opposition, die Evo Morales hätte gefährlich werden können, komplett „ausgerottet“, fügte er hinzu. Peñaranda weist auf Anzeigen hin, nach denen Soza mit seinen Erpressungen 5 Millionen Dollar „erwirtschaftet“ habe.
Dies sind nur einige der Korruptionsaffären dieses und des letzten Jahres in Bolivien. Raúl Prada meint, die MAS habe nicht die Macht übernommen, sondern sei ihr verfallen. Wie alle Revolutionen sei auch diese in ihren eigenen Widersprüchen versunken. Prada gehört der Gruppe der politischen Theoretikern „Comuna“ an, der einst auch Álvaro García Linera angehörte und dessen Mitglieder nun eine Erneuerung des Prozesses des Wandels fordern. Hugo Moldiz argumentiert dagegen, die Opposition mache im Vorfeld der Wahl nur eine Kampagne, die die Regierung der Korruption und des Drogenhandels bezichtige und eigentlich Ausdruck ihrer eigenen Unfähigkeit, die erfolgreichen Ergebnisse des bolivianischen Wirtschaftsmodells zu widerlegen. Nichtsdestotrotz hat Evo Morales große Chancen im Oktober wiedergewählt zu werden, auch wenn sein Wahlsieg diesmal nicht so überzeugend ausfallen könnte.


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„Der Kreis schließt sich“

Einer der Hauptkritikpunkte an der kolumbianischen Agrarpolitik ist die Saatgutverordnung 970, die bereits im Jahr 2010 von der Regierung erlassen wurde. Was genau besagt diese Regelung?
Cynthia Osorio Torres: Die Verordnung 970 greift einige Aspekte der internationalen Gesetzgebung auf, insbesondere der Internationalen Konvention für den Schutz neuer Pflanzenvarietäten (UPOV). Die UPOV wurde 1991 in der Schweiz auf Drängen der großen Saatgutkonzerne erlassen. Also jener Saatgutkonzerne, die unkonventionelles Saatgut, d.h. Hybride aus dem Labor, herstellen. Die UPOV dient dem Schutz dieser Konzerne, indem sie das Saatgut anhand von vier Bedingungen zertifiziert: Sie müssen neu, homogen, stabil und unterscheidbar sein. Samen, die im Labor hergestellt werden, können diese Konditionen ohne Probleme erfüllen – natürlich gekreuzte Samen allerdings nicht. Was genau die Regelung 970 beinhaltet, ist wegen ihrer Widersprüchlichkeit gar nicht so einfach zu sagen. Jedoch hat das Kolumbianische Agrarinstitut (ICA) auf ihrer Grundlage bereits mehr als 4.000 Tonnen Saatgut beschlagnahmt und zerstört sowie die betroffenen Bäuerinnen und Bauern gerichtlich belangt.

Als Reaktion auf die Agrarproteste vom letzten August wurde die Verordnung 970 im September 2013 geändert. Wie sehen die Änderungen konkret aus?
Cynthia: Im September 2013 beschloss das ICA, von der Anwendung dieser Verordnung einige spezifische Samen, die sogenannten autochthonen oder einheimischen, auszuschließen. Jedoch nur, wenn diese nicht für den Handel bestimmt sind. Es lässt sich also nach wie vor die Intention der Regierung erkennen, das Saatgut der Bauern nicht zu kommerzialisieren und das Monopol der Großkonzerne zu schützen.

Wie ist das Verhältnis der Verordnung 970 zu den Freihandelsabkommen mit den USA und der EU?
Cynthia: Die Freihandelsabkommen sehen vor, dass beide Partnerländer unter gleichen Bedingungen Handel betreiben müssen. Wenn also ein Partnerland, wie die USA oder die EU, die UPOV anwendet, muss das andere dies auch tun. Laut dem Freihandelsabkommen müssen wir also unter den gleichen Konditionen produzieren. Allerdings sind die Produktionsbedingungen in Kolumbien nicht die gleichen wie in den USA, wo die Agrikultur in hohem Maße homogenisiert, industrialisiert und subventioniert ist. Trotz der unterschiedlichen Voraussetzungen der beiden Länder soll es eine identische Gesetzgebung geben.

Wie ist der aktuelle Stand der Agrarproteste?
Antonio Alvarado Catuche: Die wichtigsten Themen der aktuellen Debatten sind die Souveränität, die Ernährungssicherheit und die Verteidigung des Territoriums. Diese drei Themen hängen eng mit der Agrarproblematik und somit auch mit der Verteidigung unserer Lebensgrundlage zusammen. Im Mai wird es wieder Agrarproteste und Streiks geben, die sich genau gegen diese Saatgutgesetze richten und für die Ernährungssicherheit kämpfen.
Warum machen wir die Proteste? Weil der Staat uns keine andere Option lässt. Wir glauben nicht an dieses Parlament, insbesondere wegen der Beteiligung der Parlamentarier_innen am Paramilitarismus (Anm. d. Red.: laut der NGO Stiftung Frieden und Versöhnung (FPR) sollen mind. 69 von 269 der neugewählten Kandidat_innen des Senats und Repräsentantenhauses Verbindungen zum Paramilitarismus haben).

Inwiefern beeinflussen die aktuellen Wahlen die Agrarproteste?
Antonio: Für uns sind die Wahlen auf jeden Fall nicht der Höhepunkt, auch wenn zehn unserer Kandidat_innen aus dem Alternativen Pol in den Senat gewählt wurden, die uns mit Informationen über das, was im Kongress geschieht, versorgen werden können. Dass die Ultra-Rechte unter Álvaro Uribe einen Stimmengewinn verbuchen konnte, steht für mich im Zusammenhang mit der weltweiten Wirtschaftskrise. So wie sich in Europa die Menschen in die Ultra-Rechte flüchten, passiert dies auch in Kolumbien.

Was sind die Vorstellungen und Vorschläge der Indigenen und Kleinbäuer_innen, um die Agrarpolitik Kolumbiens zu verbessern?
Alba Portillo Cartuche: Die UPOV fördert die Kontrolle der Produktion und der Verwendung des Saatguts und behält diese Rechte einigen wenigen Konzernen vor. Wir glauben, die einzige Möglichkeit, diesem Prozess entgegenzuwirken und die Vielfalt des Saatsgutes zu bewahren, liegt darin, allen Menschen den Zugriff auf die verschiedenen Arten zu gewährleisten. Somit wäre das Saatgut auch nicht mehr für eine Kommerzialisierung geeignet. Unser Vorschlag ist es, das Saatgut der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen und somit jene Arten, die es noch gibt, zu bewahren – denn wir haben bereits 80 Prozent der Vielfalt unserer Nahrungsmittel verloren.

Welche Maßnahmen schlagt ihr vor, um diese Vorschläge konkret umzusetzen?
Alba: Ein wichtiger Aspekt liegt in der Ausbildung: Wir versuchen, das Wissen über die Agrikultur weiter zu verbreiten. Beispielsweise wie das Saatgut verwendet wird und die Biodiversität bewahrt werden kann, ohne Agrochemikalien verwenden zu müssen. Das Problem der zertifizierten Samen ist, dass sie nur durch den Einsatz spezifischer Chemikalien überleben können.
Wir wollen die Agrikultur agrarökologisch gestalten, wie sie zur Zeiten der Subsistenzwirtschaft war, das heißt die Vielfalt schützen. Außerdem haben wir ein internes Mikrokreditsystem etabliert, mit dem sich die Kleinbäuerinnen und -bauern gegenseitig aushelfen können. Ein wichtiges Thema sind auch die agrarökologischen Märkte. Indem wir die Menschen zu bewusstem Konsum anregen, wollen wir die Diskrepanz zwischen der Land- und der Stadtbevölkerung überwinden.

Cynthia: Mit dem Inkrafttreten der Verordnung 970 werden jedoch diese selbstverwalteten Projekte kriminalisiert. Der Verkauf von Saatgut, die kleinen Gemeinschaftsdarlehen, von welchen Alba sprach, sind nun illegal. Sogar die ökologischen Märkte, die wir kreiert haben, unterliegen jetzt gesetzlichen Bestimmungen und Gesundheitskontrollen. Wir müssen nun beweisen, dass unsere Arbeit kein Verbrechen ist, sondern unser Recht.

In der Region Casanare im Osten Kolumbiens gab es im letzten Monat eine Dürrekatastrophe, in deren Verlauf tausende Tiere verdursteten. Umweltaktivist_innen führten die Ausmaße unter anderem auf die Erdölgewinnung in dieser Region zurück. Wie sehen Sie den Zusammenhang zwischen solchen Naturkatastrophen und der Agrarpolitik?
Cynthia: Das ist genau die Konsequenz der Agrarpolitik, die die kolumbianische Regierung derzeit betreibt. Für uns bedeuten die Freihandelsverträge nicht nur, dass ausländische Waren nach Kolumbien kommen, sondern auch, dass wir alle Ressourcen verlieren: das Wasser, die Kohle, das Gold, die Mineralien, das Erdöl, die genetische Vielfalt. Das, was gerade im Casanare passiert ist, ist die Folge dieser Wirtschaftspolitik, die sich nur auf die Gewinnung von Rohstoffen konzentriert, auf die Extraktion möglichst vieler Ressourcen…

Alba: Die Krise im Casanare hat gezeigt, dass das Thema Saatgut nicht isoliert betrachtet werden kann. Die Landvertreibung, die Monopolisierung der Firmen, die mit der Landverteilung in Verbindung stehen, der Bergbau, also der Eintritt transnationaler Unternehmen, transgene Pflanzungen, all dies hängt miteinander zusammen. Deswegen sind die Effekte heute auch viel stärker.

Die Saatgutgesetzgebung hängt also direkt mit dem kolumbianischen Binnenkonflikt zusammen?
Alba:In Kolumbien gibt es zwei Arten von Landvertreibung: Einmal die informelle, die mit einem Pistolenschuss das Problem beendet. Es gibt paramilitärische Gruppierungen, die Guerilla und andere bewaffnete Gruppen, die die Menschen im Auftrag großer Konzerne vertreiben. Die andere Methode ist die legale Landvertreibung durch Gesetze und Verordnungen als Konsequenz der Freihandelsabkommen. Den Menschen bleibt keine andere Option, als ihr Land zu verlassen. Das Thema Saatgut ist wie der letzte Schlag, der noch fehlt. Denn seit der „Grünen Revolution“ (Anm.d. Red.: gemeint ist der Beginn der Hochleistungsindustrialisierung der Agrarwirtschaft in den 1950er Jahren) hängen die Bäuerinnen und Bauern von Krediten und Subventionen ab. Wenn man ihnen nun auch noch das, was sie aussähen, wegnimmt, haben sie nichts mehr. Als die „Grüne Revolution“ begann, sagten die Agrarpolitiker_innen den Menschen, dass sie ihre Pflanzungen auf Kaffeemonokulturen umbauen müssten, um Geld zu verdienen. Was sie den Bäuerinnen und Bauern allerdings verschwiegen haben: Dadurch sind sie nun von den Megakonzernen abhängig, wenn sie anderes Saatgut brauchen. Und dieses Saatgut ist krank, denn nur krankes Saatgut benötigt all diese Agrochemikalien. Es werden aber auch Tabletten gegen die Allergien, Kopf- und Bauchschmerzen, die diese Chemikalien auslösen, gebraucht. Es ist kein Zufall, dass Megakonzerne wie Bayer sowohl das Saatgut, als auch die Agrochemikalien und die Medikamente herstellen.
Genau diese Prozesse sorgen dann dafür, dass die Leute vertrieben werden. Sie können sich ein bestimmtes Saatgut nicht mehr leisten, sie ziehen in die Städte, weil sie keine andere Option haben. Dadurch gibt es mehr billige Arbeitskräfte in den Städten, die wiederum für die multinationalen Konzerne arbeiten können und müssen, nach den Bedingungen die ihnen diktiert werden, ohne jegliche Rechte.

Antonio: Ein anderer wichtiger Punkt betrifft die Ausbildung. In Kolumbien gibt es derzeit einen Trend hin zu niederen Ausbildungsgraden mit kürzeren Ausbildungszeiten – dadurch gibt es ebenfalls mehr billige Arbeitskräfte für die transnationalen Konzerne. So schließt sich dann der Kreis.


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// DOSSIER: FUSSBALLKULTUR IN LATEINAMERIKA

(Download des gesamten Dossiers)

28 Jahre ist es her, dass in Lateinamerika eine Fußball-Weltmeisterschaft der Männer stattfand. Seit der WM 1986 in Mexiko verfolgt der Weltfußballverband FIFA eine neue Strategie bei der Auswahl der Austragungsorte, um den Fußballkommerz weiter zu globalisieren. Mit den USA 1994, Japan und Südkorea 2002 und Südafrika 2010 fanden erstmals Weltmeisterschaften außerhalb Europas und Lateinamerikas statt. 2014 kehrt die WM nach Lateinamerika zurück und wird nach 1950 zum zweiten Mal überhaupt in Brasilien ausgerichtet. Grund genug für die Lateinamerika Nachrichten, das Dossier Abseits des Flutlichts herauszugeben. Uns interessieren dabei weniger die sportlichen Chancen einzelner Teams und noch weniger der Kult um Stars wie Lionel Messi oder Neymar. Wer sich über die in Brasilien auflaufenden Mannschaften informieren will, kann auf ein breites Angebot an Sonderheften zurückgreifen.

Neun lateinamerikanische Länder haben sich für die WM 2014 qualifiziert. Allen widmet LN jeweils einen Text, der mit dem Thema Fußball zu tun hat. Da dieser Sport weit mehr ist als Kommerz und Ergebnisorientierung, behandeln wir Themen, die sich überwiegend jenseits des Rummels um Tore und Talente abspielen. Fußball ist nicht nur im Alltag der meisten lateinamerikanischen Länder von großer Bedeutung, sondern hat auch soziale und politische Facetten. Unsere Themen reichen daher von einem Straßenfußballprojekt in Costa Rica über Fußball in Zeiten des Putschs in Chile oder Honduras bis hin zu Fankultur und Gewalt in Argentinien. Der Artikel über Ecuador beleuchtet die stark gewachsene Bedeutung afro-lateinamerikanischer Spieler, während sich ein Interview aus Kolumbien mit dem Einfluss der Drogenkartelle auf den dortigen Fußball auseinandersetzt.
Ganz an der WM und deren dubiosem Ausrichter, dem Weltfußballverband FIFA, kommen wir allerdings nicht vorbei. Wenn FIFA-Präsident Joseph Blatter etwa behauptet, die WM unter der Militärdiktatur 1978 in Argentinien habe zu einer „Art Aussöhnung“ zwischen „Bevölkerung und dem politischen System“ geführt, drängt sich ein Blick auf die politische Rolle der FIFA förmlich auf. Diese ist das Thema unseres Artikels über den Gastgeber Brasilien.

Wie Eduardo Galeano in seinem einleitenden literarischen Beitrag anschaulich beschreibt, war Fußball in Lateinamerika schon früh ein Sport für Alle, der „in den Wiesen, auf den Straßen und an den Stränden”, praktiziert wurde, „mit ein paar Steinen, die das Tor markierten“. Dies hat uns zu einer Fotostrecke über die vielfältigen Orte inspiriert, an denen auch heute noch in Lateinamerika Fußball gespielt wird – mitten in den Megacities ebenso wie an verlassenen Orten, die am Ende der Welt zu liegen scheinen.

Die gesellschaftlichen Proteste in Brasilien, die im vergangenen Jahr während des Confederations-Cups begannen, stehen nicht im Mittelpunkt dieses Dossiers. Das soll nicht heißen, dass diese nicht relevant sind. Im Gegenteil: Mit den negativen sozialen und städtebaulichen Folgen von WM und Olympischen Spielen in Brasilien haben sich die LN bereits im September 2013 in dem Dossier Im Schatten der Spiele: Fußball, Vertreibung und Widerstand in Brasilien eingehend beschäftigt. Außerdem berichten wir regelmäßig in den aktuellen Ausgaben darüber. Denn Brasilien bleibt spannend – vor, während und nach der WM.


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Black Power vom Rio Chota

Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Fußball in Ecuador an die Tür klopfte, dachten nur wenige, dass die ruhmreichsten Momente dieses Sports von Afro-Lateinamerikanern erreicht werden würden. Nicht nur, weil die Schwarzen in Ecuador in den Anfangsjahren des Fußballs keinen großen Gefallen daran fanden. Auch diejenigen, die ihn spielten, waren eher Ausländer, die auf der Durchreise an den Küsten des Landes vorbeikamen.
Selbst als die Professionalisierung des ecuadorianischen Fußballs begann, spielten nur wenige Afro-Lateinamerikaner in den Klubs. Erst nach und nach kamen sie dazu, und in einigen Städten verlief diese Entwicklung sehr langsam. Ulises de la Cruz, einer der prominentesten Spieler der ecuadorianischen Fußballgeschichte, erzählt vom Argwohn ihm gegenüber, als er beim Klub Liga Deportiva Universitaria zu spielen begann, weil „zu dieser Zeit ‚die Weißen‘ bei Liga spielen sollten“. Da schrieb man übrigens bereits das Jahr 1997.
Zu diesem Zeitpunkt befand sich das ecuadorianische Nationalteam in einem Match gegen die eigenen Vorurteile. Der Fußballverband, geleitet vom unvergessenen Galo Roggiero, hatte den kolumbianischen Ex-Nationaltrainer Francisco Maturana beauftragt, ein „Team für alle“ aufzubauen. Es wurde eine der bedeutendsten Entscheidungen für den Erfolg des ecuadorianischen Fußballs getroffen: Die Nationalmannschaft sollte sechs ihrer acht Heimspiele der WM-Qualifikation in Quito austragen und sich den Wettbewerbsvorteil, den dessen Lage in 2.800 Meter Höhe darstellt, zu Nutze machen. Mit Erfolg: Die Punktausbeute verbesserte sich erheblich, die Beschwerden der gegnerischen Teams konnten als Auszeichnung verstanden werden.
Bereits vorher hatte Dusan Draskovic, ein montenegrinischer Trainer-Stratege, der 1988 nach Ecuador gekommen war, um eine langanhaltende Laufbahn mit Nationalteams zu beginnen, einen Kampf gegen den tief verwurzelten Regionalismus eingeleitet. Aus diesem Grund hatte man jahrzehntelang zwei verschiedene Nationalteams für offizielle Spiele zusammenstellen müssen: Eines mit Spielern von der Küste, das hauptsächlich aus Fußballern von Barcelona und Emelec aus Guayaquil bestand. Und eines mit Spielern aus dem Hochland, in dem vor allem Spieler von El Nacional, Deportivo Quito, Aucas und Liga Deportiva Universitaria in den Spielen in Quito aufliefen.
Ein weiteres Ereignis spielte für die Entwicklung und das Selbstverständnis des ecuadorianischen Nationalteams eine entscheidende Rolle, obwohl man selbst gar nicht direkt beteiligt war. Am 5. September 1993 gelang dem kolumbianischen Fußball-Nationalteam eine der spektakulärsten Heldentaten im Weltsport: Unter dem Trainer Francisco Maturana brachte man dem zweimaligen Weltmeister Argentinien durch ein überwältigendes 5:0 im Estadio Monumental von Buenos Aires in der Qualifikation für die Weltmeisterschaft in den USA eine unvergessliche Erniedrigung bei. Namen wie Faustino Asprilla, Freddy Rincón, Adolfo Valencia und andere brachten schwarze Lateinamerikaner auf das Parkett des großen Fußballs, so dass dieses Team zum Mitfavoriten für den WM-Sieg 1994 aufstieg.
Obwohl Namen schwarzer Kicker wie der Brasilianer Pelé oder der Portugiese Eusebio bereits vorher Weltruhm erlangt hatten, legte vielleicht erst die räumliche Nähe der Entwicklung in Kolumbien das Fundament für die Zuversicht der afro-ecuadorianischen Fußballer. Diese trug in der Folgezeit dazu bei, dass sich eine feste fußballerische Identität im Land herausbildete. Ecuadorianische Fußballer wurden nun weltweit als kräftige und flinke Spieler wahrgenommen, die eventuelle technische Schwächen mit Geschwindigkeit kaschieren konnten. Erfolge stellten sich schnell ein: Nicht nur gelang die Qualifikation für die WM 2002, Ecuador stellte mit Agustín Delgado (gemeinsam mit dem Argentinier Hernán Crespo) auch den Toptorjäger der Südamerikagruppe.
Mit der ersten WM-Teilnahme (unter der Leitung von Hernán Dario Gómez – ebenfalls ein Kolumbianer) tauchte Ecuador endlich auf der größten Bühne des Fußballs auf. Die ganze Welt richtete die Blicke auf das Land und der Traum von Millionen wurde durch eine Mannschaft wahr, die in ihrer Mehrheit aus Afro-Ecuadorianern bestand. Bei diesen waren wiederum zwei regionale Zentren auffällig, denen diese Ballkünstler entstammten: Die Region Esmeraldas und das Tal des Flusses Rio Chota. Die Afro-Lateinamerikaner_innen machen in Ecuador nur ungefähr 7,2 Prozent der Bevölkerung aus und in der Provinz Esmeraldas befinden sich die meisten ihrer Siedlungen. Die großen schwarzen Fußballer in der Geschichte des Landes stammten normalerweise aus dieser Region. Aber während des Erneuerungsprozesses unter Trainer Maturana betraten die Fußballer aus dem Chota-Tal mit enormer Präsenz die Bühne. Auf diesem dünn besiedelten Streifen Land der Grenzregion zwischen den Provinzen Imbabura und Carchi mit seinen ungefähr 2.000 Einwohner_innen wohnen hauptsächlich afro-ecuadorianische Familien, die Landwirtschaft betreiben. Deren Kinder verfügen über das besten Trainingslager, das die Gegend zu bieten hat: Sie treten am Ufer des Chota gegen den Ball.
Wie konnten sich Spieler wie Agustín Delgado, Edison Méndez, Giovanny Espinoza, Cléver Chalá oder Ulises de la Cruz so gut auf dem Feld verstehen? Die Antwort liegt auf der Hand: Was diese Jungs über die Strategien von Maturana und die Ansprachen von Hernán Gómez hinaus gemeinsam hatten, waren die Lebensjahre, die sie gemeinsam verbracht hatten. Sie spielten als Kinder auf den gleichen Lehmböden und liefen mit dem Ball in den Händen zur gleichen schlecht ausgestatteten Schule. Ihre Eltern waren befreundet, verwandt oder Nachbar_innen, und gemeinsam teilten sie denselben Traum: Ein Auskommen mit dem zu verdienen, was sie am liebsten taten – Fußball spielen – und damit ein Haus oder zumindest ein paar Schuhe zu kaufen. Mit der erfolgreichen WM-Qualifikation wurden sie schließlich zu Helden ganz Ecuadors.
Dennoch bleibt das Glück einer großen Fußballkarriere auch in diesen Regionen nur Wenigen vorbehalten, wie Ulises de la Cruz in der Dokumentation ¡Mete gol, gana! („Mach das Tor und gewinn!“) zu bedenken gibt: „Professioneller Fußball ist ein Sport, in dem immer nur elf Spieler auf dem Platz stehen können. Und wenn du eine Frau oder ein bisschen zu dick bist, darfst du gar nicht mitspielen“. Deswegen setzt er sich dafür ein, den Kindern seines Dorfes Piquiucho eine bessere schulische Ausbildung zu ermöglichen, damit sie neben dem Traumziel Fußballer auch Karrierechancen in anderen Berufen haben.
Genau wie Ulises, der seine Klasse auf den Plätzen Brasiliens, Schottlands und Englands unter Beweis gestellt hat, haben auch andere erfolgreiche Fußballer soziale Projekte oder Stiftungen gegründet, um ihre Heimatdörfer bei den elementarsten Bedürfnissen zu unterstützen: Vom Bau einer einsturzsicheren Schule bis hin zu einer Einrichtung für Ultraschalluntersuchungen für die Frauen einer Gemeinde. Iván Hurtado und Carlos Tenorio arbeiten mit Kindern aus Esmeraldas, die Stiftung von Agustín Delgado kümmert sich um Kinder aus dem Chota-Tal. Sie sind nur einige von vielen Beispielen:
Ihre besondere Art, mit eigenen Mitteln soziale Hilfsleistungen in ihre Heimatregionen zu bringen, hat einigen von ihnen die Möglichkeit gegeben, sich auf die politische Bühne zu katapultieren. Nach einer erfolgreichen sportlichen Karriere kandidieren sie für Positionen als Bürgermeister, in Präfekturen oder sogar für die Nationalversammlung. Dort haben Agustín Delgado und Ulises de la Cruz momentan einen Abgeordnetensitz.
Nach dem Debüt bei der WM 2002 in Japan und Südkorea und der erneuten Teilnahme 2006 in Deutschland, als man in das Achtelfinale kam, spielt das ecuadorianische Nationalteam 2014 nun seine dritte WM. Und erneut wird es von afro-ecuadorianischen Spielern angeführt: Superstar Antonio Valencia von Manchester United, aber auch Felipe Caicedo (früher unter anderem bei Manchester City und Lokomotive Moskau), Walter Ayoví (CF Pachuca), Segundo Castillo (Puebla FC) und viele andere schwarze Cracks werden das Land vom Äquator vertreten. Inspiriert sind sie dabei laut Eigenauskunft vom Gedenken an Cristian „el Chucho“ („der Köter“) Benítez. Den Stürmer, der mit vier Toren maßgeblich zur Qualifikation für das Turnier in Brasilien beitrug, riss im Juli 2013 eine rätselhafte Erkrankung im Alter von 27 Jahren schlagartig aus dem Leben und machte ihn dadurch unsterblich.
Trainer Reinaldo Rueda, erneut ein Kolumbianer, setzt bei der WM auf ein rigoroses taktisches Konzept, das er sich während seines Postgraduiertenstudiums an der Universität Köln aneignete. Das Land erhofft sich bei dem Turnier viel von seinen Spielern. Besonders gespannt dürften die Verwandten in Esmeraldas und im Chota-Tal sein.


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„Die Teams waren Stellvertreter der Kartelle“

El Escorpión versteht sich als alternative Fußballzeitschrift. Warum haben Sie diese Zeitschrift gegründet?
Die Idee ist dadurch entstanden, dass es in Kolumbien so etwas wie eine Zeitschrift zur Fußballkultur noch nicht gab. Wie wollen eine Alternative zur traditionellen Berichterstattung bieten, die sich vor allem auf die jeweiligen Stars, die Torschützen und den Glamour drumherum wie zum Beispiel Spielerfrauen konzentriert. Wir wollen eine Zeitschrift machen, die nicht nur textlich qualitativ und vielseitig aufgestellt ist, sondern auch grafisch einen höheren Anspruch hat. Mit guten Fotos, abwechslungsreichen Designs und Illustrationen. Wir bieten unseren Autoren Raum für mehrseitige Taktikanalysen, aber auch für Geschichten und Reportagen, die sich zwar rund um den Fußball drehen, die sich aber nicht ausschließlich mit dem Geschehen auf dem Spielfeld beschäftigen.

An welchen Vorbildern orientierten Sie sich?
Wir haben uns was Inhalt und Design betrifft vor allem durch europäische Zeitschriften wie Panenka (Spanien), SoFut (Frankreich), When Saturday comes (England) und natürlich auch durch 11 Freunde aus Deutschland inspirieren lassen. In Lateinamerika stehen solche Projekte noch ganz am Anfang. Hier gibt es nur wenige Zeitschriften zur Fußballkultur. Eine davon ist beispielsweise Don Julio aus Argentinien.

Die Fanrivalitäten sind wie überall in Lateinamerika auch in Kolumbien sehr ausgeprägt. Sind Sie in der Redaktion alle Fans der selben Mannschaft?
Nein. Zwei von uns sind Fans von Millonarios (größte Mannschaft aus Bogotá, Anm. d. Red.), einer ist Fan von America de Cali, einer von Santa Fé (Bogotá) und so weiter. Die Leute, die als „Freie” für uns schreiben, kommen auch aus allen Teilen Kolumbiens und sind dementsprechend Anhänger solcher Mannschaften wie Deportes Tolima, Deportivo Pasto oder Atlético Nacional aus Medellín, dem Verein mit der größten Anhängerschaft in Kolumbien.

Die Altstars der 1990er wie Carlos „El Pibe” („der Junge“) Valderrama, René „El Loco“ („der Verrückte“) Higuita oder Faustino Asprilla sind Kult in Kolumbien. Es lief sogar eine Telenovela über dieses Team im Fernsehen. Inwieweit unterscheiden sich die Mannschaften von 1994 und 2014?
Die Generation der 90er hat es bis heute verstanden, eine hohe mediale Aufmerksamkeit zu bekommen, auch weil sie die bisher größten Erfolge der kolumbianischen Nationalmannschaft verkörpert. Das ist bei der jetzigen Mannschaft sehr ähnlich.
Ein wesentlicher fußballerischer Unterschied besteht aber darin, dass die Spieler von heute schon früh den Sprung ins Ausland geschafft und daher viel mehr internationale Erfahrung haben. Die Mannschaft heute ist daher auch charakterlich reifer und professioneller und kann schwierige Herausforderungen besser meistern. Die Mannschaft von 1994 war im Vergleich dazu viel provinzieller. Diese Spieler wurden auf einen Schlag berühmt und das hat ihnen nicht immer gut getan. Sie waren exzentrischer, Frauenhelden und allgemein dem schönen Leben nicht abgeneigt. Hinzu kommt der historische Kontext. Seit den 1980er Jahren haben die Drogenkartelle und die großen Capos Unsummen in die Clubs gepumpt. Die Spieler haben hier in Kolumbien wie Könige gelebt und relativ gut verdient: Es gab nicht den finanziellen Anreiz, ins Ausland zu wechseln, weil die Drogenbosse mit großen Dollarbeträgen winkten. Dabei hätten Spieler wie Higuita oder Leonel Álvarez aufgrund ihrer fußballerischen Klasse längst weg sein müssen. Da sind die Spieler heute deutlich weiter. Charakterlich und fußballerisch.

Warum investieren Drogenbosse in den Fußball?
Aus mehreren Gründen. Zuvorderst ist eine professionelle Fußballmannschaft natürlich eine sehr gute Möglichkeit, die Gewinne aus dem Drogenhandel zu waschen. Darüber hinaus sind die Drogenbosse ja auch immer darum bemüht gewesen, sich das Antlitz „normaler“ Geschäftsleute zu geben. Die finanzielle Unterstützung eines Fußballvereins sollte ihr geschäftliches Handeln auch immer ein wenig rechtfertigen, also den Drogenhandel als einen Geschäftsbereich wie jeden anderen aussehen lassen. Und drittens hängt es wohl auch mit der Eitelkeit von Leuten wie Pablo Escobar (Medellin), der Familie Rodriguez Orojuela in Cali oder Gonzalo Rodriguez Gacha bei Millionarios in Bogotá zusammen, eine Fußballmannschaft wenn nicht offiziell zu besitzen, zumindest als Mäzen zu unterstützen, die überall in Südamerika Siege einfährt. Die größten Erfolge kolumbianischer Mannschaften auf internationaler Ebene fallen genau in jene Zeit, während der die großen Capos Geld in die Fußballmannschaften steckten. Doch im Rückblick war es sicherlich keine gute Zeit für den kolumbianischen Fußball.

Warum?
Weil alles von Korruption zerfressen war. Spieler und Schiedsrichter wurden mit Säcken voller Geld bestochen. Diejenigen, die zu viel wussten oder plauderten, wurden erschossen – ob Spieler, Schiedsrichter oder Journalisten. Der ehemalige Präsident von Atlético Nacional aus Medellin saß in den USA wegen Drogenhandels im Gefängnis. Besonders Ende der 1980er Jahre, als der Krieg zwischen den Kartellen immer heftiger wurde, standen sich auf dem Fußballplatz sozusagen die Drogenbosse in Fußballtrikots gegenüber. Die Teams waren Stellvertreter der jeweiligen Kartelle und hatten die Pflicht die Meisterschaft und die clásicos (Spiele gegen andere Traditionsteams, Anm. d. Red.) zu gewinnen. Vor einigen Jahren hat es deshalb sogar einmal die Diskussion gegeben, dass Millionarios aus Bogotá zwei Meistertitel aus den 1980er Jahren zurückgeben soll, weil der Verein sich diese Titel mehr oder weniger mit Drogengeld erkauft hat. Schon 1983 sollen fast die Hälfte der Profiklubs mit Geldern aus dem Drogenhandel unterstützt worden sein. Das hat der damalige Justizminister Rodrigo Lara Bonilla behauptet. Wenige Monate später war er tot (Lara Bonilla, scharfer Kritiker der aufstrebenden Drogenhändler, wurde 1984 von Auftragsmördern Pablo Escobars ermordet; Anm. der Redaktion).

Wie groß ist der Einfluss des Drogenhandels auf den kolumbianischen Fußball heute?
Im Vergleich zu damals ist das Gewicht nicht mehr so hoch. Obwohl es immer mal wieder Gerüchte gibt, gerade bei den Vereinen aus kleineren Städten, dass die Mafia oder auch Paramilitärs Einfluss auf manche Vereine haben. Gustavo Upegui zum Beispiel war einer der Köpfe des „Oficina de Envigado“, einer Mafiastruktur, die aus dem Medellin-Kartell entstanden ist, und zugleich Präsident des Clubs Envigado FC. 2006 wurde er von Auftragsmördern getötet.
Ein weiteres Beispiel ist der Fall von „Macaco“, einem ehemaligen Paramilitär der AUC (Vereinigten Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens; Anm. d. Red.). Er soll sehr gute Verbindungen zur Chefetage des Drittligaklubs Deportivo Perreira gehabt haben.

Info: www.facebook.com/REVISTA.EL.ESCORPION


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Festnahme mit Fragezeichen

Es war ein Tag im Winter 2007. Wie aus dem Nichts tauchten in der 11.000-Seelen-Gemeinde Canelas rund 200 Motorroller auf, besetzt mit schwarz gekleideten Personen. Bewaffnet mit Maschinenpistolen verteilten sich die Männer auf die Ortseingänge des nordmexikanischen Dorfes. Kleinflugzeuge brachten Musiker_innen, zwei Hubschrauber kontrollierten das Geschehen aus der Luft. Und dann kam er: „El Chapo“, „der Kleine“, wie ihn die Leute im „Goldenen Dreieck“ der nordmexikanischen Bundesstaaten Chihuahua, Durango und Sinaloa wegen seiner geringen Körpergröße nennen. Die Kalaschnikow geschultert, stieg er aus dem Flieger, um dem örtlichen Schönheitswettbewerb beizuwohnen. Die Party ging die ganze Nacht, seine Liebste wurde zur Dorfschönsten erklärt, und wenig später heiratete Joaquín Guzmán Loera, wie El Chapo mit bürgerlichem Namen heißt, die damals 18-jährige Emma Coronel.
Erst zwei Tage später erschienen in Canelas 150 Soldat_innen. El Chapo war längst über alle Berge. Wieder war der weltweit meistgesuchte Mafia-Boss schneller als die Armee. Über sechs Jahre nach der Fiesta von Canelas ging der 56-jährige Chef des Sinaloa-Kartells den Fahnder_innen nun ins Netz: Am 22. Februar wurde er gemeinsam mit Emma Coronel und ihren Zwillingen in der Hafenstadt Mazatlán verhaftet. Die Aktion dauerte nur ein paar Minuten, kein Schuss fiel. Sofort lobte Staatspräsident Enrique Peña Nieto von der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden, US-Justizminister Eric Holder sprach von einem „wegweisenden Erfolg“. Von monatelanger Überwachung war die Rede, von Drohnen-Einsätzen, einem entscheidenden abgehörten Anruf und Aussagen zuvor verhafteter Kartellmitglieder.
Politiker_innen, Ermittler_innen und Medien zeichneten das Bild eines seit 13 Jahren gejagten Mannes, der nun endlich durch immensen Fahndungsaufwand gefasst werden konnte. Doch so unerreichbar, wie es erscheint, ist der Mafiaboss für die Behörden nicht gewesen. Guzmáns Stippvisite in Canelas mag spektakulär erscheinen, außergewöhnlich war sie nicht. Legendär sind seine Besuche im Gefängnis, um den Geburtstag eines einsitzenden Angehörigen zu feiern. Auch wenn „der Kleine“ in der unweit seines Geburtsorts Badiraguato gelegenen Landeshauptstadt Culiacán über ein umfangreiches Tunnelsystem verfügte, konnte weder mexikanischen noch US-Geheimdiensten entgangen sein, dass sich El Chapo häufig in seiner alten Heimat aufgehalten hat. Geschützt wurde er von Kleinbauern und
-bäuerinnen, über Taxifahrer_innen, bis zu Gouverneur_innen. Damit gab es aber auch genügend Mitwisser_innen. Hätten die US-Antidrogenbehörde DEA oder mexikanische Strafverfolger_innen Guzmán ergreifen wollen, wäre das möglich gewesen.
Es ist nicht auszuschließen, dass eine ausgeklügelte Fahndungsstrategie zur konkreten Festnahme des Mafiabosses geführt hat. Doch einem solchen Einsatz liegt eine strategische Entscheidung auf politischer oder geheimdienstlicher Ebene zugrunde. Es besteht kaum ein Zweifel, dass Chapos Organisation über gute Kontakte zu US-Beamt_innen und zur mexikanischen Regierung verfügt. „Das Sinaloa-Kartell ist vollkommen in den mexikanischen Staat integriert“, ist etwa die Mafia-Expertin und Buchautorin Anabel Hernández überzeugt. Auch DEA-Funktionäre bestätigen eine enge Kooperation. So erklärte der ehemalige Regionalleiter Mexiko der US-Behörde, David Gaddis, im Prozess gegen Vicente Zambada Niebla, den Sohn des zweiten Sinaloa-Chefs Ismael „El Mayo“ Zambada, er habe sich mit dem Angeklagten sowie weiteren hochrangigen Vertretern des Kartells getroffen. Dokumente des Verfahrens, das in Chicago stattfindet, bestätigen mindestens 50 solcher Treffen zwischen 2000 und 2012. Die US-Regierung habe davon gewusst. Das Ziel sei gewesen, Informationen über rivalisierende Kartelle zu erhalten.
Dieses Vorgehen ist nicht ungewöhnlich. Schon Ende der achtziger Jahre verbündeten sich US- und kolumbianische Agenten mit dem Cali-Kartell, um den Drogenbaron Pablo Escobar vom gegnerischen Medellín-Kartell zu bekämpfen. Ein ähnliches Kalkül vermuten Insider_innen auch hinter dem Krieg, den Mexikos damaliger Präsident Felipe Calderón 2006 den Kartellen erklärt hat. Dafür spreche, so meint der Sicherheitsexperte Edgardo Buscaglia, dass das Sinaloa-Kartell sehr glimpflich davongekommen sei, obwohl es der wichtigste Player im Drogengeschäft sei. „Es wickelt 46 Prozent der Exporte in die USA und nach Europa ab. Doch nur 1,8 Prozent der Verhafteten stammen aus dieser Organisation, von den Verurteilten sind es sogar nur 0,9 Prozent“, erklärte er 2011.
Auch Calderóns Vorgänger Vicente Fox stand unter dem Verdacht, Guzmán zu unterstützen. Er soll nachgeholfen haben, als der „der Kleine“ 2001 aus dem Gefängnis ausbrechen konnte, sagt der ehemalige Staatsanwalt für organisiertes Verbrechen Samuel González Ruiz. El Chapo habe damals angeboten, die Konkurrent_innen vom Tijuana-Kartell ans Messer zu liefern. Beim langjährigen DEA-Chef von El Paso, Phil Jordan, stieß die jetzige Verhaftung auf großes Unverständnis. El Chapo habe Millionen in den Wahlkampf des Staatschefs Peña Nieto investiert. Das bewiesen Akten des US-Geheimdienstes. Jordan: „Irgendwas ging da schief.“
Ob etwas und wenn was genau schief gegangen ist, wird so schnell niemand beantworten. Leichtfertige Verschwörungstheorien taugen angesichts der komplexen Bande zwischen Geheimdiensten, Mafia, Wirtschaft und Politik wenig. Setzen die Dienste auf ein anderes Kartell? Ist Guzmán einem internen Machtkampf zum Opfer gefallen? Wollte Peña Nieto nach seinen wirtschaftlichen Liberalisierungen ein Zeichen setzen, dass Investitionen in Mexiko sicher sind? Dass nach der Teilprivatisierung des staatlichen Erdölunternehmens Pemex auch sicherheitspolitisch der Weg geebnet ist?
Vermeintliche Erfolge im Kampf gegen die organisierte Kriminalität kommen dem Politiker der ehemaligen Staatspartei ebenfalls sehr gelegen. So kann sich der Staatschef vom Drogenkriegs-Desaster seines Vorgängers Calderón von der konservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN) abheben, der Zigtausende von Toten und Verschwundenen hinterlassen und die Kämpfe nur noch angeheizt hat. Wenige Wochen nach der Verhaftung Guzmáns vermeldete die Regierung Peña Nietos auch noch den Tod eines Kopfes des Kartells der „Tempelritter“ Nazario Moreno González – drei Jahre, nachdem er schon einmal für tot erklärt worden war. Auch diesen Schlag konnte der Staatschef als Ergebnis seiner Politik verkaufen: Der Mafia-Chef wurde mit Hilfe autonomer Selbstverteidigungskräfte hingerichtet, mit denen der PRI-Politiker kooperiert.
Allerdings darf man nicht erwarten, dass die Kartelle erheblich geschwächt aus den Schlägen hervorgehen und die illegalen Geschäfte große Einbußen verzeichnen werden. Da in Mexiko keine rechtsstaatlichen Verhältnisse herrschten, so der Sicherheitsexperte Buscaglia, führe die Verhaftung eines Kartellbosses kaum dazu, dass ein kriminelles Netzwerk aufgerollt werde. „Vergessen wir nicht, dass Sinaloa horizontal strukturiert ist und über tausende von Selbstständigen verfügt, die mit der Führung zusammenarbeiten“ Die Leitung könne einfach ersetzt werden. Ähnlich hatte es bereits El Mayo Zambada ausgedrückt. „Für gefangene, getötete oder ausgelieferte Capos (Bosse, Anm. d. Red.) stehen schon Ersatzleute bereit“, sagte der Mafia-Chef der Wochenzeitung Proceso im Jahr 2010. El Mayo gilt derzeit als Nachfolger von Guzmán.
Solange nicht die finanziellen Strukturen der Kartelle und die Korruption angegangen würden, werde sich nichts ändern, meint Buscaglia. Der Dichter Javier Sicilia, die Führungsfigur der mexikanischen Friedensbewegung, forderte, dass die Hintermänner in der politischen Klasse angegangen werden müssten. Nichts werde passieren, wenn nicht jene Kriminellen zur Rechenschaft gezogen würden, die all die Verbrechen zugelassen haben. „Calderón ist einer von ihnen“, betonte Sicilia, und Peña Nieto mache bislang dasselbe wie sein Vorgänger, nur effektiver.
Doch offensichtlich unterhält der neue Präsident in Sachen Kriminalität eine andere Beziehung zum nördlichen Nachbar als sein Vorgänger. Calderón lieferte allein im Jahr 2012 115 mutmaßliche Kriminelle aus, im ersten Amtsjahr Peña Nietos sank die Zahl auf 54. Möglicherweise sei auch El Chapo garantiert worden, dass er nicht ausgeliefert werde, mutmaßt Ex-DEA-Agent Héctor Berréllez und geht davon aus, dass die Verhaftung mit Guzmán abgesprochen war. Den größten Drogenhändler der Welt ergreife man schließlich nicht wie eine Ratte, meint er. Es müsse eine Vereinbarung gegeben haben. „Wenn nicht, wäre es zu heftigen Schießereien gekommen.“ Der ehemalige Geheimdienstler verweist darauf, dass El Chapo gewöhnlich immer von 200 Leibwächter_innen geschützt worden sei. Beréllez‘ Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen. Die US-Regierung hat bislang noch keinen Auslieferungsantrag gestellt, obwohl bei sieben Gerichten Klagen gegen Guzmán wegen Mord, Drogenhandel und weiteren Delikten vorliegen.
Auch Peña Nieto kann nicht daran gelegen sein, dass die Situation an dieser Frage eskaliert. Das wäre bei einer Auslieferung nicht auszuschließen. In Kolumbien hat der Versuch, Pablo Escobar auszuliefern, zu brutalen Angriffen seines Kartells geführt. Für Guzmán ist die Frage, ob er in die USA ausgeliefert wird, ebenso von entscheidender Bedeutung. Denn während ihm dort eine lange Haftzeit unter harten Bedingungen droht, muss er das mexikanische Gefängnis nur begrenzt fürchten. Vor seinem Ausbruch 2001 konnte er vom Hochsicherheitsgefängnis Puente Grande aus acht Jahre lang seine Geschäfte ungestört führen. Zudem feierte er wilde Partys, finanzierte die besten Köche und den teuersten Whiskey, lud Musikgruppen sowie Prostituierte ein und empfing seine beiden vorhergehenden Ehefrauen. Fast wie später in Canelas, als an jenen Wintertagen seine Emma zur Schönheitskönigen gekürt wurde.


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„Denkweisen des Kalten Krieges“

In Lateinamerika sind mehrere Regionalorganisationen als Alternative zur US-dominierten Organisation Amerikanischer Staaten entstanden, so etwa die Celac oder das Wirtschaftsbündnis Mercosur. Welche Rolle spielt dabei die Bolivarische Alternative für Amerika (ALBA)?
Nun, die ALBA gibt es jetzt seit zehn Jahren und sie hat von Beginn an alle möglichen Initiativen zur Schaffung eigener lateinamerikanischer Foren unterstützt. Es ging dabei darum, unter Anerkennung bestehender Differenzen miteinander zu sprechen, ohne den Großmächten und ihren Interessen Raum zur Einflussnahme zu geben. Diese von Hugo Chávez vertretene Vision richtete sich vor allem gegen die traditionelle Dominanz der USA. Und diese Position hat uns viel abverlangt. Es wurde und wird immer wieder von den USA und ihren Alliierten versucht, Venezuela als einen der Motoren dieser Entwicklung zu isolieren, aufzuhalten oder gar zu kriminalisieren. Aber nach diesen zehn Jahren muss man auch festhalten, dass die ALBA eine wichtige Rolle bei den Integrationsprozessen gespielt hat.

Aber das ALBA-Bündnis ist nach wie vor kein Rechtssubjekt, sondern eher ein loser Zusammenschluss. Ist Ihr Handeln damit nicht auf Symbolpolitik beschränkt?
Wir haben ja eine organisatorische Struktur. Aber die ALBA ist bislang vor allem ein Dialogforum, ein Instrument, um politische Einigkeit zu fördern. Die Prinzipien sind in einem Gründungsdokument definiert. Es gibt aber bislang keinen Gründungsvertrag, dem sich Staaten anschließen könnten. Das erklärt sich aus der Geschichte: Die ALBA wurde ursprünglich als „Bolivarische Alternative“ von Kuba und Venezuela ins Leben gerufen und etliche Länder stießen dann dazu. Bolivien war der Meinung, dass es nicht nur um einen alternativen Staatenbund gehen dürfe, sondern dass man auch einen alternativen Handelsvertrag anstreben müsse. Deswegen heißen wir heute „ALBA-Handelsvertrag der Völker“, oder ALBA-TCP. Das definiert deutlich den Unterschied zu dem neoliberalen Modell und dem klassischen kapitalistischen Entwicklungsmodell. Wir streben einen gerechten Handel an. Wir versuchen, Mechanismen zur Demokratisierung der Wirtschaft zu entwickeln.

Die organisatorische Schwäche aber bleibt.
Bislang hat die ALBA ein Exekutivsekretariat, das ich ja vertrete. Ernannt wurde ich von einem politischen Komitee. Dort sind die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten vertreten.
Mein Sekretariat ist ursprünglich als Hilfsgremium entstanden und hat sich über die Jahre hinweg zu der Struktur entwickelt, in deren Händen das tägliche Geschäft liegt. Ich arbeite eng mit den nationalen Koordinatoren zusammen. Oft sind das die Vizeaußenminister der jeweiligen Länder. Aus dieser Zusammenarbeit sind verschiedene Initiativen entstanden: Die ALBA-Bank etwa oder die regionale Buchwährung Sucre.

Neben ALBA ist auf Chávez’ Initiative auch das energiepolitische Bündnis Petrocaribe entstanden. Stimmen die Gerüchte, dass
ALBA und Petrocaribe zusammengefasst werden sollen?
Ja, das wird angestrebt. Sehen Sie, ALBA ist zwar keine klassische Organisation, dennoch hat sie in den vergangenen Jahren viel Ansehen gewonnen. Aber die neuen internationalen Gegebenheiten verlangen auch von uns eine Weiterentwicklung. Deswegen wird derzeit sehr ernsthaft die Ausarbeitung eines Gründungsvertrages der ALBA geprüft. Dies würde uns erlauben, in anderen internationalen Foren ein stärkeres Gewicht zu haben – ohne dass wir aber deren Struktur kopieren.

Mitunter werden die neuen Regionalorganisationen und auch ALBA mit der frühen Phase der Europäischen Union verglichen.
Nun, in ALBA haben sich fortschrittliche Regierungen vereint. ALBA strebt für Latein­amerika alternative, zukunftsorientiere politische Konzepte an.

Hängen die strukturellen Reformen von ALBA – die Fusion mit Petrocaribe und ein anvisierter Gründungsvertrag – mit der Ausdehnung der neoliberalen Pazifik-Allianz zusammen, die von der EU und den USA unterstützt wird?
Nein, denn dabei handelt es sich um ein Staatenbündnis, das offenbar vorrangig wirtschaftliche Interessen hat. ALBA hat zudem eine längere Geschichte.

Aber hat ALBA keine wirtschaftlichen Interessen?
Doch, natürlich, aber unser Ziel liegt in der Entwicklung eines Modells, mit dem der Kapitalismus überwunden werden kann und das eine neue Form der wirtschaftlichen Beziehungen etabliert. Wir lehnen diese beschönigende Annahme einer notwendigen „Konkurrenz zwischen den Staaten“ ab. Wir gehen davon aus, dass die Welt nach wie vor in ein wirtschaftliches Zentrum und eine Peripherie geteilt ist. Deswegen müssen wir Länder des Südens uns zusammenschließen und uns gemeinsam helfen sowie gemeinsame Kräfte nutzen. Damit jeder Staat vorankommt, muss er zugleich an die regionale Entwicklung denken. Deswegen unterstützen wir auch die Regionalorganisation Celac, auch wenn sie ideologisch sehr viel breiter aufgestellt ist.

Dennoch – oder vielleicht eben deswegen – stehen die USA und Deutschland den progressiven Staaten Lateinamerikas mit Ablehnung gegenüber.
Wir sind fest davon überzeugt, dass immer mehr Staaten die tiefgreifenden Veränderungen, die Lateinamerika derzeit erlebt, verstehen werden. Vor einigen Jahren wurde versucht, Kuba und Venezuela auf internationaler Ebene zu isolieren. Heute sind beide Länder ein fester Bestandteil der lateinamerikanischen Gemeinschaft. Mitunter entsprechen die Schemata, mit denen Europa oder, besser gesagt, einige Gruppen in Europa auf die Neuerungen in Lateinamerika reagieren, der Denkweise des Kalten Krieges. Ihnen liegen sehr simple Annahmen zugrunde, die oft von der extremen Rechten der USA gezielt beeinflusst werden. Aber wenn man dann mit den Parteien hier spricht, mit den Gewerkschaften, Bürgermeistern oder Intellektuellen, dann sieht man doch, dass das Verständnis für die Umbruchprozesse in
Lateinamerika wächst. Auch in Europa merkt man, dass wir Lateinamerikaner uns heute sehr viel näher stehen als dies in der Vergangenheit der Fall war. Wir lassen uns heute von externen Interessen nicht mehr dazu verführen, andere Staaten der Region zu kriminalisieren.

Infokasten

Bernardo Álvarez Herrera ist seit September 2013 Exekutivsekretär des linksgerichteten lateinamerikanischen Staatenbündnisses „Bolivarische Allianz für Amerika – Handelsvertrag der Völker“ (ALBA-TCP). Der Venezolaner hatte sein Land zuvor in mehreren Staaten, darunter Spanien, als Botschafter vertreten. Ihm kam 2010, wie er sagt, „die Ehre zuteil“, als Botschafter aus den USA ausgewiesen worden zu sein.


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