It’s the currency, stupid!

Die aktuellen Unruhen in Venezuela haben ihren Ursprung zunächst einmal im Zerfall der Opposition. Bis vor kurzem galt der zweifache Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles Radonski noch als unangefochtene Führungsfigur des oppositionellen Bündnisses Tisch der demokratischen Einheit (MUD). Spätestens seit die Opposition bei den Kommunalwahlen im Dezember 2013 knapp zehn Prozent weniger Stimmen auf sich vereinigen konnte als die chavistischen Regierungsparteien, macht der rechte Flügel der Opposition ihm diese Rolle streitig (siehe LN 477).
Ein Auslöser dieses oppositionsinternen Putschversuchs war auch die schwierige wirtschaftliche Situation des Landes. Zwar sind Arbeitslosigkeit, Ungleichheit und Armut geringer denn je, aber die massive Inflation von 56 Prozent im Jahr 2013 und der anhaltende Mangel an bestimmten Lebensmitteln machen vielen Venezolaner_innen zu schaffen. Die Opposition behauptet, Präsident Nicolás Maduro habe die Wirtschaft in den Sand gefahren. Die Regierung hingegen argumentiert, oppositionelle Unternehmer_innen hätten bewusst eine politisch motivierte Krise hervorgerufen. Zum Verständnis der venezolanischen Wirtschaft tragen diese Ansichten allerdings kaum bei.
Die eigentlichen Wurzeln der aktuellen wirtschaftlichen Probleme Venezuelas liegen im Jahr 2002, als die Opposition mit ihrem Putschversuch im April und dem Erdölstreik ab Dezember scheiterte. Das politische Chaos von 2002 und 2003 rief eine massive Kapitalflucht hervor, die zu einem raschen Wertverfall der venezolanischen Währung Bolívar führte. Um diesen Verfall zu stoppen, intervenierte die Zentralbank durch den Verkauf von US-Dollar in den Währungsmarkt. Da die Zentralbank dabei sehr schnell ihre Reserven verlor, schuf die Regierung im März 2003 die Kommission zur Devisenkontrolle CADIVI (Comisión de Administración de Divisas). Seitdem darf man in Venezuela US-Dollar nur zum festgelegten, offiziellen Wechselkurs in Bolívares tauschen. Allerdings müssen sowohl Unternehmen als auch Privatpersonen eine Reihe von Bedingungen erfüllen und Gründe vorweisen, um zum offiziellen Wechselkurs US-Dollar zu erhalten. Diese Gründe sind zum Beispiel Auslandsreisen, die Unterstützung von Angehörigen im Ausland oder der Import von Waren.
Die Einführung der Devisenkontrollen zog zwei bedeutende Konsequenzen nach sich: Zum einen konnten der Währungsverfall gestoppt und die Inflation etwas gebremst werden. Solange der staatlich festgelegte Wechselkurs nicht verändert wurde, blieben die Kosten für Importe – die in US-Dollar bezahlt werden müssen – konstant. Zum anderen entstand aufgrund des beschränkten Zugangs zu Devisen ein Schwarzmarkt für US-Dollar. Dort agierten insbesondere Akteure, die die Bedingungen für den offiziellen Kauf von Dollar nicht erfüllen.
Über mehrere Jahre hinweg funktionierte dieses System; es begrenzte Kapitalflucht und Inflation. Zwischen 2004 bis 2008 wuchs die venezolanische Wirtschaft durchschnittlich um zehn Prozent pro Jahr. Die Inflation war mit zirka 20 Prozent zwar immer noch relativ hoch. Sie betrug jedoch weniger als die Hälfte der Inflationsrate, die in den zehn Jahren vor Hugo Chávez‘ Präsidentschaft als üblich galt: Damals lag die Inflation im Durchschnitt bei 49 Prozent im Jahr.
Die Lage änderte sich gegen Ende 2008, als sich die Weltwirtschaftskrise auf den Ölpreis auszuwirken begann. Dieser fiel binnen sechs Monaten von 130 US-Dollar auf 40 US-Dollar pro Barrel. Venezuela war von der Finanzkrise somit indirekt betroffen. In den Jahren 2009 und 2010 schrumpfte die Wirtschaft um jeweils 3,2 und 1,5 Prozent. Wegen der geringeren Öleinnahmen standen der Regierung plötzlich weniger US-Dollar für den offiziellen Wechselkurs zur Verfügung. Das hatte gravierende Auswirkungen auf das Währungssystem. Venezuelas Dollarreserven fielen allein zwischen der zweiten Jahreshälfte 2008 und der ersten Jahreshälfte 2009 um 13 Milliarden US-Dollar. Die Regierung sah sich unter Handlungszwang – insbesondere, weil ein Rückgang der US-Dollar für den offiziellen Umtausch weniger Importe bedeutete, was wiederum Engpässe bei verschiedenen Produkten hervorrief. Zudem erhöht sich durch sinkende Importe bei konstanter Nachfrage die Inflation.
Im Juni 2010 ergänzte die Regierung CADIVI mit dem flexibleren Wechselkurssystem SITME (Sistema de Transacciones con Títulos en Moneda Extranjera). Anstatt die eigenen Dollarreserven für den offiziellen Währungswechsel zu verwenden, erwarb die Regierung nun US-Dollar auf dem internationalen Wertpapiermarkt, womit die Aufnahme von Schulden einherging. Die Wertpapiere bot sie zum Umtausch gegen Bolívares an. Importeure und andere Teilnehmer_innen konnten diese Wertpapiere weiterverkaufen, um US-Dollar zu erhalten. In der Folge verschuldete sich der venezolanische Staat immer mehr. Die Staatsverschuldung stieg zwischen 2010 und 2012 um 47 Prozent an, von 81 Milliarden auf 119 Milliarden US-Dollar.
Die Verschuldung wurde in Kauf genommen, um den Import wichtiger Konsumgüter zu ermöglichen und dadurch die Inflation unter Kontrolle zu bringen. Diese Zielsetzung erfüllte sich jedoch nicht. Die Inflation blieb zwischen 2009 und 2011 mit 26 Prozent im Jahr überdurchschnittlich hoch. Ein möglicher Grund dafür ist, dass die Sozialprogramme den Konsum der einkommensschwachen Bevölkerungsschichten ankurbelten, so dass dieser schneller wuchs als das Angebot an einheimischen oder importierten Gütern.
Im Wahljahr 2012 achtete die Regierung verstärkt darauf, Angebot und Nachfrage aufeinander abzustimmen. Dies bedeutete steigende Importe und eine auf 20 Prozent sinkende Inflation. Unmittelbar nach Chávez‘ Wiederwahl entschloss sich die Regierung, den Dollar-Verkauf drastisch zu begrenzen. Das SITME-Umtauschsystem, durch das die Staatsschulden anstiegen, wurde abgeschafft. Über das CADIVI-System, für das die Dollarreserven verwendet wurden, wurden weniger US-Dollar zur Verfügung gestellt. Die Kombination dieser beiden Maßnahmen machte sich sofort dadurch bemerkbar, dass der Schwarzmarkt-Kurs des US-Dollars in die Höhe schnellte. Alle, die entweder importieren oder ihr Geld in wertbeständigeren US-Dollar anlegen wollten, machten vom Schwarzmarkt Gebrauch.
Die Regierung maß diesem Problem zunächst keine große Bedeutung bei. Planungsminister Jorge Giordani etwa sagte, dass es ihn nicht beunruhige, wenn Venezuelas Bourgeoisie ihre ganzen Ersparnisse auf dem Dollarschwarzmarkt verschwende. Doch letztlich hatte die Entwicklung des Schwarzmarkts zwei gravierende Auswirkungen auf Venezuelas Volkswirtschaft. Mit Abnahme der zur Verfügung stehenden CADIVI-Dollar für Importe, bezahlten immer mehr Importeure die eingeführten Waren mit Schwarzmarkt-Dollar. Beim Verkauf der Waren setzten sie folglich Preise an, die sich nach dem Schwarzmarktwert des US-Dollars – nicht nach dem offiziellen Wechselkurs – richten.
Je mehr Venezolaner_innen gleichzeitig ihre Bolívar-Ersparnisse auf dem Schwarzmarkt umtauschten, desto mehr sackte der Wert des Bolivars ab. Der Schwarzmarktwert des Dollars lag noch zwischen 2010 und 2012 stabil bei acht bis neun Bolivar. Gegen Ende 2012, als das SITME abgeschafft wurde, rutschte er plötzlich ab, so dass er in den sechs Monaten zwischen Oktober 2012 und März 2013 um die Hälfte seines Wertes einbüßte und von zwölf auf 24 Bolívares pro US-Dollar fiel. Der offizielle Wechselkurs lag hingegen bei 6,5 Bolívares pro US-Dollar.
Als Chávez am 5. März 2013 starb, sahen wirtschaftlich einflussreiche und der Opposition nahe stehende Akteure dies als eine Gelegenheit, dessen Wunschnachfolger Maduro im vor den Neuwahlen durch wirtschaftliche Sabotage zu schaden. Es wurden Lebensmittel gehortet, um künstliche Engpässe in der Versorgung zu schaffen. Da man auf dem Schwarzmarkt im Vergleich zum offiziellen Kurs nun viermal soviel für einen US-Dollar bekam, lohnte es sich immer mehr, US-Dollar zum offiziellen Kurs zu erwerben, um sie auf dem Schwarzmarkt mit deutlichen Gewinnen weiterzuverkaufen.
In vielen Fällen exportieren Händler_innen sogar Waren, die sie mit Hilfe von offiziell erworbenen US-Dollar importiert haben, direkt in die Nachbarländer. Da es dort im Gegensatz zu Venezuela keine Preiskontrollen gibt, können die Waren zu einem deutlich höheren Preis verkauft werden. Der Schmuggel kann kaum aufgehalten werden. Denn je größer der Unterschied zwischen dem offiziellen und dem Wechselkurs des Schwarzmarkts ist, umso größere Profite kann man durch Schmuggeln oder anderen Devisenmissbrauch erzielen. Die Kontrolle der Landesgrenzen ist deswegen ineffektiv, weil bei den hohen Profiten extrem hohe Bestechungsgelder fließen. Ergebnis dieser Tausch- und Schmuggelgeschäfte sind weitere Engpässe bei grundlegenden Gütern und dadurch ein weiterer Anstieg der Inflation – im vergangenen Jahr auf 56 Prozent. Die Mangelrate, die die Zentralbank regelmäßig misst, stieg von 20 Prozent in der ersten Jahreshälfte 2013 auf 28 Prozent bei Jahresbeginn 2014.
Die Maduro-Regierung war sich dieser Probleme offensichtlich bewusst, brauchte aber außerordentlich lange, um zu handeln. Nach längerem Zögern hat die Regierung am 24. März eine Maßnahme getroffen, die eine langsame Lösung des Problems voraussichtlich ermöglicht. Sie behält einen niedrigen Wechselkurs für besonders wichtige Importgüter bei. In allen anderen Fällen dürfen Venezolaner_innen aber in einem geregelten Verfahren Bolívar frei gegen US-Dollar tauschen. In der ersten Woche lag der nun teilliberalisierte Wechselkurs bei gut 50 Bolívar pro US-Dollar. Zwar ist dieser Wert immer noch etwa achtmal höher als der offizielle Wechselkurs von 6,5 Bolívar pro US-Dollar. Auf dem Schwarzmarkt wurde zuletzt allerdings das Vierzehnfache für einen US-Dollar gezahlt.

Infokasten

Unasur fordert Dialog
Nach über sechs Wochen anhaltender Proteste zeichnet sich in Venezuela ein politischer Dialog ab. Während die Opposition damit scheiterte, die von den USA dominierte Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) zu einem härteren Vorgehen gegen Venezuela zu bewegen, erweist sich das südamerikanische Staatenbündnis Union südamerikanischer Nationen (Unasur) einmal mehr als geeigneter Ort, um politische Konflikte in Südamerika zu behandeln. In der letzten Märzwoche reiste eine Delegation von acht Außenminister_innen der Unasur-Länder nach Venezuela. Dort traf sie mit unterschiedlichen politischen Akteuren zusammen, darunter Vertretern_innen der Nationalen Friedenskonferenz, der Staatsanwaltschaft, des Obersten Gerichts, der Ombudsfrau des Landes, der Regierung und dem Oppositionsbündnis MUD.
In einem Kommuniqué rief die Delegation anschließend zur Beendigung aller gewalttätigen Aktionen auf. „Die Kommission hat die Bereitschaft zum Dialog seitens aller Sektoren zur Kenntnis genommen“, heißt es in dem Dokument. Dazu sei es notwendig, in der Auseinandersetzung eine moderatere Sprache anzuwenden, um ein Klima des Friedens zu schaffen, das Gespräche zwischen der Regierung und verschiedenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Akteuren ermöglichen soll.
Venezuelas Vizepräsident Jorge Arreaza kündigte unmittelbar nach Veröffentlichung des Berichts bereits die erste Maßnahme als Reaktion an. Die Regierung werde auf Anregung der Außenministerdelegation einen sogenannten Nationalen Rat für Menschenrechte schaffen, so Arreaza. Diese Institution soll als zusätzliche Ombudsstelle etwaige Beschwerden im Bereich der Bürger- und Menschenrechte entgegennehmen.
Laut offiziellen Angaben sind bei den gewalttätigen Protesten in Venezuela zwischen dem 12. Februar und dem 24.März 35 Menschen ums Leben gekommen und 561 verletzt worden. Mutmaßlich waren in mindestens vier Fällen Sicherheitskräfte für die Tode verantwortlich. In 81 Fällen wird wegen möglicher Menschenrechtsverletzungen ermittelt.

LN / amerika21


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Geopolitisches Interesse an kleinen Märkten

Peru hat bereits 17 Freihandelsverträge abgeschlossen, weitere Abkommen mit Russland, Kuba, Costa Rica und Nicaragua sollen bis Ende des Jahres folgen. Ist diese Freihandelspolitik so erfolgreich, dass die peruanische Regierung nach wie vor an ihr festhält?
Nein, das kann man so nicht sagen. Peru hat das erste Freihandelsabkommen mit den USA 2004 zu verhandeln begonnen, seitdem sind zehn Jahre vergangen. Trotzdem gab es keinerlei Auswertung der positiven und negativen Effekte dieses oder anderer Abkommen. Es herrscht stattdessen eine schon fast ideologisch anmutende Überzeugung, dass diese Abkommen gut sind und dass sie „so oder so“ zu unterzeichnen sind, wie es unser Ex-Präsident Alejandro Toledo einmal sagte. Die peruanischen Funktionäre und Technokraten, die einige der Schlüsselsektoren der peruanischen Wirtschaft kontrollieren, folgen einem Entwicklungsmodell, nach dem Export und die Anziehung ausländischer Investitionen alternativlos ist. Hinzu kommt das starke Lobbying und der politische Druck, den die Profiteure dieser Politik, also die exportierenden Unternehmen in Peru und die ausländischen Investoren ausüben. Auf der anderen Seite, in der EU und den USA, sind die Gründe geopolitisch. Anders lässt sich die Frage nach dem großen Interesse an so kleinen Märkten wie denen Perus oder Kolumbien nicht erklären. Die USA und die EU sehen diese Abkommen als geopolitische Instrumente, die ihnen politischen und wirtschaftlichen Einfluss in bestimmten Gebieten garantieren. Für uns ist klar: Wir brauchen eine technische Bewertung der bestehenden Abkommen, die sowohl die negativen als auch die positiven Auswirkungen berücksichtigt, denn die gibt es ohne Zweifel auch.

Als die EU kurz davor war, das Abkommen mit Kolumbien und Peru abzuschließen, wurde auch in Europa Kritik geäußert. Die bezog sich oft auf die kritische Menschenrechtslage, vor allem in Kolumbien. In welchem Zusammenhang stehen Freihandel und Menschenrechte?
Die Frage nach den Menschenrechten betrifft vor allem Kolumbien, da sich das Land nach wie vor in einem internen bewaffneten Konflikt befindet. Mit den Handelsabkommen hat das insofern zu tun, als in Kolumbien vor allem auch die Lage der Gewerkschaften sehr schlecht ist, Gewerkschafter sind einem hohen Risiko ausgesetzt, jährlich werden mehrere von ihnen ermordet. Hinzu kommt, dass das Justizsystem Kolumbiens nicht gut funktioniert und die Straflosigkeit in Fällen von Menschenrechtsverletzungen sehr hoch ist.

Und in Peru?
Auch hier gibt es große Probleme, vor allem mit den Arbeitnehmerrechten. Zum Beispiel im Agrarsektor: Dort herrscht ein bestimmtes Arbeitsregime, in dem es zur Normalität geworden ist, dass die Arbeiter nur befristete Verträge bekommen, die alle paar Monate erneuert werden, zum Teil über Zeiträume von zehn oder mehr Jahren. Das bedeutet keinen Urlaubsanspruch, keine Sozialversicherung und keine Möglichkeit sich gewerkschaftlich zu organisieren. Wir sind der Meinung, dass damit internationale, von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) anerkannte Arbeitnehmerrechte gebrochen werden. Große Probleme gibt es auch mit dem Recht auf eine gesunde Umwelt. Der Staat ist nicht in der Lage sicherzustellen, dass die Investitionen und damit verbundenen wirtschaftlichen Aktivitäten in keine negativen Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit der Bevölkerung haben. In so einer Situation der Wirtschaft und den Märkten mehr Macht zuzugestehen und mit dem Ausbau des Investitionsschutzes demokratische Strukturen weiter zu schwächen ist gefährlich. Exportorientierte Sektoren wie der Bergbau aber auch die Agrar- und Textilwirtschaft profitieren von niedrigen Umweltstandards und der Verletzung von Arbeits- und Menschenrechten.

Welche Rolle spielen diese Regelungen zum Investitionsschutz in den Abkommen?
In dem Freihandelsabkommen mit der EU sind keine Investitionsschutzregelungen enthalten. Sehr wohl aber in den Abkommen mit Kanada und USA und in den 13 bilateralen Investitionsabkommen mit verschiedenen europäischen Ländern. Diese Abkommen sind Grundlage für aktuell 15 juristische Verfahren, die ausländische Unternehmen gegen den Staat Peru führen, weil sie sich von ihm direkt oder indirekt enteignet sehen. Die letzten Klagen haben vor allem mit Bergbau zu tun; zum Beispiel im Fall der Klage des US-amerikanischen Unternehmens Doe Run. Der Bergbau durch das Unternehmen in La Oroya – der kontaminiertesten Stadt Perus – hat zu einer derartigen Umweltverschmutzung geführt, dass die dort lebenden Menschen krank wurden; in ihrem Blut wurden sehr hohe Werte von Blei und anderen Schwermetallen nachgewiesen. Nachdem die peruanische Regierung Doe Run wegen Verstoß gegen Umweltauflagen die Konzession entzogen hatte, verklagte das Unternehmen den peruanischen Staat auf 800 Millionen US-Dollar Schadensersatz. Der Staat ist also nicht mehr in der Lage, souverän, zum Beispiel aus Umwelt- oder Gesundheitsschutzgründen, zu regulieren, denn die Unternehmen bringen ihn sofort vor Gericht. Nicht alle Klagen werden von den Unternehmen gewonnen. Aber selbst wenn der Staat beim Prozess siegt, kann er bei diesen Klagen nichts gewinnen und allein die Prozess- und Anwaltskosten belaufen sich auf mehrere Millionen.

Welche Auswirkungen haben Freihandel und Investitionsschutz auf die lokalen Märkte in Peru und Kolumbien?
Einer der größten Widersprüche in Freihandelsabkommen mit der EU und den USA sind die Subventionen. Ländern wie Peru und Kolumbien wird immer wieder der Freihandel gepredigt und betont, dass es keine Subventionen geben sollte, da sie dem freien Handel schaden würden. Trotzdem führen die Länder des globalen Nordens ihre eigene Subventionspolitik fort, vor allem wenn es um die Agrarwirtschaft geht. Sowohl in der EU als auch in den USA. Noch können wir die Folgen der europäischen Subventionen nicht abschätzen, da das Freihandelsabkommen erst seit etwa einem Jahr in Kraft ist. Das Abkommen mit den USA ist schon sechs Jahre in Kraft und wir sehen vor allem für die Landwirtschaft schwere Folgen. In Kolumbien ließ sich das an dem Agrarstreik im letzten Jahr ablesen. Mehrere Sektoren konnten mit den Preisen der aus den USA importierten Produkte nicht mehr mithalten und wurden vom Markt verdrängt. In Peru passierte dasselbe im Baumwollsektor. Peru war immer ein wichtiges Land für die Baumwollproduktion. Das ist jetzt vorbei. Durch die indirekten Subventionen für Baumwolle in den USA ist die peruanische Baumwolle nicht mehr wettbewerbsfähig. Peru hat für solche Subventionen einfach keine finanziellen Mittel und mittlerweile auch keine legalen Möglichkeiten mehr. Für einen gerechten freien Handel und Wettbewerb müssten die Ökonomien über die gleichen Möglichkeiten verfügen, das ist aber nicht der Fall.

Die EU verhandelt momentan ein Freihandels- und Investitionsabkommen mit den USA und eines mit Kanada. Was würden Sie den Europäer_innen empfehlen, wie sie sich zu diesen Abkommen verhalten sollten?
Die verschiedenen Abkommen sind Teil derselben politischen Strategie. Ich würde die Europäer_innen aufrufen, sie auch als solche zu sehen und sich über die europäischen nationalen Grenzen und einzelnen Interessengruppen hinaus zu koordinieren. Besondere Aufmerksamkeit würde ich dem Investitionsschutz schenken, diese Regelungen sind gefährlich für die Demokratie und müssen verhindert werden. Einige Länder lehnen diese Verträge ab oder steigen wieder aus ihnen aus; Brasilien hat beispielsweise keinen solchen Vertrag abgeschlossen und trotzdem gibt es weiter Investitionen im Land. Das zeigt, dass es auch ohne geht. Außerdem würde ich raten, dem Thema geistiges Eigentum und Patente mehr Aufmerksamkeit zu schenken, besonders was pharmazeutische Produkte betrifft. In Peru ist der erschwerte Handel mit Generika zu einem großen Problem geworden. Die Preise für Medikamente sind signifikant gestiegen, weil zum Teil nur noch Markenprodukte erhältlich sind. Das hängt unter anderem mit den Regeln über den Schutz geistigen Eigentums zusammen, die in den Freihandelabkommen enthalten sind. Der beschränkte Zugang zu Medikamenten ist deutlich spürbar und trifft vor allem die ökonomisch schwachen Teile der Bevölkerung.

Die Kritik in Deutschland an den Abkommen mit den USA und Kanada dreht sich viel um Chlor-Hühnchen und die Kennzeichnung von gentechnisch modifizierten Lebensmitteln. Was halten Sie angesichts der verheerenden Probleme in Peru und Kolumbien von dieser Diskussion?
In Peru sollten die Konsumenten eine ähnliche Einstellung haben und darauf achten, wie und womit die Produkte hergestellt werden. Insgesamt fehlt es oft an einem Bewusstsein für nachhaltigen und gesunden Konsum und der Beachtung von Umweltaspekten oder Arbeitnehmerrechten. Es gibt viel zu viele Konsumenten, die sich zu Komplizen der momentanen Wirtschafts- und Handelspolitik machen und sie damit legitimieren. Wir können lange darüber reden, wie schlecht Freihandels- und Investitionsabkommen sind, solange die Konsumenten ihre Macht nicht gebrauchen, indem sie gezielt nachfragen und kritisieren. Bewusster und verantwortungsvoller Konsum sind grundlegende Voraussetzungen für akzeptable Handelsabkommen. Ich habe in Deutschland festgestellt, dass es eine aktive Diskussion auch in der Politik darüber gibt. Das sind erste Schritte, die die Unternehmen langfristig dazu bewegen werden, ihre Produktion den Umweltstandards und Menschen- und Arbeitnehmerrechten anzupassen.


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Frieden ist das Wahlkampfthema

Er ist zurück. Álvaro Uribe, ehemaliger Präsident Kolumbiens, hat im März diesen Jahres die Rückkehr auf die politische Bühne des Landes geschafft. Nachdem der Hardliner wegen seiner Nähe zu paramilitärischen Gruppen, zahlreichen Geheimdienst-, Korruptions- und Bespitzelungsaffären und der konsequenten Befürwortung einer „harten Hand” gegen die Guerilla vier Jahre lang aufgefallen war, darf er nun als Oppositionsführer im Kongress wieder institutionell Politik betreiben. Die von ihm nach dem Bruch mit Präsident Santos und seiner ehemaligen Sozialen Partei der Nationalen Einheit (Partido de la U) neu gegründete Bewegung Demokratisches Zentrum (CD) holte bei den Parlamentswahlen am 9. März 19 der 100 möglichen Senatssitze. Damit ist sie die größte Oppositionsfraktion in der Oberen Kammer des kolumbianischen Parlamentes. In der kommenden Legislaturperiode wird der Regierung Santos im Kongress ein deutlich schärferer Wind von Rechts ins Gesicht wehen.
In den vergangenen vier Jahren hatte die von Santos geschmiedete Koalition Nationale Einheit (UN) eine satte absolute Mehrheit. Die ist dank Uribe und seiner Fraktion nun passé. Auch die konservative Partei ist sich nicht einig, ob sie Santos wie bisher weiter unterstützen soll oder nicht. Für ihr wichtigstes Projekt sollte die Regierung aber eine Mehrheit in beiden Kammern erzielen können: ein Friedensabkommen mit der FARC-Guerilla, über das seit eineinhalb Jahren in Havanna verhandelt wird. Denn ebenso wie einige konservative Abgeordnete haben auch die (mitte)-links Parteien Grüne Allianz (AV) und Demokratischer alternativer Pol (PDA) angekündigt, einen Frieden mitzutragen.
Doch ist diese „Mehrheit für den Frieden” für die Linke in Kolumbien – ob nun als Teil der Legislative oder außerparlamentarisch – wohl eine der sehr wenigen positiven Aspekte der Parlamentswahlen. Nennenswerten Stimmenzuwachs konnte weder die einstige linke Sammelpartei PDA noch die AV verzeichnen. Lediglich einige interessante Einzelakteur_innen schafften auf den Listen der beiden Parteien den Sprung in den Senat oder das Repräsentantenhaus. Alberto Castillo, Vorsitzender der Nationalen Agrar-Koordination (CNA) und einer der wichtigsten Köpfe der Sammelbewegung Kongress der Völker (Congreso de los Pueblos), holte sich mit einer beachtlichen Stimmenzahl einen Sitz im Senat. Auch die Politikwissenschaftlerin Claudia López, scharfe Uribe-Kritikerin, sitzt die kommenden vier Jahre im Parlament. Sie war eine der ersten, die 2006 die systematische Zusammenarbeit von Abgeordneten und Paramilitärs, bekannt als Parapolitica-Skandal, aufdeckte. Der in Deutschland dank zahlreicher Besuche bekannte Menschenrechtsanwalt Alirio Uribe vom Anwaltskollektiv José Alvear Restrepo (ccajar) wurde für Bogotá ins Repräsentantenhaus gewählt. Er ersetzt den wohl bekanntesten Linkspolitiker Kolumbiens Ivan Cepeda, der den Sprung in den Senat schaffte. Sein Vater Manuel Cepeda, war einer von geschätzt 5000 Mitgliedern der Patriotischen Union (UP) gewesen, die nach ihrer Gründung in den 80er-Jahren von Militärs und Paramilitärs ermordet wurden. Erstmals seit nun 16 Jahren nahm die UP wieder an Wahlen teil. Allerdings gelang keinem der Kandidat_innen der Sprung ins Parlament, auch nicht dem bekanntesten UP-Kandidaten, dem Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Carlos Lozano. Er twitterte am Tag nach den Wahlen lediglich „Wir waren nah dran.“ Hoffnung setzt die UP nun in ihre Präsidentschaftskandidatin Aida Avella, die viele Jahre im europäischen Exil gelebt hatte. Avella verkündete wenige Tage nach der Parlamentswahl, sie werde sich bei den Präsidentschaftswahlen am 25. Mai für das Amt der Vizepräsidentin bewerben, gemeinsam mit der Präsidentschaftskandidatin des PDA, Clara López. Ein wichtiges Zeichen der Einheit in einer nach wie vor zersplitterten kolumbianischen Linken.
Schenkt man den Umfragen Glauben, wird das Duo Clara-Aida allerdings beim Wettbewerb um den Regierungssitz Casa de Nariño kaum die Stichwahl erreichen. Chancen räumen die Demoskopen eher dem Kandidaten des Mitte-Links Bündnisses Grüne Allianz (AV), Enrique Peñalosa, ein. Der ehemalige Bürgermeister Bogotás ist ideologisch schwer einzuschätzen. Peñalosa stand als Stadtoberster von Bogotá zwar für soziale Inklusion beispielsweise durch die Verbesserung der Infrastruktur. Aber er ist auch ein Befürworter von Ordnung und Sicherheit. „Wir müssen trotz der Friedensverhandlungen weiter unser Militär und die Polizei stärken. Wir werden alles mögliche tun, damit es Frieden gibt, aber wir müssen uns darauf vorbereiten, dass es mehr Krieg geben wird“, sagte Peñalosa kürzlich in einem Zeitungsinterview. Diese politische Linie rückt ihn nahe an den Hardliner Uribe heran. Für viele Linke ist der 59 Jahre alte Volkswirtschaftler als Alternative zu Santos daher untragbar.
Der Amtsinhaber Juan Manuel Santos versucht sich während des Wahlkampfes als „Mann des Friedens” zu inszenieren. Den „totalen Frieden” wolle man erreichen, wiederholte Santos gebetsmühlenartig. Mit Zitaten des Dalai Lama oder aus Sain-Exuperys Der kleine Prinz überschwemmte das Kampagnenbüro des ehemaligen Verteidigungsministers die sozialen Netzwerke. Das Unterzeichnen eines Friedensvertrags mit der FARC-Guerilla ist ohne Zweifel das wichtigste Wahlkampfthema. Seit der Einigung über die politische Teilhabe Ende vergangenen Jahres verhandelt die Delegation über die Drogenproblematik.
Frieden bedeutet hier allerdings mehr als ein Tintenwisch auf dem Papier. Die kolumbianische Demokratie ist resistent gegenüber progressiver linker Politik und ihren Akteur_innen. Das hat die umstrittene Absetzung des Bürgermeisters von Bogotá, Gustavo Petro, durch den konservativen Generalstaatsanwalt Alejandro Ordoñez erneut gezeigt (siehe LN 475). Nachdem Petro am Tag seines Abschiedes aus dem Rathaus von Bogotá eine Verfassunggebende Versammlung forderte, hat der Vorschlag erneut an Fahrt aufgenommen. Die FARC fordern zur Umsetzung der in Havanna noch zu beschließenden Einigung mit der Regierung schon länger eine solche asamblea. „Für diejenigen in Kolumbien, die Veränderungen in diesem Land erreichen wollen, gibt es keinen anderen Ausweg als eine Verfassunggebende Versammlung“, sagt David Flórez von der linken sozialen Bewegung Marcha Patriotica gegenüber den LN.
Eine Verfassunggebende Versammlung würde wohl auch die nationale Agrarpolitik auf den Prüfstand stellen. Derzeit darf bezweifelt werden, dass die in Havanna debattierten Reformen der Landverteilung nachhaltig umgesetzt werden. Das gleiche gilt für den Schutz der kolumbianischen Agrarproduzenten vor – dank Freihandelsabkommen günstigeren – Importprodukten aus Asien, der EU und den Vereinigte Staaten. Nach dem landesweiten Agrarstreik im vergangenen August kamen im März dieses Jahres mehrere tausend Vertreter_innen sozialer Bewegungen aus dem ganzen Land in Bogotá zu einem Gipfeltreffen zusammen. Kleinbauernorganisationen, Indigene und Afro-Kolumbianer_innen forderten unter anderem ein Recht auf Selbstbestimmung bei der Nutzung ihrer Territorien. Interessant war dabei, dass sich die größten sozialen Organisationen Kolumbiens mit ihren unterschiedlichen ideologischen und historischen Entstehungsgeschichten erstmals gemeinsam auf einen Forderungskatalog einigen konnten und zusammen dafür mobilisierten. Noch vor den Präsidentschaftswahlen im Mai wollen die sozialen Bewegungen gemeinsam zu einem erneuten Agrarstreik aufrufen. Bisher standen sich die kommunistische Bewegung Marcha Patriotica, der Indigenenverband ONIC, die afro-kolumbianischen Gemeinden (PCN) und der Kongress der Völker nicht in Abneigung, aber dennoch in spürbarer Distanz zueinander. Doch auch wenn die Indigenenorganisationen und der Kongress der Völker die derzeit laufenden Friedensverhandlungen mit Vorbehalten betrachten (siehe LN 477), scheint sich die Erkenntnis durchgesetzt zu haben, dass auch über das politisch wegweisende Jahr 2014 hinaus die Stärke in der Einheit liegt – inner- und außerhalb der Institutionen.


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FMLN schickt ARENA in die Wüste

Das Oberste Wahlgericht in El Salvador wird mit Glückwünschen von allen Seiten überhäuft. Die Vereinten Nationen, die Organisation Amerikanischer Staaten, die nach alter Monroe Doktrin immer noch maßgebliche US-amerikanische Botschaft, kirchliche und andere zivile Wahlbeobachter, fast alle sind sich einig, dass auch die zweite Abstimmung zur Präsidentschaftswahl am 9. März absolut friedlich, transparent und sauber vonstattengegangen ist.
Nur die ultrarechte Oppositionspartei ARENA sah das zunächst anders. Im ersten Wahlgang vom 2. Februar hatte die linke FMLN mit 48,93 Prozent gerade mal knapp zehn Prozentpunkte vor der rechten ARENA mit 38,95 Prozent gelegen. Das reichte nicht ganz und so wurden für den 9. März Neuwahlen einberufen.
Im zweiten Wahlgang, der durch eine einfache Mehrheit entschieden wird, wurde mit wesentlich härteren Bandagen gekämpft, als dies noch im ersten Wahlgang der Fall gewesen war. ARENA schloss ihre zuvor gespaltenen Reihen und griff auf altbewährte Methoden zurück. Sie schürten die Angst vor den „kommunistischen guerrilleros“ und sorgten für verstärkten Druck der Unternehmer_innen auf ihre Angestellten, das Kreuz an der richtigen Stelle zu setzen, um nicht ihren Arbeitsplatz zu verlieren. In der letzten Woche vor den Wahlen organisierten sie zudem massiv Personalausweiserneuerungen von abgelaufenen oder ungültigen Dokumenten. Das mit der Dokumentenausstellung beauftragte Subunternehmen Mühlbauer konstatierte einen Arbeitsaufwand von über 180 Prozent gegenüber dem normalen Arbeitspensum.
Die Anstrengungen der Kampagne trugen zunächst Früchte. ARENA holte innerhalb von zwei Wochen rund 400.000 Stimmen auf. In der vorläufigen Auszählung, die 15 Minuten nach Schließung der Wahllokale im Beisein von jeweils zwei Vertreter_innen beider Parteien pro Urne begann und durch das direkte Einscannen der Akten öffentlich über das Internet verfolgt werden konnte, lag ARENA knapp zwei Stunden vor Wahlentscheid noch vorne. Für ARENA ging es ums Ganze. Bereits seit der Niederlage von 2009 musste die in der Rechtspartei vereinte wirtschaftliche und politische Elite des Landes die Kontrolle über den Staat abgeben. In ihren Reihen stellte dies einen enormen Verlust dar, waren sie es bis dato gewohnt gewesen, Gesetze und Politik nach ihren persönlichen Bedürfnissen zu gestalten.
Die Aussichten für eine Rückkehr der Rechtspartei ARENA waren zunächst erfolgversprechend, doch in den letzten Momenten holte die FMLN noch auf und entschied letztendlich die Wahl für sich. Dass sich der zuvor amtierende Präsident Mauricio Funes zudem massiv für eine Aufdeckungskampagne von Korruptionsfällen seiner Vorgängerregierungen einsetzte, stellte für die Anhänger von ARENA einen zusätzlichen Schlag dar. Prominentestes Beispiel ist der inzwischen untergetauchte Expräsident Francisco Flores, der schätzungsweise 25 Millionen Dollar Wiederaufbauhilfe nach den Erdbeben von 2001 unterschlagen hat. Etliche weitere Fälle sind in Aufbereitung.
Trotz Kontinuität der generell neoliberal ausgerichteten Politik, geht es also ans Eingemachte von Oligarchen und Großunternehmer_innen, die auch nach den Wahlen um jeden Preis versuchten, ihre politischen und wirtschaftlichen Privilegien zurück zu erobern. Insgesamt reichte ARENA bei unterschiedlichen Behörden rechtliche Widersprüche gegen das Wahlergebnis ein. Jeder einzelne der zehn eingereichten Widersprüche wurde nach ordentlicher Prüfung abgelehnt. Es folgten für die Rechtspartei eher ungewöhnliche Protestformen. Straßenproteste blockierten zunächst den Zugang zum obersten Wahlbüro, in den darauffolgenden Tagen wurden Mahnwachen gehalten, cacerolazos (Kochtopfdemos) und sogar Straßensperren mit brennenden Autoreifen wurden veranstaltet. Der allgemeine Aufruf zum Aufstand sollte vor allem destabilisierend wirken. In Anbetracht der von Gewalt geprägten Geschichte El Salvadors, das mit zwölf Jahren Bürgerkrieg, anhaltender Gewalt in Familien, zwischen Banden und ausgehend von organisiertem Verbrechen, auf eine noch recht jungen Demokratie zurückblickt, wurden die Proteste entsprechend sowohl von der salvadorianischen Bevölkerung als auch der internationalen Gemeinde mit Besorgnis zur Kenntnis genommen.
Für viele trugen die Vorkommnisse auch die Handschrift von J. J. Rendón, einem Berater von ARENA. Rendón arbeitet eng mit der rechten Opposition in Venezuela zusammen, die dort seit Monaten die Destabilisierung des Landes durch Gewalt und Eskalation heraufbeschwört. Die Argumente und Parolen stammen aus den 1980er Jahren („Vaterland ja, Kommunismus nein!“). Dada Hirezi, ehemaliger Wirtschaftsminister der Regierung Funes, appellierte an seine Mitbürger_innen, als letztes Land endlich auch den kalten Krieg hinter sich zu lassen.
Dass die Situation nicht außer Kontrolle geriet, wie bei ähnlichen Versuchen in Honduras oder Paraguay, kann neben anderen Faktoren auf die reibungslos ablaufende Wahlbeteiligung der salvadorianischen Bevölkerung zurückgeführt werden. Es kam zu keinen größeren Zwischenfällen in den Wahllokalen, im Gegenteil, die ersten Wähler_innen wurden mit Applaus von den Wahlhelfer_innen aller Parteien empfangen und auch die Basis beider Parteien verhielt sich am Wahltag einwandfrei. Darüber hinaus verrichtete das oberste Wahlgericht vor, während und nach den Wahlen eine exzellente Arbeit. Sie lieferten nicht nur detaillierte Informationen für die Bevölkerung, sondern sorgten zudem für eine umfassende Ausbildung der Wahlhelfer_innen. Der Wahlkampf wurde gewissenhaft kontrolliert, auf Ankündigung von Sanktionen bei Überschreiten des Wahlgesetzes schnell reagiert und die Auszählung der Stimmen sowie die Kommunikation der Zwischen- und Endergebnisse erfolgte absolut transparent. Dies bestätigten auch nationale und internationale Wahlbeobachter_innen, unter anderem Delegationen der Vereinten Nationen, der USA sowie von ökumenischer und ziviler Seite. Nicht unwesentlich war auch die Haltung der FMLN, die sich nicht von Parolen und Aktionen provozieren ließen, so dass schließlich die Ruhe im Land zurückkehrte.
Am 26. März stand dann das endgültige Verdikt des obersten Wahlgerichtes: Die FMLN hält mit 1.495.815 Stimmen einen Vorsprung von 6.634 Wähler_innen vor der Rechtspartei ARENA. Der neugewählte Präsident, Sanchéz Cerén und sein Vize, Oscar Ortíz, wurden offiziell als Amtsnachfolger bestätigt. Noch am selben Tag gestand die Parteiführung von ARENA ihre Wahlniederlage ein. Ihr Ideologiechef, Ernesto Muyshondt, bezeichnete das neue Landesoberhaupt als legal, jedoch nicht legitim. Es gibt Befürchtungen, dass sich dieser Diskurs durch die Legislaturperiode ziehen wird. Dafür spricht der knappe Rückstand der Rechtspartei von zehn Prozentpunkten im ersten Wahlgang. Für den neuen Präsidenten spricht hingegen die rege Wahlbeteiligung der Bevölkerung, die von 61 Prozent beim ersten Wahlgang auf 75 Prozent beim zweiten Wahlgang überaus hoch war. In der Geschichte des Landes gab es bislang keinen Präsidenten, der so viele Stimmen für sich vereinen konnte wie der ehemalige Guerrillakommandant, Lehrer und Unterzeichner der Friedensverträge Salvador Sanchéz Cerén.
Insofern stellt für viele die bisherige Regierung unter Mauricio Funes, der erst als Präsidentschaftskandidat der FMLN beigetreten war, eine Übergangsregierung dar, welche für die neue Regierung den Weg für einen tiefgreiferenden strukturellen Wandel bereitet hat. Eine zentrale Herausforderung für die „Regierung des Wandels“ stellt zweifelsohne der marode Staatshaushalt dar. Die Steuerpolitik braucht dringend Reformen: der ärmste Teil der Bevölkerung trägt die größte Steuerlast, Großunternehmen zahlen hingegen oft keine Steuern, die Pensionskasse wurde bereits von ARENA an der Börse verspielt und die Balance von Staatsausgaben und Einnahmen ist derart negativ, dass die Regierung voraussichtlich im August pleite ist. Bedrohliche Ausmaße nimmt auch die Umweltkrise ein. Laut Angel Ibarra, Präsident der salvadorianischen Umweltorganisation UNES, besteht der dringende Bedarf eine nachhaltige Grundlage für das Wohl der Bevölkerung zu schaffen. Umweltstandards in der Wirtschaft in Form von Regulierung der Wasserreserven und Bodennutzung müssen umgesetzt werden, um nicht in ein paar Jahren im kompletten Notstand zu stehen.
Um den vielfältigen Problemen Einhalt zu gebieten, bedarf es jedenfalls eines Staatsprojektes, welches sowohl die Grenzen der alle fünf Jahre neu ausgehandelte Regierungspolitik als auch die Polarisierung des Landes überwindet. Ein Entwicklungsmodell, welches nicht große Teile der Bevölkerung ausschließt und zur Migration treibt, sondern die verschiedenen Generationen mit einbezieht und Räume zum Dialog und Mitbestimmung öffnet und bestärkt, damit das soziale Geflecht gefestigt und so auch der strukturellen Krise der Gewalt entgegenwirken werden kann.
Sanchéz Cerén hat sich bereits mit verschiedenen Repräsentant_innen und Wirtschaftsvertreter_innen getroffen und auch die Opposition zum nationalen Dialog eingeladen. Der Rechtsbeirat von ARENA, Juan Jose Guerrero, ruft seine Parteigenoss_innen dazu auf, die Entscheidung des Wahlgerichtes anzunehmen, die Institutionen zu respektieren und die wichtigen Themen des Landes gemeinsam zu diskutieren. Zudem natürlich auch, sich auf die Parlamentswahlen 2015 vorzubereiten.
// Anne Hild


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Frieden ist mehr als eine Unterschrift

Ihre Partei hat momentan acht Sitze im konservativ dominierten Senat. Was streben Sie in den kommenden Parlamentswahlen an?
Wir wollen mehr. Unser Ziel ist es, uns als echte Alternative zur aktuellen Regierung zu präsentieren. Auch im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen.

Aus der Linken tritt bisher neben der Kandidatin des PDA, Clara López, auch Aída Abella für die Patriotische Union (UP) an. Warum ist es der Linken nach der Streikwelle und den zahlreichen Protesten 2013 nicht gelungen, eine_n gemeinsame_n Kandidat_in aufzustellen?
Leider ist die Linke in Teilen immer noch zersplittert, was seinen Ursprung in der Geschichte und dem daraus entsprungenen gegenseitigen Misstrauen hat. Aber das wollen wir unbedingt überwinden. Deshalb wird es in Kürze Gespräche von uns mit Repräsentanten der UP geben mit dem Ziel, eine einzige linke Kandidatin aufzustellen. Ein Prozess, der auch von den sozialen Bewegungen wie dem Congreso de los Pueblos oder Marcha Patriótica ausgeht.

Was hat der mehrwöchige Agrarstreik, dem sich ja viele andere gesellschaftliche Sektoren wie die Indigenen, Lehrer_innen, Studierende, Busfahrer_innen und Pilot_innen angeschlossen haben, letztlich gebracht?
Die Proteste waren so massiv, dass sie immerhin den Präsidenten Santos, der sie zu Beginn gar nicht anerkennen wollte, zu Verhandlungen zwangen. Dabei kam aber nichts heraus, keine Maßnahmen gegen die Agrarkrise, keine Änderung seiner Politik. Es wurde nur geredet und sonst gar nichts. Trotzdem bleibt unter dem Strich eine soziale Mobilisierung so groß und vielfältig wie seit Jahren nicht mehr. Eine Mobilisierung, die die Empörung vieler sozialer Sektoren widerspiegelt, die vereint ist in dem Streben nach einer neuen Agenda für Kolumbien und ermuntert durch den eigenen Mut, ihren Protest auf die Straße zu tragen. Fast 20 Tote bei den Massenprotesten, die massive staatliche Repression durch Einsatz der Streitkräfte und der mobilen Anti-Terroreinheit ESMAD haben gezeigt, wie gefährlich es noch immer ist, in ihrem Land zu demonstrieren. Dazu reißt die Kette der Morde an linken Politikern, Gewerkschaftern und weiteren Aktivisten nicht ab. Es stimmt, die Sicherheitssituation für Aktivisten der Linken hat sich nicht verbessert, sondern sogar noch verschlechtert. Die Bedrohungen gegen sie und speziell gegen unsere Kandidaten haben zugenommen genauso wie die Gewalt, die wir erleiden. Darüber hinaus ist im Wahlkampf die Zahl der willkürlichen Verhaftungen beträchtlich gestiegen.

Wie passt das zu dem Bild, das sich Santos vor den Wahlen gibt, um als „Präsident des Friedens“ in die Geschichte seines Landes einzugehen? Schließlich hat er gegen den Willen seines Vorgängers Uribe die Friedensverhandlungen mit der FARC angestoßen und bis heute verteidigt.
Santos will einzig und allein den bewaffneten Konflikt beenden, eine Unterschrift unter ein Friedensabkommen, mehr nicht. Die sozialen Bewegungen dagegen wollen viel mehr. Sie wollen eine nachhaltige Lösung für die großen Probleme Kolumbiens, streben einen Wiederaufbau des Landes durch ein neues ökonomisches Modell an, das einen wahren Frieden möglich macht.

Wie schätzen sie den Verlauf der Friedensverhandlungen in Havanna ein?
Es steht außer Zweifel, dass bisher mehr erreicht wurde als in allen vorausgegangenen Verhandlungen. Ich bin sicher, dass es letztlich zu einem Friedensabkommen kommen wird, das braucht die FARC genauso wie Santos. Dessen ungeachtet kennen wir nur wenige Einzelheiten über das bisher Vereinbarte, obwohl bereits drei der sechs Punkte der gemeinsamen Agenda abgehandelt wurden. Uns erreichen nur unvollständige Details, die wie die Sicherheitsgarantien für die Opposition auch noch im Widerspruch zur Realität stehen.

Wie könnten die Friedensverhandlungen (siehe LN 475) den Ausgang der Wahlen
beeinflussen?
Ich fürchte, zugunsten von Santos. Es gibt immer noch einen mächtigen Sektor, der den Frieden torpedieren will. Das weiß auch die Mehrheit des Volkes, die den Frieden will. Santos könnte sich daher bei vielen als kleineres Übel anbieten, der genau diesen Frieden garantiert.

Santos hatte außerdem angekündigt, bis zum Ende seiner Amtszeit Ländereien an 160 000 Familien zurückzugeben, was er nicht ansatzweise erreicht hat. Welche Hindernisse gibt es bei der Umsetzung des Gesetzes?
Zum einen handelt es sich um 10 Millionen Hek-tar geraubtes Land. Diese riesigen Ländereien befinden sich in den Händen von äußerst mächtigen Gruppen, die genau für diese Situation, für den Landraub und die Vertreibung, verantwortlich sind. Von ihnen, das heißt von den Großgrundbesitzern und den großen internationalen Unternehmen, gehen die Einschüchterungen aus, ausgeführt von den neuen Paramilitärs gegen diejeningen, die zu ihrem Land zurückkehren wollen, um es zu bearbeiten. Der Staat ist somit nicht in der Lage, diese Rückkehr zu garantieren.

Die Paramilitärs sind also trotz der von Präsident Uribe als großen Erfolg seiner Amtszeit verkauften Demobilisierung von circa 50.000 Paramilitärs weiterhin aktiv?
Ja, aber auf eine andere Art. Die Paramilitärs von heute treten zerstreuter, versprengter auf und dazu meist in kleinen Gruppen. Das Rückgabegesetz beziehungsweise seine Durchsetzung stellt für ihre illegalen Geschäfte durchaus eine Gefahr dar. Außerdem behindert der Entwicklungsplan der Regierung selbst die Umsetzung. Dieser setzt ganz auf agrarindustrielle Großprojekte, den Bergbau und die Erdölförderung statt auf eine kleinbäuerliche, nachhaltige Landwirtschaft. Auf diese Art unterstützt die paramilitärische Gewalt die großen Agrarfirmen, denn die nicht zurückgegebenen Landflächen fallen an den Staat, der in seinem Sinne darüber verfügen kann, indem er sie etwa ausländischen Großinvestoren überträgt.

Dabei hat Santos im In- und Ausland doch das Image eines moderaten Repräsentanten des dritten Weges zwischen der extremen Rechten und der Linken. Ist das nur ein Lockmittel für liberale Stimmen im vermeintlichen Zweikampf mit dem ultrarechten Uribe-Kandidaten Zuluaga?
Ganz offensichtlich. Eine Rivalität zwischen Santos und Uribe gibt es nur bei den Wahlen, nicht in ihrer Politik. Beide sind Protagonisten des gleichen neoliberalen Wirtschaftsmodells und wollen es sogar noch ausbauen, das Land noch mehr für ausländische Investoren öffnen und den multinationalen Unternehmen große Teile des kolumbianischen Territoriums ausliefern, was einem Ausverkauf des Landes gleich kommt.

Wie groß schätzen Sie seine Chancen auf eine Wiederwahl ein? Und wenn er wieder gewählt wird, sind dann Uribes politische Tage gezählt?
Die Wiederwahl Santos’ ist leider sehr wahrscheinlich. In diesem Fall wird Uribe seinen Einfluss in den Departements, den Gemeinden und bei ihren Bürgermeistern als mögliches Mitglied des Senats geltend machen, was er auch schon angekündigt hat.

Und Ihre eigene Kandidatin?
Mit Clara López haben wir eine starke Alternative. Sie wird aber nur als einzige linke Kandidatin eine Chance auf die Präsidentschaft haben. Dann also, wenn die Linke zu einer Übereinkunft findet und als einheitlicher Block auftritt. Ihr ersehnter Aufschwung kann nur das Produkt ihrer Einheit sein, hergestellt von unten nach oben durch den Druck der sozialen Bewegungen. Ich für meinen Teil habe in sie mehr Vertrauen als in die politische Bewegung.

Wie könnte ein neues Kolumbien danach aussehen?
Gerecht, sozial und damit friedlich. Das erfordert beispielsweise eine echte Agrarreform, die Schaffung von Arbeitsplätzen durch Förderung der nationalen Produktion und Neuverhandlungen der Freihandelsabkommen mit der EU, den USA und im Rahmen des Pazifik-Pakts. Außerdem gerechte Löhne sowie einen völligen Neuentwurf des Gesundheits- und Bildungswesens unter breiter Beteiligung der Bevölkerung.

Infokasten:

Kongresswahlen in Kolumbien

Am 9. März wird in Kolumbien ein neuer Kongress gewählt. Im Senat stehen 102 Kandidat_innen zur Wahl. Davon werden 100 Abgeordnete direkt gewählt; zwei Plätze sind indigenen Kandidat_innen vorbehalten. Zudem geht es um die 166 Sitze des Repräsentantenhauses. 161 Mandate werden direkt in den einzelnen Wahlbezirken gewählt; die restlichen fünf Plätze an zwei Vertreter_innen afrokolumbianischer und je eine_n Vertreter_indigener Gemeinden, politischer Minderheiten und der Exilgemeinde vergeben. In beiden Kammern dominieren derzeit die Konservativen. Die Kongresswahlen gelten als Stimmungstest für die Präsidentschaftswahlen am 25. Mai, für die bereits fünf Kandidat_innen im Wahlkampf stehen. In den aktuellen Umfrageergebnissen führt der derzeitige Präsident Juan Manuel Santos von der Partei der Nationalen Einheit (La U). Sein ärgster Konkurrent scheint ausgerechnet Ex-Senator und Ex-Landwirtschaftsminister Óscar Iván Zuluaga zu sein, der als Statthalter für Ex-Präsident Álvaro Uribe (2002-2010) gilt. Dieser hatte erst vor einem Jahr die neue Partei „Demokratisches Zentrum“ (CD) gegründet. Zwar war Santos unter Uribe Verteidigungsminister, die von ihm aufgenommenen Friedensverhandlungen mit der FARC-Guerilla (Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) führten allerdings zum offiziellen Bruch zwischen den von beiden repräsentierten Strömungen. Ex-Präsident Uribe selbst kandidiert für den Senat. Für die Konservative Partei steht derzeit Martha Lucía Ramírez auf der Bewerber_innenliste; ihr Rückzug wird noch erwartet. Auf Seiten der Linken treten Aída Abella für die Patriotische Union (UP) und Clara López für den Alternativen Demokratischen Pol (PDA) an. Aída Abella entging am 23. Februar in der Ölförderregion Arauca nur knapp einem Mordanschlag auf ihr Wahlkampfteam. Sie war erst kürzlich nach 17 Jahren aus dem Exil nach Kolumbien zurückgekehrt. Trotzdem scheint eine einheitliche Kandidatur, die von einem breiteren Linksbündnis gestützt wird, noch möglich, worauf besonders die sozialen Bewegungen drängen. Das würde die Karten im Rennen um die Präsidentschaft möglicherweise neu mischen.


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Präsidentschaftswahl geht in die zweite Runde

Am 2. Februar 2014 waren knapp fünf Millionen Salvadorianer_innen in 1.591 Wahllokalen und etwa 10.000 Salvadorianer_innen im Ausland dazu aufgerufen, einen neuen Präsidenten zu wählen. Erforderlich für den Sieg eines Kandidaten waren 50 Prozent und 1 Stimme der insgesamt abgegebenen Stimmen. Bereits vor dem Wahltag wurde vermutet, dass es für keinen der Kandidaten reichen und deshalb eine Stichwahl am 9. März erforderlich werde – was dann auch eingetreten ist.
Die Wahl am 9. März wird zwischen dem Kandidaten der Nationalen Befreiungsfront Farabundo Martí (FMLN), Sánchez Cerén (erster Wahlgang: 48,93 Prozent der Stimmen), und dem Kandidaten der rechten Nationalrepublikanischen Allianz ARENA, Norman Quijano (erster Wahlgang: 38,95 Prozent), entschieden.
Der Kandidat des Rechtsbündnisses UNIDAD, Antonio Saca, konnte am 2. Februar nur 11,44 Prozent der Stimmen erreichen. Erwartungsgemäß hat Norman Quijano gleich nach der Bekanntgabe der Ergebnisse die UNIDAD aufgefordert, ihre Stimmen bei der Stichwahl an ARENA zu geben.
Die FMLN-Regierung hat aus der vergangenen Regierungsperiode spürbare Erfolge vorzuweisen und nicht nur innerhalb des Landes gezeigt, dass sie regieren kann. Auch die Ängste in den USA vor Linksradikalismus in ihrem Hinterhof konnte sie besänftigen.
Sánchez Cerén und sein designierter Vizepräsident Óscar Ortiz gehören zwar zur „alten Garde“ der FMLN, gelten jedoch als integre Persönlichkeiten, die die begonnenen Reformen in Bildung und Gesundheitswesen, in der öffentlichen Sicherheit und in wirtschaftlichen und sozialen Fragen erfolgreich fortsetzen werden.
Demgegenüber fiel ARENA in der Zeit des Wahlkampfes mit negativen Schlagzeilen auf: Quijanos Kampagnenberater, dem ehemaligen Präsidenten Francisco Flores, wird die Veruntreuung von zehn Millionen US-Dollar aus Taiwan im Jahr 2001 vorgeworfen, weshalb dieser laut der Online-Zeitung El Faro zwischenzeitlich seiner Parteiämter enthoben wurde.
Eines der am heftigsten debattierten Themen während des Wahlkampfes war der „Waffenstillstand“, den die FMLN mit den beiden größten kriminellen Banden im Jahr 2012 ausgehandelt hatte – danach hatte sich die Zahl der Morde von einem Tag auf den anderen von circa 80 Ermordungen je 100.000 Einwohner_innen auf rund 40 Ermordungen halbiert. Das Jahr 2013 war für El Salvador das friedlichste seit einer Dekade. Die Statistiken sind jedoch mit Vorsicht zu genießen, da gleichzeitig die Zahl der Verschwundenen stark anstieg – auf mehr als 1.000 im Jahr 2013.
ARENA beschuldigt Präsident Funes, den Waffenstillstand „gekauft“ zu haben, und belegt dies mit Aufnahmen direkt aus dem Büro der Staatsanwaltschaft. Demgegenüber warf Präsident Funes der ARENA vor, über geheime Mordkommandos zu verfügen, mittels denen sie ein Klima der Unsicherheit schaffen wolle. Quijano erklärte im Wahlkampf, eine Militarisierung der Gesellschaft sei die einzige Möglichkeit, um gegen die Bandenkriminalität vorzugehen. Die FMLN hingegen setzt im aktuellen Wahlprogramm auf präventive Maßnahmen zur Eindämmung der Bandenkriminalität. Neuesten Umfragen der Tageszeitung La Prensa Gráfica zufolge liegt die FMLN in der Wähler_innengunst mit rund 55 Prozent der Stimmen vorne.


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Gefährliche Kriminalisierung

Frau Sibrián, 2012 hat Ihre Organisation gemeinsam mit sieben weiteren Organisationen eine Begriffsbestimmung der Kriminalisierung vorgenommen. Was zählt außer einer illegitimen Verfolgung durch Polizei und Justiz noch zur Kriminalisierung und wer ist davon betroffen?
Grundsätzlich sind diejenigen betroffen, die die Menschenrechte verteidigen und mit der Ausübung ihrer Rechte die Interessen der politisch oder wirtschaftlich Mächtigen bedrohen. Dadurch werden sie Opfer einer Reihe von Aktionen von Seiten der Mächtigen: verbale und physische Aggressionen, öffentliche Stigmatisierung, die Zerstörung ihres Images und ihrer Person, oder eben die Eröffnung juristischer Prozesse.
Wenn wir von kriminalisierten Menschenrechtsverteidigern sprechen, sprechen wir von Menschenrechtsverteidigern, die man versucht, als Personen, die gegen das Gesetz verstoßen, erscheinen zu lassen. Und in vielen Ländern ist das Gesetz auf die Interessen derjenigen zugeschnitten, die die politische und oftmals auch die wirtschaftliche Kontrolle haben. Daher gibt es Länder, in denen die Gesetze sehr ungerecht und undemokratisch sind, und die Menschenrechtsverteidiger geraten in Widerspruch mit diesen Gesetzen.

Was wäre ein konkretes Beispiel dafür?
Es gibt das Beispiel des Widerstands von La Puya, ein Minenprojekt 18 Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Die meisten, die sich im Widerstand organisiert haben, sind einfache Frauen aus der Gemeinde, Mütter, viele von ihnen aktiv in der Kirche. Sie haben einen tiefen Glauben an Gott und an die Gerechtigkeit. Manchmal kann man sie an der Zufahrt zur Mine stehen sehen und religiöse Lieder singen hören. Das ist sehr bewegend, weil es ein absolut friedlicher Protest ist. Trotzdem werden die sichtbaren Anführer juristisch verfolgt, einschließlich einer Frau, der bereits bei einem Attentat vor einigen Jahren in den Rücken geschossen wurde. Es gibt also diese Kombination von juristischen und nichtstaatlichen Angriffen.
Ein anderer Typ von Kriminalisierung betrifft diejenigen, die für das Recht auf Wahrheit und Gerechtigkeit in Guatemala eintreten. Es war ein großer Fortschritt in diesem Land, als 2012 das Verfahren gegen den General Efraín Ríos Montt eröffnet wurde. Aber mit dem Prozess begann auch die öffentliche Diskreditierung der indigenen Frauen, die als Zeuginnen in dem Prozess aussagten, und eine Diskreditierung all derjenigen, die Gerechtigkeit verlangten. Der Kern der Argumentation war, dass der Ruf nach Gerechtigkeit zu einer Spaltung des Landes führen würde, während doch in Wirklichkeit die Gerechtigkeit die beste Art sein kann, wie sich Menschen mit unterschiedlichen Positionen in Bezug auf diese Verbrechen wieder annähern können. Jemand, der keine Gerechtigkeit erfährt, kann sich nicht mit dem anderen an einen Tisch setzen und versuchen, das soziale Gewebe zu reparieren.

Welche Akteur_innen und welche Interessen stehen hinter der Kriminalisierung?
Ich werde ein weiteres Beispiel nennen. Am 10. Mai 2013 wurde ein historisches Urteil gegen den General Efraín Ríos Montt gefällt. Das Urteil betrifft indirekt auch das Militär, da mit dem Urteil explizit die Rolle des Generals und der Armee bei Menschenrechtsverletzungen anerkannt wurde. Zwei Tage nach dem Urteilsspruch organisierte der private Sektor eine Pressekonferenz, auf der die Unternehmer das Verfassungsgericht öffentlich zu einer Korrektur seines Urteils aufforderten. Und eine Woche später entschied das Gericht, den Prozess gegen Ríos Montt zu annullieren. Glücklicherweise traf das Gericht diese Entscheidung nur mit drei zu zwei Stimmen, das heißt, dass zwei Richter erkannten, dass die Entscheidung illegal war. Aber hier wird die starke Allianz zwischen der wirtschaftlichen Macht und der für die schweren Menschenrechtsverletzungen schuldigen, militärischen Macht deutlich.

Auch die Botschaften der EU haben die Aufgabe, die Einhaltung der Menschenrechte zu überwachen. Stimmt es, dass die EU-Botschaft in Guatemala dieser Aufgabe nicht nachkommt?
In der Botschaft der EU in Guatemala arbeitet nur eine Diplomatin, die Botschafterin. Der Rest des Personals kommt aus der Entwicklungszusammenarbeit. Das ist in Guatemala anders als in anderen EU-Botschaften. Die EU erreicht auf der diplomatischen Ebene nicht die Stärke, etwa um Besuche bei kriminalisierten Menschenrechtsverteidigern außerhalb der Hauptstadt zu machen. Wenn ich mich nicht irre, haben in den vergangenen zwei Jahren keine Besuche in Gemeinden stattgefunden. Manchmal schicken sie ihr Personal aus der Entwicklungszusammenarbeit, aber dieses hat nicht das gleiche Gewicht, wie wenn die einzige ranghohe Diplomatin, die Botschafterin, die kriminalisierten Gemeinden besuchen- und ein Interesse an ihren Problemen zeigen würde.

Im Jahr 2012 erklärte der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte Guatemalas Regierung für die im Zusammenhang mit dem international finanzierten Staudammprojekt Chixoy begangenen Massaker von Río Negro Anfang der 80er Jahre für schuldig. Ein im Januar in den USA beschlossenes Gesetz sieht nun die Entschädigung der Betroffenen durch die Weltbank und die Interamerikanische Entwicklungsbank vor. Ist dies ein Erfolg im Kampf gegen Staudammprojekte?
Das ist vor allem ein Beispiel für Wiedergutmachung. Ein Erfolg wäre, wenn sich solche Verbrechen verhindern ließen. Die Guatemalteken und die internationale Gemeinschaft hätten jetzt die Möglichkeit, aus diesem Fall zu lernen und Maßnahmen zu ergreifen, damit sich solche Fälle nicht wiederholen. Die Gemeinden und die Anwälte, die den Fall Chixoy begleitet haben, haben einen langen Kampf hinter sich. Es war für sie ein großer Triumph, als die Verantwortung des Staates bewiesen und er zur Entschädigung verpflichtet wurde. Vor einigen Jahren sind dieselben Menschenrechtsverteidiger von Chixoy noch kriminalisiert und verfolgt worden. Leider wurde die Verpflichtung zur Entschädigung bislang nicht umgesetzt. Und hier spielen die USA eine sehr wichtige und bewundernswerte Rolle, indem sie dem guatemaltekischen Staat Bedingungen stellen. Sie sagen, dass die militärische Hilfe nicht einfach als Blankoscheck erfolgen kann. Ich denke, dass sich andere europäische Staaten daran ein Beispiel nehmen könnten und den Ländern des amerikanischen Kontinents sagen: Es gibt Menschenrechtsabkommen und wenn ihr die daraus hervorgehenden Verpflichtungen nicht einhaltet, muss es eine Art von Sanktion geben. Politische Sanktionen haben immer weniger Bedeutung. Sanktionen müssen daher wirtschaftlich sein, und sie dürfen nicht nur Staaten betreffen, sondern auch nichtstaatliche Akteure, die an Menschenrechtsverletzungen beteiligt sind.

Infokasten

Anabella Sibrián arbeitet bei der 2001 gegründeten Holländischen Plattform gegen Straffreiheit, Guatemala, einem Projekt mehrerer internationaler Menschenrechtsorganisationen. Sie begleitet die Arbeit guatemaltekischer Menschenrechtsverteidiger_innen und betreibt in der EU Advocacy für die Menschenrechtsverteidigung in Zentralamerika.


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Auf Socken gegen Chevron

Die Entschlossenheit hat in 21 Jahren nicht nachgelassen: „An Geldmangel wird der Prozess nicht scheitern. Zur Not werden wir vor Gericht ohne Schuhe auflaufen, aber wir werden die Sache bis zum Ende durchfechten!“ Der ecuadorianische Anwalt Pablo Fajardo wirkt im Gespräch mit den LN kämpferisch und optimistisch zugleich, obwohl er sich in der juristischen Auseinandersetzung mit dem US-amerikanischen Ölriesen Chevron, der sich 2001 Texaco einverleibt hat, einer gewaltigen Übermacht gegenübersieht. „Wir arbeiten mit einer Handvoll Rechtsanwälten in Ecuador und in ein paar involvierten Ländern wie Brasilien, Argentinien und Kanada, Chevron greift auf hunderte hoch bezahlte Juristen zurück“, schildert Fajardo die Grundkonstellation.
Der seit vielen Jahren in der Provinz Sucumbios, einem der von den Umweltschäden der Ölförderung betroffenen Amazonasgebiete, lebende Anwalt berät seit 2003 die „Vereinigung der von Texaco Betroffenen“ (UdA). Seit 2005 vertritt er die Kläger_innen auch juristisch vor Gericht in Ecuador. Dort ist das Verfahren gegen Texacos Rechtsnachfolger Chevron seit 2002 anhängig.
Dabei war der ursprüngliche Plan ein anderer: „Die Klage im Namen von 48 Geschädigten wurde 1993 in New York eingereicht, weil die Kläger_innen dachten, dass das ein geeigneter Gerichtsstandort sei. Schließlich wurde ein Großteil der Texaco-Investitionen über New Yorker Banken abgewickelt und es war davon auszugehen, dass Texaco die US-amerikanische Justiz respektieren würde“, schildert Fajardo die Ausgangslage. Stattdessen hintertrieb Texaco das Verfahren in New York und versuchte alles, es nach Ecuador zu verlagern. „14 ecuadorianische Anwälte, allesamt von Texaco bezahlt, haben dem Gericht in New York versichert, dass das ecuadorianische Justizsystem ehrenwert, transparent und über alle Zweifel erhaben ist und zu den besten der Welt gehört“, beschreibt der Anwalt Texacos Lobbyarbeit. Die hatte Erfolg: 2001 wies das New Yorker Gericht die Klage mit der Begründung ab, sie habe „sehr viel mit Ecuador und sehr wenig mit den Vereinigten Staaten zu tun.“
„1998 unterschrieb Texaco ein Abkommen, dass der Konzern bereit ist, sich der ecuadorianischen Rechtssprechung zu unterwerfen“, führt Fajardo aus. 1998 regierte in Ecuador noch Jamil Mahuad von der christdemokratischen Partei Democracia Popular und mit dem kam Texaco bestens klar: Sie schlossen einen sogenannten Ausgleichsvertrag, mit dem die Regierung anerkannte, dass die US-Firma alles sauber zurückgelassen habe und sie von jeder Verantwortung im Hinblick auf zukünftige Folgen ihrer Ölverwüstungen freispricht. Auf Letzteres beruft sich Rechtsnachfolger Chevron gerne, während der Multi die ecuadorianische Justiz schlicht ignoriert: Im November 2013 hat der Oberste Gerichtshof Ecuadors das Urteil wegen Umweltverschmutzung aus dem Jahre 2011 in der Sache bestätigt, halbierte die Strafzahlung jedoch auf 9,5 Milliarden Dollar.
In Ecuador ist der Rechtsstreit damit de jure abgeschlossen, de facto nicht, weil Chevron nicht zahlt, in Ecuador nicht tätig ist und somit dort auch keine Vermögenswerte hat, die für eine Beschlagnahmung infrage kämen. Deswegen hat sich der Rechtsstreit längst internationalisiert. „Wir arbeiten weltweit an verschiedenen juristischen Fronten und haben sehr gute Chancen in Kanada, Argentinien oder Brasilien“, schildert Fajardo das Vorhaben, auf Vermögenswerte von Chevron in anderen Ländern zuzugreifen. Länder, mit denen sogar Rechtshilfeabkommen bestehen, die die Konfiskation im Prinzip erleichtern, wie Fajardo erklärt.
Dabei gibt es durchaus Fortschritte: Mitte Dezember 2013 entschied ein Berufungsgericht im kanadischen Ontario, dass die Ecuadorianer_innen die Konfiszierung von Chevron-Besitz in Kanada vorantreiben dürfen. Ähnlich urteilte ein Richter in Argentinien, doch der Oberste Gerichtshof hob dieses Urteil wieder auf. Fajardo hat Indizien für einen Deal zwischen Chevron und Argentiniens Regierung. Die sucht händeringend nach einem Investor für das riesige Schiefergasfeld vaca muerta (tote Kuh) in Patagonien, mit dessen Erschließung mittels des umstrittenen Fracking (Aufsprengung von Gesteinsschichten mit Hochdruck und giftigen Chemikalien) sich die Regierung Kirchner ihrer Energie- und Devisenprobleme gleichermaßen entledigen will. „Am 4. Juni 2013 hat der Oberste Gerichtshof den Gerichtsbeschluss aufgehoben; einen Monat später hat Chevron ein Abkommen in Sachen vaca muerta unterschrieben“, nennt Fajardo die Fakten. „Zufall?“, fragt er rhetorisch. Und legt nach: Chevrons Chef John Watson habe Venezuelas Präsident Nicolás Maduro eine 3 Milliarden Dollar schwere Investition in die schwächelnde Erdölgesellschaft PDVSA versprochen, sollte es ihm gelingen, Ecuadors Präsident Rafael Correa zu überzeugen, die Strafverfolgung Chevrons zu unterbinden. Starker Tobak, aber dass Chevron unter allen Umständen verhindern will, für die Umweltschäden belangt zu werden, die Texaco während seiner Ölförderung im ecuadorianischen Amazonas von 1964 bis 1992 angerichtet hat, ist offensichtlich. Der Multi hat den Staat Ecuador vor dem Schiedsgericht in Den Haag verklagt, um ihn mit dem Verweis auf das Ausgleichsabkommen an seiner statt für die Umweltschäden in Haftung zu nehmen. In New York muss sich Steven Donziger, der 1993 im Namen der Geschädigten die Klage einreichte, eines Betrugsprozesses erwehren. Chevrons Grundargumentation: Donziger und andere Anwälte haben sich mit den ecuadorianischen Kläger_innen zu einem Komplott verschworen, um die reiche Kuh Chevron zu melken.
Donald Moncayo bringen diese Vorwürfe in Rage: „So ist es einfach nicht. Wir fordern nicht Geld für nichts, sondern wir wollen nur, dass Chevron für die Beseitigung der Schäden aufkommt.“ Schäden, die Moncayo, der 1973 in Lago Agrio 200 Meter von einem der über 300 Bohrlöcher entfernt geboren wurde, aus eigener Anschauung zu beschreiben vermag: „Ich habe große Teile der Erdölförderung selbst erlebt. Ich bin über das Öl, das sie auf die Straßen geschüttet haben, zur Schule gelaufen, ich sah, wie die Flüsse, in denen ich badete, fast mehr aus Öl als aus Wasser bestanden. Fische sind gestorben, Vögel sind gestorben.“ Zuerst sterben die Tiere, dann die Menschen. „Es gab viele Krankheiten in der Gegend. Das Baby meiner direkten Nachbarn ist nur wenige Monate alt geworden. Acht Frauen in meiner näheren Umgebung musste die Gebärmutter entfernt werden“, erzählt der 40-Jährige. „Von den traditionellen Völkern der Gegend sind zwei ausgestorben: die Tetete und die Secoya und die Cofán sind auf ein Drittel reduziert“, schildert Moncayo fatale Auswirkungen der Texaco-Aktivitäten.
Insgesamt betreffen die von Texaco angerichteten Umweltschäden 30.000 Menschen im ecuadorianischen Amazonas-Gebiet. Laut Moncayo und Fajardo hat Texaco hunderte Becken à 60 auf 40 Meter für giftigen Müll ohne Sicherheitsvorkehrungen in den Urwald gegraben. Über 63 Milliarden Liter toxisches Abwasser aus Bohrlöchern, voll mit Schwermetallen, Salzen und anderen Umweltgiften wurden laut den Kläger_innen einfach oberflächlich verspritzt statt es in tiefe Gesteinsschichten zu „re-injizieren“, wie es Texaco in den USA aus Umweltschutzgründen praktizieren musste. In Ecuador sparte man sich diese teure Praxis.
„Exxon Valdez in Alaska und Deepwater Horizon im Golf von Mexiko waren Unfälle, vielleicht vermeidbare Unfälle, aber eben Unfälle. Was Texaco in Ecuador gemacht hat, war kein Unfall. Das war systematische, rücksichtslose Umweltzerstörung“, weist Fajardo auf einen wichtigen Unterschied zu den bekanntesten Umweltkatastrophen der jüngeren Geschichte hin.
Noch sei aber nicht alles verloren: „Wir wissen, dass man nicht alles reinigen kann. Aber man kann 80 bis 90 Prozent der Schäden beseitigen und den Menschen wieder ein gesundes Leben ermöglichen. Dafür müssen der Boden und die Gewässer gereinigt werden, die bis heute Ölablagerungen bis in die Sedimente aufweisen“, benennt Moncayo das wünschenswerte Zukunftsszenario. So weit ist es aber längst noch nicht. Chevron behauptet, dass Texaco in den 90er Jahren 40 Millionen US-Dollar in die Beseitigung der Schäden gesteckt habe und danach bekanntlich das Ausgleichsabkommen mit der ecuadorianischen Regierung geschlossen worden wäre. Kurz: Chevron sei aus dem Schneider. Unterstützung erhält die Betroffenenorganisation UdA von der Regierung Correa. „Rafael Correa war schon vor seiner Präsidentschaft in der Region und interessierte sich für den Fall. Als er dann gewählt wurde, gingen wir auf ihn zu, weil wir davon ausgingen, dass er der Sache wohlwollend gegenübersteht“, erläutert Fajardo das Verhältnis zum Präsidenten. Correa enttäuschte sie nicht. „Wir haben ihn zwei, drei Mal seit 2007 getroffen und es gab Hilfe für die Opfer bei der Versorgung mit Wasser, Gesundheit und Bildung. Es fehlt noch vieles, aber es wurde ziemlich viel gemacht“, erzählt Fajardo. Über die lokale Ebene hinaus hat die Regierung Correa im September 2013 die Kampagne „la mano sucia de chevron“ (Die schmutzige Hand von Chevron) gestartet, mit der der US-Multi öffentlichkeitswirksam an den Pranger gestellt werden soll. „Wir fordern alle unsere Freunde und Freundinnen in Europa und der ganzen Welt auf, ihre Ablehnung der Übermacht solcher multinationaler Unternehmen kundzutun, die unsere Umwelt zerstören und ihre Hände dann in Unschuld waschen“, so Correa.
Fajardo und Moncayo sind für diese Unterstützung ebenso dankbar wie für die vielen Kleinspender_innen, die mal 50 Cent mal einen Dollar spenden, weil sie mehr nicht entbehren könnten. Millionen Ecuadorianer_innen würden so ihre Unterstützung demonstrieren. Möglich ist das dank der Webseite www.texacotoxico.org/donaciones weltweit. „Es geht nicht nur um Chevron/Texaco, es geht nicht nur um Umweltrechte. Sondern es geht darum, dass die Straflosigkeit für Konzerne gebrochen werden muss. Wenn Chevron zahlen muss, wird ein Präzedenzfall geschaffen, der allen Multis zu denken geben wird. Dann müssten sie sich künftig an das Recht halten, wenn sie nicht das Risiko hoher Entschädigungszahlungen in Kauf nehmen wollen. Wir fordern nicht mehr als Gerechtigkeit. Und dafür werden wir weiterhin kämpfen, zur Not ohne Schuhe“, so Fajardo. Die Entscheidung ist nicht mehr weit, dieses Jahr oder nächstes, blickt er optimistisch in die Zukunft. Der Riese Chevron wankt, gefallen ist er noch nicht.


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„Hab keine Angst“

Esteban Romero lebt mit seinen Eltern und seiner Schwester in San Antonio de Belén, einem ehemaligen Dorf im Westen San Josés, das sich längst zu einem Vorort der costa-ricanischen Hauptstadt entwickelt hat. Vor zwanzig Jahren erstanden die Romeros hier ein kleines Haus aus einem staatlichen Häuserbauprogramm. Costa Ricas sozialdemokratische Partei Liberación Nacional (PLN) hatte das Programm ihrerzeit aufgelegt.
Ein eigenes Haus, die Kinder konnten studieren, ein erschwingliches Gesundheitssystem. Dieses Modell Costa Ricas ist eng mit PLN und der christsozialen PUSC verbunden. Im demokratischen Wechsel schufen sie einen fortschrittlichen Sozialstaat. Die Armee wurde aufgelöst, ein öffentliches Gesundheits- und Pensionssystem aufgebaut, Bildung, Strom und Wasser in die entlegensten Winkel des Landes gebracht. Sogar die Banken hatte man nationalisiert, die dann das staatliche Bauprogramm finanzierten, dem die Romeros ihr Haus verdanken. Als eher kirchenferne Familie waren die Romeros seit jeher Stammwähler_innen von Liberación. Bis zu den letzten Wahlen.
Dabei ist Esteban eigentlich ein Gewinner der seit 20 Jahren auch von der PLN getragenen Neoliberalisierung Costa Ricas. Er arbeitet als leitender Angestellter in der Niederlassung eines weltweit operierenden Logistikunternehmens. Esteban gefällt sein Job im internationalen Umfeld, er verdient gut. Doch für ihn ist die PLN als Regierungspartei wie schon die Christsozialen vor ihnen im Korruptionssumpf versunken. Wie mittlerweile jede_r Fünfte glaubt Esteban nicht mehr, dass sich die von der PLN geführte Regierung für die Belange der Bürger_innen interessiert.
Bei den Präsidentschaftswahlen am 2. Februar will Esteban stattdessen die Linkspartei Frente Amplio (Breite Front) und deren Spitzenkandidaten José María Villalta wählen. „Die klaffende Schere zwischen Arm und Reich macht mir Sorge, die öffentliche Gesundheit wird immer bescheidener und die private immer teurer. Das macht mich wütend.“ Vor allem aber ist Esteban schwul und somit Teil einer seit ein paar Jahren immer mutiger und lautstärker werdenden Bewegung, die sich nicht mehr vom Erzbischof oder Politiker_innen diktieren lässt, was sie tun oder lassen soll.
35 Prozent der Costa Ricaner_innen gaben in einer Umfrage unlängst an, ein „nahes, nicht heterosexuelles“ Familienmitglied zu haben. Hier liegt ein Grund für die gestiegenen Zustimmungsraten Villaltas. Er ist der einzige Kandidat, der sich offen für die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften ausgesprochen hat.
„Hab keine Angst“, ruft Villalta auf Wahlkampfveranstaltungen in die Menge oder per Wahlkampf­spots in die Wohnzimmer. Keine Angst davor, dass er die staatliche Gesundheits- und Rentenkasse restaurieren statt privatisieren will. Dass man die Rechte der Beschäftigten stärkt, der Bevölkerung mehr Kontrolle über die Politik gibt. Dass man die Korruption bekämpft und das soziale Costa Rica wieder auferstehen lassen will.
José María Villalta ist ein Phänomen in der costa-ricanischen Politik. Der 36-jährige ist bislang der einzige Abgeordnete der Frente Amplio. Nun liegt er nach unterschiedlichen Meinungsumfragen auf Platz Eins oder Zwei der Gunst der Wähler_innen. Über 20 Prozent Zustimmung für den Kandidaten der linken Kleinstpartei, auf Augenhöhe mit Johnny Araya, dem Kandidaten der PLN. Das ist eine Sensation, denn frühere Umfragen hatten noch einen deutlichen Vorsprung von Araya verzeichnet.
Laut Montserrat Sagot, Soziologieprofessorin an der staatlichen Universität von Costa Rica und Politexpertin, habe es Villalta geschafft, vor allem die junge, urbane Generation für sich zu gewinnen: „Das sind Menschen mit sehr großer Präsenz in sozialen Netzwerken, die die öffentliche Meinung in Costa Rica in Zeiten des Internets entscheidend mitprägen.“
Im Parlament bringt es kaum ein Abgeordneter auf eine ähnlich hohe Anzahl von Gesetzesinitiativen, seit Jahren fehlt Villalta bei keiner wichtigen Demonstration sozialer Bewegungen. Der 24-jährigen Noelia Alfaro, einer beruflich wie politisch engagierten Medienschaffenden, gefällt die äußerst erfolgreiche Kampagne Villaltas in den sozialen Netzwerken sehr, vor allem, dass dort Inhalte transportiert werden, mit denen sich junge Menschen identifizieren können: Umweltschutz, mehr und bessere Jobs, Trennung zwischen Staat und Kirche, Homoehe, ein liberaleres Abtreibungsgesetz.
In Facebook und Twitter hat Villalta mit seiner Seite #ManKannSehrwohlWenWählen doppelt so viele Follower wie Araya. Diesen und den Rest des Polit-Establishments erwähnt Villalta nur als #DieSelbenWieImmer. Er erläutert, was seine Kampagne ausmacht: „Wir verfügen nicht über so massive Spenden wie andere Parteien, um große Werbespots in den Massenmedien schalten zu können. Aber die sozialen Netzwerke sind uns einfach näher, weil wir hier mit den Menschen interagieren und sie zum Mitmachen und Mitgestalten einladen können. Das entspricht einfach auch unserem Politikverständnis.“
Bislang ist der politischen Konkurrenz wenig eingefallen, um Villalta Paroli zu bieten. Man vergleicht ihn mit Chávez und den Castros, stellt ihn als Kommunisten dar. Das war über Jahrzehnte ein todsicheres Mittel, um den politischen Gegner zu erledigen. Doch die linke Programmatik scheine Villalta nicht zu schaden, so Montserrat Sagot, auch weil viele Menschen eingesehen hätten, dass die neoliberalen Konzepte der letzten Regierungen nur die Ungleichheit, die Armut und die Arbeitslosigkeit im Land vergrößert hätten. Villalta hingegen beziehe sich immer wieder auf die mittlerweile ausgehöhlten sozialen Errungenschaften Costa Ricas. Das mache Villaltas Ideologie bis in christsoziale und sozialdemokratische Milieus hinein salonfähig.
Die Politologin Gina Silba weist darauf hin, dass es Villalta gelungen ist, all diejenigen hinter sich zu vereinigen, die massiv gegen das Freihandelsabkommen zwischen Zentralamerika und den USA gestritten hatten. Die PLN hatte zusammen mit der politischen Rechten das Abkommen vorangetrieben. Das einzige je in Costa Rica durchgeführte Referendum ging 2007 knapp mit „Ja“ aus. Der Partei der Bürgeraktion (PAC), seit zehn Jahren die wichtigste Oppositionspartei im Land, war es bei den Wahlen 2010 nicht gelungen, aus den Protesten politisches Kapital zu schlagen, die PLN-Kandidatin Laura Chinchilla gewann deutlich. Villalta hingegen reaktiviert nicht nur die Anti-Freihandels-Koalition, er macht auch dem ländlichen Costa Rica Angebote, wendet sich an Bauern- und Fischerkooperativen, an Plantagenarbeiter_innen und kleine Unternehmen in der Provinz.
Einige halten Villalta hingegen für zu unerfahren, um Präsident werden zu können. Montserrat Sagot weist auch auf die dünne Personaldecke der Frente Amplio hin: „Villalta wird also nach fähigem, progressiven Personal, selbst aus anderen Parteien, Aussicht halten müssen.“ Der Kandidat selbst ist auf diese Zweifel vorbereitet. Natürlich gebe es vor allem in der PAC, aber auch bei der PLN und der PUSC gute und fähige Leute, mit denen zusammen arbeiten wolle, sofern sie sich mit den wesentlichen Programmpunkten der Frente Amplio identifizieren können.
Alarmiert von schlechten Umfragewerten versucht PLN-Kandidat Araya verzweifelt, der Villalta-Kampagne den Wind aus den Segeln zu nehmen. Seit 20 Jahren Bürgermeister von San José, ist er nur bedingt das Gesicht des Neuanfangs, den sich immer mehr Costa-Ricaner_innen wünschen. So verweist er auf die Errungenschaften seiner Partei vor Jahrzehnten und kritisiert offen die letzten beiden Regierungen seiner eigenen Partei. Die Korruptionsaffären hätten das Vertrauen der Bevölkerung in die Demokratie schwer beschädigt – und meint damit das Vertrauen in seine eigene Partei. Costa Rica sei das Land Lateinamerikas, in dem die Schere zwischen Arm und Reich am weitesten auseinander gegangen ist, daher fordert Araya: „Wir brauchen eine Anpassung unseres Entwicklungsmodells, der Reichtum Costa Ricas muss besser verteilt werden!“ Das dürfe aber nicht zur Konsequenz haben, dass man Extremist_innen verfalle, weder linken noch rechten, fügt er fast flehend hinzu.
Denn von Rechts wird seine PLN von den Libertären attackiert. Otto Guevara, Spitzenkandidat der Bewegung, wehrt sich zwar gegen Vorwürfe, die verbliebenen staatlichen Institutionen schnellstmöglich privatisieren zu wollen. Aber sie müssten deutlich effektiver arbeiten und weniger Geld kosten. Dass die Libertären aber gerade von denen unterstützt werden, die sich von einer weiteren Privatisierung von Gesundheitsdienstleistungen oder des Energiesektors üppige Gewinne versprechen, ist kein Geheimnis. Guevara versucht daher, Moralkonservative zu ködern, in dem er Homoehe, Abtreibung und künstliche Befruchtung ablehnt. Das reicht für ein knappes Fünftel in den Wahlumfragen.
Zwei Parteien dürften dagegen mit Wahlniederlagen rechnen: Die PAC kommt mit ihrem Kandidaten, dem Geschichtsprofessor Guillermo Solís, auf gerade nicht einmal zehn Prozent in den Umfragen. Noch vor acht Jahren hatte die PAC mit Parteigründer Ottón Solís nur hauchdünn gegen Oscar Árias der PLN verloren. Doch in den letzten vier Jahren zeigte sich die Fraktion ein ums andere mal gespalten. Zudem war sie von ihrer eigenen Rolle als Oppositionsführerin derart überzeugt, dass sie es nicht für nötig hielt, eine progressive Allianz zu schmieden. Als Guillermo Solís schließlich zum PAC-Kandidaten gewählt wurde, hatte sich Villalta längst als Gallionsfigur des progressiven Lagers etabliert. Zwar hat Solís im letzten Monat aufgeholt, trotzdem ist es unwahrscheinlich, dass er es noch in eine Stichwahl schaffen kann.
Die Christsozialen der PUSC, historische Gegenspieler der PLN, hatten kurzfristig mit dem Quereinsteiger, Dr. Rodolfo Hernández, Chef des nationalen Kinderkrankenhauses in San José, Morgenluft gewittert. Doch Anfang Oktober schmiss Hernández hin: Das korrupte Partei-Establishment der PUSC habe seine Kandidatur mit Intrigen und Verrat torpediert (siehe LN 474). Im Anschluss gelang es dem Ersatzkandidaten Rodolfo Piza nie, über einstellige Umfrageergebnisse hinaus zu kommen.
Drei Kandidaten um die 20 Prozent, damit wäre eine Stichwahl unausweichlich. Denkbar ist momentan sogar, dass es die PLN nicht einmal dorthin schafft. Damit würden erstmalig weder Sozialdemokraten noch Christsoziale die Regierung stellen. Doch soweit ist es noch lange nicht: Montserrat Sagot erinnert daran, dass die PLN über eine äußerst mächtige Wahlkampfmaschinerie verfügt. Man könne davon ausgehen, dass die Partei alle potenziellen Wähler_innen am 2. Februar zu den Wahlurnen karren werde. In den Umfragen sei das ländliche Costa Rica zudem unterrepräsentiert. Und gerade hier wählten die Menschen traditionell die PLN.
Allerdings ist gerade hier die Frustration über die PLN groß, über zurückgefahrene staatliche Programme für Kleinbäuerinnen und -bauern oder über die Vergiftung ganzer Landstriche durch die ungehinderte Ausbreitung der Ananas-Monokulturen. So bleibt das Wahlverhalten auf dem Land die große Unbekannte. Noch zeigt sich in den Umfragen über ein Drittel der Befragten unentschieden. Die Linke in Costa Rica ist allerdings jetzt schon die große Gewinnerin: Die bisherige Ein-Abgeordneten-Partei Frente Amplio ist dank Villalta eine richtig große Bewegung geworden.


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Alles raus, was kann

Auch wenn Staatsoberhaupt Enrique Peña Nieto von der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) vergangenen August die Gesetzesinitiative in die Runde brachte, ist die nun verabschiedete Fassung der Energiereform vor allem ein großer Erfolg für die Partei der Nationalen Aktion (PAN). Vor 74 Jahren gründete sie sich als Protest gegenüber dem Erstarken der staatlichen Regulierung und verfolgt seitdem einen radikal wirtschaftsliberalen Kurs. Die erhofften ausländischen Direktinvestitionen sollen das Bruttoinlandsprodukt nach oben schrauben: Bis zum Jahr 2018 wird jährlich ein Prozent Wachstum vorausgesagt, bis 2025 jährliche 1,6 Prozent, so die knapp 300 Seiten dicke Gesetzesvorlage. Gleichzeitig wird der ökonomische Wert der mexikanischen Erdölreserven zurzeit auf satte drei Billionen US-Dollar geschätzt. Der Wunsch nach mehr Wirtschaftswachstum fordert jedoch Opfer. In Mexiko ist dies gewöhnlicherweise zuallererst die Verfassung von 1917.
Es sind die Artikel 25, 27 und 28 der Verfassung, die nun einer Änderung unterzogen wurden. Insbesondere Artikel 27, in dem Territorium und natürliche Ressourcen als Eigentum der Nation definiert werden, gilt als ein starker symbolischer Bezugspunkt des sogenannten revolutionären Nationalismus, den sich die PRI eigentlich immer noch auf ihre Fahne schreibt. Garantierte der Artikel PEMEX bisher das alleinige Recht auf die Erdölausbeutung, ist das Exklusivrecht in der neuen Fassung nicht mehr vorhanden.
Fortan dürfen ausländische Unternehmen ebenfalls aktiv in der Energieproduktion sowie Erdöl- und Gasförderung mitwirken – ein Bereich, der 75 Jahre lang ausschließlich dem mexikanischen Staat vorbehalten war.
Darüber hinaus werden die beiden (ehemals) parastaatlichen Unternehmen Petróleos Mexicanos (PEMEX) sowie die Föderale Elektrizitätskommission (CFE), Kinder des Nationalisierungsdekrets von 1938, in sogenannte produktive öffentliche Akteure umgewandelt.
Doch die Krux liegt bekanntlich im Detail. So verpflichtet der siebte Übergangsartikel dazu, die nationalen Bedingungen und Gesetze im Energiesektor den internationalen Verträgen anzupassen, die Mexiko unterschrieben hatte. Konkret wird sich hierbei auf das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) zwischen den USA, Kanada und Mexiko bezogen, welches zum 1. Januar 1994 in Kraft trat. Der mexikanische Staat verliert damit endgültig das Recht, Enteignungen im und Eingriffe in den Erdölsektor vornehmen zu können. Es ist ein gravierender Wandel im Bereich der Eigentumsrechte, den die Energiereform hiermit anstößt. Und schließlich auch ein entscheidender Schritt hin zu einer umfassenden Privatisierung des Sektors.
Im allerletzten Moment wurde darüber hinaus in den Gesetzesentwurf mit aufgenommen, dass die derzeitig vergebenen Minenkonzessionen ebenso für die Gasausbeutung gültig sind. Und dies in einem Landschaftsszenario, welches einen hohen Grad an territorialer Zersplitterung aufweist. Je nach Studie sind derzeit zwischen 16 und 28 Prozent des nationalen Territoriums bereits durch Konzessionen an Privatunternehmen vergeben. Im mexikanischen Bergbausektor stellen ausländische Investorengruppen knapp 70 Prozent der Konzessionsträger dar, von denen die große Mehrheit ihren Sitz in Kanada hat.
Das Präsidentschaftsamt geht jedoch alles andere als geschwächt aus der Umstrukturierung hervor. Dem Präsidenten obliegt es zukünftig, die neu geschaffenen Institutionen mit Führungspersonal zu besetzen. Die Einflussnahme wird auch dadurch vereinfacht, dass dem Kongress die Kontrollmöglichkeiten über PEMEX und CFE entzogen werden. Auf der einen Seite geht die Reform also mit einer Verschlankung des Staates einher, wie es sich die PAN von jeher wünschte. Auf der anderen Seite bedeutet sie ein Erstarken des Präsidentenamtes im Sinne der PRI. Mexiko als neoliberaler autoritärer Staat in neuem Glanze.
Doch die staatliche Politik provoziert hohen Wellengang. So kann das Auftreten einer neuen Guerilla im Bundesstaat Guerrero als symptomatische Reaktion auf die gegenwärtigen Reformen verstanden werden. Die Bewaffneten Revolutionären Kräfte – Befreiung des Volkes (FAR-LP) bezeichnen in ihrem Kommuniqué vom Dezember all diejenigen ausländischen Energieunternehmen als legitime „militärische Objekte“, die sich zukünftig produktiv in Mexiko niederlassen wollen. Die Echtheit der Guerilla ist in der unübersichtlichen politischen Landschaft jedoch ungewiss. Dennoch ist das öffentliche Erscheinen ausdrucksstarkes Zeichen für die soziale Anspannung, die sich im Land immer weiter ausbreitet.
Der Brisanz der Lage sind sich wohl auch die Abgeordneten und Senator_innen in der Hauptstadt bewusst. In Mexiko-Stadt, Anziehungs- und Konzentrationspunkt für unzählige öffentliche Protest- und Mobilisierungsmärsche, wurde fast zeitgleich mit der Energiereform ein neues Demonstrationsrecht verabschiedet – zynischerweise am 10. Dezember, dem internationalen Tag der Menschenrechte.
Die neue Fassung besagt, dass Demonstrationen 48 Stunden vorher angemeldet werden müssen, lediglich zwischen 11 bis 18 Uhr stattfinden dürfen, die Demonstrationsroute von den Behörden festgelegt werden kann, zentrale Verkehrsachsen nicht mehr blockiert werden dürfen und bei Verstößen gegen die öffentliche Ordnung – die Interpretation obliegt der Staatsgewalt – aufgelöst werden können. Unzählige nationale wie internationale Organisationen laufen dagegen Sturm. Amnesty International ließ gegenüber der Menschenrechtskommission der Abgeordnetenkammer verlauten, dass das neue Gesetz die freie Meinungsäußerung in Gefahr bringe und zu einem „verstärkten Einsatz übermäßiger Gewalt durch die Polizei“ führen könne. Einen gleichen Tenor schlägt das 74 Gruppen und Organisationen umfassende landesweite Menschenrechtsnetzwerk Alle Rechte für Alle (Todos los Derechos para Todas y Todos) an. Das Gesetz verstoße „gegen die Verfassung und internationale Menschenrechtsverträge.“
Mit dem neuen Demonstrationsrecht geht zugleich eine neue Welle polizeilicher Repression in Mexiko-Stadt einher. Und dies sowohl gegenüber den Demonstrierenden als auch gegenüber Medienvertreter_innen. Die unabhängige Medienorganisation Artículo 19 hat unlängst in einem Bericht festgehalten, dass die Einsatzkräfte in der Hauptstadt losgelöst von jeglichen Vorschriften gewalttätig gegen die Berichterstatter_innen vorgehen. Diese Praktiken scheinen sich seit dem Amtsantritt Peña Nietos und dem Regierungschef der Hauptstadt, Miguel Mancera von der Partei der Demokratischen Revolution (PRD), im Dezember 2012 immer mehr zu etablieren.
Die Entrüstung ist auch aufgrund der abschottenden Haltung der Politiker_innen groß. In den kalten Dezembernächten der Abstimmung zur Energiereform trennten meterhohe Metallzäune um Senat und Abgeordnetenkammer die Demonstrierenden von ihren gewählten Repräsentant_innen. Ihre Apathie gegenüber jenen, die sie scheinbar vertreten sollen, treibt die Politiker_innen dazu, sich selbst einzuschließen. In der Nacht vom 10. auf den 11. Dezember trommeln die Menschen mit Schüsseln, Steinen und Skateboards gegen den Wall vor dem Senat. Am darauf folgenden Tag schaffen es Gewerkschafter_innen einen Teil der Trennwand vor der Abgeordnetenkammer nieder zu reißen. Sogleich füllen anrückende Polizist_innen das Loch und körperliche Auseinandersetzungen beginnen.
Zwei Tage später wird am Nachmittag eine Demonstration auf Reforma, einer der Hauptverkehrsstraßen Mexiko-Stadts, abgehalten. Anlass sind die Energiereform und die 66-prozentige Erhöhung der U-Bahntickets. Unbekannte zünden plötzlich einen riesigen Coca-Cola Plastik-Weihnachtsbaum an. Dunkle große Rauchwolken steigen gen Himmel und sind noch aus einigen Kilometern Entfernung zu sehen. Sie sind Ausdruck einer tiefen Kluft zwischen Regierungspolitik und Bevölkerung.


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Wiedervereinigung auf kubanisch

„Sozialismus ist die einzige Garantie für unsere Unabhängigkeit“, mahnte der 82-jährige Präsident Raúl Castro leicht verkatert die 3.500 festlich geladenen Gäste am Rathaus von Santiago de Cuba zum Jahresbeginn. Dort hatte sein Bruder am 1. Januar 1959 den Sieg im Kampf gegen die Diktatur verkündet. In Havanna blieb der Revolutionsplatz diesmal leer und dunkel, nur die Konterfeis Che Gueveras und Camilo Cienfuegos‘ leuchteten vom Innenministerium herab. Anders auf der antiimperialistischen Tribüne am Malecón. Dort ist die Botschaft musikalisch: Meterhohe Boxen sorgen dafür, dass der Reggaeton auch Kilometer entfernt noch zu hören ist. Ein Zeichen der neuen kulturellen Hegemonie? Verschiedene Lesarten sind möglich.
Die Reden des Staatspräsidenten werden inzwischen nur noch auf einem der fünf Fernsehkanäle übertragen. Der Staat zahlt, um auch das anzubieten, was populär ist. „Wir müssen unser Gehör wieder auf den Boden richten, in Dialog mit der Bevölkerung treten“, hatte Raúl in einer anderen Rede fast hegemonietheoretisch formuliert. Öffentliche Räume und Inhalte werden neu verhandelt. Als der Jazzmusiker Roberto Carcassés im Oktober auf seinem live übertragenen Konzert von mehr direkter Demokratie sprach, wurde ihm zunächst untersagt, auf staatlichen Bühnen zu spielen. Dann schritt der renommierte Musiker Silvio Rodríguez ein, der Ende der 60er Jahre selber Auftrittsverbote erlitt, und verteidigte ihn auf seinem Blog. Das Verbot wurde zurückgenommen.
Im November verkündete die Parteizeitung Granma die Schließung der privaten, sehr beliebten 3D-Kinos wegen der dort gezeigten „Banalität“ und „niederen Kultur“. Ein Aufschrei des Publikums und vieler Intellektueller wie des Essayisten Victor Fowler folgte. Sie gestanden dem Staat das Recht der Regulierung, nicht aber der inhaltlichen Zensur zu. Kurze Zeit später war in derselben Zeitung zu lesen, die Maßnahme werde überdacht und wahrscheinlich revidiert.
Probleme werden in Kuba inzwischen offener diskutiert. Die Regierung Raúl Castros versucht, die unterschiedlichen Kulturen, die sich seit den Öffnungen, Veränderungen und Widersprüchen der 1990er Jahre ergeben haben, wieder zusammenzuführen. Und dies nicht nur in der Politik, sondern vor allem auch in der Wirtschaft.
Als Fidels Bruder Raúl 2008 zum Präsidenten gewählt wurde und der Druck einer wachsenden Mittelschicht stieg, beendete er Teile der Restriktionen, wie das Verbot für normale Kubaner_innen, Hotels zu frequentieren, Mietautos zu fahren oder Mobiltelefone zu besitzen. Die Aufhebung der Verbote sorgte zugleich für sprudelnde Staatseinnahmen. Inzwischen können auch Friseure wie Leo ihren Weihnachtsurlaub wieder in der Touristenhochburg Varadero verbringen. Leo hat bereits seinen zweiten Salon eröffnet – auf den Namen seiner Mutter, weil die Gesetzeslage bisher den Besitz auf eine Immobilie pro Person begrenzt. Einen institutionellen Rahmen auszutarieren, in dem die sozialistische Staatswirtschaft in Symbiose mit einer wachsenden Privatwirtschaft ein nachhaltiges Modell sozialer Gerechtigkeit ermöglicht, ist die Aufgabe, der sich die gegenwärtige Regierung stellt.
„Kuba legalisiert den freien Kauf von Autos“ war die Neujahrsschlagzeile 2014. Am 19. Dezember 2013 vom Ministerrat beschlossen, trat das Gesetz am 3. Januar in Kraft. Es ist Thema Nummer eins auf den Straßen Kubas. „Hast du schon die Preise gesehen?“ beginnt meist das Gespräch. „Wahnsinn!“ lautet die Antwort. Die Niederlassungen von Mercedes, Fiat und anderen internationalen Produzenten ziehen Neugierige vor die Schaufenster. Der Traum vom eigenen Auto war in Kuba mit der Revolution und dem folgenden US-Embargo in weite Ferne gerückt. 50 Jahre später ist dieser Traum „nur“ noch vom Portemonnaie abhängig. Damit bleibt es aber für die meisten vorläufig ein Traum: Lieblingsbeispiel der Kubaner ist der neue Peugeot 508, mit 262 000 CUC (etwa 191 000 Euro) veranschlagt, aber auch 51 000 CUC (etwa 37 000 Euro) für einen VW Jetta von 2010 sind astronomisch.
2013 hieß die Neujahrsbotschaft der Verzicht auf Ausreisegenehmigungen. Praktisch hatte sie für die Mehrheit der Inselbewohner_innen jedoch nur geringe Bedeutung, da für fast alle Reiseziele, die von der Insel direkt angeflogen werden, ein Einreisevisum benötigt wird. Symbolisch allerdings war es eine Errungenschaft, nicht mehr den Staat fragen zu müssen, wenn man das Land verlassen wollte. Informatiker Jorge hatte sich deshalb gleich im Januar ein teures Flugticket nach Ecuador gekauft – „nur um auszuprobieren, ob das wirklich stimmt“. Es stimmte. Sogar erklärte Regierungsgegner_innen wie Yoani Sánchez können inzwischen frei ein- und ausreisen. Das ist Teil der neuen kubanischen Normalität. Zur alten Normalität gehören politisch motivierte vor allem Kurzzeit-Festnahmen – meist für 24 bis 72 Stunden –, deren anhaltend hohes Niveau Regierungsgegner_innen gerade wieder beklagten. 2013 sollen es über 6000 gewesen sein.
Jorge ist inzwischen nach seinem Studium in Kuba nach Quito ausgewandert und plant, eine Software-Firma zu gründen. Aber auch er kann anders als früher zurückkehren und mit dem verdienten Geld seine Familie unterstützen. Bereits in Kuba hatte er für spanische Hotelketten Kontrollprogramme entwickelt, ohne offizielle Genehmigung, denn Informatiker_in steht nicht auf der Liste der 178 Berufe, die inzwischen legal in Eigenbeschäftigung ausgeübt werden können. Die fünf CUC (etwa 3,70 Euro) Stundenlohn, die er erhielt, gingen daher am Fiskus vorbei. Dem soll künftig mit der Einführung eines Steuersystems ein Riegel vorgeschoben werden.
Nach einem halben Jahrhundert steuerfreien Lebens erinnern sich nur noch die Ältesten an das republikanische – und hochkorrupte – Steuersystem vor der Revolution. Kein Wunder, dass von den inzwischen 440 000 Selbständigen – etwa ein Zehntel der arbeitenden Bevölkerung, die inoffizielle Zahl ist weitaus höher – nur rund die Hälfte überhaupt eine Steuerklärung machten. »Wir müssen erst wieder eine neue Kultur dafür entwickeln«, sagt Saira, die als Ökonomin an der Universität Havanna zu Kubas Steuersystem promoviert. Laut einer kürzlich in der Parteizeitung veröffentlichten Fallstudie für die Provinz Granma zahlen dort 92 Prozent nicht den korrekten Betrag.
Kräftiger als die Steuern fließen trotz des Embargos Gelder aus den USA. Soziologen wie der US-Amerikaner Nelson Valdés argumentieren, dass das Embargo schon deshalb aufgehoben werden müsse, weil es die exilkubanische Gemeinde ungerechtfertigt bevorteilt. Laut Valdés sind es vor allem die fast zwei Millionen Kubaner_innen in der Diaspora, insbesondere in den USA, die lukrativen Handel mit Kuba treiben, Grundstücke durch Familienangehörige erwerben und den neuen Privatsektor in Kuba wesentlich mitbestimmen. Zehn Flüge täglich bringen Unmengen an Konsumgütern auf die Insel und oftmals abgeschöpfte Gewinne zurück nach Florida. Alle anderen US-Amerikaner sind davon per Gesetz bei Strafe ausgenommen.
Kubas wirtschaftliche Prognose für 2014 ist mit 2,2 Prozent Wachstum des Bruttoinlandsproduktes bescheiden. Nachdem 2013 der Zuwachs mit 2,7 Prozent fast ein Prozent geringer ausfiel als geplant und prognostiziert, ist man diesmal vorsichtiger. Stagnation des Tourismus, allgemeine Ineffizienz, andauernde Wirtschaftssanktionen und Verzerrungen durch die doppelte Währung sind einige der Hauptprobleme, die deshalb angegangen werden.
Für 2014 befürchten Ökonomen wie Pavel Vidal einen Liquiditätsengpass, der zu weiteren Reformen führen könnte, um notwendige Aus­landsinvestitionen zu erleichtern. Zwar hat Kuba zum Jahresende erfolgreich seine historischen Schulden mit Russland neu verhandelt – und zu 80 Prozent erlassen bekommen. Nach wie vor ist die Regierung aber auf Druck der USA von zinsgünstigen Krediten des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank abgeschnitten. Deswegen kann die Karibikinsel zumeist nur sehr teure und kurzfristige Kredite bekommen.
Präsident Raúl Castro kündigte zudem die schrittweise Zusammenführung der zwei Währungen an, des kubanischen Pesos und der devisengebundenen CUC-Währung, die sein Bruder vor gut 20 Jahren als Antwort auf die Krise einführte. Pilotprojekte wurden bereits begonnen, bei denen der Wechselkurs zwischen CUC und Peso nicht mehr 1:24, sondern 1:10 ist. Schrittweise soll dies auf weitere Staatsbetriebe, dann auf Kooperativen ausgeweitet werden, bevor es für die gesamte Bevölkerung gelte, verkündete Castro in seiner Parlamentsansprache am 21. Dezember. Angekündigt sind für dieses Jahr zudem spürbare Gehaltserhöhungen, zunächst im Gesundheits- und Bildungssektor, dann auch darüber hinaus.
Mit venezolanischer, chinesischer, aber auch brasilianischer Hilfe wurden zudem wichtige Infrastrukturprojekte begonnen, wie der etwa 50 Kilometer westlich von Havanna gelegene Containerhafen von Mariel, der als Freihandelszone für Auslandsinvestitionen und inländische Beschäftigung sorgen soll. Ein erster Teil der Zone soll von Brasiliens Präsidentin Dilma Roussef und Raúl Castro im Rahmen des zweiten Gipfeltreffens der Gemeinschaft lateinamerikanischer Staaten CELAC Ende Januar eröffnet werden.
Außenpolitisch ist Kuba weiter auf Erfolgskurs. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen verurteilt – folgenlos – seit mehr als zwei Jahrzehnten mit überwältigender Mehrheit das Embargo der USA, das seit einem halben Jahrhundert die kubanische Wirtschaft drangsaliert. Kuba führte das CELAC-Präsidium und leitet erfolgversprechende Friedensverhandlungen zwischen der FARC-Guerilla und der kolumbianischen Regierung in Havanna. Die CELAC-Staaten haben bereits angekündigt, dass ein weiteres Gipfeltreffen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ohne das seit 1962 auf Betreiben der USA ausgeschlossene Kuba weitgehend boykottiert würde. Vielleicht auch deshalb sagte ihr Generalsekretär José Miguel Insulza seine Teilnahme am CELAC-Treffen in Havanna zu. Das Jahr 2014 könnte also mehr als nur zwei Währungen wieder zusammenführen.


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Grün ist die Hoffnung

Die Welt richtete am vergangenen 10. Dezember die Augen auf Uruguay. Der Anlass war kein geringer: Der kleine südamerikanische Staat hatte beschlossen, das weltweit erste Land zu werden, das eine umfassende Regulierung zur Legalisierung von Cannabis vorantreibt. Am Ende der Sitzung stimmten die uruguayischen Senator_innen mit 16 zu 13 Stimmen für die Gesetzesvorlage.die die Regierung im Juni 2012 überraschend eingebracht hatte. Damit hat das Gesetz nun die letzte Hürde übersprungen.

Auch wenn die Details der Verordnung erst Anfang April bekannt gegeben werden sollen, sind die Grundlagen des neuen Modells bereits festgelegt. Die Konsument_innen haben künftig drei Möglichkeiten, um an Cannabis zu gelangen: Zum einen auf individuelle Weise, bei der der Besitz von bis zu sechs Pflanzen und eine jährliche Ernte von bis zu 480 Gramm erlaubt ist. Oder gemeinschaftlich, über die Teilhabe an einem Klub, der zwischen 15 und 45 Mitglieder haben kann. Ein Klub kann bis zu 99 Pflanzen besitzen, dabei darf die jährliche Gesamtmenge pro Mitglied nicht 480 Gramm überschreiten. Die dritte Möglichkeit ist der Erwerb von bis zu 40 Gramm pro Monat in einer der Apotheken, die dem Vertriebsnetz angehören. Die uruguayische Staatsbürgerschaft ist allerdings Pflicht für diese Privilegien.

Das Gesetz war nach einem diskussionsreichen Jahr inner- und außerhalb der Regierungspartei, der Allianz Breite Front (Frente Amplio/ FA), zustande gekommen. Anfangs beschränkte sich der Vorschlag der Regierung darauf, ein staatliches Monopol zu schaffen, dem die komplette Produktionskette unterliegen sollte. Dabei war zunächst keine Möglichkeit des Eigenanbaus vorgesehen. Schon seit Jahrzehnten jedoch wird das Recht auf persönlichen Konsum anerkannt, sodass auch im Abgeordnetenhaus Modelle zur Entkriminalisierung des Eigenanbaus diskutiert wurden. Nach einer intensiven Debatte mit reger gesellschaftlicher Beteiligung gewann das Projekt an Komplexität. Über alle möglichen Varianten des Zugangs wurde nachgedacht: „Die Anbauklubs haben zum Beispiel eine kooperativistische Vision. Hierbei beteiligt sich jeder je nach seinen finanziellen Möglichkeiten und seinem Wissen hinsichtlich der Pflanzen und der Anbaumethoden“, erklärt der Cannabisaktivist Julio Rey, Mitglied des kürzlich gegründeten Nationalen Verbandes der Hanfanbauer_innen Uruguays. Diese Organisation soll die uruguayischen Anbauer_innen vereinen, die sich als Kollektiv an der Produktion für das Apothekennetz beteiligen wollen. So soll eine Vision der sozialen Entwicklung und Umverteilung der Gewinne auf dem neuen grünen Markt eingeschlossen werden.

Für den Verkauf von Cannabis in den Apotheken wird der Staat über das Institut zur Regulierung und Kontrolle von Cannabis (IRCCa) Lizenzen an Produzent_innen vergeben, die unter staatlicher Aufsicht Marihuana anbauen. Der psychoaktive Wirkstoff THC wird in diesen Pflanzen auf einen niedrigen Standardgehalt festgesetzt. Statt auf ambulante Ausgabestationen setzt die Regierung auf Apotheken, da das bereits existierende Netz auf wirtschaftlichere und effizientere Weise die Probleme von Strukturen, Arbeitskräften, Software und Logistik lösen kann. „Letztlich sind es die Apotheken, die sowohl die legale Berechtigung haben, Drogen auszugeben, als auch geschultes Personal, um mit den Personen zu reden, die sie benutzen,“ argumentierte der FA-Abgeordnete Sebastián Sabini, der sehr stark an der Ausarbeitung des Gesetzes beteiligt war. Die Konsument_innen, die ihre monatlichen 40 Gramm kaufen wollen, müssen sich als solche registrieren lassen. Dies war einer der umstrittensten Punkte: Während die Konsument_innenorganisationen argumentierten, dass die Registrierungen zur Verfolgung der Konsument_innen genutzt werden könnten, waren staatliche Stellen der Meinung, dass ohne diese Maßnahme eine Kontrolle der Legalität des Marihuanas unmöglich wäre. Man einigte sich schließlich auf die Schaffung eines „freiwilligen, verantwortungsbewussten Registers“ das – auch wenn die genauen Details bislang noch nicht festgelegt sind – die Identität der Konsument_innen schützen soll.

Die individuellen Anbauer_innen hingegen sollen ihre Pflanzen registrieren lassen und Samen anbauen, die durch das IRRCa geprüft sind. Für den Fall, dass jemand eine neue Sorte anbauen will, muss er die entsprechenden Samen dem Institut zur Prüfung vorlegen. Die Konsument_innen wiederum, die einen Klub gründen wollen, müssen eine Adresse für Anbau und Lagerung angeben; für den Fall, dass sie jemanden mit dem Anbau beauftragen wollen, muss sich diese Person vorschriftsmäßig registrieren lassen.

Zusätzlich zu den Kontrollen wird der uruguayische Staat aus den Steuereinnahmen von Verkauf und Produktion des Cannabis Präventionskampagnen finanzieren, die von den Bildungsbehörden durchgeführt werden sollen. Alle Kampagnen werden der Prämisse folgen, mögliche Schäden zu begrenzen. Damit einher geht das Ende der bisherigen Logik der kompletten Abstinenz, die die Anzahl der Konsument_innen nicht verringern konnte. Zudem sollen den Konsument_innen ambulante Gesundheitszentren zur Verfügung stehen. Immer noch weit entfernt von einer wirklichen liberalen Drogenpolitik, weist der uruguayische Weg spezifische Verbote auf. Darunter fallen der Verkauf an unter 18-jährige und kommerzielle Werbung für Cannabis. Auch das Führen eines Fahrzeugs oder die Bedienung von Maschinen unter Marihuanaeinfluss soll bestraft werden. Streng genommen hat Uruguay Marihuana gar nicht legalisiert. In der parlamentarischen Debatte wiesen die Abgeordneten der Regierungspartei FA ausdrücklich darauf hin, dass die neue Gesetzgebung darauf abzielt, dem Staat zu erlauben, einen Markt innerhalb eines regionalen Rahmens zu schaffen, in dem weiterhin eine prohibitionistische Politik vorherrscht. Im Kern folgt die Strategie einer Logik geteilter Märkte, wie sie bereits in anderen Ländern erprobt wurde. Aber – und das ist der revolutionäre Aspekt des uruguayischen Vorschlags – wird eine Entkriminalisierung der Konsument_innen und Produzent_innen angestrebt. Das Recht auf persönlichen Konsum wird nun vollständig anerkannt, indem die Beschaffung von Marihuana auf legale Weise ermöglicht wird. Aus rechtlicher Sicht wird in Uruguay so eine juristische Inkohärenz beendet: Wenn der Konsum als Recht verstanden wird, können Besitz und Erwerb nicht verboten sein.

Pedro Bordaberry, Senator der oppositionellen Colorado Partei, bot den internationalen Medien ein Highlight der Gesetzesdebatte, indem er versuchte, die Anerkennung von Rechten als liberale Wirtschaftspolitik auszugeben:„Früher haben sie mit Che für die Verteilung von Land demonstriert, heute marschieren sie mit Rockefeller und Soros für Marihuana.“ (Die US-amerikanischen milliardenschweren Investoren David Rockefeller und George Soros gelten als Unterstützer der Marihuana-Liberalisierungskampagne, Anm. d. Red.) Der übereifrige Protektionismus der Opposition erlaubte den Senator_innen der FA sich einem Punkt zuzuwenden, den auch viele Sympathisant_innen der Pflanze mit Argwohn betrachten. „Das ist kein weiches Gesetz zur Legalisierung“, schaltete sich Ernesto Agassi von der FA ein, „sondern ein Gesetz, das ermöglicht, die kommerziellen Märkte zu kontrollieren.“ Derselben Linie folgte der regierungsnahe Senator Luis Gallo, der nachdrücklich darauf hinwies, wie wichtig es sei, das neue Gesetz als Zwischenlösung von totalem Verbot und Legalisierung zu verstehen. Senator Roberto Conde, ebenfalls von der FA, versicherte hingegen, dass man in Uruguay nicht die Schaffung eines Marktes anstrebe. Vielmehr versuche die Regierung durch die Gestattung von Eigenanbau das Recht auf Selbstversorgung zu unterstützen. In diesem Sinne sei der Verkauf eine Ergänzung, um das Recht auf regulierten Zugang zu Cannabis außerhalb der ganzen illegalen Struktur zu gewährleisten.

Um die Tragweite des neuen Gesetzes zu verstehen, bedarf es eines Blickes auf den Status quo: Illegale Drogen haben in den letzten Jahrzehnten einen enormen internationalen Markt geschaffen. In dem Handelssystem aus Produktions- und Konsumländern hat es Lateinamerika am Schlimmsten getroffen. Aus Gründen, die klimatische, politische und ökonomische Aspekte umfassen, ist die Region zum Hauptpol von pflanzlichen Drogen geworden. Der Drogenhandel, speziell im Fall des Kokains, hat ganze Länder in tiefe Krisen geführt und bedroht deren staatliche Souveränität. Die illegalen Netze aus Produktion und Vertrieb verwenden einen beträchtlichen Teil ihrer Einnahmen zur Zahlung „illegaler Steuern“. Im Falle von Mexiko und Kolumbien haben sie es gar geschafft, staatliche Strukturen zu korrumpieren und kooptieren sowie ganze Landesteile zu kontrollieren. Die Existenz dieser kriminellen Netze rechtfertigt gleichzeitig die Durchsetzung von Drogengesetzen, die – besonders in Ländern, die geopolitisch für die USA von Relevanz sind – bereits oft zur Intervention von ausländischen Geheimdiensten und Militärs führten. Außerdem machten die USA ihre ökonomische Hilfe von der Ausweitung prohibitionistischer Politik abhängig. Auch in Ländern ohne eigene Produktion oder mit geringer Bedeutung für den internationalen Drogenmarkt war die Bilanz der Drogenpolitik negativ: Einhergehend mit dem Krieg gegen die Drogen konstruierte man eine juristische Logik, die die Abhängigen mit Kriminellen gleichsetzte und den Konsum und/ oder den Besitz von Drogen für den persönlichen Gebrauch bestrafte. Dies förderte eine repressive Strategie, die den gleichen Sicherheitskräften, die während den Diktaturen für die interne Repression zuständig waren, erlaubte, ihre Aufmerksamkeit nun auf die Kriminalisierung von Drogenkonsument_innen und mulas zu konzentrieren. Die mulas (Drogenkuriere) sind in ihrer Mehrheit Frauen aus ärmeren Bevölkerungsschichten, die dazu benutzt werden, die Grenzen mit dem Körper voller Kokainpäckchen zu überqueren. Das Resultat waren überfüllte Gefängnisse, eine überlastete Justiz und eine Gefährdung der Gesundheit der Konsument_innen. Ursache war eine Logik, die die Entwicklung eines spezifischen Gesundheitssystems für Verbraucher_innen mit problematischem Konsum unmöglich machte, da der Staat die Konsument_innen als Teil des organisierten Verbrechens betrachtete. Derweil sind die Behörden der Staaten selbst an mit dem Handel zusammenhängenden Straftaten sowie dem Verkauf der illegalen Drogen beteiligt.

Uruguay gehört zu der Gruppe von Ländern, die nicht selbst produzieren, und folgte bis dato derselben prohibitionistischen Strategie. Daher kann die Entscheidung, den Markt für Marihuana zu regulieren, als Teil einer verantwortlichen und souveränen Politik verstanden werden. In Uruguay beinhaltet dieser 70 Prozent der Drogenkonsument_innen. „Die weltweite Drogenproblematik hat eine Dimension erreicht, die die Bühnen der multilateralen Diplomatie überschreitet“ bekräftigte der Senator Roberto Conde während der Gesetzesdebatte. „Unser Land hat die Möglichkeit, Maßnahmen zu ergreifen, die seine Gesellschaft beschützen und verbessern; es hat kein Recht diese aufzuschieben und so neue Generationen in der Hoffnung auf einen größeren internationalen Konsens in Gefahr zu bringen.“

Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Der Chef des Internationalen Suchtstoffkontrollrats, Raymond Yans, diskreditierte die Entscheidung Uruguays als „Piraten-Attitüde“. Derweil tauschten sich Minister_innen, Drogenbeauftragte und Kanzler_innen aus Brasilien, Bolivien, Argentinien, Ecuador und Guatemala über ihre Gemeinsamkeiten und Differenzen aus, aber in allen Fällen erkannten sie den souveränen Charakter der Entscheidung an. Die Umsicht derjenigen, die mit der Maßnahme nicht einverstanden sind, und die offene Unterstützung derjenigen, die diesen Schritt als notwendige Aktion verstehen, zeugen davon, dass in Uruguay derzeit eine neue regionale Diskussion angestoßen wird. Es reicht die Tatsache, dass nun eine Möglichkeit besteht, die bis vor kurzem undenkbar schien: dass ein Staat den Krieg gegen die Drogen beenden kann und eine Alternative sucht, die tatsächlich gerecht, human und effektiv ist.


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// Vorfahrt für Konzerne

Freie Fahrt für Daimler: In den USA muss der deutsche Automobilkonzern keine Strafe wegen seiner Verwicklung in die Verbrechen der argentinischen Militärdiktatur mehr befürchten. Der Oberste Gerichtshof der USA lehnte Mitte Januar in letzter Instanz eine Klage ab. Nicht weil die Richter_innen an der Verstrickung von Daimler über seine Tochter Mercedes-Benz Argentina zweifelten – sie ignorierten sie –, sondern weil sie sich wegen des Territorialprinzips für nicht zuständig erklärten. Verbrechen sollten gefälligst dort juristisch geahndet werden, wo sie stattfinden.

Was prima vista nachvollziehbar klingt, ist juristisch keinesfalls unumstritten. Im selben Land, den USA, auf der Grundlage desselben Rechtssystems, hatte das Berufungsgericht in Kalifornien in derselben Sache 2011 entgegengesetzt geurteilt: Die US-Justiz sei sehr wohl zuständig. Richter Stephen Reinhardt hatte argumentiert: Wer in den USA Geschäfte mache, müsse sich weltweit an die US-Gesetze halten. Folter und Entführungen in Argentinien seien demnach inakzeptabel. Die USA hatten unbestritten auch während der argentinischen Militärdiktatur jede Menge Fahrzeuge von Mercedes-Benz Argentina importiert – Fahrzeuge, an denen Blut kritischer Gewerkschafter klebte. Mindestens 14 Betriebsräte sind laut den 22 argentinischen Kläger_innen in den Jahren 1976 und 1977 in der Niederlassung von Daimler verschwunden – bis heute. Aussagen eines überlebenden Folteropfers, Héctor Ratto, und detaillierte Recherchen der Journalistin Gaby Weber belegen die Komplizenschaft von hochrangigen Daimler-Angestellten mehr als nachdrücklich.

Richter Reinhardt hatte sich im Gegensatz zum Obersten Gericht auf das Weltrechtsprinzip berufen. Das besagt, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor jedem Gericht der Welt belangt werden können. Die Frage, warum es nicht auch gegen Unternehmen angewandt werden kann, ließ das Oberste Gericht offen. Dabei ermöglichte eine Besonderheit des US-Rechtssystems, der Alien Tort Claims Act (ATCA) von 1789, längst vor dem Weltrechtsprinzip die Ahndung von Völkerrechtsverletzungen außerhalb der Landesgrenzen. Der ATCA wurde geschaffen, damit die USA gegen Akte der Piraterie vorgehen konnten, die eigenen Wirtschaftsinteressen zuwiderliefen.

Es ist offensichtlich: Der Oberste Gerichtshof will es sich mit Multis nicht verderben, die in den USA Geschäfte machen und damit dort auch für Beschäftigung und Einkommen sorgen. Profite haben allemal Vorrang vor Menschenrechten. Im April 2013 scheiterten Nigerianer_innen mit ihrer Klage gegen den Ölkonzern Shell, der für Menschenrechtsverstöße im Niger-Delta verantwortlich ist. Das Argument des Obersten Gerichtes: Territorialprinzip. Im Dezember 2013 scheiterten Apartheid-Opfer aus Südafrika mit ihrer Klage gegen Daimler. Das Argument: Territorialprinzip. Nun sind es Diktatur-Opfer aus Argentinien.
Profit um jeden Preis: Diese Geschäftsgrundlage zahlt sich für Daimler und die anderen Multis bei einer solchen Rechtsprechung nach wie vor aus.

Profit um jeden Preis: Das ist auch die Devise nach der Hedgefonds wie NML Capital verfahren. Der hat argentinische Staatsanleihen rund um die Krise 2001/2002 zum Schrottwert auf dem Sekundärmarkt aufgekauft, um in den USA auf die Bedienung zum Nominalwert von 100 Prozent plus Zinsen zu klagen (siehe LN 468). Der New Yorker Bezirksrichter Thomas Griesa urteilte im November 2012 „Argentinien ist das schuldig, und es schuldet das jetzt.“ Müsste Argentinien zahlen, wäre ein erneuter Staatsbankrott mit all seinen sozialen Folgen à la 2001/2002 programmiert. Der Fall ist noch nicht letztinstanzlich entschieden. Das von Argentiniens Regierung angerufene Oberste Gericht in den USA sah sich bisher nicht bemüßigt, sich mit diesem Fall auch nur zu befassen. Argentinien ist schließlich kein für die USA wichtiger Konzern.


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„Es geht um indigenes Land“

Die brasilianische Regierung erarbeitet derzeit ein neues Rahmengesetz für Bergbau. Was bedeutet dies für die Tapajós-Region, in der Sie leben?
Das Gesetz wäre eine Katastrophe. Nicht nur für die Tapajós-Region, sondern für den ganzen westlich gelegenen Teil des amazonischen Bundesstaats Pará. Denn das ist die Region, die das Herzstück für den Mineralbergbau bildet. Dort gibt es alles: Bauxit, Gold, Mangan, Kalk, Phosphat. In der Nähe gibt es zudem Uran und Blei – all diese Mineralien stehen im gierigen Fokus der Bergbaukonzerne. Die üben mächtigen Druck auf die Regierung aus, die ganzen Bergbauanträge endlich zu bewilligen und die Förderlizenzen zu erteilen. Im Fokus stehen letztlich vor allem die indigenen Territorien. Dort liegt der Kern dieses neuen Bergbaugesetzes: Und die Regierung willigt ein.

Wie reagieren die Indigenen?
Sie wissen, dass die Konsequenzen dieses neuen Bergbaugesetzes weitaus schlimmer sein werden, als alles, was wir bisher erlebten. Das wird das Einfallstor in die indigenen Territorien.

Die Umweltorganisation ISA hat errechnet, dass derzeit 4.220 Bergbaukonzessionsvorhaben allein für indigenes Territorium beantragt sind. Was werden die Indigenen davon haben?
Sie werden schon etwas davon haben: Und zwar das, was die Indigenen vor 500 Jahren bekamen. Die Portugiesen gaben ihnen Töpfe, Glasperlen und anderes Glitzerzeug. Heute ist es im Prinzip nicht anders. Ihnen wird ein Anteil versprochen, aber der wird ein Bruchteil dessen sein, was die Konzerne da abschöpfen.
Nehmen wir den Fall der kanadischen Bergbaufirma Belo Sun Mining Corporation. Gerade heute kam die Meldung, dass ein Bundesrichter die Umweltgenehmigung für das „Belo Sun“-Gold-Projekt am Xingu-Fluss in direkter Nachbarschaft zum Belo Monte-Staudamm vorerst gestoppt hat. Was will Belo Sun dort? In den nächsten zehn Jahren wollen sie dort 50 Tonnen Gold fördern. Was geht da vor sich? Die Regierung lässt den Staudamm Belo Monte bauen, die große Flussbiegung der Volta Grande zu 80 Prozent trockenlegen, dann kommen sie da leichter an das Gold heran. Und zum Trennen des Goldes nutzen sie Zyanid – höchst giftig.

Also handelt die Justiz doch?
Die Staatsanwaltschaft hat Klage eingereicht und der zuständige Richter hat dem gerade stattgegeben. Aber wir wissen, wie die Macht eines solchen Konzerns aussieht. Wir wissen, was da alles hinter den Türen abläuft. Wir vertrauen heute in Brasilien weder dem Nationalkongress, noch der Präsidentin oder dem Justizwesen. Allein im Falle Belo Monte sind 20 Klagen der Bundesstaatsanwaltschaft gegen die Zulässigkeit des Projektes anhängig – und die schmoren in einer Schublade bei den zuständigen Gerichtshöfen.
Ich pflege zu sagen: Da wir heutzutage in einer Diktatur des Kapitals leben und die Regierung aus Brasilien die fünftgrößte Wirtschaftsmacht der Welt zu werden gedenkt, muss man nach dieser Logik exportieren. Und Mineralien sind in diesem Sinne wertvolle Bodenschätze. In der erträumten Exportbilanz sind sie das Filetstück.

Vor den Juni-Demonstrationen gab es bereits massive Proteste von Indigenen, die in Brasília den Kongress stürmten. Was waren der Anlass und die Hintergründe?
Die brasilianische Verfassung garantiert den Indigenen ihr Recht auf ein eigenes Territorium. Aber die Großfarmer und die Firmen des Agrobusiness wie auch die Bergbaukonzerne üben massivsten Druck aus, um die Territorien zu verkleinern. Und weil die Diktatur des Kapitals anhält, so wird ihnen auch die Regierung weiterhin zu Willen sein. Dies erleben die Guarani-Kaiowá im Bundestaat Mato Grosso do Sul tagtäglich. Sie fristen dort ihr Dasein am Straßenrand, erniedrigt, ohne Zugang zu Land. Und dies, weil die Vorgängerregierungen das Land an die Farmer vergaben und die jetzige Regierung an das Thema nicht heran will, um es sich nicht mit der Großgrundbesitzerlobby zu verscherzen. So eiert die Regierung herum, während die Guarani-Kaiowá am Straßenrand sterben.
Aber in den vergangenen Monaten haben sich die Indigenen auf nationaler Ebene zusammengeschlossen, um für ihre Rechte zu kämpfen. Das ist etwas, was mich sehr glücklich macht. Sie haben den Kongress gestürmt sowie dem Kongress und der Präsidentin ihre Forderungen gestellt: „Dies sind die Rechte, die uns die Verfassung zuschreibt. Und wir verlangen, dass diese eingehalten, respektiert und umgesetzt werden!“

Dieses Jahr ein neues Rahmengesetz für den Bergbau, im vergangenen Jahr ein neues Gesetz für den Wald. Und nun soll auch noch der Indigenenbehörde FUNAI die Kompetenz über die Demarkation indigenen Territoriums entzogen werden. Was steckt dahinter?
Dies ist alles der gleiche Prozess: es geht darum, den Indigenen ihre Rechte zu entziehen und die Interessen der Großgrundbesitzer zu befriedigen. Es geht ums Land. Noch obliegt die Entscheidung über die Demarkation direkt der Präsidentin und die FUNAI bereitet den ganzen Entscheidungsprozess vor, lässt die Studien erstellen und so weiter. Und der brasilianische Nationalkongress blieb von diesem Prozess ausgeschlossen. Aber die Großgrundbesitzerfraktion im Kongress übt auch hier Druck aus, um die Rolle der FUNAI zu schwächen. An Demarkationen soll künftig der Kongress beteiligt werden, ebenso wie die staatliche Agrarforschungsinstitution EMBRAPA und die beiden für Landwirtschaftsfragen zuständigen Ministerien. All dies ist ein Schachzug, um die Rechte der Indigenen auszuhöhlen. Und Dilma Rousseff will nicht die Stimmen dieser Fraktionen im Kongress verlieren, also beugt sich ihre Regierung den Interessen der Großfarmer, der Agrarkonzerne und der Bergbaukonzerne.

Reden wir zum Abschluß über Ihre Region, den Tapajós. Was sind hier die Pläne Brasílias?
Allein am Tapajós-Fluss plant die Regierung Dilma den Bau von sieben Wasserkraftwerken. An den beiden Zuflüssen, die sich zum Tapajós vereinen, sind weitere elf Staudämme geplant: acht am Juruena und drei am Teles Pires. Einer wird am Teles Pires bereits gebaut. Zusammen sind das 18 Wasserkraftwerke. Was bedeutet das? Schauen wir uns die Staustufe an, die Santarém am nächsten gelegen ist. Allein die geplante 36 Meter hohe Staumauer erzeugt einen Stausee von 730 Quadratkilometern. Im Tapajós-Gebiet sollen 10.000 Hektar des Nationalparks geflutet werden. Ein Irrsinn, den Dilma Rousseff mit dem Kugelschreiber löste. Die brasilianische Verfassung schreibt vor, dass jeder Nationalpark unantastbar ist, aber sie hat im Januar 2012 ein Dekret unterzeichnet, das den Nationalpark genau um das zu flutende Gebiet verkleinert. Und so löst man das dann: mit einem Kugelschreiber.

Diese Staudammpläne lösen bei den Munduruku am Tapajós massive Proteste aus. Angesichts der Massenproteste im Juni wollte die Regierung wohl keinen weiteren Konfliktherd und kündigte zunächst an, die Baupläne am Tapajós nicht weiter zu verfolgen. Die Munduruku feierten. Doch dann erklärte Brasília, die Tapajós-Wasserkraftwerke 15 Prozent größer bauen zu wollen. War der kurzzeitige Rückzug ein abgekartetes Spiel?
Das war die Taktik des Krieges. Denn die Munduruku hatten in Jacareacanga auf ihrem Gebiet fünf Forscher festgesetzt. Die Regierung entsandte Militäreinheiten und sagte gleichzeitig, falls die Forscher freigelassen werden, dann stoppen wir die Untersuchungen vor Ort. Dies lief dann so – aber fünf Tage später waren alle Forscher wieder vor Ort, diesmal in Begleitung der Einsatzkräfte des Heeres, die für „Sicherheit“ zuständig sind. Alles Kriegstaktik. In Bezug auf die Regierung trifft ein Satz den Kern ihres Denkens und Handelns. Dilma sagte einmal: „Was getan werden muss, muss getan werden.“ So gibt es keinen Dialog.

Die ILO-Konvention 169 zum Schutze indigener Völker schreibt den Dialog aber vor und Brasilien hat die Konvention 2004 ratifiziert…
Die ILO-Konvention 169 schreibt die freie, vorherige und informierte Konsultation der betroffenen Indigenen vor. Dies ist ja auch der Grund, warum die Bundesstaatsanwaltschaft 20 Klagen gegen Belo Monte eingereicht hat. Aber die brasilianische Regierung behilft sich seit Jahren mit einem Trick und der besteht in den zwei kleinen Worten: „nicht bindend“. Die ILO-Konvention 169 schreibt die Konsultation mit dem Ziel vor, ein Übereinkommen oder einen Konsens mit den Indigenen zu erzielen. In Brasilien führen sie da ein paar Anhörungen durch, aber de facto machen sie, was sie wollen, denn sie interpretieren die Konsultationen als „nicht bindend“.
Und das ziehen sie durch: Das haben sie am Rio Madeira mit den Staudämmen Santo Antonio und Jirau so gemacht, das machen sie am Xingu mit Belo Monte und am Teles Pires auch – und die am Tapajós werden die nächsten sein. Und wenn dann alles fertig gebaut ist und irgendwann in der Zukunft die Klagen der Bundesstaatsanwaltschaft zur nicht erfolgten Konsultation der betroffenen Indigenen auf dem Tisch des Obersten Gerichtshofs liegen, dann wird die Regierung vor dem Obersten Richter sagen, ,Ja, das ist schwierig, wissen Sie, wir haben da einen Formfehler begangen…’, aber die Staudämme stehen dann fertig gebaut in der Landschaft herum. Als vollendete Tatsache.

Infokasten:

Padre Edilberto Sena,
71, hat 2009 die Widerstandsbewegung Movimento Tapajós Vivo ins Leben gerufen und setzt sich mit dieser gegen die zunehmende Inwertsetzung Amazoniens ein: gegen Sojabarone und -konzerne, gegen Staudammprojekte der Regierung in der Region und gegen die Erteilung von neuen Bergbaulizenzen.
Er ist verantwortlich für das Rádio Rural de Santarém und erreicht mit seiner wöchentlichen Sendung über soziale und politische Fragen, zur Region, Umwelt und Menschenrechten, 50.000 Hörer_innen. Rádio Rural ist vor allem bei weit abgelegen wohnenden Indigenen und Flussanwohner_innen beliebt.
Padre Edilberto Sena studierte Theologie und Philosophie in Brasilien und in den USA, wurde 1972 zum Priester geweiht und versteht sich als Befreiungstheologe. Geboren wurde er 1942 mitten in Amazonien, im brasilianischen Bundesstaat Pará. Er lebt in Santarém, dort wo der Rio Tapajós in den Amazonas mündet.


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„Fürchterliche Kaltherzigkeit nicht nur der Behörden“

Wie kam es dazu, dass der Franziskaner-Orden eine Herberge für Migrant_innen betreibt?
Die Herberge gibt es seit April 2011, aber das Projekt der Franziskaner besteht bereits seit 1995. Es begann damit, dass die Nationale Migrationsbehörde eine Razzia in Tenosique durchführte. Die damals noch bewaffneten Beamten führten Kontrollen im ganzen Land durch, um Migranten festzunehmen. Einige Migranten flüchteten in die Kirche der Franziskaner. Dabei hielt sich ein Migrant am Altar fest. Als ihn die Beamten entdeckten, zogen sie ihn mitsamt Altar bis zur Mitte der Kirche. Ein Franziskaner schritt ein und lieferte sich ein heftiges Wortgefecht mit den Beamten, die die Migranten letztendlich in der Kirche ließen. Durch diesen Vorfall beschlossen die Franziskaner, eine Versorgung für die Migranten einzurichten.

Welche Bedeutung hat der Name der Herberge „La 72“?
Wir hatten uns entschlossen, eine neue Herberge in der Nähe der Schienen des Güterzuges zu errichten. Ungefähr anderthalb Monate, nachdem wir ein Grundstück gefunden hatten, ereignete sich das Massaker an 72 Migranten in San Fernando, im nördlichen Bundesstaat Tamaulipas (24. August 2010, Anm. d. Red.). Das Massaker hat uns sehr betroffen gemacht. Der Name der Herberge soll an die Tragödie erinnern. Damals fingen wir gerade an, Kontakte mit den Patern Alejandro Solalinde und Pedro Pantoja zu knüpfen, die in Oaxaca und Coahuila Herbergen leiten. Schon zuvor hatten sie die Menschenrechtsverletzungen an Migranten bei der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte angezeigt. Die Regierung hatte ihren Berichten widersprochen. Doch mit dem Massaker war es unmöglich geworden, die Situation weiter zu verdecken.

Tomás González Castillo
Der Franziskaner-Pater Tomás González Castillo lebt seit 2011 in Tenosique im südöstlichen Bundesstaat Tabasco. In der Kleinstadt nahe der guatemaltekischen Grenze baute er in nur eineinhalb Jahren die Herberge für Migrant_innen „La 72“ auf, die an einer der Hauptmigrationsrouten in die USA liegt. Dort bekommen die Migrant_innen einen Schlafplatz, Essen, medizinische Versorgung und werden auf die Gefahren der Weiterreise vorbereitet. Durchschnittlich kommen 70 Migrant_innen pro Tag in die Herberge, um von dort aus den 3.000 Kilometer langen Weg in die USA anzutreten. Sie versuchen, in Tenosique auf einen der Güterzüge zu gelangen, die an die mexikanische Nordgrenze fahren. Die Mehrzahl der Migrant_innen stammt aus Zentralamerika. Jedoch empfängt die Einrichtung auch Menschen aus Südamerika sowie vermehrt aus der Dominikanischen Republik, Ghana und dem Kongo. Im September wurde Tómas González der Menschenrechtspreis Gilberto Bosques der deutschen und der französischen Botschaft verliehen. Er widmete den Preis Alberto Patishtán, der nach 13 Jahren Haft als politischer Gefangener im Oktober von der mexikanischen Regierung begnadigt wurde (siehe LN 474).

Wie ist die Situation der Migrant_innen, die in die Herberge kommen?
Die Mehrzahl ist aus Zentralamerika und sucht nach besseren Lebensbedingungen in den USA. Die meisten machen diese Erfahrung zum ersten Mal, andere hingegen nehmen den Weg bereits zum zweiten, dritten oder vierten Mal auf sich. Viele wissen nicht, dass die USA nicht mehr das Paradies sind, auf das vorherige Generationen noch gestoßen waren. Wir nehmen zudem viele Menschen auf, die aus den USA abgeschoben wurden. Sie kehren dennoch zurück, weil es für sie in Zentralamerika keine Perspektive mehr gibt. Sie kennen dort niemanden mehr oder haben ihre Familie in den USA.

Was ist mit denen, die als Flüchtlinge um Asyl bitten?
Viele Migranten kommen ja gerade wegen der untragbaren kriminellen Gewalt in ihren Herkunftsländern, daher beantragen sie auch Asyl. Als wir zu Beginn unserer Arbeit Migranten zur Migrationsbehörde begleitet haben, wurde auch noch vielen Asyl gewährt. Aber die Gesetzgebung sowohl für Migration als auch für Flüchtlinge ist sehr willkürlich. Es kann wirklich keiner herausfinden, warum die einen Asyl bekommen, andere hingegen nicht. Gerade bei den abgelehnten Fällen ist es aber aus unserer Sicht besonders dringend, dass Asyl gewährt wird.

Wie sieht die Arbeit in der Herberge konkret aus?
Wir haben unsere Arbeit unter sehr schwierigen Bedingungen begonnen: Es gab weder Schlafräume noch Toiletten, aber es kamen immer mehr Menschen zu uns.
So haben wir aus der Not heraus immer weiter Blechhütten und Latrinen gebaut und improvisiert. Unterstützung erhalten wir von verschiedenen Institutionen. Der größte Teil kommt von der katholischen Kirche – nicht in Form von Geld, sondern durch Güter, die wir für die Versorgung der Migranten benötigen: Küchengeräte, Matratzen, Verbandsmaterial und so weiter.
Jeden Tag geht einer der Ordensbrüder oder ein Freiwilliger zum Markt, um Spenden zu erbitten. Die Grundnahrungsmittel wie Mais oder Nudeln werden uns gespendet. Darüber hinaus zeigen wir Gewaltverbrechen und weitere Menschenrechtsverletzungen an, welche die Migranten, die zu uns kommen, erleiden. Wir haben Frauen aufgenommen, die vergewaltigt wurden, sie hatten ihre zerrissene Kleidung noch an. Ich selbst habe mehrere Massenentführungen, die am helllichten Tage in Tenosique stattfanden, anzeigen müssen.

Wer war für die Entführungen verantwortlich?
Das Organisierte Verbrechen – sicherlich steht in vielen Fällen das Kartell der Zetas dahinter. Als Beweise habe ich die Aussagen von den Migranten, die zu uns kamen. Eine Entführung hat mich sehr betroffen gemacht: Wir wollten gerade einen Gottesdienst beginnen, als zwei Männer aus El Salvador auftauchten, die eine Frau aus Honduras trugen. Wir haben sie sofort mit dem Auto ins Krankenhaus gebracht. Aber dort wollte man sie nicht aufnehmen, weil sie „illegal“ sei. Es ist eine fürchterliche Kaltherzigkeit nicht nur bei den Behörden, sondern auch in den Krankenhäusern – wo doch davon ausgegangen wird, dass sie aus Menschlichkeit jeden Notfall behandeln müssten.

Wissen Sie mehr über den Fall?
Bei uns sagt man: Mit dem Schlechtesten, was du dir ausmalen kannst, liegst du genau richtig. In diesem Fall war es offensichtlich, dass die Migrationsbehörde mit der Organisierten Kriminalität zusammengearbeitet hat. Angestellte der Migrationsbehörde hatten den Zug kurz nach Tenosique angehalten, um Migranten festzunehmen. In dem Zug waren rund 500 Migranten, aber in die Autos der Behörde passten höchstens 20. Nur wenige Minuten, nachdem sie weg waren, rückte das Organisierte Verbrechen an und entführte so viele wie irgend möglich. Einige flohen in den Fluss, wo auf sie geschossen wurde. Die Frau aus Honduras kam deswegen verletzt in die Herberge.

Wie weit reichen die Kriminalität und die Korruption der Migrationsbehörde?
Es gibt Belege dafür, dass die Migrationsbehörde in vielen Landesteilen mit der Organisierten Kriminalität zusammenarbeitet. Menschenrechtsverteidiger aus Tapachula in Chiapas berichten, dass Angestellte der Behörde dort Bars und Bordelle betreiben. Ich kenne dort den Fall einer Herberge für minderjährige Migranten ohne Begleitung, die „Todos por ellos“ heißt. Der evangelische Pastor, der die Herberge geleitet hat, erstattete Anzeige wegen Menschenhandels.
Daraufhin kam die Bundespolizei in die Herberge, schloss die Einrichtung und bedrohte ihn. Er hat das Land verlassen, die Herberge gibt es nicht mehr. In Coahuila werden Mitarbeiter der Behörde beschuldigt, Migranten an die Zetas zu übergeben; in Sonora wird das Gleiche über die Gruppe Beta, eine staatliche Schutzeinheit für Migranten, gesagt.
Und in Cancún, wo sehr viele Migranten ohne Papiere über den Luftweg einreisen, ist die Behörde auch in Fälle von Korruption und Menschenhandel verstrickt. Bei einer internen Kontrolle wurden dort im Schreibtisch des Vertreters am Flughafen stapelweise Geldscheine entdeckt. Obgleich die Migrationsbehörde in diesem Jahr 1.000 korrupte Angestellte entlassen hat und nun Schulungen durchführen möchte, glauben wir nicht, dass sich die Einrichtung bessern wird.

Sollte die Migrationsbehörde besser abgeschafft werden?
Wir glauben nicht, dass die Behörde gerettet werden kann. Sie ist eine der korruptesten Institutionen des Landes. Momentan wird sie von Ardelio Vargas geleitet. Er verantwortete 2006, als Enrique Peña Nieto noch Gouverneur war, den Polizeieinsatz von Atenco im Bundesstaat Mexiko. Damals wurden mehr als 40 Frauen von Polizisten vergewaltigt. Jetzt vertritt er den gewünschten Diskurs. Er besuchte uns in der Herberge, gab den Migranten die Hand, hörte ihnen zu. Das ist die institutionalisierte Korruption der PRI. Die Partei denkt, dass sich ihr Image allein dadurch ändert, dass sich einer ihrer Vertreter neben einem Menschenrechtsaktivisten oder einem der Opfer ablichten lässt.

Die Mitarbeiter_innen der Herberge wurden bereits mehrmals von der Organisierten Kriminalität bedroht. Wie setzen Sie Ihre Arbeit unter diesen Bedingungen fort?
Im vergangenen Jahr verließ Alejandro Solalinde nach Morddrohungen das Land. Ich wurde gefragt, ob ich dies auch tun werde. Aber das kommt für mich nicht in Frage. Vielleicht realisiert man selbst die Gefahr nicht mehr, wenn man mehrmals bedroht wurde. Dieses Jahr wurde uns empfohlen, die Herberge eine Zeit lang zu schließen, bis sich die Lage beruhigt und das Organisierte Verbrechen seine Aufmerksamkeit nicht mehr so stark auf uns richtet. Das gesamte Team sowie der Franziskaner-Orden haben sich dagegen entschieden.

Wieso haben Sie sich gegen die Schließung entschieden?
Es ist wichtig, den Migranten Halt zu geben, Unterstützung anzubieten. Diese Menschen werden nicht nur bedroht – sie werden tatsächlich umgebracht.
Mittlerweile empfangen wir viele Familien mit Kindern, haben teilweise einen richtigen Kindergarten in der Herberge. Wenn wir in Tenosique die einzige Herberge im ganzen Bundesstaat schließen, wo gehen die Migranten dann hin? Wo können sie übernachten? Und wenn wieder eine Migrantin vergewaltigt wird, wer zeigt dann den Fall an? Ich möchte damit nicht sagen, dass wir unverzichtbar sind, aber wir können einen winzigen Funken Hoffnung geben.
Letztlich würde die Schließung oder das Verlassen des Landes bedeuten, dass wir eine Schlacht in diesem Krieg – es ist nichts anderes als ein Krieg – verloren geben. Wir sind weder besonders mutig noch möchten wir Helden sein. Natürlich haben wir Angst. Aber wir möchten uns nicht unterkriegen lassen.


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