EIN ORT AUS VIELEN

Ein leer stehender Turm, errichtet auf einer Mülldeponie in der fiktiven Stadt Favelada: Habe-nichtse aus den nahe gelegenen Armenvierteln besetzen das niemals fertiggestellte Gebäude, trotzen Unwettern, wilden Tieren und Plagen. Sie sind gekommen, um zu bleiben, beschaffen sich Strom und Wasser, gründen Schulen und eine Kirche, eröffnen Läden. Die Gemeinschaft ist nach Stockwerken basisdemokratisch organisiert, als strategischer Planer fungiert der hinkende Lehrer und Übersetzer Nacho Morales.

Damnificados heißt der großartige Debütroman von JJ Amaworo Wilson. Der in Deutschland geborene und in den USA lebende Autor nigerianisch-britischer Abstammung erzählt darin vom Überlebenskampf der marginalisierten Unterschichten in einem System, in dem für gewöhnlich Geld und das Recht des Stärkeren triumphieren.

Auch für den Turm deutet sich ein derartiges Schicksal an. Eines Tages taucht ein Sprössling der Familie Torres auf, die das Gebäude einst erbaut hat und es offiziell noch immer besitzt. In Begleitung zweier Soldaten fordert er sein Eigentum mit einer unmissverständlichen Drohung zurück. „Ich schlage Ihnen einen Handel vor“, sagt er in Richtung Nacho. „Sie haben eine Woche Zeit, um friedlich abzuziehen. Danach werden Sie und Ihre Bewohner massakriert, wenn Sie immer noch hier sind.“ Er beabsichtige, sich für ein politisches Amt aufstellen zu lassen, erklärt Torres, „und wie Sie wissen, macht den Wähler nichts glücklicher als eine Machtdemonstration“.

Als das Militär schließlich angreift, erhalten die Damnificados Hilfe von unerwarteter Seite, Torres flüchtet vor der Schmach in eine weit entfernte, unwirtliche Region. Erstmals scheinen Frieden und Wohlstand für die Bewohner*innen des Turms in greifbarer Nähe zu sein. Doch die Familie Torres ist groß und so steht schon bald der nächste auf der Matte. Der prophetische Nacho ahnt, dass der Frieden nicht von Dauer sein wird. „Torres wird sich den Turm holen. Er hält dies für sein angeborenes Recht.“

Inspiriert wurde Wilson durch den „Torre de David“ in der venezolanischen Hauptstadt Caracas. Anfang der 1990er Jahre als Bankengebäude geplant, kam dieser nie über den Rohbau hinaus und wurde wegen des Wohnungsmangels ab 2007 nach und nach besetzt. Ganz ähnlich wie im Roman richteten sich dort mehrere tausend Personen häuslich ein. In der Wirklichkeit tolerierte die linke Regierung unter Hugo Chávez die Besetzung jahrelang. Erst ab 2014 kam es zur Umsiedlung der Bewohner*innen in neu erbaute staatliche Wohnungen.

JJ Amaworo Wilson macht daraus eine universelle Geschichte der Marginalisierten, in der nicht mehr viel konkret an Venezuela erinnert. Tatsächlich spielt sie an einem Ort, der aus vielen Orten, Kulturen, Religionen und Sprachen zusammengesetzt ist und fast überall im Globalen Süden angesiedelt sein könnte.


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“EIN OFFENES GEHEIMNIS”

Luis Betancourt Montenegro
forscht im Bereich sozio-ökologische Rechtslage des Amazonasgebietes und ist Aktivist für die Rechte der indigenen Bevölkerung. Er untersucht die gesundheitliche, sozio-kulturelle und Bildungssituation der Indigenen im venezolanischen Amazonasgebiet.
Seit 2019 koordiniert er die Amazonas-Forschungsgruppe (Grupo de Investigaciones sobre la Amazonía), die Forschung zu den Rechten der indigenen Bevölkerung und den Umweltrechten im Süden Venezuelas durchführt.
(Foto: privat)


Wie ist die aktuelle Situation in Puerto Ayacucho und im Süden Venezuelas?
Puerto Ayacucho hat eine sehr schwache Wirtschaft, die hauptsächlich auf illegalem Benzinverkauf, Bergbau und Schmuggel beruht. Früher, Ende der 1990er Jahre, war das anders, da gab es eine starke Tourismusindustrie mit Restaurants und einer Service-Infrastruktur. Durch die wirtschaftliche und politische Krise im Land hat sich das aber alles verändert. In der Umgebung von Puerto Ayacucho gibt es außerdem viele indigene Gemeinschaften, z.B. die Piaroa, Jivi und Kurripako.

Wie ist die Ernährungslage der indigenen Gemeinschaften?
Ob sie sich selbst versorgen können, hängt von der Region ab, in der sie leben. In der Nähe von Puerto Ayacucho zum Beispiel ist das Land sehr fruchtbar, im Südosten gibt es viel landwirtschaftliche Produktion und die dort lebenden indigenen Gemeinschaften können alles zu ihrer Selbstversorgung anbauen. Die Yanomami aber, die mit ca. 16.000 Personen die größte indigene Gruppe des venezolanischen Amazonasgebietes bilden, besiedeln Gebiete in der Kommune Alto Orinoco und dort sind die Böden eher sauer und dadurch nicht besonders fruchtbar. Aussaat oder Ernte ist hier fast unmöglich. Sie sind daher von wirtschaftlicher Unterstützung und den sehr unregelmäßigen Lieferungen der Regierung abhängig.

Bevor es solche Unterstützung durch die Nationalregierung gab, haben sie doch auch dort gelebt.
Ja, das Gebiet Alto Orinoco ist schon immer ihr Lebensraum. Und aufgrund der Unfruchtbarkeit der Böden sind sie nur teilweise sesshaft. Das heißt, dass sie oft weiter ziehen und sich in Gegenden niederlassen, die etwas fruchtbarer sind. Wenn dann nach einiger Zeit die Böden eines Gebiets ausgelaugt sind, ziehen sie wieder weiter in Gegenden mit besseren Bedingungen. So bewegen sie sich durch den gesamten Raum des Alto Orinoco.

Wie ist die Beziehung zwischen der Regierung und den indigenen Gemeinschaften?
Vor 1999 wurden die indigenen Gruppen Venezuelas weitgehend unsichtbar gemacht. Als es 1999 den revolutionären Verfassungsprozess gab, wurden die Indigenen zu Verbündeten von Hugo Chávez und der neuen Verfassung, an deren Ausarbeitung sie auch beteiligt waren. So sehr, dass das Kapitel VIII ausschließlich den Rechten der indigenen Bevölkerung gewidmet ist. Es gibt also eine sehr wichtige Anerkennung der indigenen Gruppen Venezuelas auf verfassungsmäßiger und rechtlicher Ebene. Ihnen wird das Recht auf eigene Bildung, Selbstbestimmung, auf ihr Territorium und interkulturelle Gesundheitsversorgung (die Berücksichtigung der Kultur der Patient*innen im Behandlungsprozess unter Einbeziehung ihres spezifischen medizinischen Wissens, Anm. d. Red.) garantiert. Diese Rechte wurden bis zum Jahr 2010 auch umgesetzt, danach begann es aber zu bröckeln, das heißt, alle Programme, die in den ersten zehn Jahren entwickelt worden waren, wurden immer mehr vernachlässigt. Vor allem die Gesundheits­pro­gramme, die ein sehr wichtiger Teil waren, weil sie auch die entferntesten Ecken des venezolanischen Amazonasgebiets erreichten, um die indigene Bevölkerung zu versorgen, gingen zurück. Ein Gesundheitsprogramm, der sogenannte Plan de Salud Yanomami, wurde mittlerweile leider eingestellt, weil es keine staatliche Unterstützung mehr gibt.

Mit Ihrer Amazonas-Forschungsgruppe haben Sie den illegalen Bergbau angeprangert. Wie ist die aktuelle Situation im Bundesstaat Amazonas?
Es gibt den legalen Bergbau, der durch ein Gesetz oder einen Erlass geregelt ist und vom Staat oder demjenigen, dem er die Konzession erteilt, verwaltet wird. Es gibt aber auch das Dekret 269 aus dem Jahr 1989, welches jegliche Bergbauaktivitäten im Bundesstaat Amazonas verbietet. Das bedeutet, dass alle diese Aktivitäten dort illegal sind. Das heißt nicht, dass es keinen Bergbau gibt, sondern lediglich, dass er illegal betrieben wird.

Wer ist daran beteiligt und was wird abgebaut?
Soweit bekannt, handelt es sich hauptsächlich um Gold und die Akteure, die es dort abbauen, sind einzelne bewaffnete Gruppen. In den meisten Fällen kommen sie aus Kolumbien, in anderen aus Brasilien und nur in ganz wenigen Fällen aus Venezuela selbst. Es ist ein offenes Geheimnis. Alle wissen, was sich dort abspielt, aber die Regierung hat durch ihre Nachlässigkeit zugelassen, dass sich diese Gruppen dort etablieren. Sie hat es versäumt, sich ihnen entgegenzustellen.

Gibt es eine Verbindung zwischen der Regierung oder den Polizei- und Militärbehörden und den illegalen Gruppen, die im Amazonasgebiet Bergbau betreiben?
Objektiv gesehen kann ich Ihnen nicht im Detail sagen, worin die Verbindung besteht, aber wenn ich mir ansehe, wie der venezolanische Staat über alle seine Institutionen hinweg eine nachlässige, nahezu einvernehmliche Haltung gegenüber den illegalen Bergbaugruppen einnimmt, ist es offensichtlich, dass es irgendeine Art der Komplizenschaft geben muss. Ich würde sagen, dass es das vor 1999 nicht gab. Die Justiz ging noch Anfang der 2000er Jahre sehr entschieden gegen die illegalen Gruppen vor. Es wurden Dekrete gegen ihre Präsenz erlassen und das Militär bekämpfte sie, aber seit etwa 2010 wurde nichts mehr gegen sie unternommen. Vielmehr glaube ich, dass ihnen der Zugang zu den Gebieten noch erleichtert wurde.

Indigene arbeiten auch im illegalen Bergbau…
Von der schweren politischen und wirtschaftlichen Krise, die das Land durchlebt, sind die Indigenen mit am stärksten betroffen. Das Fehlen von Treibstoff im gesamten venezolanischen Amazonasgebiet birgt große Probleme für sie, weil sie ihre Produkte nicht mehr nach Puerto Ayacucho bringen können, um sie dort zu verkaufen, so wie sie es immer getan haben. Daher sahen sich die meisten von ihnen in Ermangelung dieses wirtschaftlichen Austausches leider dazu gezwungen, im Bergbau zu arbeiten, um den Lebensunterhalt ihrer Familien zu bestreiten.

Welche Auswirkungen hat der Bergbau auf die Gemeinden im Amazonasgebiet?
Die Folgen sind sehr ernst. Am meisten leidet die indigene Bevölkerung, denn durch das Eindringen des Bergbaus und der bewaffneten Gruppen in ihr Territorium werden ihre sozio-ökonomischen und politischen Strukturen beeinträchtigt. Es hat sich eine Abhängigkeit entwickelt, denn die Lebensgrundlage wird jetzt nicht mehr durch die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse erwirtschaftet, sondern durch den Abbau von Gold und dem Handel damit bzw. mit allem, was mit dem Bergbau zu tun hat.

Gibt es Indigene, die aus ihren Gebieten vertrieben werden?
Natürlich. Es gab Fälle, in denen ganze Gemeinschaften ihr Gebiet verlassen mussten auf der Flucht vor der Gewalt, die von den bewaffneten Gruppen ausgeht. Es ist aber nicht nur die Gewalt, sondern es gibt auch gesundheitliche Gefahren, denn die Bergleute kommen aus städtischen Gebieten und bringen eine Reihe von Krankheitserregern mit, die für die Indigenen neu sind und damit eine Gesundheitsgefahr für sie darstellen.

Gab es Widerstand in der Region?
Ja, einige indigene Organisationen im Amazonasgebiet haben Erklärungen abgegeben, in denen sie die Präsenz der bewaffneten Gruppen in ihren Gebieten verurteilen und die Beendigung des Bergbaus fordern. Es geht ihnen darum, ihre Territorien und heiligen Stätten zu erhalten und zu schützen. Genau in diesen Gebieten agieren diese Gruppen. Bislang haben die Organisationen noch keine Antwort vom venezolanischen Staat erhalten. Hier zeigt sich die Komplizenschaft zwischen dem Staat und diesen illegalen Gruppen.


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„DIE MENSCHEN AN DER BASIS RETTEN DAS LAND“

Adriana Castejón und Javier Rodriguez (Foto: John Mark Shorack)

Welche Rolle spielen die kommunalen Räte in den venezolanischen Gemeinden?

Javier Rodríguez: Ein kommunaler Rat ist eine parteiunabhängige politische Struktur, die unter Chávez geschaffen wurde und auf ihrem jeweils zuständigen Gebiet agiert. Aber es bedarf noch eines kulturellen Wandels, um sich an diese neue kommunale Struktur anzupassen. Diese Anpassung ist sehr schwierig, weil die Comunas [Zusammenschluss mehrerer kommunaler Räte, Anm. d. Red.] und ihre Selbstverwaltung den Ambitionen der Stadtverwaltung entgegen stehen.

Inwiefern?

Rodríguez: Der Bürgermeister und die Stadtverwaltung wollen alle Mittel für sich haben. Wenn du also keinen Wirtschaftskreislauf innerhalb der Comuna schaffst, der es dir erlaubt finanziell unabhängig zu sein, bist du immer von den Institutionen abhängig. Es gibt kommunale Räte, die nur das Nötige leisten und andere, die ein bisschen weiter gehen. Der große Unterschied liegt im kollektiven Bewusstsein und in der politischen Bildung jedes Akteurs im Gebiet. Wir stehen mit unserem kommunalen Rat noch am Anfang, weil wir im Moment nur wenige produktive Aktivitäten haben. Trotzdem haben wir inmitten der Pandemie schon viel für die Gemeinschaft erreicht und genau das ist der Beitrag, den wir als Sprecher leisten.

Adriana Castejón: Gerade probieren wir etwas Neues aus, die „Serenata con Verso” (in etwa “Serenade mit Versen“ im Spanischen aber auch ein Wortspiel hinsichtlich des Klangs von „converso“ = ich unterhalte mich, Anm. d. Red.). Auf dem zentralen Platz widmen wir uns eine Stunde einem aktuellen Thema. Wir besprechen das Thema, es werden Gedichte gelesen und Lieder gespielt und gesungen. Die Leute können von ihrem Balkon aus daran teilnehmen, dort singen sie, begleiten uns, sie können schreien und sich irgendwie ausdrücken.

Wie haben Sie als kommunaler Rat auf Covid-19 reagiert?

Castejón: Unser kommunaler Rat, Rocíos de Revolución, besteht aus etwa 730 Familien, das sind etwa 2.000 Menschen in Ciudad Socialista Tiuna. Zu Beginn der Quarantäne haben wir alles versucht, um regelmäßig Lebensmittel mit Proteinen und Gemüse hierher zu bringen, damit die Leute nicht auf die Straße gehen müssen. Außerdem wurde eine Essensausgabe in der Mensa der Vorschule eingerichtet. Wir haben auch ein kommunales Unternehmen aktiviert, das angesichts der Notsituation auf eigene Initiative begonnen hat, Mundschutzmasken für die Gemeinde zu produzieren. Später haben sie sich sogar verpflichtet, auch eine gewisse Menge Mundschutz für die Comunas auf nationaler Ebene zu liefern. Bis vor weniger als einem Monat haben die drei Personen, die dort arbeiten, 20.000 Masken verteilt. Gleichzeitig haben wir die Maßnahmen zur Lockerung der Quarantäne begleitet [bestimmte, von der Regierung angeordnete Zeiten, zu denen während der Quarantäne Kinder die Erlaubnis hatten, das Haus zu verlassen, Anm. d. Red.].

Wie laufen diese Maßnahmen ab?

Castejón: Wir veranstalten eine Aktivität auf dem zentralen Platz mit einem Mikrophon und Musik und erinnerten die Leute daran, dass sie raus gehen können, dabei aber die Vorsichtsmaßnahmen beachten. Jedes Kind darf nur mit den ei­­ge­nen Spielsachen spielen und sie nicht teilen. Manchmal halten sie sich nicht daran und dann weisen wir darauf hin, dass sie Handschuhe und Mundschutz tragen müssen. Und genauso machen wir es auch während den Ausgangszeiten für die Älteren.

Wie genau funktioniert die Nahrungsmittelhilfe?

Rodríguez: Wir haben einen kommunalen Wirtschaftskreislauf aufgebaut. Eine Comuna im Bundesstaat Trujillo bringt wöchentlich Produkte, die sie zu solidarischen Preisen verkaufen. Es wurde aber auch die Essensausgabe für Familien in schwierigen Situationen geöffnet.

Castejón: Die Essensausgabe ist sehr wichtig, denn alle haben ein Recht auf Essen. Morgens bringen sie ihre Behältnisse her, wenn das Essen fertig ist, wird es abgefüllt und die Leute können sich ihre Portion und einen Saft abholen. Wer das Haus nicht verlassen kann, dem wird es vorbei gebracht.

Rodríguez: Als kommunaler Rat haben wir einen Teil der Lebensmittel zur Verfügung gestellt bekommen, um die normalen Essensrationen des Ministeriums zu ergänzen. Da wir jetzt ganze Familien versorgen, müssen die Rationen größer sein.

Was haben Sie in Bezug auf Gesundheit und Hygiene getan?

Castejón: Zusammen mit Ärztinnen und Ärzten haben wir zwei Touren durch alle Wohneinheiten im Viertel gemacht, um Symptome abzufragen und Fieber zu messen. Somit konnte vermieden werden, dass Personen Symptome zeigen, diese aber vielleicht nicht erkennen oder aus Angst nicht melden.

Im kommunalen Laden verkaufen wir auch Reinigungsmittel. Der Laden ist mit der Firma Marivelca verbunden, einem ehemaligen privaten Unternehmen, das die Rohstoffe lieferte, und jetzt unter der Verwaltung des Ministeriums für die Kommunen steht. Um die Wirtschaft in den Kommunen zu stärken, werden nicht nur Rohstoffe an die vergesellschafteten Unternehmen geliefert, sondern auch das Endprodukt hergestellt. Wir produzieren die vier haushaltsüblichen Reinigungsmittel: Chlor, Desinfektionsmittel, Flüssigwaschmittel und Geschirrspülmittel. Aber in der jetzigen Notsituation wussten wir, dass es nötig sein würde, auch Handdesinfektionsmittel zu einem solidarischen Preis herzustellen – und das haben wir geschafft. Die Pandemie hat gezeigt, wozu die Leute an der Basis, in den Organisationen, fähig sind. Sie sind diejenigen, die das Land retten.

 


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DER MARKT IST VOLL, ABER KAUM JEMAND KAUFT EIN

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Dicht gedrängt trotz Quarantänebestimmungen Menschen im Markt von Ruiz Pineda (Fotos: John Mark Shorack)

Eine ältere Frau mit grauem Haar steht am Eingang zum Markt, über der Schulter trägt sie einen vollen Beutel. Mit Mundschutz und Handschuhen verkauft sie eine Mischung aus Koriander und Frühlingszwiebeln, genannt „monte“. Es ist das Einzige, was sie verkauft. “Monte ist eine gute Alternative zu Zwiebeln“, erklärt sie. Wie viele andere musste sie sich im Zuge der Pandemie neu erfinden und arbeitet jetzt als Lebensmittelverkäuferin – eine der wenigen noch erlaubten Tätigkeiten. Sie akzeptiert keine Kartenzahlung, nur Bargeld. Dies sei aber „schwierig, denn es gibt kaum Bargeld”.

Der Markt von Ruiz Pineda im Südwesten der venezolanischen Hauptstadt Caracas ist überdacht und hat sehr enge Gänge, die bereits ab dem frühen Morgen voller Kund*innen sind. Am Eingang gibt es inzwischen keine Kontrollen mehr und die Menschen stoßen immer wieder aneinander. Nach sieben Wochen in Quarantäne scheinen die Präventionsstrategien – wie Abstand zu halten und nur eine begrenzte Zahl von Käufer*innen auf einmal einzulassen – vergessen zu sein.

Nach sieben Wochen Quarantäne sind die Präventionsstrategien vergessen

Seit Mitte März gelten in Caracas und im restlichen Land Quarantänebestimmungen. Die Menschen dürfen daher ihre Wohnung nur zum Kauf von Lebensmitteln und Medikamenten verlassen. Die Regierung hatte zudem die Unterbrechung der meisten Arbeitstätigkeiten, des internationalen Flugverkehrs sowie eine Mundschutzpflicht angeordnet. Nur die im Bereich der Lebensmittelversorgung, des Gesundheitssystems, des Verkehrs und der Sicherheit Beschäftigten dürfen noch arbeiten. Die Polizei und die Nationalgarde kontrollieren das Tragen des Mundschutzes und blockieren mit Straßensperren den Zugang zu den einzelnen Stadtvierteln. Die Schulen wurden ebenfalls geschlossen, die Schulküchen sind jedoch weiter in Betrieb, um Menschen über 60 und Schüler*innen unter 19 Jahren ein tägliches Mittagessen anzubieten.

Am ersten Tag der Quarantäne stehen die Menschen Schlange vor den Geschäften, um sich – die am 15. März ausbezahlten Löhne in der Tasche – mit Lebensmitteln einzudecken. „Man kann nicht zu Hause bleiben. Wie soll man essen? Man muss rausgehen,” sagt eine Frau, die  in der Schlange vor der Bäckerei wartet. Gegenüber an der Bushaltestelle steht Raul Martinez, ein Bewohner des Viertels Ruiz Pineda. “Wasser gibt es hier nur an zwei Tagen in der Woche,” sagt er. Für ihn wäre das Allerwichtigste, während der Quarantäne “immer Wasser zu haben”.

Seit Beginn der Quarantäne ist der Markt des Viertels nur noch am Vormittag geöffnet. Geschäfte, die zunächst geschlossen hatten, haben nach und nach wieder geöffnet, um Lebensmittel zu verkaufen. Sie verkaufen das, was es in der Hauptstadt ausreichend gab: Haltbare Lebensmittel, Gemüse und Früchte. Aber im Vergleich zu den Löhnen sind Grundnahrungsmittel und elementare Hygieneprodukte bereits zu Beginn der Quarantäne teuer. Ein monatlicher Mindestlohn, umgerechnet fünf Euro, reicht gerade für ein Kilo schwarze Bohnen, ein Kilo Maismehl, ein Pfund Käse und eine Packung Toilettenpapier.

Die Preise für Grundnahrungsmittel haben sich in 2 Monaten mehr als verdoppelt

Ende März werden einige der Einschränkungen bereits inoffiziell gelockert. Kund*innen stehen sehr nah beieinander, mehr informelle Verkäufer*innen gehen auf der Straße ihrem Geschäft nach, und in den Wohngebieten wird der Mundschutz weniger häufig getragen.

Schon vor dem Ausbruch von COVID-19 führten die internationalen Sanktionen und die staatliche Misswirtschaft zu gravierenden Problemen bei der Wasser- und Stromversorgung, zu Krankenhäusern in schlechtem Zustand und Mangelsituationen in fast jedem Aspekt des Alltagslebens der Venezolaner*innen. Mit der Pandemie haben sich diese noch weiter verschärft.

Bei Erklärung der Ausgangssperre bat die venezolanische Regierung daher die Weltgesundheitsorganisation um Unterstützung und erklärte landesweit 46 Krankenhäuser zu Anlaufstellen für COVID-19-Patient*innen. Diese Entscheidungen und die Mobilisierung kamen schnell, dennoch fehlte es von Anfang an an wichtiger Ausrüstung, wie Corona-Tests und Schutzkleidung. Aufgrund der internationalen Sanktionen war deren Einkauf nicht möglich; verbündete Länder wie Kuba und China schickten jedoch im März humanitäre Hilfe in Form von Mediziner*innen, Medikamenten, Schutzausrüstung und Testkits.

Juan Guaidó, der sich im Januar 2019 selbst zum Präsidenten ernannt hatte, äußerte sich am 28. März zur Pandemie. Er forderte per Twitter-Video die Bildung einer „Nationalen Notstandsregierung“. Zwei Wochen später verkündete er, dass er “Mittel der Venezolaner*innen zurückerlangt“ habe und drei Monate lang jedem Angestellten des venezolanischen Gesundheitssystems je 100 Dollar auszahlen werde. Mehrere Medien berichteten, das Geld käme von einem Konto der venezolanischen Zentralbank (BCV) in den Vereinigten Staaten. Die Trump-Regierung genehmige die Überweisung an ein Konto der Federal Reserve Bank of New York. Die BCV nannte es eine „rüde Plünderung“ ihrer Mittel. Die Geldtransfers waren ein Versuch Guaidós, im politischen Spektrum des Landes präsent zu bleiben. Weil die Entscheidungen im Zusammenhang mit der Pandemie nicht von ihm getroffen werden, ist dies jedoch schwierig und seine Bedeutung in der venezolanische Opposition sinkt.

Einmal Markt und zurück, mehr geht nicht Wartende mit ihren Einkäufen an der Bushaltestelle (Foto: John Mark Shorack)

Am 11. April verlängerte die Vizepräsidentin Delcy Rodriguez in einer Fernsehansprache die landesweite Quarantäne um dreißig Tage. „Die Kurve ist abgeflacht”, sagte sie, “und wir müssen mit der Quarantäne fortfahren.“ Sie bestätigte insgesamt 175 Corona-Infektionen im Land. Im gleichen Zug verkündete sie die Ankunft von 15.000 Testkits, zusätzlich zu den bereits im März gelieferten. Als es eine Woche später 52 neue Fälle von Infektionen in drei Tagen gab, wurde im Bundesstaat Nueva Esparta eine Sperrstunde verhängt.

Caracas leidet aber nicht nur unter der Corona-Pandemie, seit Ende März gibt es auch großen Benzinmangel. „Es ist wie in San Cristóbal”, sagt ein Busfahrer und meint damit die Stadt an der kolumbianischen Grenze. Dort müssen die Leute schon seit längerem stundenlang auf Benzin warten und dafür möglichst frühmorgens gegen drei Uhr an der Tankstelle sein. Trotzdem werden viele Autos abgewiesen und müssen an einem anderen Tag zurückkehren, oder sogar mehrere Tage warten. Der Benzinmangel führt zu Störungen beim Transport von Lebensmitteln sowie im öffentlichen Verkehr.

Durch den Umsturzversuch ist die Glaubwürdigkeit von Guaidó weiter gesunken

Gleichzeitig steigen im April der Wechselkurs der Parallelwährung US-Dollar sowie die Lebensmittelpreise weiter: “Die Preise sind sehr hoch. Hähnchenschnitzel kosten 500.000 Bolivares pro Kilo,” meint eine Frau auf ihrem Weg vom Markt nach Hause. Das entspricht einem Mindestlohn von etwas mehr als einem Monat. Zwischen Anfang März und Ende April haben sich die Preise für Grundnahrungsmittel wie Eier, Käse und Bananen mehr als verdoppelt.

Ab dem 1. Mai hat die venezolanische Regierung daher Preisobergrenzen für 27 Produkte angeordnet, darunter Eier, Käse und Maismehl, sowie den Mindestlohn um 60 Prozent erhöht. In der ersten Woche der Maßnahmen ist der starke Anstieg der Preise und des Dollarwechselkurses zurückgegangen. Aber auch mit einem höheren Mindestlohn ist das Essen immer noch zu teuer für viele Menschen in Caracas. Die meisten kaufen daher Gemüse und Obst der Saison wie Bananen, Maniok und Mango, die besonders billig sind. Für haltbare Grundnahrungsmittel wie Bohnen oder Reis sind viele im Stadtviertel Ruiz Pineda auf die monatliche Lebensmittelskiste der Regierung und Unterstützung von Angehörigen im  Ausland angewiesen.

“Die Mehrheit der venezolanischen Bevölkerung schafft es nur deshalb, über die Runden zu kommen, weil es den informellen Sektor und die Auslandsüberweisungen gibt,” so Atenea Jimenez, Sprecher des Nationalen Netzwerks der Kommunarden und Kommunardinnen im Interview mit der Zeitung Green Left. Durch die Quarantäne “ist die Situation noch schwieriger geworden, die Leute können nicht mehr rausgehen, wann immer sie ihre alltäglichen Aufgaben im informellen Sektor erledigen müssen oder um Auslandsüberweisungen abzuholen”, sagte Jimenez weiter. Die Atmosphäre im Markt von Ruiz Pineda hat sich daher in den letzten vierzehn Tagen verändert. Der Markt ist immer noch voll, aber weniger Leute kaufen ein. „Die Menschen haben kein Geld mehr,“ erklärt der Metzger auf die Frage, warum sein Stand so leer ist. Ein Gemüsestand nebenan hat eher ältere Ware: „Es ist sehr schwer, Benzin zu bekommen. Wir haben es nicht geschafft, im Großmarkt neue Ware einzukaufen.“

Der Corona-Virus fühlt sich in Venezuela einfach an wie ein weiteres Problem

Die Zahl der Infektionen mit dem Corona-Virus steigt langsam weiter, auf zuletzt mehr als 450 Fälle und 10 Tote. Im Vergleich zu anderen südamerikanischen Ländern steht Venezuela damit sehr gut dar, mit der geringsten Anzahl von Fällen pro eine Million Einwohner. Grund genug für die Regierung, sich selbst zu loben. Aber die Entscheidung über die Fortsetzung der Quarantäne-Maßnahmen – wie sie andere Länder mit deutlich mehr Infektionen schon gefällt haben – ist schwierig. Sie könnte wegen des Benzinmangels größere Konsequenzen haben und als ein Versuch sozialer Repression verstanden werden. Trotz der gültigen Ausgangsperre und der täglichen Pressekonferenz der Regierung öffnen schon jetzt in Ruiz Pineda und Caracas Schreibwarenläden, Friseure und andere Geschäfte, die eigentlich noch geschlossen bleiben müssten. Am 12. Mai hat Präsident Maduro die Fortsetzung der Beschränkungen um weitere 30 Tage angekündigt.

Mitten in der Pandemie ereignete sich noch ein gewaltsamer Umsturzversuch. Am Morgen des 3. Mai teilte Innenminister Nestor Reverol mit, dass „eine Invasion über das Meer“ vereitelt worden sei. Es habe acht Tote und zwei Festnahmen gegeben. Am gleichen Abend bekannten sich Jordan Goudreau, US-Amerikaner und ehemaliger Soldat, sowie Javier Nieto Quintero, ehemaliger Kapitän der venezolanische Nationalgarde, per Video zu der „Operacion Gedeon.“ Nach weiteren Festnahmen von sechs Venezolanern und zwei ehemaligen US-amerikanischen Soldaten aus einem zweiten Motorboot am folgenden Tag veröffentlichte Goudreau einen angeblichen Vertrag mit Juan Guaidó. Ziel des Vertrages, den Guaidó als „Präsident Venezuelas“ unterschrieben habe, wie die The Washington Post berichtete, sei die „Festnahme und Auslieferung Maduros“ gewesen. Guaidó bestreitet seine Unterschrift. Ein weiterer Unterzeichner bestätigte den veröffentlichten Vertrag auf CNN, allerdings als „Vorvertrag“. Die Verhandlungen seien jedoch im November abgebrochen worden. Durch den gesamten Vorfall ist die Glaubwürdigkeit des selbsternannten Präsidenten Guaidó weiter gesunken. In den folgenden Tagen wurden insgesamt 45 an dem Putschversuch Beteiligte festgenommen. Präsident Maduro sprach von einem gescheiterten Umsturzversuch, der von den USA eingefädelt worden sei. “Donald Trump ist der direkte Chef dieser Invasion”, sagte Maduro am 6. Mai. Der US-amerikanische Präsident hatte jegliche Beteiligung bereits zuvor zurückgewiesen.

Die Venezolaner*innen haben sich an Schwierigkeiten gewöhnt, Inflation und Probleme bei Transport und Verkehr gehören zum Alltag – auch wenn die Pandemie eine neue Situation ist. „Man ist nicht daran gewöhnt, nichts zu tun“, sagt eine ältere Frau auf der Straße. Vor der Pandemie hat sie Kinder beaufsichtigt, „aber jetzt arbeitet niemand mehr“. Manche putzen oder reparieren ihre Wohnungen, spielen Domino oder versammeln sich an der Straßenecke. Pandemie, mangelnde Versorgung und Putschversuch – der Corona-Virus fühlt sich in Venezuela einfach an wie ein weiteres Problem.


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EL MERCADO ESTÁ LLENO, PERO POCOS COMPRAN

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Amoñonados a pesar de las regulaciones de cuarentena La gente en el mercado de Ruiz Pineda (Foto: John Mark Shorack)

Una señora con canas y arrugas en la cara está parada a la entrada del mercado y sobre su hombro carga una bolsa llena. Con tapaboca y guantes, ella vende una mezcla de cilantro y cebollín, comúnmente llamado “monte”. Es lo único que vende y “es muy buena alternativa a la cebolla,” explica. Ella, como muchxs otrxs, se tuvo que reinventar y ahora es vendedora de comida, uno de los pocos empleos que siguen funcionando durante la cuarentena. No acepta pago con tarjeta, solo efectivo. En sus palabras: la situación “está difícil, no hay mucho efectivo.”

El mercado de Ruíz Pineda, en el suroeste de la capital venezolana, está techado y tiene corredores angostos que desde temprano se llenan de clientes. Ya no hay control en las entradas y adentro se amontonan las personas. Después de siete semanas de cuarentena, las medidas preventivas, el distanciamiento social y el control sobre la aglomeración de personas, parecen estar olvidadas.

Después de siete semanas de cuarentena, las medidas preventivas están olvidadas

Desde mediados de marzo, Caracas junto con el resto del país está en cuarentena, sólo se puede salir a comprar comida o medicamentos. El gobierno también anunció la suspensión de vuelos internacionales, el uso obligatorio del tapaboca y la cancelación del día laboral, exceptuando trabajos relacionados con la provisión de alimentos, los servicios sanitarios y servicios de seguridad y transporte. En la calle, policía y Guardia Nacional controlan el uso de tapabocas y bloquean las salidas de las distintas zonas. Las escuelas también cerraron, manteniendo sus cocinas abiertas para ofrecer un almuerzo diario a ancianxs y estudiantes menores de 19 años. El primer día de la cuarentena, volvieron las filas de clientes a las tiendas de Ruiz Pineda mientras buscaban comprar con su recién llegado salario del 15 de marzo. “No puedes quedarte en tu casa, ¿cómo comes? Tienes que salir” dijo una señora en la fila de la panadería.

En la otra acera estaba Raúl Martínez, otro residente de la zona. “Aquí llega el agua dos días a la semana,” dijo. Para él lo primordial era tener “agua permanente”. Desde que comenzó la cuarentena, el mercado de Ruiz Pineda abre sólo medio día. Tiendas que los primeros días estaban cerradas, poco a poco abrieron vendiendo comida. Con clientes haciendo fila, vendían productos que durante el mes de marzo había suficiente en la capital, como comida seca, frutas y vegetales. Sin embargo, en relación con los salarios, la comida y los productos de primera necesidad estaban caros. Con un sueldo mínimo mensual, convertido sería un poco más de cinco dólares, se podía comprar un kilo de caraotas, un kilo de harina de maíz, un poco de queso y un paquete de papel higiénico.

Los precios de alimentos básicos aumentaron en dos meses  más de un 100 por ciento

Ya finalizando marzo, algunas restricciones de modo inoficial disminuyeron. Algunas personas que estaban comprando se agrupaban en espacios cerrados del mercado por la falta de control, más vendedores informales vendían en la calle y el uso de tapabocas en las zonas residenciales se volvió menos frecuente.

Antes del COVID-19, las sanciones internacionales y políticas ineficientes ya habían llevado el país a problemas de abastecimiento de agua, electricidad, hospitales en mal estado y déficits en casi cada aspecto del día a día venezolano. Con la pandemia, esta situación de emergencia sólo se ha profundizado más. Al declarar la cuarentena, el gobierno venezolano acudió a la Organización Mundial de la Salud (OMS) en búsqueda de apoyo y designó 46 hospitales para manejar el virus en todo el país. Las decisiones y movilizaciones fueron rápidas, sin embargo, desde el comienzo faltaron kits de prueba, maquinaria y uniformes de protección. Sin poder comprar estos materiales debido a las sanciones, el gobierno enfrentó la pandemia con ayuda humanitaria de países aliados como Cuba y China, quienes han traído equipos médicos, personal, medicina, uniformes y kits de prueba.

Juan Guaidó, quien se había autoproclamado presidente interino en enero 2019, dio un comunicado en el contexto de la pandemia el 28 de marzo por video en la red social Twitter. Llamó a la creación de un “Gobierno de Emergencia Nacional” para gobernar el país. Dos semanas más tarde anunció que “recuperó recursos de los venezolanos” y hará entrega por tres meses de $100 mensuales a trabajadores de la salud en el país. Según reportes de varios medios, el dinero proviene de la cuenta del Banco Central de Venezuela (BCV) en Citibank. El gobierno de Donald Trump autorizó su transferencia a una cuenta en la Reserva Federal de Nueva York. El BCV en comunicado oficial lo denominó un “vulgar despojo” de sus recursos. Por medio del pago Guaidó intentó permanecer presente en la política interna del país. Sin embargo, como las decisiones en el país en relación a la pandemia no se basan en sus decisiones, esto es difícil y su importancia en la oposición venezolana está disminuyendo.

Al mercado y de regreso, más nada Gente esperando con sus compras en la parada del autobús (Foto: John Mark Shorack)

El sábado 11 de abril la vicepresidenta Delcy Rodríguez, en anuncio televisado, prolongó la cuarentena por 30 días más. “Está aplanada la curva y debemos seguir en cuarentena,” dijo a todo el país. Confirmó 175 personas infectadas con el virus y, al mismo tiempo, anunció la llegada de 15 mil pruebas PCR que se sumaron a los materiales llegados en marzo. Una semana más tarde, al confirmar 52 casos nuevos dentro de sólo tres días colocaron al Estado de Nueva Esparta en toque de queda.

Caracas sufre no sólo bajo la pandemia, desde finales de marzo hay gran escasez de gasolina. “Es tipo San Cristóbal,” comenta un conductor de transporte público refiriéndose a la ciudad fronteriza con Colombia. Allá, como ahora en Caracas, es necesario esperar horas y muchas veces madrugar en busca de gasolina. Igual, muchas de las personas esperan sin lograr llenar su tanque de gasolina y deben volver otro día o esperar varios días. La escasez ocasiona disrupción en el transporte de alimentos y también en el transporte público de la ciudad.

Al mismo tiempo, los precios tanto del dólar como moneda paralela, como de la comida están incrementando. “Los precios están altísimos, pollo milanés está en 500 mil el kilo,” dijo la señora regresando a su casa cargando solo una bolsa de cambures. Eso corresponde a un poco más de un mes de salario mínimo. Entre comienzos de marzo y finales de abril los precios de alimentos básicos como huevos, queso y cambur aumentaron más que el doble.

El intento de golpe de Estado ha reducido aún más la credibilidad de Guaidó

En respuesta, el gobierno venezolano reguló el precio de 27 productos a partir del 1 de mayo, dentro de los cuales se incluyen huevos, queso y harina de maíz, e incrementó el salario mínimo un 60 por ciento. En la primera semana de la regulación, se lograron estabilizar temporalmente los precios, tanto del dólar como de la comida, pero la realidad es que aún con el incremento de los salarios, la comida sigue siendo demasiada costosa para muchxs. La mayoría de las personas compran verduras y frutas que se encuentran en temporada, como el cambur, el mango y la yuca, porque son lo más barato que se consigue. Para comida seca como caraotas o arroz muchos dependen de una caja mensual de comida proveída por el estado y de remesas del extranjero.

“La mayoría de la población venezolana sólo sobreviven gracias al sector informal y a las remesas del extranjero” dijo Atenea Jiménez, portavoz de la Red Nacional de Comunas en una entrevista con el periódico Green Left. La cuarentena “ha hecho la situación aún más difícil, la gente ya no puede salir cuando necesita hacer sus diligencias diarias en el sector informal o para recoger remesas”, continuó Jiménez. Asímismo, el ambiente en el mercado de Ruiz Pineda los últimos catorce días ha cambiado. El mercado sigue lleno, pero menos personas están comprando. “La gente no tiene más dinero,” explica el charcutero al preguntar por qué su puesto está vacío. Y el puesto de verduras tiene productos viejos. “Está muy difícil conseguir gasolina, no pudimos ir a comprar productos”, afirma.

El número de casos confirmados de coronavirus sigue aumentando lentamente, a mediados de Mayo se contaban más de 450 casos y 10 muertes. En comparación con otros países de América del Sur, Venezuela se encuentra en muy buena posición, con el menor número de casos por millón de habitantes. Da razón suficiente para que el gobierno se elogie a sí mismo, pero la decisión de continuar con las medidas de cuarentena – en un momento en el que otros países con un número significativamente mayor de infecciones están reduciendo las medidas – es difícil. Podría tener mayores consecuencias debido a la falta de combustible y podría ser visto como un intento de control social. A pesar de la cuarentena y de la conferencia de prensa diaria del gobierno, las papelerías, peluquerías y otras tiendas que deberían permanecer cerradas ya están abriendo en Ruiz Pineda y Caracas. El 12 de mayo, el Presidente Maduro anunció la continuación de las restricciones por otros 30 días.

El coronavirus en Venezuela se siente simplemente como otro problema más

En medio de la pandemia, tuvo lugar otro intento violento de golpe de Estado. En la mañana del 3 de mayo, el ministro de Interior Néstor Reverol anunció que una “invasión vía marítima” había sido frustrada. Hubo ocho muertos y dos arrestos. Esa misma noche, Jordan Goudreau, exsoldado estadounidense y Javier Nieto Quintero, excapitán de la Guardia Nacional venezolana, anunciaron la “Operación Gedeón” a través de un video. Tras nuevas detenciones de seis venezolanos y dos exsoldados estadounidenses en una segunda lancha al día siguiente, Goudreau publicó un supuesto contrato con Juan Guaidó. El objetivo del contrato, en donde aparece la firma de Guaidó como “Presidente de Venezuela”, como informó The Washington Post, era el “arresto y detención de Nicolás Maduro”. Guaidó niega su firma. Otro signatario confirmó el tratado publicado por CNN, pero como un “tratado preliminar”, agregando que las negociaciones se habían interrumpido en noviembre. Todo el incidente ha reducido aún más la credibilidad del autoproclamado presidente Guaidó. En los días siguientes, se detuvo a un total de 45 personas involucradas en el intento de golpe de Estado. El Presidente Maduro habló de un intento de golpe fallido diseñado por los Estados Unidos de Norteamérica (EEUU). “Trump es el jefe directo de esta incursión”, dijo Maduro el 6 de mayo. El presidente de los EEUU había negado previamente cualquier implicación.

Lxs venezolanxs se han acostumbrado a superar dificultades, la inflación y la falta de transporte ya pertenecen a la rutina, pero en el caso del coronavirus se encuentran con una situación nueva. “Uno no está acostumbrado a no hacer nada,” dice una señora caminando a buscar su caja mensual de comida. Antes de la pandemia ella cuidaba niñxs, “pero ahora nadie está trabajando” y ella se tiene que quedar en casa. Otras personas están limpiando y reparando sus hogares, jugando dominó o  congregándose en las esquinas a hablar. Pandemia, suministro insuficiente y un intento de golpe de Estado – el coronavirus en Venezuela se siente simplemente como otro problema más.


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BELASTUNGSPROBE FÜR DIE NACHBARSCHAFTLICHE SOLIDARITÄT

Solidarität in Krisenzeiten: Noch unterstützt die Stadtverwaltung die Geflüchteten (Foto: Victor Sánchez)

„Ich bin seit inzwischen zwei Jahren mit meiner Tochter in Kolumbien. Wir sind hier gut aufgenommen worden, die Leute sind hilfsbereit. In Venezuela ist das Geld nichts mehr wert, hier hingegen gibt es Möglichkeiten. Wir leben in einer Unterkunft, für die ich 7.000 Peso (rund 1,61 Euro) täglich bezahle.“ So wie die 24-jährige junge Mutter kommen viele Venezolaner*innen, die im Zuge der Migrationskrise nach Kolumbien ausgewandert sind, in sogenannten pagadiarios unter. Das sind einfache private Unterkünfte, die auf Tagesbasis an Migrant*innen vermietet werden. Diese verdienen ihr Geld vor allem als fliegende Händler*innen auf der Straße. In Zeiten von Corona und den damit einhergehenden Ausgangsbeschränkungen fallen diese Tätigkeiten als Einnahmequelle jedoch weitgehend aus. In der Folge können die Menschen ihre Tagesmiete nicht mehr aufbringen und verlieren schnell ihr Dach über dem Kopf. „Es handelt sich um Menschen, die von einem Tag auf den anderen leben und von ihrer Arbeit auch etwas Geld nach Hause schicken“, sagt Francine Howard von der Organisation Asociación Unidos por Venezuela. „Sie arbeiten im informellen Sektor und können derzeit kaum ihre Familie ernähren.“

Die wegen der Corona-Pandemie weitgehend eingeschränkte Freizügigkeit trifft die venezolanischen Migrant*innen hart. Diese konnten sich noch bis vor kurzem dank der Politik der offenen Grenzen der kolumbianischen Regierung weitgehend ungehindert zwischen den beiden Ländern bewegen. „Ohne die Möglichkeit, uns in Kolumbien mit Nahrungsmitteln zu versorgen, hätten wir es sehr viel schwerer“, berichtet eine ältere Frau aus Venezuela.

„Wir sind hier gut aufgenommen worden“

Die offene Grenze war in den vergangenen Monaten wegen der prekären Versorgungslage in Venezuela für viele Venezolaner*innen zur Lebensader geworden. Bis zu 50.000 Personen sollen sie täglich überquert haben. Diese Zeiten sind vorerst passé. Am 13. März verfügte die kolumbianische Regierung die Grenzschließung für zwei Monate. Was für Schmugglerbanden einen Glücksfall darstellt, ist eine Katastrophe für diejenigen, deren Familien oder Einkommensquellen sich beidseitig der Grenze befinden. Denn der länderübergreifende Verkehr ist nicht völlig zum Erliegen gekommen. Jenseits der offiziellen Übergänge existieren entlang des 2.200 Kilometer langen Grenzstreifens geschätzt rund 150 Schleichpfade, trochas genannt. Diese werden von kriminellen Banden und bewaffneten Gruppen kontrolliert. Neben Menschen wechseln auch geschmuggelte Waren die Seiten: günstiges Benzin von Venezuela nach Kolumbien im Gegenzug für allerlei Waren des täglichen Bedarfs.

Die Durchlässigkeit der Grenze hat es möglich gemacht, dass sich etwa die Hälfte der Venezolaner*innen ohne reguläre Aufenthaltsgenehmigung dort aufhalten. Auch wenn die Coronakrise den Aderlass Venezuelas aktuell ein wenig bremsen dürfte, stiegen die Zahlen derjenigen Venezolaner*innen, die das Land verließen, bis vor kurzem weiter stark an. Ende 2019 lag deren Zahl in Kolumbien bei 1,6 Millionen, 2016 waren es noch rund 50.000. Insgesamt sollen mindestens 4,5 Millionen Menschen Venezuela seit der Regierungsübernahme durch Nicolás Maduro 2013 verlassen haben.

Kolumbien ist bisher eher Auswanderungs- denn Einwanderungsland. Es verfügt entsprechend über wenig Unterstützungsangebote für Zuwander*innen. Nationale und internationale Hilfsorganisationen versorgen die Menschen lediglich mit dem Nötigsten. Dass es für Migrant*innen wenig Ressourcen und Angebote gibt, liegt auch daran, dass die kolumbianische Gesellschaft, mit über 6 Millionen internen Vertriebenen infolge des jahrzehntelangen bewaffneten Konflikts zwischen dem Militär und der FARC-Guerilla, bereits stark belastet ist. Daran hat das Friedensabkommen von 2016 bisher wenig geändert. Hinzu kommt die schwierige materielle Situation: Über ein Viertel der Bevölkerung in Kolumbien lebt in Armut und muss täglich zusehen, wie es über die Runden kommt.

Gegen den Hunger: Noch unterstützt die bogotanische Stadtverwaltung die Geflüchteten (Foto: Victor Sánchez)

Die öffentliche Infrastruktur mit sozialen Angeboten ist begrenzt. Angebote wie das des Centro Abrazar der Stadtverwaltung Bogotá sind selten. Hier können Eltern ihre Kinder tagsüber betreuen lassen, um sich in der Zeit um den Lebensunterhalt der Familie kümmern zu können. Auch wenn das Angebot allen Kindern offensteht, besuchen vor allem kleine Venezolaner*innen das Centro Abrazar. Víctor Sánchez ist einer der Pädagogen des Zentrums und kennt die Lage und die alltäglichen Herausforderungen der Migrant*innen gut. Für Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung sei es vor allem schwierig, Zugang zu Gesundheit und Bildung zu erlangen. Sofern es sich nicht um einen Notfall handele, würden diese Leute an den Türen der Arztpraxen und Krankenhäuser zurückgewiesen.

Dünn ist auch das Angebot an Verdienstmöglichkeiten. Laut Sánchez konkurrieren Migrant*innen und mittellose Kolumbianer*innen in prekären informellen Arbeitsverhältnissen direkt miteinander. So habe die Zahl fliegender Händler*innen in Bussen, Straßenverkäufer*innen und Müllsammler*innen spürbar zugenommen. Es finden sich vermehrt Venezolaner*innen in der Prostitution, dem Drogenhandel oder etwa auch in der Kokaernte wieder. „Ein nicht unerheblicher Teil der Einnahmen verbleibt nicht in der informellen Ökonomie des Landes, sondern wird als Unterstützungsleistung an Familie und Freunde in Venezuela gesandt.“ Migrant*innen würden ihre Arbeitskraft außerdem im Gast- und Baugewerbe oder in der Landwirtschaft verkaufen und dies in der Regel unter dem üblichen Lohnniveau der Einheimischen. Der gesetzliche Mindestlohn fände selten Beachtung. Eine Folge des vermehrten Zuzugs von Venezolaner*innen sei aber auch, dass sich die Mietpreise in den Städten verteuerten. Denn manche Kolumbianer*innen ziehen es vor, Wohnungen oder Zimmer als pagadiarios an Neuankömmlinge zu vermieten – oft zu unverhältnismäßigen Preisen. „All diese Entwicklungen bekommen auch die armen Kolumbianer*innen zu spüren“, sagt Sánchez.

Die eingeschränkte Freizügigkeit trifft die venezolanischen Migrant*innen hart

Die prekären Verhältnisse gehen in nicht wenigen Fällen auch zu Lasten der Kinder. Diesen bleiben Bildungs- und altersgemäße Entwicklungsmöglichkeiten versagt, etwa wenn sich Eltern veranlasst sehen, ihre Kinder in den täglichen Brotverdienst miteinzuspannen. Anstatt ihre Kinder das pädagogische Angebot im Centro Abrazar nutzen zu lassen, nehmen manche Eltern diese mit, um beim Straßenverkauf ihre Einnahmen zu steigern. „Ohne den ‚Mitleidsfaktor‘ verdienen sie um die 40.000 Pesos (etwa 9,22 Euro) am Tag, mit Kindern auf dem Arm können die Einnahmen auf rund 120.000 steigen“, behauptet Sánchez. Manche Eltern würden ihre Kinder gar gegen Geld an andere „vermieten“.

Die kolumbianische Bevölkerung ist gespalten in ihrer Bewertung der Situation: Solidarität und die Betonung der Einheit beider Länder kontrastieren mit Schuldzuweisungen und der Ablehnung der offenen Grenzpolitik. Meinungsumfragen zeigen, dass die anfänglich überwiegend solidarische Haltung zunehmend kippt. Xenophobe Äußerungen und sogar Gewalt gegen Venezolaner*innen sind immer öfter an der Tagesordnung. Die sozialen Schieflagen des Landes werden dabei zunehmend den Migrant*innen angekreidet. „Die Venezolaner*innen kommen hierher und nehmen uns Kolumbianer*innen die Jobs weg. Sie sind verwöhnt, weil sie in Venezuela fast alles umsonst bekamen. Sie verkaufen Drogen, die Frauen gehen auf den Strich. Manche Stadtteile sind inzwischen so gefährlich, dass niemand sich mehr hinein traut“, sagt ein puerta a puerta-Fahrer, ein Privatfahrer, der Passagiere bis zu einem vereinbarten Ziel befördert. Er drückt damit eine pauschalisierend-ablehnende Haltung aus, wie sie inzwischen immer öfter zu hören ist.

Trotz wachsender Spannungen äußern sich viele Venezolaner*innen jedoch weiterhin positiv über die Unterstützungsbereitschaft der Menschen in Kolumbien. Man ginge meist fair mit ihnen um und werde respektiert, hört man in Gesprächen oft heraus. Ob die Solidarität auch während der Coronakrise anhalten und diese überdauern wird, lässt sich kaum vorhersagen.


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„DIE PATRIARCHALEN FORMEN DER POLITIK MIT DRUCK VERÄNDERN“

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Victoria Alen und Karina Chacón sind Teil von Tinta Violeta. Das Kollektiv wurde 2012 gegründet und setzt sich vor allem für die Verteidigung von Frauen ein. Die Mitglieder begleiten Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind – juristisch und emotional. Insbesondere will die Gruppe die Aufmerksamkeit auf die juristische Aufarbeitung von Verbrechen gegen Mitglieder der LGBTQ+-Community lenken. Die Aktivist*innen versuchen den Machismo aber auch mit künstlerischem Ausdruck zu überwinden: Ihr Projekt Amada nutzt kreative Workshops zu Poesie, Tanz und Theater, um der feministischen Bewegung innerhalb der venezolanischen Kultur neue Impulse zu geben. Tinta Violeta gehört zu La Araña Feminista, einem Netzwerk sozialistischer feministischer Kollektive in Venezuela.
(Foto: Maye Josefina)


Wieso habt ihr den feministischen Notstand für Venezuela ausgerufen?
Victoria Alen: In der zweiten Hälfte des letzten Jahres hat unsere Mitstreiterin, die Anthropologin und Feministin Aimee Zambrano, über den sogenannten Feminizid-Monitor die Zahlen der Feminizide in Venezuela für 2019 vorgelegt. Es waren 167 Fälle – eine Zahl, die uns schockiert hat. Wir haben außerdem gemerkt, wie sehr sich Frauen von Gesetzen und staatlichen Institutionen im Stich gelassen fühlen. Seit 2015 hatte es keine offiziellen Angaben zu Feminiziden mehr gegeben, damals waren es 121 Fälle. Das heißt, in den vier Jahren bis 2019 hat sich die Zahl der Feminizide um 38 Prozent erhöht. Nach dieser Erkenntnis haben wir uns mit anderen Kollektiven zusammengetan und beschlossen, eine Art Bündnis zu schaffen. Dieses vereint Gruppen etwa aus dem sozialistischen Netzwerk La Araña Feminista und andere Organisationen, die ebenso wichtige Arbeit machen.

Wir bemühen uns, über ideologische Haltungen hinauszugehen. Nicht alle Kollektive  vertreten eine klar sozialistische Ideologie, arbeiten aber nach ähnlichen feministischen Grundsätzen wie wir. Unser öffentliches Statement unter dem Namen „Feministische Erklärung” war eine sehr spontane Sache, um den Staat und die landesweiten Institutionen unter Druck zu setzen. Danach haben wir uns für eine Pressekonferenz entschieden, um den feministischen Notstand auszurufen. Für uns war dieser Schritt nötig, weil es eine ernstzunehmende Problematik ist, die bisher missachtet worden ist.

 Welche Aktionen sieht eure „Feministische Erklärung” vor, um den Staat unter Druck zu setzen?
Karina Chacón: Die erste Aktion fand bereits am 25. November statt, dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Zu diesem Anlass erstellten wir unsere erste Pressemitteilung und brachten diese zum Obersten Gerichtshof, also dem leitenden juristischen Organ in Venezuela. Der rechtliche Rahmen hier gilt  in Genderfragen zwar als einer der fortschrittlichsten in der Region, wenn es um die Formulierungen und das, was berücksichtigt wird, geht. Aber für viele wichtige Gesetze gibt es nicht einmal genaue rechtliche Bestimmungen. Das heißt, wenn man die Anwendung der Gesetze untersucht, stößt man auf sehr schlechte Ergebnisse.

Habt ihr mit der Demonstration vor dem Obersten Gerichtshof etwas erreicht?
VA: Nun gut, wir haben Maikel Moreno, den Präsidenten des Obersten Gerichtshofes, dazu gebracht, unmittelbar während unseres Protests nach draußen zu kommen und mit uns zu sprechen. Wir wollten ein Gespräch mit den Institutionen und den verschiedenen Kollektiven vor Ort einleiten. Im Nachhinein hat es Arbeitsgruppen mit verschiedenen Vorsätzen gegeben, es gab drei Treffen, aber es wurde nie etwas erreicht. Es blieb in einem unverbindlichen Rahmen und die Treffen brachten aus verschiedenen Gründen nie Ergebnisse.

Ich weiß nicht, ob es an der Ineffizienz, der Apathie oder den fehlenden Mitteln bzw. der Infrastruktur der Institutionen liegt, jedenfalls kamen wir zu nichts. Tatsächlich hatte Moreno sich am 25. November zu dem Vorhaben verpflichtet, dass es am 8. März bereits etwas Konkretes geben sollte. Der 8. März kam und ging und es ist absolut nichts passiert.

Am Internationalen Frauentag, dem 8. März, habt ihr eine unabhängige Protestaktion veranstaltet…
KC: Wir haben eine Aktion geschaffen, mit der wir uns alle identifizieren konnten, obwohl es innerhalb des Bündnisses sehr unterschiedliche Gedanken und ideologische Strömungen gab. Wir sind uns aber einig über den feministischen Notstand und unsere Forderung nach Gerechtigkeit für alle Frauen. Wir haben mehr als 100 Personen versammelt. Das ist für eine spontane Aktion im kleinen Raum, die unabhängig von Parteistrukturen und offiziellen oder traditionell oppositionellen Institutionen organisiert wurde, gar nicht so wenig und ein erster Erfolg.

Unser wichtigstes Vorhaben ist es, wieder Räume zu schaffen, in denen es eine offene Debatte geben kann, in denen wir uns zuhören und durch die wir Frauenrechte durchsetzen können. So können wir auch Vertrauen schaffen. Eines der Dinge, die wir in der politischen Aktion und ihren Räumen in Venezuela verloren haben, ist die notwendige Diskussion oder Gegenüberstellung auch von politisch abweichenden oder gegensätzlichen Meinungen.

Wie steht es aktuell um Feminizide in Venezuela?
KC: Wir zählen heute 67 Tage in diesem Jahr und – laut dem Feminizid-Monitor von Aimee Zambrano – 51 Feminizide. Das ist eine Zahl, die uns alarmiert. Nehmen wir zum Vergleich unsere spanischen Mitstreiterinnen, die auch den feministischen Notstand erklärt haben: In Spanien waren es in diesem Jahr laut offiziellen Angaben 14 bis 16 Feminizide – und dort leben deutlich mehr Menschen als in Venezuela.

Gibt es irgendeinen Weg, Gerechtigkeit für diese Verbrechen zu schaffen?
KC: Im Allgemeinen gehört es nicht zur venezolanischen Kultur, Verbrechen zur Anzeige zu bringen. Wenn eine Frau, die Gewalt erfährt oder erfahren hat, zu Tinta Violeta kommt, ist unser erster Schritt, ihr zur vermitteln, dass sie nicht allein ist und sie von einer Anzeige zu überzeugen. Wenn Frauen aber allein zur Polizei gehen und eine Gewalttat anzeigen wollen, werden sie von den Beamtinnen und Beamten dort wiederum zum Opfer gemacht. Das bringt viele dazu, eher von einer Anzeige abzusehen. Der Fall wird auf Eis gelegt, die Anzeige zurückgezogen und nicht weiterverfolgt, weil die Frau nicht darauf besteht. Zum Glück sind wir als Organisation eine juristische Person. Das heißt, wir dürfen rechtlich gesehen, Teil einer Anzeige sein. Nur so, mit diesem Druck, gelingt es uns, dass die Beamtinnen und Beamten den Fall bearbeiten und irgendwann Ergebnisse erzielen, auch wenn sie uns erst einmal vier Stunden warten lassen.

Wie war die Situation, bevor die offiziellen Statistiken eingestellt wurden?
VA: In den 2000er Jahren traten mehrere neue Gesetze in Kraft, es gab politische Bewegungen und die staatlichen Institutionen hatten einen Weg gefunden, auf die Problematik zu antworten. Das Problem war nicht so schlimm, wie es heute ist. Die Besorgnis über die Gewalt an Frauen hat die öffentliche Politik beeinflusst. Außerdem haben die Frauen während der gesamten Bolivarischen Revolution mit Hugo Chávez sehr stark an den politischen Prozessen teilgenommen, vor allem in den Basisorganisationen. Natürlich war die Gewalt an Frauen ein Thema, aber die Frauen fühlten sich nicht so im Stich gelassen und hatten Möglichkeiten, politische Lösungen dafür zu finden, weil sie politische Protagonistinnen waren.

Seit 2014 ist die Verzweiflung aber groß. Die Jahre 2015 und 2016 waren eine Zeit der starken Brüche. Nicht nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten, sondern alle möglichen Aspekte waren betroffen: in der Politik, der Gesellschaft, der Kultur. Das hatte starke Rückwirkungen auf die Frauen, die am Ende die schwerste Last zu tragen hatten. Es kam zur Feminisierung der Armut. Frauen sind diejenigen, die in ihrem Zuhause direkt betroffen sind, am meisten natürlich von der Gewalt. Diese Umstände haben zu einem bedeutenden Anstieg jeglicher Formen der Gewalt geführt, sei sie symbolisch, politisch oder institutionell.

Welche Forderungen ergeben sich aus eurer „Feministischen Erklärung” in Bezug auf die aktuelle Situation?
KC: Unsere erste Forderung ist die nach offiziellen Statistiken. Die zweite Forderung bezieht sich auf rechtliche Aspekte: Wie schaffen wir es, dass die Beamtinnen und Beamten das geltende Recht umsetzen? Dafür braucht es eine Leitlinie, an die sich gehalten werden muss. Das fängt schon damit an, dass wir nicht durchgelassen werden, um Anzeige zu erstatten, wenn wir ein Kleid tragen. Wenn der Beamte an der Tür nicht mit der Kleidung der jeweiligen Frau einverstanden ist, kommt sie nicht rein und muss stattdessen zurück nach Hause, zurück zu dem Gewalttäter, der sie vielleicht umbringen wird.

Eine andere Forderung richtet sich auf die Entkriminalisierung von Schwangerschafts-abbrüchen – das ginge zum Beispiel durch die Zulassung einer Nichtigkeitsklage. Wir fordern außerdem, dass die Gewaltverbrechen an Bäuerinnen, indigenen Frauen und Mieterinnen nicht als Verbrechen am Eigentum oder Land, sondern als Fälle sexualisierter Gewalt behandelt werden. Diesen Frauen widerfährt keine Gerechtigkeit angesichts solcher Taten. All diese Forderungen gehören zu einem Plan, der jetzt gestaltet werden muss. Dieser Plan muss von den Beamtinnen und Beamten dauerhaft und grundlegend angewandt werden.

Wie steht es um die Aufklärung von Verbrechen gegen Mitglieder der LGBTQ+-Community?
VA: Wir begleiten diese Fälle freihand, weil es keine besonderen Richtlinien gibt. Die Verfassung verbietet jedoch im Artikel 20 und 21 jegliche Form der Diskriminierung, egal in welcher Situation. Darauf basiert unsere Arbeit, denn die Verfassung steht über allem. Fälle, in denen dagegen verstoßen wird, müssen bearbeitet oder zumindest entgegen genommen werden.

KC: Weil Venezuela noch keine Gesetze über die Geschlechtsidentität erlassen hat, sieht das Gesetz beispielsweise transmaskuline Personen als Rechtssubjekte nach ihrem biologischen Geschlecht. Wir haben mehrere solcher Fälle von Menschen betreut, die sich als Männer definieren, vom Gesetz aber als Frauen geschützt werden. Es ist ein sehr komplexes Thema. Wir müssen den Beamtinnen und Beamten erklären, dass die Person eine Frau mit männlicher Identität ist, damit diese Person nicht verletzt oder wiederum zum Opfer wird. Es ist sehr schwierig, weil es immer darum geht, wie die Person zu nennen ist und, weil es viele Vorurteile gibt. Die Betreuung von trans Menschen ist um einiges schwieriger, weil es keinen rechtlichen Rahmen für die geschlechtliche Identität gibt. Verschiedene Organisationen fordern bereits eine Gesetzesreform, tatsächlich existiert sogar schon ein Vorschlag dafür, Gewalt gegen trans Frauen in das Gesetz aufzunehmen. Bisher wird sie das nicht. Mit der Reform würden auch Morde an trans Frauen als Feminizide gezählt werden.

Gibt es Fortschritte der feministischen Bewegung in eurer Region?
KC: Wir vertrauen als feministische Bewegung darauf, dass wir die patriarchalen Formen der Politik, die bis jetzt keine Ergebnisse erzielt haben, verändern können. So lautet die Forderung der feministischen Bewegung in der ganzen Region: eine Alternative zu schaffen, die alle berücksichtigt und einer ganzen Hälfte der Bevölkerung das Recht auf Leben garantiert, was bis heute nicht beachtet wird.


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“VAMOS A CAMBIAR LAS FORMAS PATRIARCALES DE HACER POLÍTICA”

Für die deutschsprachige Version hier klicken.

Victoria Alen y Karina Chacón son integrantes del colectivo Tinta Violeta. Fundada en 2012, el colectivo está especializado en la defensa de los derechos de las mujeres. El voluntariado de acompañamiento amoroso a mujeres en situación de violencia es la bandera del colectivo, por medio del cual dan atención directa a mujeres y miembros LGBTQ+ en casos judiciales. Su “Proyecto Amada” utiliza laboratorios creativos de poesía, de danza, de teatro y otros para la superación del machismo y el impulso del feminismo en la cultura venezolana. Tinta Violeta forma parte de la red de colectivos feministas socialistas La Araña Feminista.
(Foto: Maye Josefina)


¿Por qué declararon una emergencia feminista en Venezuela?
Victoria Alen: En el segundo semestre del año pasado, la compañera, antropóloga y feminista Aimee Zambrano, por medio del Monitor de Femicidios, publicó las cifras de los femicidios en Venezuela para el 2019. Fueron 167 casos, cosa que nos llamó profundamente la atención y nos dimos cuenta también lo desamparada que se encontraban las mujeres a nivel de las legislaciones e institucionalmente en el país. No teníamos cifras oficiales desde el 2015, en el que se contaron 121 femicidios, eso supone un aumento del 38% en el número de víctimas para el 2019. Entonces decidimos organizarnos creando una alianza entre organizaciones y colectivas buscando trascender las posturas ideológicas. Estas organizaciones también hacen un trabajo importante, las cuales si bien ideológicamente no se identifican con el socialismo, tienen estrategias para atender a la mujer. Esa articulación, que ha surgido muy espontáneamente para presionar al estado y a las instituciones nacionales, tiene como nombre “Articulación Feminista”. A partir de las cifras y la articulación decidimos hacer una rueda de prensa para declarar la emergencia feminista, porque nos dimos cuenta de que era una problemática importante que estaba desatendida.

¿Qué acciones tomó la ‘Articulación Feminista’ para presionar al estado?
Karina Chacón: La primera acción en conjunto fue la del 25 de noviembre, Dia Internacional por la Erradicación de la Violencia hacia las Mujeres, en donde redactamos nuestro primer comunicado y lo llevamos al Tribunal Supremo de Justicia como órgano rector del sistema de justicia en Venezuela. Venezuela tiene un marco jurídico que es el más avanzado de la región en materia de género y en cuanto a su redacción y lo que contempla. Pero es una ley que ni siquiera tiene un reglamento. Al momento de buscar la aplicación de esa ley, no se consiguen los mejores resultados.

¿Qué resultados salieron de la manifestación frente al Tribunal Supremo de Justicia?
VA: Bueno, Maikel Moreno, presidente del Tribunal Supremo de Justicia, salió en el momento de la protesta y se comprometió de palabra con nosotros a hacer una articulación entre las instituciones y la red de colectivos que estábamos ahí. Posteriormente se generaron mesas de trabajo con propósitos particulares, se hicieron tres reuniones, pero nunca se llegó a nada. Se quedó en un espacio estéril que no terminó de cuajar por diversas razones. En gran parte, no sé si se debe a la ineficiencia, a la apatía de las instituciones o a la falta de recursos e infraestructura de éstas, pero no llegamos a nada. De hecho, el 25 lo comprometimos a él a que para el 8 de marzo ya tenía que haber algo concreto. Llegó el 8 de marzo, pasó el 8 de marzo y no pasó absolutamente nada.

El 8 de marzo realizaron una protesta independiente como “Articulación Feminista” por el Día Internacional de la Mujer…
KC: Logramos hacer un espacio en el que, a pesar de que había diversidad de pensamientos y de corrientes ideológicas, todas nos sentíamos identificadas con la emergencia feminista y con la lucha por la justicia para todas las mujeres. Reunimos a más de 100 personas, que, para un espacio de articulación pequeño, surgido de la espontaneidad y con el reto de construir desde la autonomía no partidista – no vinculada a sectores oficiales ni a sectores de oposición tradicionales en Venezuela -, lo sentimos como nuestro primer logro. Volver a generar espacios en los que haya un debate abierto, en donde nos podamos escuchar, es la propuesta de esta articulación para resolver el tema de los derechos de las mujeres.

Esto permite generar confianza, porque una de las cosas que hemos perdido en la militancia política, en la acción política, en los espacios de acción política en Venezuela, ha sido esa necesidad de confrontar las ideas.

¿Cuál es la situación actual con respecto a los femicidios?
KC: Hoy estamos a 67 días del año y tenemos 51 casos de femicidio según el Monitor de Femicidios de Aimee Zambrano. Es super alarmante. Como ejemplo tomamos las compañeras españolas, quienes decidieron declararse en Emergencia Feminista. Las cifras oficiales de España en lo que va de 2020 han registrado entre 14 a 16 femicidios y España tiene una población que es mucho más grande que la de Venezuela.

¿Hay alguna forma de obtener justicia en los casos de femicidio?
KC: Por lo general no tenemos una cultura de denuncia en Venezuela. Entonces, el primer paso, cuando Tinta Violeta atiende una mujer que está en situación de violencia, es que la mujer se sienta acompañada y sienta la seguridad de hacer la denuncia. Cuando las mujeres van solas a hacer la denuncia, en general, son revictimizadas por todos los funcionarios y las funcionarias y eso hace que la mujer desista de denunciar. El caso se engaveta, retiran las denuncias, se declara sobreseimiento porque la mujer no sigue insistiendo. Pero como nosotros somos una organización que tiene figura jurídica, nos permite llevar una carta y decir: “según la ley podemos formar parte de la denuncia”. Con esa presión es que logramos que el funcionario y la funcionaria, aunque haciéndonos esperar cuatro horas, nos atiendan y tengamos resultados.

¿Cuál era la situación de los femicidios antes de que cesaran el conteo oficial?
VA: Toda la primera década del 2000 surgieron leyes, había movimientos políticos y había forma de responder desde las instituciones a esta problemática. No se veía tan fuerte como se ve ahora. Había una preocupación y a base de eso sacaron políticas públicas. También hubo en todo el proceso Bolivariano con Chávez muchísima participación política de parte de las mujeres, sobre todo en las organizaciones de base. Como había más participación y protagonismo por parte de las mujeres, si bien existía este tema de la violencia – siempre ha existido – las mujeres no se sentían tan desamparadas y había formas de lograr solucionar su situación. A partir del 2014 en adelante ha habido un desamparo muy grande. Pero 2015 y, en particular, 2016 fueron años de quiebre muy fuerte. No solamente el tema económico quebró, sino también todo lo que lo circunda, lo político, lo social, lo cultural y eso tiene una repercusión fuerte en las mujeres que terminan llevando la mayor carga. Lo que se llama la feminización de la pobreza. Las mujeres son las que se ven más afectadas, más directamente en el hogar, son las que terminan siendo más afectadas por el tema de la violencia y todo este aspecto genera un aumento significativo de las distintas formas de violencia simbólica, política e institucional.

¿Cuáles son las demandas de la “Articulación Feminista” en vista de la situación?
KC: La primera ha sido obtener cifras oficiales por parte del estado. La segunda, ha sido en materia legal, respecto de cómo poder hacer que los funcionarios y las funcionarias hagan cumplir la ley. Es cuestión de tener una directriz que haga que esto se cumpla. Otro de los problemas con el tema de las denuncias es que no nos dejan pasar si llevamos un vestido, no nos dejan pasar si la vestimenta no es adecuada según el funcionario que esté en la puerta. Eso hace que las mujeres que van a denunciar, si no llevan la vestimenta adecuada se regresan a su casa con los agresores y terminan muertas. Otra de las demandas ha sido admitir un recurso de nulidad que nos permita, por lo menos, despenalizar el aborto. Otras demandas son que los casos de violencia hacia mujeres campesinas, indígenas e inquilinas sean tomados como casos de violencia de género y no como casos de propiedad o casos de tierra, porque esto nos impide hacer justicia y enjuiciar a los agresores. Todo va ligado a un plan formativo que sea permanente e integral para los funcionarios y las funcionarias.

¿Cómo actúa la justicia en relación con la violencia contra la comunidad LGBTQ+?
VA: Nosotros hacemos acompañamiento con la ley de la mano, porque no hay un reglamento especial, pero la constitución en el artículo 20 y 21 habla de la no discriminación, no importa en qué situación. Nosotros nos basamos en eso, porque la constitución está por encima de cualquier otra cosa, para que sus casos sean atendidos y por lo menos así logramos que los reciban, porque ni siquiera los quieren recibir o tratar.

KC: Como Venezuela no ha legislado en materia de identidad y la ley reconoce a transmasculinos como sujetos de derecho por su sexo biológico, hemos tenido varios casos de mujeres que han tenido una transición para ser transmasculino, para definirse como transmasculino, y la ley las protege igual como mujeres. Es un tema bastante complejo porque hay que explicarle al funcionario y a la funcionaria que es una mujer que tiene una identidad masculina y, para que ese compañero no sea vulnerado ni revictimizado, es bastante complejo porque siempre está la denominación, o sea, cómo se le llama, y de la mano el prejuicio. Es más complicado hacer acompañamiento a transfemeninas porque no tenemos una legislación en materia de identidad. Desde varias organizaciones están alzando la bandera pidiendo una reforma de la ley y ya hay una propuesta para la reforma, ésta pide incluir la violencia hacia las mujeres trans en la legislación. Esto es importante porque no está contemplada hasta ahora y las muertes de estas compañeras tienen que ser contabilizadas como femicidios.

¿Cómo ven, desde Venezuela, los avances del movimiento feminista en la región?
KC: Nosotras confiamos que, desde el movimiento feminista, vamos a poder cambiar las formas patriarcales de hacer política que hasta ahora no han traído resultado. Es la demanda del movimiento feminista en toda la región, poder conseguir esa alternativa que atienda y que garantice el derecho a la vida de la mitad de la población, que no está siendo atendida en este momento.


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JEDEN DIENSTAG EIN SHOWDOWN

Politische Schwergewichte Das Kräftemessen um den Parlamentsvorsitz hält weiter an (Foto: Olga Berrios, CC BY 2.0)

Er sucht die internationale Bühne. Am 23. Januar, genau ein Jahr nachdem er sich in Caracas selbst zum venezolanischen Interimspräsidenten ausgerufen hatte, hielt Juan Guaidó eine Rede auf dem Weltwirtschaftsforum im schweizerischen Davos. Wenige Tage zuvor hatte er Venezuela trotz Ausreiseverbots verlassen. In Bogotá nahm er an einem regionalen Anti-Terrorismus-Gipfel teil, traf den kolumbianischen Präsidenten Iván Duque und US-Außenminister Mike Pompeo. Es folgte die Reise nach Europa mit den Stationen London, Brüssel und Davos, wo er mit mehreren Spitzenpolitiker*innen zusammentraf, darunter dem britischen Ministerpräsidenten Boris Johnson und dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrel. Guaidós Botschaft war überall die gleiche: Die Opposition werde weiterkämpfen, bis sie die „Freiheit“ erlangt habe.

Interne Brüche in der Opposition

Mit seiner Reise will Guaidó den venezolanischen Machtkampf wieder ins Gespräch bringen und sich weitere internationale Unterstützung sichern. Die Anerkennung durch fast 60 Regierungen ist nach wie vor das größte Faustpfand des Oppositionsführers. Innerhalb Venezuelas erreichte er im vergangenen Jahr so gut wie nichts, zuletzt stand er auch intern stark in der Kritik. Ein Machtkampf um das venezolanische Parlament droht ihm nun auch noch sein einziges tatsächliches Amt zu kosten: Seit Anfang des Jahres erhebt neben Guaidó noch ein weiterer Politiker Anspruch auf den Parlamentsvorsitz. Da der Oppositionsführer sein angebliches Recht auf die Interimspräsidentschaft vom Parlamentsvorsitz ableitet, ist dieser Posten für ihn entscheidend. In einer chaotischen Sitzung am 5. Januar wählten die anwesenden Abgeordneten aber zunächst den abtrünnigen Oppositionellen Luis Parra an die Spitze der Legislative.

Politische Institutionen in doppelter Ausführung

Bis Dezember gehörte Parra der rechten Partei Primero Justicia an. Er gilt als eine der Schlüsselfiguren eines Korruptionsskandals, den die Rechercheplattform armando.info am 1. Dezember 2019 aufgedeckt hatte. Insgesamt neun oppositionelle Abgeordnete sollen regierungsnahen Geschäftsleuten dabei geholfen haben, für das Lebensmittelprogramm der Regierung US-Sanktionen zu umgehen. Drei der Beschuldigten gehörten bis zu ihrem Ausschluss der Partei Voluntad Popular von Juan Guaidó an. Seitdem kursierten Gerüchte, dass die Regierung Parlamentarier*innen besteche, um einen anderen Oppositionskandidaten an die Spitze des Parlaments zu wählen. Umgekehrt warfen einige der abtrünnigen Abgeordneten Guaidó vor, ihnen für ihre Stimme Geld angeboten zu haben. Parra betonte nach seiner Wahl, dass er weiterhin in Opposition zur Regierung stehe, kündigte aber ein Ende der Konfrontationspolitik an. Gleichzeitig warf er Guaidó vor, Venezuela in eine „Sackgasse“ geführt zu haben und versucht sich seither, als unabhängiger Oppositioneller jenseits von Guaidó und der Regierung Maduro zu inszenieren.

In der von Tumulten begleiteten Abstimmung am 5. Januar hatte Parra angeblich 81 Stimmen bekommen. Anwesend waren laut unterschiedlichen Quellen bis zu 150 Abgeordnete. Die venezolanische Nationalversammlung hat 167 Sitze, von denen mehrere aufgrund von Suspendierungen zurzeit nicht besetzt sind. Neben den 50 Abgeordneten der regierenden PSUV müssten demnach 31 Oppositionelle für Parra gestimmt haben. Doch daran gibt es Zweifel. Zwar gilt als erwiesen, dass das für die Eröffnung einer Parlamentssitzung nötige Quorum von 84 Abgeordneten erreicht wurde. Doch eine Namensliste der Abstimmung veröffentlichte das neu gewählte Präsidium nicht. Später behauptete Parra, die Liste sei gestohlen worden. Gar nicht im Saal war Guaidó selbst, der die Sitzung als amtierender Parlamentsvorsitzender normalerweise hätte eröffnen müssen. Die Regierung hatte das Parlamentsgebäude im Zentrum der Hauptstadt Caracas von Polizei und Nationalgarde absperren lassen und die Abgeordneten vor dem Betreten kontrolliert. Guaidó behauptete, dass er sowie weitere Oppositionelle nicht zum Parlamentsgebäude vorgelassen worden seien. Videoaufnahmen zeigen jedoch, dass er das Parlament sehr wohl hätte betreten dürfen. Doch bestand er gegenüber den dort postierten Nationalgardisten darauf, dass ihn mehrere suspendierte Abgeordnete begleiten. Anschließend versuchte er medienwirksam, über den Zaun zu klettern. Am späten Nachmittag ließ sich Guaidó in den Redaktionsräumen der oppositionellen Zeitung El Nacional dann mit angeblich 100 Stimmen selbst zum Parlamentsvorsitzenden wählen. Sofern beide Ergebnisse stimmen, müssten einige Abgeordnete an beiden Abstimmungen teilgenommen und auch für beide Kandidaten gestimmt haben. Glaubwürdig rekonstruieren ließen sich die Ereignisse bisher nicht.

Showdown der zwei Parlaments­präsidenten

Zwei Tage später hielt Parra zunächst erneut eine kurze Sitzung im Parlamentsgebäude ab, bis Guaidó und seine nach eigenen Angaben 100 Abgeordneten das Gebäude stürmten. Dort wählten sie Guaidó erneut zum Parlamentsvorsitzenden – diesmal am dafür vorgesehenen Ort, an dem sie die „Rückeroberung“ der Nationalversammlung feierten. Seitdem kommt es jeden Dienstag zum Showdown, an dem das Parlamentsgebäude jeweils zeitgleich von beiden Parlamentspräsidenten für ihre jeweilige Sitzung beansprucht wird. Die regierungsnahe Verfassunggebende Versammlung (ANC), die seit Mitte 2017 als eine Art Parallelparlament fungiert, will das Gebäude bis auf Weiteres für eigene Sitzungen nutzen, sofern nicht Parra eine Sitzung beantragt. Die Guaidó-Sektion muss seither auf andere Orte ausweichen – ob mit oder ohne die Anwesenheit des Oppositionsführers.

Tatsächlich ist der Konflikt noch nicht entschieden. Die Regierung Maduro erkannte die Wahl von Luis Parra als rechtmäßig an, auch wenn dieser nach jüngstem Stand keineswegs die Mehrheit der Abgeordneten hinter sich hat. Das oberste Gericht forderte Parra dazu auf, die Teilnahme- und Abstimmungslisten der Sitzung einzureichen, während die US-Regierung Sanktionen gegen ihn sowie sechs weitere Abgeordnete und Regierungsfunktionäre verhängte, denen sie vorwirft, an Maduros „gescheitertem Versuch, die Kontrolle über die Nationalversammlung zu übernehmen“ teilgenommen zu haben.

Doch es geht im venezolanischen Konflikt schon lange nicht mehr um die korrekte Einhaltung von Formalitäten, sondern darum, wer in der Lage ist, seine Verfassungsinterpretation durchzusetzen. Durch die neue Runde im Machtkampf droht die Regierung Maduro weiter an internationaler Unterstützung zu verlieren. Selbst befreundete Regierungen wie die argentinische und mexikanische kritisierten die Militarisierung des Parlamentsgebäudes. Auf der Ebene der Großmächte unterstützen die USA weiterhin Guaidó, während die russische Regierung die Wahl Parras als „legitimen demokratischen Prozess“ lobte.

Aufhebung der US-Sanktionen in weiter Ferne

Die venezolanische Opposition wiederum könnte innerhalb des Landes nun ihre letzte institutionelle Bastion einbüßen und noch abhängiger von der US-Regierung werden. Wahrscheinlich ist, dass die regulär für Ende des Jahres vorgesehenen Parlamentswahl vorgezogen wird. Aufgrund der Spaltung der Opposition könnte die Regierung dann womöglich triumphieren.

Guaidó will den Konflikt um das Parlament dazu nutzen, seine verlorene Mobilisierungsfähigkeit wiederzuerlangen und den venezolanischen Machtkampf zurück auf die Straße zu bringen. Es ist voraussichtlich seine letzte Chance, sich als Oppositionsführer zu behaupten. Schon seit Längerem gab es Unzufriedenheit mit Guaidós Kurs. Denn weder gelang es ihm, das venezolanische Militär auf seine Seite zu ziehen, noch führten die US-Sanktionen zu einem institutionellen und sozialen Zusammenbruch des Landes. Auf der Straße konnte er zuletzt kaum noch mobilisieren und zaghafte Verhandlungsversuche unter Vermittlung Norwegens versandeten.

Und es gibt bereits seit Mitte vergangenen Jahres Veruntreuungsvorwürfe gegen Guaidó: Ende November entließ er seinen „Botschafter“ in Kolumbien, den altgedienten Oppositionspolitiker Humberto Calderón Berti. Dieser bekräftigte anschließend, dass Guaidós Umfeld nach dem Versuch, im Februar von Kolumbien aus Hilfsgüter über die Grenze zu bringen, Gelder unterschlagen habe. Dabei soll es unter anderem um Mittel für desertierte Soldaten gehen, die stattdessen für Prostituierte sowie Alkohol ausgegeben worden seien.

Der aktuelle Konflikt ums Parlament offenbart interne Brüche in der Opposition, hat Guaidó aber teils nochmal taktischen Rückhalt verschafft. Die schweren wirtschaftlichen Probleme Venezuelas bleiben derweil ungelöst, während die politischen Gewalten weiteren Schaden nehmen.
Die meisten politischen Institutionen gibt es mittlerweile in doppelter Ausführung, wobei die Opposition die Ämter des Präsidenten, Parlamentspräsidenten, der Generalstaatsanwältin oder der Richter*innen des Obersten Gerichts nur scheinbar und teilweise außerhalb Venezuelas ausübt. Eine politische Lösung, die die Aufhebung der US-Sanktionen und die ausgehandelte Neuwahl aller politischer Gewalten beinhalten müsste, scheint in noch weitere Ferne gerückt zu sein.

Daran wird auch Guaidós Auslandsreise nichts ändern. Die Frage ist, ob er, wie als er im März vergangenen Jahres Lateinamerika bereiste, problemlos wieder einreisen kann.


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DIE KRISE SELBST VERWALTEN

Eingang zur „Bienenwabe“ 2021 Das Tor zur „Sozialistischen Kommune Panal 2021“  (Foto: Tobias Lambert)

Vor der Metrostation Agua Salud im Westen von Caracas schlängelt sich die Straße einen der Hügel des Stadtviertels 23 de Enero hinauf. An der Seite ragen breite, 15-stöckige Hochhausblocks empor. Dazwischen erstrecken sich die für Venezuela typischen, als barrios bekannten Armenviertel aus roten Backsteinhäuschen, von ihren Bewohner*innen einst in Eigenregie erbaut. In den 1950er Jahren hatte der Militärherrscher Marcos Pérez Jiménez den modernistischen Architekten Carlos Villanueva damit beauftragt, 38 große und 57 kleinere Hochhäuser als Sozialbauprojekt zu errichten. Noch vor dem Bezug stürzte der Diktator am 23. Januar 1958, die Gebäude wurden besetzt und nach diesem Tag benannt. Vor Block 26 kündigt ein geschwungener Torbogen die „Sozialistische Kommune Panal 2021“ an. Panal bedeutet Bienenwabe. „Die Biene steht für uns als Symbol für die arbeitende Bevölkerung“, erklärt Ana Marín. „Die Königin ist für uns die Versammlung der Community. Und was wir uns aufbauen, verteidigen wir mit unserem Leben, denn die Biene stirbt, wenn sie sticht.“
Das 23 de Enero ist bis heute eine Bastion der Chavistas, der Anhänger*innen des 2013 verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez. Früher hieß es scherzhaft, jeder der Hochhausblocks habe seine eigene marxistische Partei. Maríns Augen glänzen, wenn sie davon erzählt, wie Chávez vor 20 Jahren die zahlreichen linken Organisationen in dem politischen Projekt vereint hat, das unter dem Namen Bolivarianische Revolution bekannt wurde. Sie ist Aktivistin des Colectivo „Fuerza Alexis Vive“, der treibenden Kraft hinter Panal 21. Entstanden ist das Kollektiv während des kurzzeitigen Staatsstreichs gegen Chávez im April 2002, der Namensgeber Alexis González Revette wurde damals von putschenden Polizeieinheiten erschossen.
Seitens der rechten Opposition wird der Begriff Colectivo meist als Synonym für bewaffnete motorisierte Stoßtrupps der Regierung verwendet. Tatsächlich gibt es derartige Gruppen, auch das Kollektiv „Alexis Vive“ ist früher durchaus martialisch aufgetreten. Doch verbergen sich hinter den Colectivos ebenso zahlreiche linke Organisationen, die radikaldemokratische Basisarbeit betreiben. „Das ist an sich nichts Neues“, sagt Ana Marín. Auch früher schon seien linke Bewegungen als Guerillas oder Kommunist*innen diffamiert worden. Bei Gruppen, die das Spiel mitmachten und sich den Medien mit Waffen präsentierten, handele es sich jedoch häufig schlicht um Kriminelle.

„Sozialismus heißt für uns unabhängiger zu werden und uns selbst zu verwalten“

Nachdem Chávez das Projekt einer partizipativen und protagonistischen Demokratie anfangs eher mit sozialdemokratischen Ideen verfolgt hatte, erhob er ab 2005 den Aufbau eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts zum Ziel. Die Keimzelle des neuen „Kommunalen Staates“ sollten die kommunalen Räte werden, in denen sich jeweils bis zu 400 Haushalte in einem selbst definierten geografischen Gebiet zusammenschließen, um basisdemokratisch über die Belange in der Nachbarschaft zu entscheiden. Auf einer höheren politischen Ebene können diese Räte sogenannte comunas (Kommunen) bilden. Nach einer Anfangsphase in reiner Selbstverwaltung erhielt Panal 21 umfassende Fördermittel seitens der Regierung Chávez. „Das was war eine sehr wichtige Hilfe, doch in der dritten Phase zeigt sich nun, ob wir als comuna funktionieren oder nicht.“ Mit den staatlichen Institutionen kooperiert Panal 21 noch immer. Im Gegensatz zu anderen sieht sich die Kommune aus dem 23 de Enero jedoch nicht als Anhängsel des Staates, sondern baut in mehreren Regionen Venezuelas ein Netzwerk produzierender comunas auf. „Sozialismus heißt für uns, dass wir unabhängiger von der staatlichen Finanzierung werden und uns selbst verwalten.“
Auf dem Gebiet von Panal 21 leben heute etwa 14.000 Menschen, die in sieben kommunalen Räten mit zahlreichen sozialen und kulturellen Gruppen organisiert sind. Die comuna betreibt eine Bäckerei, einen Textilbetrieb sowie eine Zuckerverpackungsanlage und baut Gemüse auf einer urbanen Ackerfläche an. Sogar eine eigene kommunale Währung gibt es. „Wir tragen mit dazu bei, die Effekte der Krise abzumildern, anstatt mit verschränkten Armen abzuwarten“, sagt Marín.
Seit Jahren leidet Venezuela unter der schwersten Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Versuche der Regierung unter Nicolás Maduro, die Wirtschaft mittels einer Währungsreform und Ausgabenkürzungen zu stabilisieren, schlugen fehl. Die öffentlichen Dienstleistungen stehen kurz vor dem Kollaps und die Hyperinflation hat sämtliche Ersparnisse und Löhne in der Landeswährung Bolívar entwertet. Der monatliche Mindestlohn beträgt zurzeit umgerechnet etwa 7,5 Dollar. Zusätzlich gibt es Lebensmittelgutscheine in gleicher Höhe. Im Privatsektor wird etwas mehr gezahlt, doch ohne die beinahe kostenlosen Lebensmittelkisten der Regierung und Rücküberweisungen migrierter Familienangehöriger könnten die meisten Venezolaner*innen zurzeit nicht überleben.

„Wir tragen mit dazu bei, die Effekte der Krise abzumildern, anstatt mit verschränkten Armen abzuwarten“

Zwischen Oktober 2018 und März dieses Jahres legalisierte die Regierung den Tausch von US-Dollar und schaffte die Preiskontrollen de facto ab. In der Folge stehen die meisten Produkte mittlerweile wieder in den Supermarktregalen, aber zu horrenden Preisen. Bargeld in der Landeswährung ist kaum zu bekommen, dafür wird der Dollar nun fast überall als gängiges Zahlungsmittel akzeptiert. Lange Zeit machte die Regierung einen „Wirtschaftskrieg“ seitens der Opposition und der USA für die Krise verantwortlich, also die gezielte Sabotage und Hortung von Waren. Heute sieht sie das Hauptproblem in den US-Sanktionen.
Der linke Ökonom Manuel Sutherland erinnert hingegen an die Rolle der Regierung selbst. „Auch wenn es die Linke schmerzt: Den derzeitigen Zustand der Ökonomie haben Strukturen verursacht, die der Chavismus seit 2003/2004 geschaffen hat“. Durch den niedrig gehaltenen Dollarkurs habe die Regierung ab 2003 die Importe künstlich verbilligt, gleichzeitig jedoch der heimischen Produktion geschadet und dafür gesorgt, dass sehr viel Geld ins Ausland abgeflossen sei. „Dies hat die enorme Korruption und Plünderung der Erdölrente ermöglicht“, sagt Sutherland. Die Sanktionen, die sich erst seit August 2017 gezielt gegen die Wirtschaft richten, hätten die Krise nicht ausgelöst, verschlimmerten die Situation vor allem der ärmeren Bevölkerung aber drastisch. Derzeit beobachtet Sutherland einen offiziell niemals erklärten Privatisierungskurs. „Die Regierung hat mit ihnen nahe stehenden Wirtschaftsakteuren und Militärs unter der Hand eine Öffnung der Ökonomie ausgehandelt“, sagt er. Durch die US-Sanktionen sei es kaum mehr möglich, Kapital außer Landes zu schaffen. Daher investiere eine kleine aufstrebende Elite ihr Geld in plötzlich entstehende private Immobilienprojekte oder importiere Luxusgüter.

„Die Regierung hat unter der Hand eine Öffnung der Ökonomie ausgehandelt“

Tatsächlich wächst in Caracas in jüngster Zeit eine Infrastruktur, die ausschließlich vermögende Leute anspricht. In Einkaufszentren und Luxushotels werden teure Importwaren von französischem Champagner über spanische Weine und Chorizo bis hin zu Handtaschen internationaler Modefirmen angeboten. Im historischen Stadtzentrum, das zahlreiche Regierungsgebäude beherbergt, ansonsten aber eine ärmere Wohngegend ist, sind hippe Cafés mit europäisch anmutendem Interieur entstanden. Die staatliche Supermarktkette Abastos Bicentenario, die seit 2010 stark subventionierte Lebensmittel verkauft hatte, ist bereits im vergangenen Jahr den privaten Tiendas CLAP gewichen. An den Eingängen prangt das identische Logo der ebenfalls als CLAP bezeichneten „Lokalen Produktions- und Versorgungskomitees“, die seit 2016 Lebensmittelkisten zu symbolischen Preisen an offiziell sechs Millionen Haushalte verteilen. Doch die Tiendas CLAP haben nichts mit den Kisten zu tun, sondern verkaufen überteuerte Waren. Im noch immer sozialistischen Regierungsdiskurs werden solch obskure Privatisierungen nicht an die große Glocke gehängt. „Von Anfang an hat Maduro versprochen, Chávez’ Erbe fortzuführen“, sagt Sutherland. „Mit dem sozialistischen Diskurs richtet sich die Regierung an ihre eigene Basis, denn sie muss zeigen, dass sie anders ist als die Opposition.“
Ana Marín von Panal 21 hingegen sieht es positiv, dass etwa die Kommunen im Regierungsdiskurs noch immer präsent sind. „Doch es gibt große Defizite“, meint sie. „Denn die Regierung blickt vor allem auf Statistiken. Es geht aber nicht um die Anzahl der Kommunen, sondern um einen politischen Sprung.“ Die derzeitige Situation hinterlasse jedoch ihre Spuren. „Jetzt während der Krise ziehen sich viele Leute zurück und entpolitisieren sich.“ Sutherland traut der Regierung nicht mehr zu, aus eigener Kraft die Krise zu überwinden. „Sie hat dafür keine Instrumente“, sagt er. Die Erholung der Wirtschaft könne nur in einem Dialog zwischen den moderaten Sektoren beider politischer Lager ausgehandelt werden.
Nachdem Gespräche zwischen rechter Opposition und Regierung unter der Vermittlung Norwegens im September gescheitert waren, verkündete Maduro überraschend einen neuen Dialog mit einem kleineren Teil der Regierungsgegner*innen. Damit ist die Spaltung der rechten Opposition, die bereits bei den umstrittenen Präsidentschaftswahlen im Mai 2018 zu einem Teilboykott geführt hatte, erneut aufgebrochen. „Auch wenn Maduro es nicht verdient hat, muss ihm ein gesichtswahrender Abgang ermöglicht werden“, meint Sutherland. „Wenn, dann wird die Regierung die Macht an eine ihnen näher stehende Opposition abgeben, die anschließend weitere Wirtschaftsreformen durchführt, den Verteidigungsminister aber im Amt belässt.“
Ana Marín will trotz aller Kritik nichts von einem Regierungswechsel wissen. „Wir glauben nicht an die Opposition, die während des Putsches 2002 unseren Compañero Alexis erschossen hat.“ Was die Regierung mit ihren Gegner*innen zu verhandeln habe, weiß die Aktivistin nicht. „Als comuna führen wir einen Dialog mit der Bevölkerung“, betont sie. „Das hier muss ein transparenter, ethischer Raum sein, der angesichts der Zersetzung der Gesellschaft als Vorbild gilt.“

 


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KUBANISCHE ÄRZTIN IN ALLER WELT

Dr. INDIRA GARCÌA ARREDONDO
arbeitete mit der Mission Barrio Adentro zunächst zwei Jahre in Venezuela, bevor sie drei Jahre lang im Rahmen von Mais Médicos in Brasilien als Ärztin tätig war. Derzeit bereitet sie sich auf einen Einsatz in Algerien vor.  (Foto: Klaus Piel)


 

Was denken Sie darüber, dass Kubas Präsident Miguel Díaz-Canel die Ärzt*innen aus Brasilien zurückgeholt hat?

Wir verließen Brasilien auf Initiative unserer Regierung, aufgrund der Anschuldigungen Bolsonaros, die schlicht und einfach Lügen waren. Eine Behauptung lautete, dass wir nicht unser ganzes Gehalt ausbezahlt bekämen. Seit 2013 gab es aber auf Initiative der ehemaligen brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff einen trilateralen Vertrag zwischen Brasilien, der Panamerikanischen Organisation für Gesundheit und Kuba. Darin ist klar festgehalten, dass wir einen Anteil unseres Gehalts als Stipendium bekommen. Der größere Teil geht an die Gesundheitsversorgung in Kuba oder an andere Missionen, denen Kuba Material und Personal bereitstellt.
Er behauptete außerdem, dass wir unsere Familien nicht mitnehmen durften. Es war zwar nur für drei Monate möglich, aber wir hatten unsere Familien bei uns. Wir haben elf Monate gearbeitet – freiwillig, nicht gezwungen, wie sie auch behaupteten – und hatten einen Monat frei. Die Familie hätte auch vier Monate bleiben dürfen,
aber ich fand, dass drei Monate genug Zeit war.
Eine weitere Behauptung Bolsonaros lautete, dass wir nicht die nötigen medizinischen Fähigkeiten hätten. Doch wir mussten in Brasilien mehrere Prüfungen bestehen, medizinische, aber auch sprachliche. Wir hatten Unterricht und Konferenzen in den Universitäten vor Ort, wo wir monatlich getestet wurden. Wir haben von wöchentlich 40 Stunden Arbeitszeit 32 Stunden gearbeitet und 8 Stunden studiert.

Wie kam es überhaupt dazu, dass Sie als Ärztin im Ausland arbeiteten?

Schon als kleines Kind wollte ich Ärztin werden und auch mein Vater wollte es für mich, weil er damals nicht die Möglichkeit hatte. Außerdem sind zwei meiner Onkel Ärzte. Es hat mir schon immer gefallen anderen zu helfen, besonders Kinder mag ich gern. Nach meinem Studium arbeitete ich während der Zeit meines Sozialen Dienstes in einer abgelegenen Region in meiner Heimatprovinz (Der dreijährige Soziale Dienst ist verpflichtend für Menschen mit einer höheren Ausbildung und obligatorisch für die Erlaubnis, im Ausland zu arbeiten, Anm. der Red.). Dort war ich ganz auf mich gestellt und wurde mit vielen Problemen konfrontiert. Ich war Ärztin und Krankenschwester auf einmal, schlief am Arbeitsplatz und war 24 Stunden anwesend. Nach zwei Jahren Dienst und mit meinem Abschluss als Ärztin der Allgemeinmedizin bin ich zuerst nach Venezuela gegangen. Weil ich schwanger wurde und die Mission in Venezuela nicht abschließen konnte, wollte ich beenden, was ich angefangen hatte und ging anschließend nach Brasilien.

Wollten Sie in Venezuela arbeiten oder war das vorgegeben?

Man kann nicht wählen, wohin man geht, das ist von der Dringlichkeit der Lage im jeweiligen Land abhängig. Die Einsatz kubanischer Ärzte in Venezuela hatte gerade erst begonnen und ich war eben die Nachfolge für den Arzt vor mir.

Wie funktioniert die Auswahl kubanischer Ärzt*innen für den Auslandseinsatz?

Die Auswahl nimmt der Gesundheitsdienst vor. Es gibt Verträge für die medizinische Zusammenarbeit auf Anfrage der Länder, die manchmal Personal mit ganz bestimmten medizinischen Fähigkeiten suchen. Danach wird auf mehreren regionalen Ebenen nach verfügbaren Freiwilligen gesucht.

Sie haben auch in Venezuela gearbeitet, in dem Programm für medizinische Hilfe Barrio Adentro. Wie beurteilen Sie die Unterschiede zwischen den Gesundheitssystemen im Vergleich mit dem Kubas?

Im Vergleich mit dem venezolanischen Gesundheitssystem ist das kubanische besser. Es ist einzigartig, gratis und in der Verfassung festgeschrieben. Man sieht, wie viele Ärzte in anderen Ländern fehlen. In Brasilien gab es Gemeinden, in die das erste Mal überhaupt Ärzte kamen. Das Programm Mais Médicos erreichte ungefähr 3.600 Gemeinden, in 700 davon war noch nie zuvor ein Arzt gewesen. In Kuba ist das medizinische Versorgungsnetz dichter. Dort, wo ich meinen Sozialen Dienst geleistet habe, gab es zwar nur einen Bus am Morgen und einen am Abend, aber immerhin eine Ärztin.

Was sagen Sie zu dem oft wiederholten Vorwurf, es gäbe in Kuba zu wenig Ärzt*innen, weil so viele von ihnen im Ausland arbeiten?

In Kuba fehlt es nicht an medizinischem Personal. Wenn wir zum Arbeiten in ein anderes Land gehen, ist die medizinische Versorgung in Kuba garantiert, es gibt ein Gleichgewicht und unser Gehalt wird weiter gezahlt. Wenn wir zurückkommen, kehren wir an unseren alten Arbeitsplatz zurück.

 


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„ES FINDET EIN BRUCH STATT“

 

ANTONIO GONZÁLEZ PLESSMANN
ist Soziologe, langjähriger linker Menschenrechtsaktivist und Teil der Menschenrechtsorganisation Colectivo Surgentes. Er was Vizedirektor der Universidad Nacional Experimental de la Seguridad und hat den Prozess der Polizeireform von 2006 bis 2013 begleitet. Surgentes wurde 2016 von einer Reihe linker Menschenrechtsaktivisten gegründet und legt besonderes Augenmerk auf die soziale Frage. Gemeinsam mit anderen Kollektiven initiierte Surgentes im Juli dieses Jahres die „Dialoge für eine chavistische Überwindung der Krise“. Zuvor entstand als Diskussionsgrundlage ein gemeinsames Papier, das eine Analyse der derzeitigen Situation, Vorschläge für kollektives Handeln und Forderungen an die Regierung enthält.


Anfang Juli haben sich Vertreter*innen mehrerer Basisorganisationen unter dem Motto „Dialoge für eine chavistische Überwindung der Krise“ getroffen. Worum geht es dabei?
Als Kollektive und Bewegungen wollen wir unseren bescheidenen Beitrag leisten. Wir sehen das radikaldemokratisch-sozialistische Programm des Chavismus heute sowohl durch die von den USA angeführte Rechte als auch die Regierungselite bedroht. Mit dem Argument, „die Regierung zu verteidigen, um die Revolution zu retten“ hat diese Elite einen Schwenk nach rechts vollzogen und die Räume demokratischer Partizipation eingeschränkt. Die Mehrheit der Basis sieht heute eine Diskrepanz zwischen Regierungsdiskurs und -praxis. Dies hat bisher aber nicht zu einer Neuerfindung des Chavismus geführt.

Was heißt Neuerfindung?
Als politisches Subjekt ist der Chavismus mehrheitlich basisnah und antikapitalistisch. Doch die Bewegungen sind fragmentiert und von der bürokratischen Elite vereinnahmt. Die Dialoge sollen dazu beitragen, dieses politische Subjekt zu stärken. Wir glauben, dass der Chavismus als politische Kraft jenseits der Regierung eine lange Zukunft hat.

Mittlerweile versuchen unterschiedliche politische Strömungen den Chavismus für sich zu vereinnahmen. Worin besteht für Sie Chávez’ Erbe?
Erstens in der staatlichen Kontrolle der natürlichen Ressourcen und strategischen Unternehmen. Dazu gehören politische Souveränität sowie der Austausch mit Regierungen und Bevölkerungen des globalen Südens. Zweitens in der Radikalisierung der Demokratie. Das bedeutet, allmählich die Macht der Bevölkerung zu vergrößern, und zwar im wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bereich. In Chávez’ Worten hieß das: „Wenn wir die Armut beseitigen wollen, müssen wir den Armen Macht geben.” Während Chávez’ Regierungszeit förderte der Staat die Übernahme von Produktionsmitteln durch die Bevölkerung. Die Regierung förderte zudem sowohl Selbstregierung auf kommunaler Ebene als auch die Kontrolle des Staates durch die Öffentlichkeit und die Debatte über staatliche Politik. Im kulturellen Bereich gab es eine positive Besinnung auf das afrikanische, indigene, mestizische und volksnahe Erbe, das historisch untergeordnet und ausgegrenzt wurde.
Und drittens besteht Chávez’ Erbe in einem postkapitalistischen Ansatz. Der Sozialismus soll nach und nach von unten aufgebaut werden, in einem radikal-demokratischen Rahmen und in Allianz zwischen Staat und Basismacht (poder popular).

Diese Allianz funktioniert heute nicht mehr so wie während der Regierungszeit von Hugo Chávez. Wie lässt sich das Verhältnis zwischen Regierung und chavistischen Organisationen zurzeit beschreiben?
Zum einen gibt es den Versuch, die Bewegungen gefügig zu machen. Das drückt sich in dem Slogan „Beschützer des Volkes“ aus, den Nicolás Maduro und seine Regierung verwenden. Die protagonistische Bevölkerung unter Chávez wird bevormundet und in eine passive Rolle zurückgedrängt. Die Regierungselite erwartet Loyalität, Dankbarkeit und Demobilisierung. Das zeigt sich auch daran, dass Nicolás die „Lokalen Komitees für Versorgung und Produktion“ (CLAP), die stark subventionierte Lebensmittel verteilen, als höchsten Ausdruck der Basismacht bezeichnet.

Inwiefern deutet die Regierung hier den Begriff poder popular um?
Während die kommunalen Räte und die comunas (Zusammenschlüsse mehrerer kommunaler Räte, Anm. d. Red.) pluralistische Räume darstellten, in denen die Macht von unten, von Versammlungen und Abstimmungen ausging, werden die CLAP vom Staat und der Regierungspartei PSUV (Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas) kontrolliert. Ihre Mitglieder werden ernannt statt gewählt und führen Weisungen von oben aus. Diese Sichtweise der Basismacht steht im Widerspruch zu Autonomie, Protagonismus und Sozialismus. Aber die venezolanische Bevölkerung ist aufsässig und rebellisch. Organisierte comunas, Kollektive und Bewegungen, die über eine größere Autonomie gegenüber dem Staat verfügen, bieten der Regierung aus dem Inneren des Chavismus heraus häufig die Stirn, indem sie Forderungen aufstellen und Kritik formulieren.

Wie antwortet die Regierung darauf?
Unterschiedlich. Zum einen versucht sie die Legitimität von Kritik zu untergraben, ohne sich direkt mit ihr auseinanderzusetzen. Andererseits geht sie aber manchmal auf Forderungen ein, um die eigene Legitimität zu erhöhen. Regierung und PSUV sind in den ärmeren Vierteln sehr präsent und kontrollieren mittels des bürokratischen Apparates die Mehrheit der chavistischen Basis. Aber die Zustimmung schwindet auch dort. Die Menschen lehnen zwar den Imperialismus ab und wollen mit der rechten Opposition nichts zu tun haben. Gleichzeitig wissen sie aber genau, dass die derzeitige Regierung das chavistische Programm verraten hat. Es findet ein allmählicher Bruch statt, von dem wir nicht wissen, welche Auswirkungen er haben wird.

Wieso hat sich der demokratische Spielraum für die Basisbewegungen in den vergangenen Jahren derart verkleinert?
Wenn linke Regierungen belagert werden, neigen sie dazu, sich zu verschanzen. Die Angriffe des Imperiums sind sehr real und finden seit 2001 statt. Nach Chávez’ Tod haben sie sich jedoch intensiviert bis hin zu den sogenannten US-Sanktionen, die wir als unilaterale, illegale und willkürliche Zwangsmaßnahmen ohne völkerrechtliche Grundlage betrachten. Diese haben katastrophale Auswirkungen für eine Ökonomie, die sich bereits in der Krise befand.
Diosdado Cabello (Vorsitzender der verfassunggebenden Versammlung und ein politisches Schwergewicht des Chavismus, Anm. d. Red.) wiederholt regelmäßig einen Gedanken von San Ignacio Loyola, den auch Fidel Castro häufig zitiert hat: „In Zeiten der Belagerung bedeutet Zweifel Verrat”. Daraus folgt die Negierung von Kritik, geduldet wird nur Zustimmung. Die Regierung schließt unbequeme Personen oder Sektoren aus, bevormundet die Basis und schränkt die autonome Partizipation ein. Niemand darf über die Korruption in den eigenen Reihen sprechen, das Regierungshandeln wird ineffizient und wir erleben eine zunehmende Privatisierung der Politik. Dadurch schwindet die Legitimität der politischen Klasse.

Seit einigen Jahren nehmen die Berichte über die verstärkte Repression in den barrios (einfache und ärmere Stadtviertel) zu. Venezolanische Menschenrechtsorganisationen und auch die Vereinten Nationen sprechen von tausenden extralegalen Hinrichtungen. Was geht da vor sich?
Nach offiziellen Zahlen gab es im Jahr 2018 10.598 Morde. Hinzu kommen 5.287 Todesfälle aufgrund von „Widerstand gegen die Staatsgewalt.“ Damit gemeint sind bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen mutmaßlichen Kriminellen und den Sicherheitskräften. Der Staat räumt also öffentlich ein, dass er selbst ein Drittel der getöteten Personen zu verantworten hat. Dies allein schon ist eine Ungeheuerlichkeit, weil sich darin eine unverhältnismäßige Anwendung von Gewalt seitens der Sicherheitskräfte ausdrückt. Dies widerspricht völlig den Zielen der Polizeireform, die Chávez ab 2006 durchgeführt hat. Doch wenn wir uns die Todesfälle genauer ansehen, stellen wir fest, dass es in den meisten Fällen gar keine Auseinandersetzungen gab. Vielmehr handelt es sich um Hinrichtungen, die später anderes dargestellt werden.

Wie ist diese Polizeigewalt zu erklären?
Im Bereich der Sicherheit findet eine Verselbständigung statt. Es gibt keine politische Kontrolle, der übelste Teil des Militärs und der Polizei gibt den Ton an. Und die Regierung toleriert dies. Die meisten der Toten sind junge Leute aus den Armenvierteln. Es handelt sich also um eine klassistische Gewalt, die die sozialen Ungleichheiten reproduziert. Als Menschenrechtler*innen haben wir dies seit 2015 angeprangert, als die Regierung damit begann, Polizeiaktionen unter dem Namen Operación de Liberación del Pueblo (OLP, Operation Befreiung der Bevölkerung) durchzuführen. Wir veröffentlichten damals ein Kommuniqué, das verschiedene Medien dokumentierten.

Wie hat die Regierung auf die Kritik reagiert?
Ohne uns beim Namen zu nennen wies Nicolás den Innenminister öffentlich an, die „kleine Gruppe Intellektueller“ einzubestellen, die sich wegen der OLP „besorgt” zeige. Das Treffen fand allerdings niemals statt. Offensichtlich hatte die Regierung kein wirkliches Interesse daran, den repressiven Ansatz der Sicherheitspolitik zu ändern.

Aktuell besteht Hoffnung auf einen möglichen Dialog zwischen Regierung und rechter Opposition. Unter Mediation Norwegens fanden bereits mehrere Treffen statt, zuletzt auf Barbados. Auch wenn kaum Details bekannt sind: Wie schätzen Sie die Möglichkeit ein, dass es zu einer Vereinbarung kommt, um die Krise zu überwinden?
Es wäre wünschenswert, dass ein Abkommen geschlossen wird. Denn die Alternativen sind Krieg, Invasion oder ein autoritärer Kurs. Und in all diesen Szenarien sind es die ärmeren Schichten, die am meisten verlieren. Ein Abkommen wird aber nicht dazu führen, dass der politische Konflikt verschwindet. Er muss vielmehr in demokratische und verfassungsmäßige Kanäle zurückkehren, die er niemals hätte verlassen dürfen.

 


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„IN PERMANENTEM BANKROTT“

Foto: Fischer Verlag

Als Adelaida ihre Mutter beerdigt, bleibt die 38-Jährige einsam zurück. In Caracas hat sie keine Familie mehr, die Tanten wohnen abgelegen an der Karibikküste. Versorgungsmängel, Inflation und Gewalt prägen den Alltag in der venezolanischen Hauptstadt. Nachdem einige Regierungsanhänger*innen auch noch ihre Wohnung besetzen, steht Adelaida plötzlich vor dem Nichts, bis sie hinter der nicht abgeschlossenen Tür nebenan den leblosen Körper ihrer Nachbarin findet. Kurzerhand beschließt Adelaida, die Identität der Toten anzunehmen, deren spanischer Reisepass nur noch verlängert werden muss. Zwischendurch erinnert sie sich an Zeiten, in denen europäische Migrant*innen in Venezuela ein besseres Leben suchten.
Nacht in Caracas ist der Debütroman der venezolanischen Journalistin Karina Sainz Borgo, die seit mehr als zwölf Jahren in Spanien lebt. Bereits vor Erscheinen verkaufte sich das Buch in 22 Länder, das mediale Interesse ist groß. Nach der Lektüre bleibt jedoch vor allem eine Frage zurück: Warum eigentlich?
Jenseits einzelner gelungener Szenen wirkt der Plot um Adelaidas als ambivalent beschriebenen Ausweg aus der Krise arg inszeniert. Die Metaphern und Allegorien versuchen krampfhaft, das Bild einer totalitären Gesellschaft zu zeichnen, in der die Protagonistin im Laufe der Geschichte alles verliert und doch gewinnt. Aus strikt oppositioneller Sicht thematisiert Sainz Borgo allgegenwärtige Themen des polarisierten Landes wie Korruption, Klientelismus, Medikamentenmangel oder staatliche Willkür. Tatsächlich aber offenbart Adelaidas Perspektive jenen Klassismus und Rassismus, den Teile der venezolanischen Mittel- und Oberschicht gegenüber den marginalisierten Teilen der Bevölkerung seit jeher kultivieren. Nun kann ein literarisches Werk seine Kraft auch genau daraus ziehen, kompromisslos aus einer individuellen Position heraus zu erzählen. Doch geht es der Autorin offensichtlich um eine – nur ganz leicht verfremdete – Zustandsbeschreibung des heutigen Venezuelas. Zu keinem Zeitpunkt lässt Sainz Borgo dabei den Verdacht aufkommen, dass es auch andere legitime Sichtweisen als jene ihrer Hauptfigur geben könnte.

Die Anhänger*innen der Regierung werden als ungebildete, fettsüchtige und ungewaschene Horden dargestellt


Jegliche Unterstützung der Regierung basiert laut der Erzählerin auf Zwang, Gewalt oder Privilegien. Die Empfänger*innen staatlicher Lebensmittelkisten müssen in Adelaidas Worten „brav zu jeder regierungsfreundlichen Veranstaltung und Demonstration gehen oder einfache Dienste leisten, wie etwa Nachbarn anzeigen.“ Zwar weist die Lebensmittelverteilung in ihrer heutigen Form in Venezuela durchaus klientelistische Züge auf und Veruntreuung findet auf allen Ebenen statt. Doch wie überlebensnotwendig die subventionierten Lebensmittel angesichts der Hyperinflation für sechs Millionen Familien sind, die dafür keineswegs Spitzeldienste verrichten müssen, erwähnt die Autorin von Nacht in Caracas nicht. Möglicherweise mangelte es an Kontakten in die barrios (ärmere Stadtviertel). Ebenso wenig scheint ihr bewusst, dass der Chavismus als politische Identität weit über die Regierung hinausgeht und auch jenseits materieller Zuwendungen existiert. Das heißt nicht, dass die Erzählerin nicht sensibel gegenüber der Armut um sie herum wäre. „Mit Geld ging alles einfach und schnell“, stellt Adelaida fest, als sie dem Ziel des Identitätsklaus dank wiederholter Bestechung immer näher kommt, „sehr viel schlimmer war, keines zu haben. So lebte die Mehrheit. In permanentem Bankrott.“ Banaler geht es kaum.
Noch ärgerlicher sind die Beschreibungen der Regierungsanhänger*innen selbst. Diese werden zu „Bastarden der Revolution“ und ausschließlich als ungebildete, fettsüchtige und ungewaschene Horden dargestellt. Aus purer Lust und gegen Bezahlung prügeln sie auf Oppositionelle ein, um deren „Köpfe aufplatzen zu lassen wie Melonen.“ Da heben die „engen Jeans“ der korrupten Hausbesetzerinnen „ihre feisten Beine hervor, die in elefantiastische Füße ausliefen, die in Plastiktüten steckten. Sie hatten dunkle Haut und struppiges Haar, das zu einem steifen Stummel gebunden war.“ Selbstredend schwitzten die Frauen „wie die Fernfahrer“ mit einem Geruch, „säuerlich und ekelerregend.“
Die Schilderungen sind oft derart von Hass geprägt, dass sie in Rachefantasien gipfeln. „Niemandem zitterte mehr die Hand, wenn es darum ging, jemandem vom Regime aufzulauern und ihn zu lynchen.“
Dabei werden in der deutschen Übersetzung nicht einmal alle rassistischen Untertöne deutlich. Als Adelaida etwa inmitten gewalttätiger Übergriffe seitens regierungsnaher Schlägertrupps die Leiche ihrer Nachbarin verschwinden lässt, sieht sie sich im spanischsprachigen Original einer merienda de negros gegenüber. Der kolonialrassistische Begriff bezieht sich ursprünglich auf afrikanische Sklav*innen, die während ihrer seltenen Pausen eine Zwischenmahlzeit einnahmen. Im Spanischen hält er sich bis heute als Synonym für unruhige, chaotische Situationen. In der deutschen Übersetzung wurde daraus schlicht „Hexenkessel“.
Und so liegen die eigentlichen Stärken des Buches weder im Plot noch in den Allegorien auf Venezuela. In ihrem Versuch, eine universell gültige Geschichte zu schreiben, zeigt die Autorin vielmehr unfreiwillig deutlich auf, wie problematisch weit verbreitete Denkmuster der rechten Opposition in Venezuela sind.

 


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DIE USA SIND FÜR KUBA NICHT EXISTENZIELL

Mit der republikanischen Administration von Donald Trump hat sich die US-amerikanische Kuba-Politik um nahezu 180 Grad gedreht. Wie erklären Sie sich das?
Die jetzige Administration hat die Logik der Obama-Jahre geändert, weil sie der Miami-Gruppe der republikanischen Partei, angeführt vom Senator Marco Rubio aus Florida, nicht gefallen hat. Und weil sie den radikalsten rechten Gruppierungen der Administration nicht gefallen hat. Das hat dazu geführt, dass Präsident Trump, als er ins Weiße Haus gekommen ist, die Kuba-Politik Obamas Stück für Stück abgebaut hat. Er hat im Juni 2017 einem Memorandum zugestimmt, das gegen alles spricht, was Obama zuvor in Gang gesetzt hatte. Trotzdem hat sich die Politik zunächst nicht ruckartig verändert, denn in Regierungskreisen gab es Diskussionen darüber, wie mit Kuba zu verfahren sei. Schließlich gibt es viele gemeinsame Interessen: Kampf gegen den Drogenhandel, Kampf gegen illegale Immigration, usw … Der Kurswechsel vollzog sich erst mit John Bolton als nationaler Sicherheitsberater. Er kam im April 2018 ins Weiße Haus. Seitdem gab es viele negative Aktionen, zum Beispiel, dass die Kreuzfahrtschiffe nicht mehr nach Kuba kommen können, Einschränkungen der remesas (Rücküberweisungen) durch Exil-Kubaner, die in den Vereinigten Staaten wohnen und die komplette Anwendung des Helms-Burton-Gesetzes. So wurde der dritte Abschnitt in Kraft gesetzt. Damit sind vor US-Gerichten Schadensersatzklagen gegen Unternehmen aus aller Welt möglich, die nach der Revolution 1959 beschlagnahmten und verstaatlichten Besitz nutzen. Abschnitte eins, zwei und vier sind bereits seit dem Jahr 1996 in Kraft. Der dritte Abschnitt ist eine Stellschraube, die Kuba höhere Kosten verursacht.

Industriepark an der Küste Havannas / Foto: Flickr, Cary Lee (CC BY-NC 2.0)

Wie wirken sich die verschärften US-Sanktionen zurzeit in Kuba aus? Gibt es keine Sorgen um eine drohende Versorgungskrise?
Für Kuba sind die Vereinigten Staaten wichtig, aber nicht existenziell. Kuba ist ein Land mit 11 Millionen Einwohnern mit breiten wirtschaftlichen Beziehungen. Kuba ist seit über 50 Jahren daran gewohnt, von den USA blockiert zu werden. Deshalb ändert sich qualitativ erst einmal sehr wenig. Die Situation hat sich wegen der Lage in Venezuela verschlechtert, wegen der Verschärfung der Blockade, besonders im finanziellen Bereich mit dem Helms-Burton-Gesetz. Aber ich glaube, dass dieses Gesetz weniger dazu führt, dass die Unternehmen, die bereits Investitionen in Kuba haben, sich jetzt zurückziehen, sondern eher dafür sorgt, dass keine neuen Investitionen kommen. Denn diejenigen, die bereits in Kuba finanziell engagiert sind, haben bereits mit so etwas kalkuliert. Sie haben ihre Investitionen gemacht als es das Helms-Burton-Gesetz und die Blockade schon gab. Dennoch haben sie Gewinne erzielt und Kuba hat ein legales System, dass ihre Investitionen beschützt. Das Problem sind neue Investitionen. Man bespricht jetzt verschiedene Optionen mit Großbritannien, Frankreich, Deutschland, denn die Welt kann keine Angst vor den USA haben. Man muss Trump jetzt zeigen, so wie das China und die EU bereits machen, dass man reagiert. Sonst glaubt er, dass er gewinnt und wird dadurch bestärkt. Deshalb müssen wir eine breite globale Front gegen die aggressive Politik aufbauen.

Wie wird die Rolle der Europäischen Union (EU) eingeschätzt? Es wurden umfangreiche Wirtschafts- und Kooperationsverträge zwischen der EU und Kuba abgeschlossen, die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini war mehrfach in Havanna zu Besuch. Hilft die EU im Konflikt mit den USA?
Die Beziehung zwischen Kuba und der EU hat sich verbessert seit der Unterzeichnung eines Abkommens über politischen Dialog und Zusammenarbeit 2016 verbessert. In diesem Abkommen respektiert die EU die innere Situation Kubas, genauso wie Kuba die innere Situation der EU-Länder auf Basis des internationalen Rechts respektiert. Und die EU hat den sogenannten Gemeinsamen Standpunkt aufgegeben, der seit 1996 angewendet wurde. Außerdem hat sie schon 2008 die Sanktionen ausgesetzt, die seit 2003 in Kraft waren. Mit diesen Sanktionen hatte sich die EU in innere Angelegenheiten Kubas eingemischt. Damit hat sie Provokationen der kubanischen Konterrevolution und ihres Verbündeten George W. Bush im Weißen Haus unterstützt. Mit dem Unterzeichnen des Abkommens von 2016 wurde das korrigiert. Die heutigen Beziehungen sind sehr gut. Es entwickelten sich wirtschaftliche Beziehungen sowie ein politischer Austausch. Der damalige italienische Ministerpräsident Matteo Renzi war 2015 in Havanna, Raúl Castro hat im Gegenzug Italien besucht. Es gab in hohem Umfang Besuche von Außenministern und Regierungschefs europäischer Staaten auf Kuba und umgekehrt. Mit dem Wechsel zu Trump hat die EU die Interessen europäischer Unternehmen auf Kuba unterstützt und eine prinzipientreue Politik verfolgt. Sie haben sich nicht von Trump einschüchtern lassen. Soviel zum Fall Kuba.

Und die Haltung der Europäischen Union im Fall von Venezuela? Die EU-Staaten haben sich nahezu geschlossen gegen die Maduro-Regierung von Venezuela gestellt, die ein wichtiger Bündnispartner Kubas ist.
Die EU und die Vereinigten Staaten haben in ihrer transatlantischen Agenda einige gemeinsame Interessen: das Thema der Zölle, die Haltung gegenüber Russland, die NATO, die UNO, der Klimawandel, aber auch Kuba und Venezuela. In diesem Spannungsfeld von Gemeinsamkeiten und Konflikten haben sich die EU-Staaten beim Thema Venezuela den US-amerikanischen Interessen untergeordnet. Bei anderen Themenfeldern haben sie eine würdevolle Opposition aufrechterhalten, eine Opposition, die ihre eigenen Interessen repräsentiert. Im Falle Venezuela hat die EU aus meiner Sicht eine fehlerhafte Einschätzung getroffen in Bezug auf das, was zurzeit in Venezuela passiert. Wir haben alle das Recht, Fehler zu machen. Aber Fakt ist, dass EU-Staaten mit Juan Guaidó einen Präsidenten anerkannt haben, den damals kaum jemand kannte und der auch heute nicht genug Unterstützung hat, um international anerkannt zu werden. Man stelle sich vor, die internationale Gemeinschaft würde heute einen selbsterklärten Präsidenten oder Kanzler in Deutschland anerkennen. Das wäre gegen die deutsche Verfassung und erzeugt einen schlechten Präzedenzfall in den internationalen Beziehungen. Das was in Venezuela passiert ist – im Februar mit der Provokation an der kolumbianisch-venezolanischen Grenze und im April als in der Carlota Air Base zu einem Staatsstreich aufgerufen wurde – lässt die Länder, die Guaidó anerkannt haben, in schlechtem Licht erscheinen. Selbst Trump hat zugegeben, dass die Hardliner um John Bolton ihn da in etwas hereingezogen haben. Die Vereinigten Staaten erhöhen die Spannungen gegenüber Venezuela und es besteht die Möglichkeit, dass – wir wollen es nicht hoffen – die USA militärisch intervenieren. Die EU widersetzt sich jedenfalls nicht direkt der US-amerikanischen Politik und eine Intervention in Venezuela wäre sehr gefährlich für den Frieden in Amerika.

Wie würde Kuba im Falle einer solchen US-amerikanischen Militär-Intervention in Venezuela reagieren?
Die wirtschaftlichen Beziehungen zu Venezuela sind sehr wichtig. Venezuela ist der erste Handelspartner, vor allem, weil Kuba seinen Brennstoffbedarf mit venezolanischem Öl deckt. Im Falle einer militärischen Intervention der USA in Venezuela würde das Kuba sehr treffen, allein wegen der Präsenz von mehr als 20.000 kubanischen Mitarbeitern in Venezuela, um die sich Kuba natürlich kümmern muss. Es gibt viele denkbare Szenarien. Die hängen davon ab, wie sich diese Intervention tatsächlich gestaltet. Es ist sehr schwierig, mögliche Reaktionen vorauszusehen. Meine Einschätzung ist, dass sich die Situation durch politische Verhandlungen entspannen kann. In jedem Fall glaube ich, dass wenn die USA militärisch in Venezuela intervenieren sollten, sie große Probleme bekommen würden. Schon seit vielen Jahren haben sie keinen Krieg mehr gewonnen. Sie verlieren gerade den Krieg in Afghanistan, nach 18 Jahren militärischer Präsenz. Sie haben auch den Krieg im Irak nicht gewonnen. Sie konnten sich in Syrien nicht direkt einmischen, weil Präsident Obama bewusst war, dass er keinen dritten Krieg führen konnte. Deshalb benutzt die aktuelle Administration so oft Sanktionen, weil sie wissen, dass sie weder die Unterstützung der eigenen Bevölkerung, noch die diplomatische Unterstützung der Weltgemeinschaft noch die militärischen Möglichkeiten haben, um einen weiteren Krieg in Venezuela zu beginnen. Ich glaube, dass das in gewisser Weise die Verletzlichkeit der Militärmacht USA verdeutlicht. Sie können nicht mehr so verfahren wie 1989 in Panama oder 1991 im Irak. Die Situation verändert sich. Trotzdem sollte man auf alles vorbereitet sein, wenn Trump sagt, alle Karten liegen auf dem Tisch.

 


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NEUE MÖGLICHKEITEN ZUM DIALOG?

Norwegens Regierung vermittelt zwischen den verhärteten Fronten der venezolanischen Regierung und Opposition: Berichten zufolge wurden Gespräche mit Kommunikationsminister Jorge Rodríguez und Héctor Rodríguez, dem Gouverneur des Bundesstaates Miranda, geführt. Beide gehören der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) von Nicolás Maduro an. Von der Opposition reiste der Vizepräsident des Parlaments, Stalin González, mit zwei politischen Beratern nach Oslo. Aus diesen Gesprächen, die jeweils einzeln mit den Vermittler*innen des norwegischen Außenministeriums stattfanden, wurden keine Ergebnisse bekannt. In einer zweiten Sitzung am 29. Mai verhandelten Regierung und Opposition direkt miteinander. Die norwegische Außenministerin Ine Eriksen Søreide betonte, beide Gesprächsparteien hätten ihre Bereitschaft gezeigt, „bei der Suche nach einer gemeinsam vereinbarten und verfassungsmäßigen Lösung für das Land voranzukommen, welche Aspekte der Politik, Wirtschaft und Wahlen einschließt“. Norwegen hat eine lange Tradition als Friedensvermittler: Seit 1990 hat das Land mehr als zwanzig Friedensprozesse begleitet, unter anderem für Guatemala und Kolumbien.
Trotz der Sondierungsgespräche gehen die Konfrontationen in Venezuela weiter. Medienberichten zufolge wurde Edgar Zambrano, Vizepräsident der Nationalversammlung, am 9. Mai vom venezolanischen Geheimdienst (SEBIN) festgenommen, nachdem seine parlamentarische Immunität von der Verfassungsgebenden Versammlung aberkannt worden war. Weitere dreizehn Abgeordnete verloren ihre Immunität. Einige wurden ebenfalls verhaftet, während andere in ausländische Botschaften in Caracas flüchteten. Der Oberste Gerichtshof klagt die Abgeordneten wegen sieben Verbrechen an, darunter Landesverrat, Verschwörung und Anstachelung zum Aufstand für den Putschversuch am 30. April (siehe LN 539).
Auch auf internationaler Ebene gibt es weiterhin Konflikte. Die US-amerikanische Regierung hat Carlos Vecchio als Botschafter des selbsternannten Interimspräsidenten Juan Guaidó anerkannt und stellt sich damit zum wiederholten Male hinter Guaidó. Vecchio übernahm anschließend das venezolanische Generalkonsulat in New York. Als Reaktion darauf ist eine Gruppe von Aktivist*innen des „Kollektivs zum Schutz der Botschaft“ auf Einladung der Maduro-Regierung am 11. April in die venezolanische Botschaft in Washington D.C. eingedrungen, um diese „zu beschützen“.
Die Mitglieder des Kollektivs blieben mehrere Wochen in der Botschaft, während Guaidó-Sympathisant*innen vor dem Gebäude protestierten. Nach dem 30. April verhärteten sich die Fronten. Die örtlichen Behörden unterbrachen die Wasser- und Stromversorgung des Gebäudes und blockierten die Zulieferung von Nahrungsmitteln. Am 14. Mai erwirkte die Polizei einen Räumungsbescheid, doch das Kollektiv weigerte sich weiterhin, die Botschaft zu verlassen.
Schließlich wurde das Gebäude am 16. Mai geräumt und die vier Aktivist*innen, die sich noch vor Ort befanden, wurden verhaftet. Allerdings wurden sie einen Tag später wieder freigelassen, mit der Auflage, am 12. Juni vor Gericht zu erscheinen. Auf einer Pressekonferenz vor dem Botschaftsgebäude verkündete Vecchio: „Heute sind wir in dieses Gebäude gekommen, aber bald werden wir in Miraflores (Anm. d. Red.: Sitz des Präsidenten in Caracas) ankommen.“
Von dort deklarierte Maduro die Übernahme des Generalkonsulats in New York als einen „illegalen Angriff“, der das Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen verletze. Zeitgleich lud die Regierung im Zuge der Kampagne #TrumpDesbloqueaVenezuela (Appell für eine Aufhebung der Sanktionen gegen Venezuela, Anm. d. Red.) zu Pressekonferenzen in den europäischen Botschaften ein, auf denen es um die Auswirkungen der wirtschaftlichen Sanktionen auf Venezuela ging.

Die Reaktionen der deutschen Regierung auf die Vorkommnisse in Venezuela bleiben widersprüchlich

Laut Maduro-Regierung sind über fünf Milliarden Dollar des venezolanischen Vermögens auf internationalen Bankkonten eingefroren worden, ein Großteil davon in England. Mehrere hunderte Millionen Dollar befänden sich in der Hand von US-amerikanischen, portugiesischen und belgischen Banken. Laut dem venezolanischen Botschafter in Deutschland, Orlando Maniglia, waren diese Summen ursprünglich dafür vorgesehen, den Bedarf des Landes mit Nahrungsmitteln, Medikamenten und Ähnlichem zu decken.
Maniglia bestätigte außerdem, „normale Beziehungen” zum Auswärtigen Amt zu führen. Die Reaktionen der deutschen Regierung auf die Vorkommnisse in Venezuela bleiben indessen widersprüchlich. Einerseits hat die deutsche Regierung Otto Gebauer nicht als venezolanischen Botschafter in Deutschland anerkannt, den Guaidó für diese Position ernannt hatte. Andererseits erkennt Deutschland Guaidó prinzipiell als Präsidenten an. Während seines Besuchs in Kolumbien am 1. Mai hat sich der deutsche Außenminister Heiko Maas mit Vertretern der Opposition getroffen und die deutsche Haltung wie folgt auf den Punkt gebracht: „Für uns ist Juan Guaidó der Übergangspräsident, der den Auftrag hat, Neuwahlen zu organisieren. Das ist auch das Ziel, das wir weiter verfolgen.” Folglich wurde der Außenminister der Maduro-Regierung, Jorge Arreaza, als einziger Außenminister nicht zu der Lateinamerika und Karibik Konferenz im Auswärtigen Amt eingeladen, an der über 20 seiner lateinamerikanischen Amtskolleg*innen am 28. Mai in Berlin teilnahmen.
Inmitten dieser politischen Spannungen auf internationalem Niveau hat sich mit den Gesprächsrunden in Oslo eine neue Möglichkeit zum Dialog zwischen beiden Parteien aufgetan. Neben diesen Gesprächen eröffnet die „Allianz für ein konsultatives Referendum” (ARC) die Möglichkeit einer alternativen Lösung vor Ort in Venezuela. Die ARC ist ein Bündnis von ehemaligen Minister*innen, moderaten Oppositionellen, Intellektuellen und linken Aktivist*innen, die am 16. Mai eine Kampagne für eine „pazifistische, demokratische, souveräne und konstitutionelle“ Lösung des festgefahrenen politischen Konflikts in Venezuela gestartet hat. Eine Unterschriftenaktion soll die politischen Akteur*innen dazu bringen, ein Referendum durchzusetzen, in welchem die Bevölkerung darüber entscheiden soll, „ob es will oder nicht will, dass Nicolás Maduro weiterhin an der Macht ist“.
Diese Initiativen verfolgen, im Gegensatz zur US-amerikanischen Isolierungsstrategie, einen lösungsorientierten Ansatz. Dennoch müssen auch sie auf ein politisches Szenario reagieren, das von einer starken Polarisierung geprägt ist – sowohl unter Politiker*innen als auch bei den Bürger*innen. Der venezolanische Sozialwissenschaftler Edgardo Lander analysiert diese Situation so: „Die venezolanische Gesellschaft ist so stark polarisiert, dass die Anhänger beider Lager in unterschiedlichen Wirklichkeiten leben. (…) Im Moment haben wir eine Situation, in der sich zwei Kräfte in einer Freund-Feind-Logik gegenüberstehen und sich gegenseitig auslöschen wollen” (siehe LN 539). Mit den Oslo-Gesprächen wird versucht, dieser Polarisierung entgegenzuwirken. Bisher sieht es jedoch nicht so aus, dass die Bemühungen erfolgreich sein werden.

 


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