RÜCKSCHLAG FÜR GUAIDÓ

Aussicht vom alten Militärmuseum: Die kontrastreiche Skyline von Caracas (Foto: John M Shorack)

Es waren brachiale Bilder. Bei dem Versuch, die Einfuhr von Hilfsgütern zu erzwingen, kam es an den Grenzen Venezuelas am 23. Februar zu schweren Ausschreitungen. Tausende Freiwillige hatten im kolumbianischen Cúcuta mehrere Lastwagen bis zur Grenze begleitet, wo das venezolanische Militär unter dem Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen jedoch ein Weiterkommen verhinderte. Auf der kolumbianischen Seite ließen die Sicherheitskräfte derweil auch Protestierende gewähren, die mit Steinen und Molotowcocktails ausgestattet waren. Laut schwer zu überprüfenden Medienberichten wurden fast 300 Menschen verletzt, zudem brannten zwei Lastwagen aus. Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig, die Hilfsgüter bewusst in Brand gesetzt zu haben. In der venezolanischen Stadt Santa Elena de Uairén an der Grenze zu Brasilien erlitten laut der venezolanischen Nichtregierungsorganisation Foro Penal 34 Protestierende Schussverletzungen, mindestens vier Menschen starben. Demon­stra­tionen von Regierungsanhänger*innen und der rechten Opposition in Caracas blieben hingegen friedlich.

Guaidó und die USA betrachten die humanitäre Hilfe vor allem als Hebel für einen regime change

Seit Wochen hatte der selbsternannte Interimspräsident Juan Guaidó den 23. Februar zum Tag der Entscheidung hochstilisiert, an dem die humanitäre Hilfe „unter allen Umständen“ ins Land kommen solle. Er selbst und Vertreter der US-Regierung forderten die venezolanischen Soldat*innen nahezu täglich dazu auf, die Hilfsgüter passieren zu lassen und drohten andernfalls mit Konsequenzen. Laut Informationen der kolumbianischen Migrationsbehörde desertierten seit dem 23. Februar mehr als 400 Militärs – angesichts von bis zu 200.000 aktiven Soldat*innen eine überschaubare Zahl. Das Kalkül der rechten Opposition bestand darin, dass die Regierung am Ende gewesen wäre, wenn venezolanische Militärs sich massenhaft den Befehlen Maduros widersetzt hätten. Dieser hatte die vermeintliche humanitäre Hilfe als „Show“ bezeichnet, die das alleinige Ziel verfolge, einer militärischen Intervention das Feld zu bereiten. Um die schwierige Versorgungslage zu verbessern, fordert Maduro stattdessen die Aufhebung der US-Sanktionen, die das Land ein Vielfaches der von den USA in Aussicht gestellten Hilfsgüter kosten. Tatsächlich machen Guaidó und die US-Regierung kaum einen Hehl daraus, dass sie die humanitäre Hilfe vor allem als Hebel für den von ihnen angestrebten regime change in Caracas betrachten. Sowohl die Vereinten Nationen als auch das Rote Kreuz hatten aufgrund der Politisierung der Hilfe im Vorfeld eine Beteiligung an der Aktion abgelehnt.

Straßenszene in Caracas Einkaufen an einem Samstagmorgen (Foto: John M Shorack)

Auf medialer Ebene tobt nun ein Kampf um die Interpretation der Bilder und Ereignisse, bei dem Guaidó klar im Vorteil ist. Einen Monat nach seiner Selbstausrufung zum Interimspräsidenten steht er dennoch weitgehend mit leeren Händen da. Zwar hat er die Rückendeckung der USA, mehr als 50 weiterer Regierungen – darunter der meisten EU-Staaten – sowie gewichtiger Teile der venezolanischen Bevölkerung. Kompetenzen als Interimspräsident übt er bisher jedoch nur außerhalb Venezuelas aus. Laut dem Verfassungsartikel 233, der die absolute Abwesenheit des Staatspräsidenten behandelt und auf den sich Guaidó maßgeblich beruft, hätten innerhalb von 30 Tagen Neuwahlen stattfinden müssen. Der Umsturzversuch droht sich somit in die Liste der glücklosen Versuche der letzten Jahre einzureihen, Maduro zu stürzen. Spätestens wenn sich das Gefühl durchsetzt, dass die rechte Opposition wieder einmal unrealistische Erwartungen geweckt hat, dürften die internen Streitereien erneut aufbrechen und Guaidó wäre am Ende. Er muss also um jeden Preis die Spannung hochhalten, damit der oppositionelle Protest nicht wieder einschläft. Bei einem Treffen von Guaidó mit US-Vizeminister Mike Pence und den Außenminister*innen lateinamerikanischer Staaten der so genannten Lima-Gruppe wurde am 25. Februar aber deutlich, dass es anscheinend gar keinen Plan B gibt. Sowohl die US-Regierung als auch Guaidó haben sich offensichtlich verschätzt, indem sie davon ausgingen, das venezolanische Militär würde zeitnah die Seiten wechseln. Zudem vernachlässigen sie, dass Maduro keineswegs nur die Militärführung, sondern noch immer mehrere Millionen Anhänger*innen hinter sich hat. Hinzu kommt ein Teil der Bevölkerung, der sich als chavistisch versteht und die rechte Opposition ablehnt, ohne aber offen die Regierung zu unterstützen.

Mit dem Scheitern der medienwirksam inszenierten Hilfsaktion wächst die Gefahr einer gewaltsamen Eskalation des Konfliktes weiter. Laut US-Regierung liegen nach wie vor „alle Optionen auf dem Tisch“, das heißt auch eine mögliche Militärintervention. Guaidó hat mittlerweile die US-amerikanische Formulierung übernommen. Innerhalb Lateinamerikas stößt ein mögliches militärisches Eingreifen aber selbst bei rechten Regierungen weitgehend auf Ablehnung, die Lima-Gruppe sprach sich vorerst dagegen aus. Die USA wollen nun weitere Sanktionen beschließen und die Maduro-Regierung wirtschaftlich in die Knie zwingen. Bereits Ende Januar hatte Trump erstmals Sanktionen verhängt, die direkt die Öllieferungen aus Venezuela in die USA treffen. Die Einnahmen landen seitdem auf einem Sperrkonto, auf das Guaidó Zugriff bekommen soll. Leidtragende des immer zynischer ausgetragenen Machtkampfes ist somit in erster Linie die venezolanische Bevölkerung, deren Zugang zu Lebensmitteln und Medikamenten sich voraussichtlich weiter verschlechtern wird. Unklar ist, ob die USA auch ohne Rückendeckung in der Region militärisch eingreifen würden. Wenn es nach der Rhetorik der Hardliner um Präsident Trump herum geht, fehlt dazu nur noch ein konkreter Anlass. Vor allem US-Außenminister Mike Pompeo, der Senator für Florida, Marco Rubio und der nationale Sicherheitsberater von Trump, John Bolton, drohen der Regierung Maduro unverhohlen ein gewaltsames Ende an. Bolton stellte dem venezolanischen Präsidenten einen Aufenthalt im US-Gefangenenlager Guantánamo in Aussicht, Rubio twitterte ein Bild des libyschen Revolutionsführers Muammar al-Gaddafi, das ihn kurz vor dessen Ermordung im Jahr 2011 zeigt. Als Sondergesandter für Venezuela dient mit Elliott Abrams zudem ein alter antikommunistischer Haudegen, der in den 1980er Jahren in die Unterstützung von Todesschwadronen in Zentralamerika und die illegale Finanzierung der nicaraguanischen Contras verwickelt war.

Auch innerhalb Venezuelas dringen mäßigende Stimmen kaum durch. Und es deutet einiges darauf hin, dass Venezuela nur der Anfang sein soll. Sicherheitsberater Bolton spricht mittlerweile in Anspielung auf die von George W. Bush vor Jahren als „Achse des Bösen“ bezeichneten Länder Irak, Iran und Nordkorea von einer „Troika der Tyrannei“. Gemeint sind Venezuela, Kuba und Nicaragua. Die Lage ist vor allem deshalb so gefährlich, weil es in Venezuela bisher keine Anzeichen für eine mögliche Verhandlungslösung gibt. Dass so viele Staaten Guaidó anerkannt haben, der de facto überhaupt keine Macht über den staatlichen Sicherheitsapparat ausübt, ist nicht nur völkerrechtlich höchst fragwürdig. Es führt auch dazu, dass auf internationaler Ebene nur wenige Akteure wie Mexiko und Uruguay glaubhaft auf einen Dialog hinarbeiten könnten. Damit verstärkt sich die Dynamik des Alles oder Nichts, des unbedingten Willens beider politischer Lager, sich gegen das jeweils andere durchzusetzen. Dies aber kann nicht zu einer tragfähigen Lösung der venezolanischen Krise führen. Weder wird Maduro einfach wie bisher weitermachen und die Krise aussitzen können, noch die rechte Opposition nach einem Umsturz gegen den chavistischen Teil der Bevölkerung regieren können.

Auch innerhalb Venezuelas dringen mäßigende Stimmen bisher kaum durch. Aus den Reihen der linken Maduro-Kritiker*innen der Bürgerplattform zur Verteidigung der Verfassung stammt ein Vorschlag, mittels Wahlen und der Neubesetzung der staatlichen Gewalten eine demokratische Lösung der Krise auszuhandeln. Um die dafür nötigen Schritte demokratisch zu legitimieren, solle zunächst ein laut Verfassung mögliches verbindliches Referendum stattfinden. In der Bürgerplattform haben sich mehrere ehemalige Minister*innen unter Chávez sowie kritische linke Akademiker*innen und Aktivist*innen zusammengeschlossen, darunter der bekannte Soziologe Edgardo Lander. Für Kritik innerhalb des chavistischen Spektrums sorgte allerdings ein Treffen mit Guaidó, bei denen Mitglieder der Plattform ihm ihren Vorschlag präsentierten. Der frühere chavistische Bildungsminister Héctor Navarro betonte anschließend, dass die Bürgerplattform Guaidó lediglich als Parlamentspräsidenten anerkenne und den Vorschlag des Referendums ebenso Maduro unterbreiten wolle. Dieser reagierte allerdings nicht auf den Vorstoß. Innerhalb der venezolanischen Linken kontrovers zu diskutieren ist zurzeit ohnehin kaum möglich, Kritik an der Regierung wird meist in die rechte Ecke gestellt. Die wichtigste linke Nachrichtenseite und Debattenplattform Venezuelas, aporrea.org, bei der sowohl Regierungs­anhänger­*innen als auch linke Kritiker*innen Maduros publizieren, wird in Venezuela seit Wochen vom staatlichen Internetanbieter CANTV blockiert. Eine Begründung dafür gibt es nicht.

„Zusammen mit Maduro gestaltet das Volk Zukunft” Wandbild in Caracas (Foto: John M Shorack)

Eine weitere Eskalation könnte bereits kurz bevorstehen. Denn seit dem 22. Februar, als er in Cúcuta ein unter dem Motto „Venezuela Aid Live“ organisiertes Konzert besuchte, befindet sich Guaidó außer Landes. Da er sich damit einem gerichtlich verhängten Ausreiseverbot widersetzte, könnte er bei der Wiedereinreise festgenommen werden. Maduro betonte bereits, dass sich Guaidó in diesem Fall „der Justiz stellen muss“. Der selbsternannte Interimspräsident zeigte sich zunächst unbeeindruckt. „Ein Gefangener bringt niemandem etwas, aber ein exilierter Präsident auch nicht“, versicherte er und kündigte seine baldige Rückkehr an. Eine Inhaftierung komme einem Staatsstreich gleich und werde seitens der Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft „eine beispiellose Antwort“ nach sich ziehen, drohte Guaidó. Nicht bekannt ist, welche Garantien er für diesen Fall seitens der US-Regierung erhalten hat. Aber bis auf Weiteres liegen alle Optionen auf dem Tisch.

 

SCHEITERN DER ERDÖLGESELLSCHAFT

Seit sich Juan Guaidó in Venezuela am 23. Januar eigenhändig zum Interimspräsidenten erklärt hat, beherrscht das südamerikanische Land die Schlagzeilen. Die US-Regierung drängt auf einen Sturz des amtierenden Präsidenten Nicolás Maduro und hält sich erklärtermaßen auch eine militärische Option offen. Doch jenseits dieser aus linker Perspektive strikt abzulehnenden Politik steht die 1999 unter Hugo Chávez begonnene und nach dessen Tod 2013 von Maduro weitergeführte „Bolivarische Revolution“ vor einem Scherbenhaufen. Zwar war der politische Prozess von Beginn an mit gehörigen internen und externen Widerständen konfrontiert. Doch könne das Scheitern „nur dann adäquat verstanden werden, wenn man sich mit den Folgen der Rohstoffabhängigkeit für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft beschäftigt“, schreibt der Politikwissenschaftler Stefan Peters in seinem neuen Buch „Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Venezuela“.
Dieses erklärt, wie die venezolanische Wirtschaft seit fast 100 Jahren um die Verteilung der Erdöleinnahmen kreist. Dadurch haben sich wirtschaftliche, soziale und kulturelle Muster verfestigt, die nur schwer zu durchbrechen sind. Die wirtschaftlichen Akteur*innen richten ihre Anstrengungen vornehmlich darauf aus, sich ein Stück des staatlich verwalteten Erdölreichtums einzuverleiben. Dementsprechend basiert ökonomischer Erfolg „nicht primär auf Innovation und Produktivitätssteigerungen, sondern auch und vor allem auf dem privilegierten Zugang zum Staat.“
An dem Ziel, die Wirtschaft zu diversifizieren, sind in den vergangenen Jahrzehnten mehrere Regierungen unterschiedlicher ideologischer Couleur gescheitert. Unter Chávez bedeutete dies, dass viel Geld in landwirtschaftliche und urbane Kooperativen sowie staatliche Unternehmen geflossen ist, von denen sich die meisten nicht annähernd alleine erhalten konnten. Tatsächlich glich dessen Wirtschaftspolitik in vielen Punkten jener seiner Vorgänger, war also, wie der Autor resümiert „weitaus weniger revolutionär als Anhänger wie Gegner unterstellen.“ Dazu zählen auch die Devisen- und Preiskontrollen, die für Venezuelas nichts grundsätzliches Neues sind und die negativen Effekte einer Rentenökonomie bis ins Unermessliche steigern, indem sie enorme Mitnahmeeffekte ermöglichen.
Mit der rechten Opposition würde sich an den strukturellen Problemen nichts ändern, sondern schlicht eine andere Klientel an die Erdöltöpfe gelangen. Einen zeitnahen Regierungswechsel hält Peters in seinem vor der jüngsten Eskalation geschriebenen Buch für das wahrscheinlichste Szenario. Nach einem dann absehbaren Aufschwung werde aber ebenso sicher „auch die nächste Krise kommen.“
Der Autor widmet sich einem Thema, das in der Debatte über Venezuela auf eine gewisse Art und Weise schon immer präsent gewesen ist, mit dem sich aber die Wenigsten tiefergehend beschäftigt haben. Mit seiner glänzenden Analyse der bolivarischen Revolution zeigt Peters eindrücklich auf, dass deren Niedergang weder die Folge von „Sozialismus“ noch eines „Wirtschaftskrieges“ ist, sondern sich aus den Strukturen der erdölbasierten Rentengesellschaft heraus erklären lässt. Dabei hat er stets die Bedeutung für andere rohstoffreiche Länder des globalen Südens im Blick. Diese sollten sich das venezolanische Beispiel genau ansehen, um aus dessen Fehlern für zukünftige soziale Transformationsprozesse zu lernen.

 

ZWISCHEN PUTSCH UND DIALOG

Wimmelbild: Wer ist Präsident? Juan Guaidó jedenfalls ist der zweite von links (Foto: OEA-OAS (CC BY-NC-ND 2.0)

Der 23. Januar ist für Venezuela ein geschichtsträchtiges Datum. An diesem Tag im Jahr 1958 stürzte ein Massenaufstand die Militärdiktatur unter Marcos Pérez Jiménez. Die rechte Opposition würde das Datum nun gerne für ihre ganz eigenen Zwecke vereinnahmen: Als den Tag, an dem sie nach 20 Jahren Chavismus wieder die Macht übernommen hat. Bisher gilt dies jedoch nur theoretisch. Praktisch sind die Dinge komplizierter. Noch Ende Dezember schien der venezolanische Präsident Nicolás Maduro angesichts einer intern zerstrittenen Opposition relativ fest im Sattel zu sitzen. Doch am 23. Januar mobilisierten die Regierungsgegner*innen erstmals seit anderthalb Jahren wieder erfolgreich auf die Straße.
Der Mann, der die Opposition binnen weniger Wochen in Hoffnung versetzt hat, ist Parlamentspräsident Juan Guaidó. Bis vor kurzem war der 35-jährige Ingenieur auch in Venezuela kaum jemandem ein Begriff. Mittlerweile halten ihn viele jedoch für den neuen Staatspräsidenten, weil er sich in Caracas selbst vereidigt hat. „Am heutigen 23. Januar schwöre ich, als ausführender Präsident formell die Kompetenzen der Nationalen Exekutive zu übernehmen, um die Usurpation zu beenden“, rief Guaidó auf der oppositionellen Großdemonstration tausenden jubelnden Anhängern im wohlhabenden Osten der Hauptstadt zu.

Guaidó hat auch im Ausland Unterstützer. Kurz nach seiner Proklamation teilte US-Präsident Donald Trump per Twitter mit, Guaidó offiziell als Interimspräsidenten anzuerkennen. US-Vizepräsident Mike Pence hatte den Anhänger*innen der Opposition im Vorfeld der Demonstration bereits die Unterstützung der USA gegen den als „Diktator“ bezeichneten Maduro zugesichert. Rasch erhielt Guaidó die Anerkennung weiterer lateinamerikanischer Länder, darunter Venezuelas rechts regierte Nachbarstaaten Brasilien und Kolumbien sowie unter anderem Argentinien, Chile, Ecuador, Peru und Paraguay. Auch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) erkannte in Person ihres Generalsekretärs Luís Almagro Guaidó umgehend an. Die Europäische Union vollzog diesen formellen Schritt zwar bisher nicht, stärkt dem selbst ernannten Interimspräsidenten aber den Rücken und fordert Neuwahlen. Bundesaußenminister Heiko Maas etwa positionierte sich gegenüber der Deutschen Welle eindeutig: „Wir sind nicht neutral in dieser Frage, wir stehen auf der Seite von Guaidó“. Für die Regierungen Kubas, Nicaraguas, El Salvadors, Mexikos, der Türkei, Irans, Russlands und Chinas heißt der legitime venezolanische Präsident hingegen weiterhin Nicolás Maduro.

Heiko Maas ist auf der Seite von Guaidó

Bei seiner Selbstvereidigung bezog sich Guaidó neben den Artikeln 333 und 350, die das Recht auf Widerstand gegen verfassungswidrige Handlungen und undemokratische Regime festschreiben, auf Artikel 233 der Verfassung. Dieser behandelt die dauerhafte Abwesenheit des Staatspräsidenten in Fällen wie Tod, Krankheit oder Abberufung durch ein Referendum. Auf den vorliegenden Fall lässt sich der Artikel somit nur mit viel Fantasie anwenden.

(Foto: David Hernández (CC BY-SA 2.0))

Auf der zeitgleich stattfindenden Demonstration von Regierungsanhänger*innen im Westen von Caracas, gab sich Diosdado Cabello, Vorsitzender der regierungstreuen Verfassunggebenden Versammlung (ANC) kämpferisch: „Wer Präsident sein will, soll uns in (dem Präsidentenpalast, Anm. d. Red.) Miraflores suchen, denn dort wird die Bevölkerung Nicolás Maduro verteidigen.“ Daraufhin zogen die Chavisten vor den Präsidentenpalast. „Hier ergibt sich niemand“, rief Präsident Maduro seinen Anhänger*innen vom „Balkon des Volkes“ aus zu. Der US-Regierung warf er vor, eine „Marionettenregierung“ installieren zu wollen und brach die diplomatischen Beziehungen zu den USA ab. Den in Caracas ansässigen US-Diplomaten gab er 72 Stunden Zeit, das Land zu verlassen.

Guaidó reagierte umgehend und bat darum, sich den Anweisungen zu widersetzen. Die US-Regierung zog in den folgenden Tagen zwar einen Teil des Botschaftspersonals ab, kündigte jedoch an, sich dem Ultimatum, nicht beugen zu wollen. Die Maduro-Regierung rückte daraufhin von ihrem 72-Stunden-Ultimatum ab. Stattdessen solle nun über – wie es hieß – Interessenvertretungen in den jeweiligen Hauptstädten verhandelt werden, teilte das Außenministerium in Caracas mit. Sollte es darüber jedoch binnen 30 Tagen keine Einigung geben, müssten die verbliebenen US-amerikanischen Diplomaten das Land verlassen.

Mit der Installierung eines Parallelpräsidenten eskaliert der Konflikt zwischen der Regierung Maduro und der rechten Opposition auf gefährliche Weise. Es ist der vorläufige Höhepunkt eines Machtkampfes, der seit dem oppositionellen Wahlsieg bei den Parlamentswahlen Ende 2015 mit harten Bandagen geführt wird. Die Opposition setzte von da an alles auf einen Sturz Maduros und schürte bei ihren Anhänger*innen unrealistische Erwartungen auf einen zeitnahen Machtwechsel.

Die Regierung hingegen griff bei der Ernennung von Verfassungsrichter*innen und der Festlegung von Wahlterminen tief in die juristische Trickkiste, um sich an der Macht zu halten. Maduros Wahl im Mai vergangenen Jahres betrachten Opposition und zahlreiche Staaten als illegitim, unter anderem weil potenzielle Kandidat*innen nicht antreten durften. Die meisten Parteien hatte damals zum Boykott aufgerufen. Bei einer historisch niedrigen Wahlbeteiligung von 46 Prozent blieben die drei Gegenkandidaten dann auch chancenlos. Glaubhafte Hinweise auf Wahlbetrug gab es zwar nicht, die Umstände spielten jedoch eindeutig Maduro in die Hände. Die umstrittene Verfassunggebende Versammlung, die seit Mitte 2017 praktisch die Funktionen des Parlamentes übernahm, hatte den Wahltermin in einer Schwächephase der Opposition von Dezember auf Mai vorgezogen.

Nach Maduros erneuter Amtseinführung am 10. Januar kochte der Konflikt erneut hoch und die zuvor notorisch zerstrittene Opposition versammelte sich hinter Guaidó. Der frühere Studierendenaktivist sitzt seit 2011 als Hinterbänkler in der Nationalversammlung und wurde am 5. Januar allein aus Mangel an Alternativen zum Präsidenten der juristisch kalt gestellten Nationalversammlung gewählt. Laut Absprache der vier größten Oppositionsparteien steht das Amt dieses Jahr der rechten Partei Voluntad Popular zu. Weil deren erste Garde um Leopoldo López, Freddy Guevara und Carlos Vecchio entweder unter Hausarrest steht oder sich im Exil befindet, kam Guaidó zum Zug. Bereits auf einer öffentlichen Versammlung in Caracas am 11. Januar deutete er an, als Interimspräsident bereit zu stehen, sofern er die Unterstützung der Bevölkerung, des Militärs und der internationalen Gemeinschaft hätte. Eine kurzzeitige Festnahme Guaidós durch die Geheimdienstpolizei Sebin am 13. Januar verschaffte diesem zusätzlichen Rückenwind. Die Regierung Maduro gab anschließend kein gutes Bild ab, als sie erklärte, die Agenten seien angeblich auf eigene Faust tätig geworden. Dass Guaidó bisher kaum jemand kannte, scheint dabei eine seiner größten Stärken zu sein. Denn er wirkt jung und frisch, obwohl er politisch überhaupt nichts Neues zu bieten hat. Jenseits der radikalen Ablehnung des Chavismus und einer Rückkehr der alten Eliten an die Erdöltöpfe, verfügen weder Guaidó noch der Rest der rechten Opposition über ein überzeugendes Programm.

Schulterschluss zwischen Opposition und USA könnte Maduro helfen

Der Schulterschluss zwischen Opposition und US-Regierung könnte Maduro helfen, die eigenen Reihen zu schließen. Viele Chavisten sind von der Regierung zwar enttäuscht, würden jedoch keinesfalls tatenlos einen rechten Putsch mit US-Unterstützung akzeptieren. Bei dem kurzzeitigen Staatsstreich gegen Hugo Chávez im April 2002 hatte der Druck der Bevölkerung dazu geführt, dass der überwiegende Teil der Soldaten den Putschisten die Gefolgschaft verweigerte.

Sicher ist, dass Guaidó für eine tatsächliche Machtübernahme auf die Unterstützung des Militärs angewiesen ist. In den vergangenen Wochen hatte er die Streitkräfte wiederholt dazu aufgerufen, „die verfassungsmäßige Ordnung“ wiederherzustellen und ihnen für diesen Fall eine Amnestie zugesichert, die er mittlerweile auch Maduro selbst im Falle eines Rücktritts in Aussicht stellte. Außer einer kurzzeitigen Erhebung einiger Nationalgardisten am frühen Morgen des 21. Januars verhallten die Aufrufe bisher jedoch ungehört. Verteidigungsminister Vladimir Padrino López stellte sich seit dem 23. Januar mehrmals demonstrativ hinter die Regierung Maduro.

Tatsächlich ist es unwahrscheinlich, dass sich die Militärführung auf Guaidós Seite schlägt. Denn sie profitiert von einer engen politischen und wirtschaftlichen Verflechtung mit der Regierung. Doch es ist unklar, wie es in den unteren Rängen aussieht und welche Auswirkungen weitere Proteste oder eine Eskalation der Gewalt haben könnten. Seit der kurzzeitigen Erhebung der Nationalgardisten kam es täglich zu lokalen Anti-Maduro-Protesten in verschiedenen Städten. Davon betroffen waren in Caracas auch Stadtteile, die bisher als sichere Bank für die Chavisten galten. Dabei sollen nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen landesweit bereits 29 Menschen ums Leben gekommen und hunderte festgenommen worden sein. Dennoch blieb der befürchtete große Gewaltausbruch bisher aus und Guaidó befindet sich nach wie vor auf freiem Fuß.

Unabhängig vom Ausgang des Machtkampfes verfügt keines der beiden großen politischen Lager über wirkliche Lösungen, um die politische und wirtschaftliche Krise zu überwinden. Insbesondere der Bevölkerung in den Armenvierteln, die sich kulturell überwiegend dem Chavismus zugehörig fühlt, hat die Opposition wenig anzubieten. Die Regierung Maduro hingegen zeigt in den barrios durch Lebensmittelkisten und unregelmäßige Bonuszahlungen nach wie vor Präsenz. Doch ihre seit Mitte vergangenen Jahres umgesetzten Wirtschaftsreformen hatten kaum einen Effekt, jede Erhöhung des Mindestlohnes wird umgehend von der Hyperinflation aufgefressen.

Klar ist, dass eine Überwindung der tiefgreifenden politischen und wirtschaftlichen Krise nicht durch ein Beharren auf einzelne Verfassungsartikel beigelegt werden kann, die beide Seiten für ihre Zwecke instrumentalisieren. Eine Lösung kann nur im Dialog erreicht werden. Dafür müssten beide Seiten jedoch zu ernsthaften Kompromissen bereit sein. Als Vermittler boten sich bereits die Regierungen Mexikos und Uruguays an. Während sich Maduro offen für Gespräche zeigte, erteilte Guaidó dem „falschen Dialog“ eine Absage. Stattdessen kündigte er weitere Proteste an.

 

MADUROS RISIKOSPIEL

Absurd hohe Preise Der IWF schätzt die Inflation für 2018 auf eine Million Prozent (Foto: flickr.com / Ruperto Miller CC0 1.0)

Es waren ungewohnte Bilder. Ende August trafen am Flughafen Simón Bolívar nahe Caracas etwa 90 Venezolaner*innen ein, die ihr Glück zuvor in Peru versucht hatten. „Wir erhalten tausende Anfragen aus aller Welt“, erklärte Kommunikationsminister Jorge Rodríguez. Präsident Nicolás Maduro betonte, dass viele Menschen „falschen Versprechen“ gefolgt seien und heute „Klos putzen“ würden. In den Nachbarländern entwickele sich zudem „eine Kampagne aus Hass, Verfolgung und Fremdenfeindlichkeit gegen die venezolanische Bevölkerung“.

Tatsächlich regt sich angesichts der anhaltend hohen Zahl emigrierender Venezolaner*innen zunehmend Unmut in der Region. Sinnbildlich dafür ist die Meldung aus dem brasilianischen Grenzort Pacaraima, wo Mitte August ein wütender Mob mehr als 1.000 Geflüchtete zurück über die Grenze gejagt hatte. Auslöser war ein Überfall mit mutmaßlich venezolanischer Beteiligung. Doch auch aus Ländern wie Kolumbien, Ecuador oder Peru häufen sich die Beschwerden über venezolanische Einwanderer*innen, die angeblich die Löhne drückten und die Kriminalität ansteigen ließen. Ecuador und Peru verschärften vorübergehend die Einreisebestimmungen, Brasilien schickte Soldaten an die Grenze. Laut den Vereinten Nationen haben mittlerweile 2,3 Millionen Menschen das Land verlassen, darunter viele Fachkräfte und junge Menschen.

Auf einem Sondergipfel Anfang September erklärten elf lateinamerikanische Länder, die Grenzen für Venezolaner*innen vorerst offen zu lassen. Gleichzeitig fordern sie finanzielle Unterstützung und dass Venezuela humanitäre Hilfe akzeptiert. Davon allerdings will die venezolanische Regierung nichts wissen. Dabei sind es längst nicht mehr nur Oppositionelle, die das Land verlassen – die Fluchtursachen liegen überwiegend in der desolaten wirtschaftlichen Situation begründet. Der Internationale Währungs­fonds (IWF) schätzt die Inflationsrate für das laufende Jahr mittlerweile auf eine Million Prozent. Ohne staatliche Lebensmittelzuwendungen kämen viele Menschen nicht annähernd über die Runden.

Die Regierung hat eine Mitschuld an der Krise jahrelang abgestritten, nun gib es auch selbstkritische Töne

Hatte sie eine Mitschuld an der Krise jahrelang abgestritten und einen „Wirtschaftskrieg“ seitens der rechten Opposition und der USA beklagt, gibt es seit kurzem auch selbstkritische Töne. Im Vorfeld des IV. Kongresses der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) etwa äußerte Freddy Bernal aus der Parteiführung, dass nach 19 Jahren Revolution „nur wir für das Gute und Schlechte verantwortlich“ seien. Am 20. August startete die Regierung das sogenannte Programm für wirtschaftliche Erholung, Wachstum und Wohlstand. „Dieser Plan wird funktionieren“, versicherte Regierungschef Maduro. Indirekt räumte er ein, die hohen Haushaltsdefizite der vergangenen Jahre mithilfe der Notenpresse finanziert zu haben. Künftig solle es einen ausgeglichenen Haushalt geben.

Kernstück des Plans, der sowohl liberale als auch staatsinterventionistische Elemente enthält, ist eine Währungsreform. Der neue „Souveräne Bolívar“ hat fünf Nullen weniger als der bisherige „Starke Bolívar“ und ist an die staatliche Kryptowährung Petro gekoppelt, die als Wertanker wiederum an die venezolanischen Erdölvorräte gebunden ist. Je nach Entwicklung des Erdölpreises verändert sich auch der Wert des Petro, zurzeit liegt er bei 60 US-Dollar. Der Basismindestlohn pro Monat, der zuletzt laut Schwarz­­marktkurs nur noch einen halben US-Dollar betrug, wird auf etwa 30 Dollar erhöht und soll einem halben Petro entsprechen. Hinzu kommen Lebensmittelgutscheine, deren Wert allerdings in deutlich geringerem Maße angehoben wurde und die nun umgerechnet gerade einmal drei US-Dollar pro Monat betragen. Um unmittelbaren Preissteigerungen entgegen zu wirken, übernimmt der Staat für kleinere und mittlere Unternehmen 90 Tage lang die Differenz zum alten Mindestlohn. Steuern und Zölle für staatliche und private Erdölunternehmen werden gesenkt, die Mehrwertsteuer wird unter Ausnahme wichtiger Güter wie Lebensmittel hingegen angehoben.

Ab Ende September soll der Preis für das bisher praktisch gratis erhältliche Benzin schrittweise auf internationales Niveau steigen, auch die Tickets des öffentlichen Nahverkehrs werden künftig deutlich teurer. Die Subventionierung des Benzins kostet Venezuela bisher jährlich zweistellige Milliardenbeträge in US-Dollar, große Mengen werden illegal nach Kolumbien geschmuggelt. Besitzer der carnet de la patria (Ausweis des Heimatlandes) – eines von der Regierung ausgestellten Ausweises, der für den Bezug bestimmter Sozialleistungen erforderlich ist – sollen zukünftig direkt subventioniert werden, um billiges Benzin beziehen zu können.

Wenn die Regierung erneut die Notenpresse anwirft, könnte auch die neue Währung rasant an Wert verlieren
Zudem werden die seit 2003 bestehenden Devisenkontrollen gelockert. Der Handel mit Fremdwährungen ist demnach nicht mehr strafbar, das bisherige Monopol der Zentralbank entfällt. Laut offiziellem Kurs kostete ein US-Dollar nach der Währungsreform etwa 60 Bolívares. Auf dem Schwarzmarkt, den die Regierung eigentlich austrocknen will, waren es gut zwei Wochen später bereits 90 Bolívares. Die meisten Ökonomen sind denn auch skeptisch und fürchten, dass die Regierung erneut die Notenpresse anwerfen und so auch die neue Währung rasant an Wert verlieren werde (siehe auch das Interview mit Manuel Sutherland in dieser Ausgabe).

Für Maduro steht viel auf dem Spiel. Zwar ist die rechte Opposition derzeit gespalten und liegt politisch am Boden, jedoch konnte die Regierung ihre Macht in den vergangenen Jahren auf Kosten zentraler demokratischer und sozialer Errungenschaften des Chavismus konsolidieren.
Doch eine weitere Verschlechterung der Lage könnte zu weiteren Protesten führen. Einzelne Sektoren gehen schon jetzt immer wieder auf die Straße. Im Juli etwa war die Regierung durch einen Marsch von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern sowie Proteste im Gesundheitssektor unter Druck geraten. Weder den Kleinbauern, die mehr als 400 Kilometer zurücklegten und letztlich von Maduro im Präsidentenpalast empfangen wurden, noch den Protestierenden im Gesundheitsbereich geht es dabei um den Sturz der Regierung. Vielmehr wenden sie sich gegen die prekäre Sicherheitslage und Korruption sowie für bessere Arbeitsbedingungen, existenzsichernde Löhne und eine adäquate Ausstattung mit medizinischen Geräten und Medikamenten. Insbesondere die Situation der staatlichen Unternehmen und Dienstleistungen ist verheerend. Die Erdölproduktion ist in den vergangenen Jahren von etwa drei Millionen auf heute nur noch gut 1,3 Millionen Barrel täglich gefallen. Und auch um die marode Wasser- und Stromversorgung zu verbessern, wären immense Investitionen nötig.

Maduro beschuldigte Juan Manuel Santos, hinter dem versuchten Drohnenangriff zu stecken

Dass auch eine erneute Eskalation politischer Gewalt keineswegs ausgeschlossen ist, zeigt der Drohnenangriff auf Maduro am 4. August. Anlässlich des 81. Jahrestages der Gründung der Nationalgarde hatte der venezolanische Präsident im Zentrum von Caracas eine Rede vor Soldaten gehalten, die live im Fernsehen übertragen wurde. Als er gerade über die ökonomische Lage sprach, war plötzlich ein dumpfer Knall zu hören. Sicherheitsbeamte schirmten den Präsidenten mit kugelsicheren Schutzmatten ab, zahlreiche Soldaten auf der Straße verließen die Formation und rannten davon. Aus Sicht der Regierung zeugten diese Bilder nicht gerade von Stärke. Und dennoch waren die ersten Reaktionen seitens der rechten Opposition in Venezuela und vieler internationaler Medien von Zweifeln darüber geprägt, ob überhaupt ein Attentat stattgefunden habe. Maduro beschuldigte den scheidenden kolumbianischen Präsidenten Juan Manuel Santos und vom US-Bundesstaat Florida aus operierende Gruppen, hinter dem versuchten Drohnenangriff zu stecken. Im Internet bekannte sich eine zuvor unbekannte Gruppe namens soldados de franela (in etwa T-Shirt-Soldaten) zu dem Anschlag.

Nachdem Videoaufnahmen der Drohnen auftauchten, verlagerte sich die öffentliche Debatte zu der Frage, ob die Regierung das Attentat möglicherweise selbst inszeniert habe, um von Problemen abzulenken und einen weiteren Vorwand zu haben, gegen die Opposition vorzugehen. Tatsächlich stellte sie kurz darauf direkte Verbindungen zu oppositionellen Politikern her. So habe Juan Requesens, Abgeordneter des gewählten, aber juristisch kalt gestellten Parlaments, auf Geheiß des in Kolumbien exilierten Parlamentspräsidenten Julio Borges dabei geholfen, den ehemaligen Nationalgardisten Juan Carlos Monasterios über die Grenze nach Kolumbien zu bringen. Der wegen eines Überfalls auf einen Militärkomplex ein Jahr zuvor bereits gesuchte Monasterios sei dort für das Attentat trainiert worden. Die umstrittene regierungstreue Verfassunggebende Versammlung (ANC), die das Parlament zurzeit weitgehend abgelöst hat, hob daraufhin im Schnellverfahren die Immunität der beiden Parlamentarier auf. Die Regierung präsentierte im Fernsehen Vernehmungsvideos von Monasterios und Requenses, in denen diese ihre Beteiligung gestanden. Oppositionelle Jurist*innen und Politiker*innen warfen der Regierung jedoch vor, die Aussagen unter Folter und der Verabreichung von Drogen erwirkt zu haben. Zudem sei Requesens gesetzeswidrig isoliert. Ein weiteres in den sozialen Netzwerken veröffentlichtes Video zeigt den Abgeordneten offenbar in Gefangenschaft des Geheimdienstes Sebin mit geweiteten Augen und mit von Exkrementen beschmierten Boxershorts. Bisher wurden im Rahmen der Ermittlungen 25 Menschen fest­ge­nom­men, weitere 15 stehen auf der Fahndungsliste. Auf den Zustand des Rechtsstaates in Venezuela wirft der Fall einmal mehr ein schlechtes Licht.

SPÄTE MAßNAHMEN

Seit dem 20. August gibt es in Venezuela mit dem „Souveränen Bolívar“ eine neue Währung, gleichzeitig wird der Mindestlohn deutlich erhöht. Kann das funktionieren?

Nein. Zwar hat die Regierung gesagt, dass sie für kleinere Unternehmen drei Monate lang die Lohnerhöhung zahlen will, damit die Preise nicht steigen. Aber das wird nicht klappen und zudem ein enormes Korruptionspotenzial schaffen. Natürlich ist der bisherige monatliche Mindestlohn ein Skandal, denn er betrug laut Schwarzmarkt-Kurs zuletzt gerade einmal etwas mehr als einen US-Dollar. Aber woher sollen kleine Unternehmen nach drei Monaten das Geld nehmen, um das 60-fache an Lohn zu zahlen? Sie werden Arbeiter entlassen und die Preise erhöhen.

Der neue Bolívar soll an die Kryptowährung Petro gekoppelt sein, die wiederum an den Erdölpreis gebunden ist. Wird Venezuela dadurch eine stabilere Währung haben?

Davon ist nicht auszugehen. Erdölreserven, die noch nicht gefördert, also noch nicht in Wert gesetzt sind, können nicht eine Währung decken wie Gold oder Währungsreserven einer Zentralbank. Das schafft kein Vertrauen. Als simple Rechnungseinheit hat der Petro wenig Relevanz.

Im Rahmen des sogenannten Plans zur wirtschaftlichen Erholung sind noch eine Reihe weiterer Maßnahmen vorgesehen.

Die monetären Reformen sind tatsächlich unumgänglich. Dazu zählt die Liberalisierung der Devisenpolitik, der früher oder später eine kontrol­lierte Freigabe des Wechselkurses folgen muss. Auch die Anhebung des Benzinpreises von praktisch Nulltarif auf internationales Niveau ist prinzipiell richtig, auch wenn der Zeitpunkt schlecht ist. Gleichzeitig handelt die Regierung sehr widersprüchlich. Einerseits spricht sie davon, das Haushaltsdefizit auf Null zu reduzieren, andererseits erzeugt sie eine Reihe neuer Ausgaben. Zudem kommen all diese Maßnahmen sehr spät und werden auf eine seltsame Art umgesetzt.

Inwiefern seltsam?

Niemand weiß, worin genau der Plan zur wirtschaftlichen Erholung besteht, es gibt kein schriftliches Konzept. Das Gleiche gilt für die wirtschaftlichen Indikatoren, die schon seit Jahren nicht mehr veröffentlicht werden. Ich sehe bei der Regierung zwar den Willen, etwas zu tun, was an sich eine positive Veränderung ist. Sie versucht, einige der Fehler zu korrigieren, die in der Wirtschaftspolitik der vergangenen 15 Jahre gemacht wurden. Aber dies führt nicht dazu, dass eine breite Diskussion über die Krise und mögliche Auswege geführt würde. Alle Entscheidungen trifft ein kleiner Kreis innerhalb der Regierungspartei auf völlig intransparente Art und Weise.

Seit 2006 führt die venezolanische Regierung offiziell einen sozialistischen Diskurs, auch Maduro hält am Ziel des Sozialismus fest. Wie lässt sich die Wirtschaftspolitik der Regierung charakterisieren?

Es gab keine tief greifenden sozialistischen Maßnahmen. Die Regierung hat Unternehmen verstaatlicht, aber – so wie viele Regierungspolitiken – dienten diese dazu, große Geschäfte zu machen. Auch die gesamte Wechselkurspolitik ist mitnichten sozialistisch. Statt eine produktive Industrie und Landwirtschaft aufzubauen, hat man auf Importe gesetzt, die Kapitalflucht beschleunigt und der Bourgeoisie enorme Möglichkeiten geboten, sich schnell zu bereichern. Die Umverteilung der Erdölrente zugunsten der ärmeren Bevölkerungsschichten war anfangs positiv, doch seit der Wirtschaftskrise ist diese immer geringer geworden und heute nur noch marginal. US-Investitionen gegen Investitionen aus Russland und China auszutauschen, ist an sich weder revolutionär noch sozialistisch.

Aber gleichzeitig gab es unter Chávez doch die Förderung alternativer Unternehmensformen wie Kooperativen oder Prozesse von Mit- und Selbstverwaltung in verstaatlichten Betrieben. Was ist daraus geworden?

Das ökonomische Problem mit den Verstaatlichungen war, dass die Unternehmen die Preise nicht erhöhen durften, was bei steigender Inflation logischerweise zu Verlusten führte. Zudem hat die Regierung die Leitung der meisten verstaatlichten Unternehmen nach und nach dem Militär übertragen, das die Unternehmen völlig offen, unkontrolliert und straflos ausplündern konnte. Kooperativen und selbstverwaltete Betriebe haben gesamtwirtschaftlich nie eine große Rolle gespielt, auch wenn in absoluten Beträgen hohe Summen in diese Projekte gepumpt wurden. Aufgrund des von der Regierung selbst niedrig gehaltenen Wechselkurses war es stets billiger zu importieren, als etwas im Land zu produzieren.

Einige Ökonom*innen schlagen vor, die Landeswährung an den US-Dollar zu binden oder ihn gleich als alleiniges Zahlungsmittel einzuführen. Was halten Sie davon?

Die venezolanische Wirtschaft offiziell zu dollarisieren, wäre ein großer Fehler, selbst wenn es besser wäre als das bisherige System mehrerer Wechselkurse und einem ausufernden Schwarz­markt. Zwar könnte die Hyperinflation so innerhalb kurzer Zeit gestoppt werden, aber Venezuela wäre nicht mehr in der Lage, eine souveräne Wirtschaftspolitik zu gestalten, da sie in monetären Fragen von der US-Notenbank abhinge.

Was wäre nötig, um die Hyperinflation in den Griff zu bekommen?

Die Zentralbank muss umgehend aufhören, ständig neues Geld zu drucken, ohne dass die Produktivität gesteigert wird. Wir müssen eigene Industrien und den Agrarsektor aufbauen, in Verbindung mit einem breiten Plan für mehr Arbeit, vor allem im Inneren des Landes. Der Wechselkurs müsste freigegeben und die Preiskontrollen abgeschafft werden, weil sie nicht funktionieren und viele der regulierten Produkte auf dem Schwarzmarkt landen oder außer Landes geschmuggelt werden. Zusätzlich sollte die Regierung den Einfluss des Militärs auf die Wirtschaft einschränken und die exorbitant hohen Militärausgaben kürzen. Das Gleiche gilt für die Bürokratisierung, es gibt mehr als drei Millionen Staatsangestellte, von denen viele überhaupt keine sinnvolle Funktion ausüben.

Was erwarten Sie von den Maßnahmen?

Die Öffnung der venezolanischen Wirtschaft könnte zu einer leichten Verbesserung der Lage führen und Maduros politische Herrschaft stabilisieren. Ein großes Problem sind die öffentlichen Dienstleistungen, die sich in sehr schlechtem Zustand befinden. Es gibt Gebiete, in denen tagelang der Strom oder wochenlang das Wasser ausfällt. Diese Situation kann zu größeren Protesten führen, die der Regierung durchaus gefährlich werden können. Es fehlt nicht nur das nötige Geld für Investitionen, sondern auch Fachpersonal, denn mehrere Millionen Venezolaner haben das Land vermutlich verlassen. Zurück bleiben vor allem Kinder und Alte, was eine mögliche wirtschaftliche Erholung zusätzlich erschwert.

EINMISCHUNG VERHINDERT DIALOG

Juan Guaidó hat sich am 23. Januar als Interimspräsident selbst vereidigt. Was bedeutet das für den Machtkampf in Venezuela?
Zunächst einmal hat die Selbstvereidigung Juan Guaidós keine verfassungsrechtliche Basis. Der Artikel 233, auf den er sich bezieht, gilt für ganz andere Fälle, wie den Tod oder eine schwere Erkrankung des Präsidenten. Mit diesem Schritt vertieft die Opposition die politische und institutionelle Krise und setzt allein auf eine Logik der Konfrontation, die einen gewalttätigen Ausweg wahrscheinlicher macht. Es ist paradox: Die Opposition hat vielleicht noch nie eine so große und wichtige Demonstration wie an diesem 23. Januar organisiert. Doch statt daraus politisches Kapital zu schlagen, wählt sie den gefährlichen Weg, allein auf die USA zu setzen.

US-Präsident Trump hat Guaidó innerhalb von Minuten als Interimspräsidenten anerkannt. Stärkt ihm das nicht den Rücken?
Genau dies ist doch das Beunruhigende an der Situation. Die Opposition hat einen sehr starken Moment, ist aber trotzdem nicht in der Lage, ohne Hilfe von außen die Macht zu übernehmen. Wir haben machtpolitisch eine Pattsituation. Die Rolle der USA eskaliert nun nicht nur den Konflikt in Venezuela. Das Vorgehen ist eine Bedrohung für die gesamte Region und kann uns in finstere Zeiten zurückwerfen, in eine Logik des Kalten Krieges.

Maduro hat Widerstand angekündigt. Wie ist die Stimmung unter den chavistischen Regierungsanhängern auf der Straße?
Maduros Politik im wirtschaftlichen, sozialen und sicherheitspolitischen Bereich hat ihn viel Rückhalt beim ärmeren Teil der Bevölkerung gekostet. Aber berechtigte Kritik an der Regierung ist das eine. Trotz aller wirtschaftlichen Probleme ist der Chavismus gesellschaftlich noch immer tief verankert. Selbst oppositionelle Meinungsforscher bestätigen, dass gut 30 Prozent der Venezolaner zu dessen hartem Kern zählen. Und in Momenten wie diesen wird die Mobilisierung reaktiviert, auch wenn sie zwischenzeitlich nicht mehr so stark war. Am 23. Januar gab es auch eine immense chavistische Demonstration, das darf man nicht unterschlagen.

Die Lage scheint explosiv, wie kann der Konflikt in Venezuela friedlich gelöst werden?
Es kann nur einen Ausweg geben: Der Konflikt und die gesamte Krise müssen durch einen Dialog gelöst werden. Daran sollten aber nicht nur Regierung und Opposition teilnehmen, sondern alle Sektoren der Gesellschaft. Und es darf nicht nur um rein pragmatische Details wie Neuwahlen gehen. Vielmehr brauchen wir einen breiten gesellschaftlichen Vertrag über das Zusammenleben, der die Anerkennung sozialer und politischer Rechte und eines demokratischen Rahmens beinhaltet.

Wie soll solch ein Dialog unter den gegenwärtigen Bedingungen zustande kommen?
Dafür muss zuallererst die Einmischung von außen gestoppt werden. Alle Länder, die nicht hinter der US-Linie stehen, sollten darauf drängen. Ohne die Parteinahme der USA und anderer Länder bliebe beiden Seiten gar keine andere Möglichkeit, als sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Denn wir haben real eine Pattsituation und die Opposition könnte ihren zurzeit starken Rückhalt in die Waagschale werfen. Ein Dialog sollte dann von internationalen Akteuren begleitet werden, aber ohne aktive Einmischung. Das wichtigste ist, die Krise friedlich, in demokratischem Rahmen, aber vor allem unter uns Venezolanern zu lösen.

DOCH NOCH EIN ECHTER GEGNER

Amtsinhaber Maduro geht als Favorit in’s Rennen um die Präsidentschaft (Foto: Joka Madruga CC BY 2.0)

Nun wird es also doch noch einen richtigen Wahlkampf geben. Nach einigem Hin und Her sollen in Venezuela am 20. Mai vorgezogene Präsidentschaftswahlen stattfinden – die der Großteil der Opposition boykottiert. Bis zuletzt war daher unklar, ob Amtsinhaber Nicolás Maduro überhaupt einen ernsthaften Gegenkandidaten bekommen würde. Ende Februar ließ sich mit Henri Falcón von der kleinen Partei Avanzada Progresista nun ein namhafter Kandidat beim Nationalen Wahlrat (CNE) registrieren. „Wir sind uns sicher, dass wir gewinnen werden“, ließ der ehemalige Gouverneur des westlichen Bundesstaates Lara verlauten, der dem Oppositionsbündnis Tisch der demokratischen Einheit (MUD) mit seiner Kandidatur endgültig den Rücken kehrt. Der Ex-Militär Falcón stammt selbst aus den Reihen des Chavismus. Zwischen 1999 und 2010 führte er mehrere Ämter für die Regierungspartei aus, bevor er mit dem damaligen Präsidenten Hugo Chávez brach. Schon zuvor bezeichnete er sich selbst als „light-Chavisten“.

Henri Falcón bezeichnete sich selbst als “light-Chavisten”

Unterstützt von insgesamt zehn Parteien schrieb sich auch Maduro offiziell als Kandidat ein. Der amtierende Präsident forderte Falcón zu einer „großen Debatte“ auf und kündigte an, der Opposition „mit zehn Millionen Stimmen eine Klatsche zu verpassen“. Neben der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) stehen hinter Maduro auch traditionelle chavistische Verbündete wie die Kommunistische Partei Venezuelas (PCV) und die aus der Gewerkschaftsbewegung hervorgegangene Partei Patria Para Todos (PPT). Beide hatten zuletzt allerdings Kritik an der Regierung geübt und waren bei den Kommunalwahlen sogar teilweise mit eigenen Kandidaten gegen die PSUV angetreten. Zudem verkündete Maduro Ende Januar die Gründung einer neuen Partei namens Somos Venezuela (Wir sind Venezuela), die ihn bei den Präsidentschaftswahlen als eigenständige politische Kraft unterstützt. Somos Venezuela war Mitte 2017 zunächst als Bewegung entstanden, die bei der Umsetzung staatlicher Sozialprogramme mitwirkt. Als Parteichefin fungiert die Präsidentin der umstrittenen Verfassunggebenden Versammlung (ANC), Delcy Rodríguez. Mit der Neugründung will die Regierung nach eigenen Angaben vor allem Wähler*innen erreichen, die sich von den bisherigen Parteien nicht repräsentiert fühlen.

Am 23. Januar hatte die ANC beschlossen, die eigentlich für Dezember vorgesehene Präsidentschaftswahl auf einen Termin vor dem 30. April vorzuverlegen. Wie erwartet folgte der Nationale Wahlrat (CNE) dem Ansinnen und legte die Wahl zunächst auf den 22. April. Zuvor waren in der Dominikanischen Republik mehrmonatige Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition gescheitert. Weil die Opposition derzeit schwach und zerstritten ist, kommt ein früherer Wahltermin der Regierung entgegen. Diosdado Cabello, Vizepräsident der PSUV und Delegierter der ANC, hatte sogar vorgeschlagen, zeitgleich das Parlament neu wählen zu lassen, das oppositionell dominiert, jedoch derzeit juristisch kalt gestellt ist. Maduro unterstützte den Vorstoß und regte an, zusätzlich auch noch die ausstehenden Wahlen der regionalen und kommunalen Legislativen auf den selben Tag zu legen. Doch der CNE lehnte die Vorschläge mit der Begründung ab, das die Zeit dafür nicht ausreiche. Am 1. März dann folgte die nächste Überraschung: Als neuen Wahltermin verkündete der CNE den 20. Mai, an dem nicht nur der Präsident, sondern auch die regionalen und kommunalen Legislativen gewählt werden sollen. Die ANC erteilte unmittelbar danach ihre Zustimmung. Die Terminfindung zeigt eindrücklich, wie informell in Venezuela mittlerweile derart weitreichende Entscheidungen getroffen werden. Auf den neuen Termin hatte sich die Regierung mit Falcóns Partei Avanzada Progresista sowie den kleineren Oppositionsparteien Movimiento al Socialismo (MAS) und der christdemokratischen Copei geeinigt, die Falcóns Kandidatur ebenfalls unterstützen.

Maduro will der Opposition “mit zehn Millionen Stimmen eine Klatsche verpassen””

Sie vereinbarten, die Wahlergebnisse anzuerkennen, einen ausgewogenen Zugang zu den Medien sicherzustellen und eine Wahlbeobachtermission unter Leitung der Vereinten Nationen einzuladen, die alle Phasen des Urnengangs überwachen soll. Auch sollten die Wahlbedingungen wieder hergestellt werden, die bis 2015 galten. So hatte der CNE bei den vergangenen Regional- und Kommunalwahlen im Oktober und Dezember vergangenen Jahres wegen der vorherigen gewalttätigen Proteste einige Wahllokale von oppositionellen Hochburgen in chavistisch dominierte Gebiete verlegt.

Die nun vereinbarten Punkte ähneln jenen, über die Regierung und Opposition bis Ende Januar in der Dominikanischen Republik verhandelt hatten, die dem MUD aber nicht weit genug gingen. Der Generalsekretär von Avanzada Progresista, Luis Romero, bekräftige, die ausgehandelten Bedingungen seien „zwar nicht optimal, garantierten den Venezolanern aber vollkommen, ihr Wahlrecht auszuüben“.
Da die Regierung für die Legitimität der Wahl auf mindestens einen ernsthaften Konkurrenten angewiesen ist, kam sie um Zugeständnisse nicht herum. Denn der MUD erklärte am 21. Februar, die Wahl zu boykottieren. Zuvor hatten schon dessen größte Parteien Acción Democrática, Primero Justicia, Un Nuevo Tiempo und Voluntad Popular getrennt voneinander ihre Ablehnung der Wahl bekundet. Stattdessen wolle man eine „breite Front“ unterschiedlicher Akteure wie Parteien, Kirchen und Universitäten aufbauen, um einen politischen Wandel und faire Wahlbedingungen zu erreichen. Dass sowohl der MUD als Ganzes, als auch dessen Einzelparteien Primero Justicia und Voluntad Popular im Zuge einer umstrittenen Neuregistrierung kürzlich ihren Parteienstatus verloren haben, erschwerte die Einigung auf eine gemeinsame Kandidatur möglicherweise zusätzlich. Auch nach der erneuten Verlegung blieb das Bündnis bei seiner Position und forderte Falcón dazu auf, seine Kandidatur zurück zu ziehen. „Leider hat er der Versuchung einer Wahlteilnahme nachgegeben und spielt damit der Regierung von Nicolás Maduro in die Hände“, sagte Juan Pablo Guanipa von Primero Justicia. Auf internationaler Ebene stützen unter anderem die USA, die Europäische Union sowie mehrere lateinamerikanische Länder die Haltung des MUD.

Das Oppositionsbündnis fordert unter anderem eine Neubesetzung des fünfköpfigen Nationalen Wahlrats, die Freilassung aller als politische Gefangene angesehenen Personen und die Rücknahme der Antrittsverbote, mit denen populäre Oppositionspolitiker wie Leopoldo López und Henrique Capriles Radonski belegt sind. Laut inoffiziellen Informationen trafen sich auch Vertreter*innen von MUD Ende Februar nochmals mit der Regierung, um über die Wahlbedingungen zu verhandeln. Doch während die rechte Opposition im vergangenen Jahr, als sie politisch Oberwasser hatte, noch sofortige Neuwahlen forderte, benötigt sie nun vor allem mehr Zeit. Seit dem Scheitern der Straßenproteste befindet sich der MUD in einer schweren internen Krise und wäre kurzfristig gar nicht in der Lage, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten oder eine Kandidatin zu einigen.

Aufgrund des oppositionellen Wahlboykotts gilt Falcón bisher als klarer Außenseiter im Rennen um die Präsidentschaft. Auch haftet ihm der Makel an, im vergangenen Oktober bei den Regionalwahlen in Lara seinen Gouverneursposten an die PSUV verloren zu haben. Seine wichtigste Aufgabe wird in den kommenden zweieinhalb Monaten sein, all jene Wähler*innen zu mobilisieren, die einen Regierungswechsel wollen.

Maduro rief den MUD nach seiner Einschreibung derweil abermals dazu auf, einen eigenen Kandidaten einzuschreiben, da alle Garantien gegeben seien. „Nur eines kann ich euch nicht garantieren“, sagte er ironisch, „und zwar, dass ihr die Wahl gewinnt“.

DANKE FÜR DIE IMPFUNG, PRESIDENTE

Er scheint sich seiner Sache ziemlich sicher zu sein. „Am Sonntag, den 20. Mai, werden wir zehn Millionen Stimmen holen“, rief der venezolanische Präsident Nicolás Maduro seinen Anhänger*innen auf einer Kundgebung am 1.Mai zu. Nach dem Wahlsieg wolle er sich „um die Wirtschaftsmafia kümmern und unserer gesamten Bevölkerung den ökonomischen Frieden bringen“. Zehn Millionen Voten hatte schon Maduros politischer Ziehvater und Amtsvorgänger Hugo Chávez stets als Ziel vorgegeben. Erreicht hat er es trotz immenser Mobilisierungsfähigkeit nie. Wie die regierenden Chavist*innen diese magische Zahl knacken wollen, rechnet Jorge Sierra Machado vor. Der 31-Jährige steht in der Backstube des selbst verwalteten, sozialistischen Wohnkomplexes Campamento de Pioneros Kaika Shi in La Vega, im Westen der venezolanischen Hauptstadt Caracas. „Die Regierungspartei PSUV hat über fünf Millionen Mitglieder und von denen bringt jeder mindestens eine weitere Person mit“, sagt er, während er den Teig für das Brot knetet, das hier zum staatlich festgelegten Preis von 10.000 Bolívares verkauft wird. Laut dem Schwarzmarktkurs, an dem sich die meisten Preise in Venezuela orientieren, sind das nicht einmal zwei Cents. Doch in Caracas ein Brot zu diesem Preis zu finden, gleicht einer Schatzsuche. Die überwiegend privat betriebenen Bäckereien argumentieren, so nicht kostendeckend produzieren zu können. Stattdessen bieten sie Sorten mit alternativer Rezeptur, die nicht der Preisbindung unterliegen, für mindestens das zwanzigfache an.

Venezuela wählt Trotz Hyperinflation gilt Nicholás Maduro als Favorit (Fotos: Tobias Lambert)

Ähnlich ist es mit anderen Lebensmitteln. Außer vereinzelten Produkten wie Frischmilch ist dieser Tage fast alles erhältlich – aber schier unbezahlbar. Die Hyperinflation bestimmt den Alltag der meisten Menschen, die viel Zeit dafür aufbringen müssen, zielgenau dort einzukaufen, wo einzelne Produkte günstiger zu haben sind als anderswo. Gezahlt wird wegen Bargeld­mangels mittlerweile fast alles elektronisch. Offizielle Wirtschaftsdaten gibt es schon seit Jahren nicht mehr, der Internationale Währungsfonds (IWF) prognostiziert für 2018 eine Teuerungsrate von 14.000 Prozent. Nach der jüngsten Erhöhung am ersten Mai liegt der Mindestlohn inklusive Lebensmittelgutscheinen bei gut 2,5 Millionen Bolívares, auf dem Schwarz­markt bekommt man dafür gerade einmal noch knapp vier US-Dollar. Ein Kilo Reis kostet regulär über 300.000 Bolívares, für ein paar neue Turnschuhe werden schnell drei bis vier Millionen fällig. Hinzu kommt der Verfall der öffentlichen Dienstleistungen. Viele Medikamente sind nicht mehr erhältlich. Die staatlichen Transport-, Elektrizitäts- und Wasserunternehmen haben spürbar Probleme, die Versorgung aufrecht zu erhalten.

Jorge Sierra Machado vertraut trotzdem darauf, dass die Regierung die Krise beenden kann. „Zuerst gewinnen wir die Wahl und dann den Wirtschaftskrieg“, ist er sich sicher. „Die Inflation betrifft uns schon, aber sie wird von außen gesteuert.“ Internetseiten wie das von Miami aus betriebene Portal Dolar Today legten den Schwarzmarktkurs für US-Dollar nach politischen Erwägungen fest. „Noch nie wurde Venezuela derart attackiert wie heute“, sagt Sierra Machado. „Die Medien verfälschen und die US-Regierung verhindert mit ihrer Blockade, dass wir Kredite bekommen.“ Aber Maduro habe Maßnahmen getroffen, um dem etwas entgegen zu setzen. Schließlich würden Anfang Juni im Zuge einer Währungsreform drei Nullen gestrichen und sorge die Ausgabe der staatlichen Kryptowährung Petro für frisches Geld in den Kassen.

Jorges Mutter Mariela Machado sieht das ähnlich. „Maduro gibt sich Mühe“, sagt sie, „aber er hat nur wenige gute Leute um sich herum“. Mit glänzenden Augen führt die 58-Jährige durch die Wohnsiedlung Kaika Shi, die es ohne die Revolution nicht gäbe. Die Mauern im Eingangsbereich sind von großflächigen, sozialistischen Wandbildern geziert, direkt dahinter wachsen auf einem kleinen Hügel Tomaten, Zucchini und andere Gemüsesorten. Im Hof zwischen den mehrstöckigen Gebäuden spielen Kinder. Im hinteren Bereich steht ein Versamm­lungs­haus, das einen öffentlichen Speisesaal (comedor popular), die Bäckerei und eine kleine Nähwerkstatt beherbergt. Vor dem flachen Gebäude verweist eine Statue des 2013 verstorbenen Chávez darauf, wem die politische Loyalität in der Siedlung gehört. „Ohne ihn hätten wir das alles nicht erreicht und deshalb führen wir seinen Kampf weiter“, zeigt sich Machado entschlossen. Anfang 2011 hatte Chávez den zukünftigen Bewohner*innen das von diesen zuvor besetzte städtische Grundstück übertragen, öffentliche Kredite sorgten für das nötige Baumaterial. Die 94 Familien, die hier heute leben, haben alles gemeinsam beschlossen und sämtliche Gebäude eigenhändig hochgezogen.

In Caracas günstiges Brot zu finden, gleicht einer Schatzsuche

Durch die Krise seien sie heute gezwungen, mehr anzubauen und sich ihre Kleidung auch mal selbst zu nähen, sagt Machado. Und pünktlich einmal im Monat komme die Lebensmittelkiste: „Davon esse ich immerhin zwei Wochen lang.“

So wie Millionen anderer Venezolaner*innen erhalten die Bewohner*innen des Kaika Shi direkte Zuwendungen der Regierung, ohne die ein Überleben in Zeiten der Hyperinflation kaum möglich wäre. Am wichtigsten sind die im April 2016 als Antwort auf die Versorgungskrise und die Korruption in den staatlichen Supermärkten gegründeten „Lokalen Versorgungs- und Produktionskomitees“ (CLAP). Diese verteilen überwiegend importierte Grundnahrungsmittel wie Pasta, Reis, Maismehl, Zucker und Milchpulver zu einem symbolischen Preis. Während die Versorgung in Caracas vergleichsweise gut funktioniert, kommen die Lebensmittel in anderen Regionen mitunter unregelmäßig. Auch sind die Kisten nicht immer vollständig. „Es gibt Leute, die klauen und verkaufen CLAP-Produkte dann auf der Straße teuer weiter“, weiß Machado. „Wir haben hier in Venezuela eine jahrzehntelange Kultur des Raubes, nicht nur ganz oben, sondern auch bei den Ärmeren“.


Chávez blickt auf Kaika Shi Die Bewohner*innen haben die Siedlung eigenhändig erbaut

Nicht nur weil die Regierung wie im Fall von Kaika Shi noch über einen gewissen Rückhalt verfügt, könnte Maduro die Präsidentschaftswahl am 20. Mai trotz Wirtschaftskrise und Hyperinflation tatsächlich gewinnen. Denn die rechte Opposition ist gespalten. Von den insgesamt fünf Kandidaten werden nur Maduro und Henri Falcón, dem ehemaligen Gouverneur des Bundesstaates Lara, reelle Siegchancen zugerechnet. Obwohl Falcón durch das Land tourt und dabei auch chavistische Hochburgen nicht auslässt, verläuft der Wahlkampf insgesamt nur schleppend. Als früherer Chavist wäre er einerseits zwar ein geeigneter Übergangspräsident. Tatsächlich aber stößt Falcón in beiden politischen Lagern auf Skepsis. Der Großteil der Opposition setzt auf Boykott, wenngleich völlig unklar ist, ob die Basis diesen am Wahltag mittragen wird. Das rechte Oppositionsbündnis „Tisch der demokratischen Einheit“ (MUD) ist praktisch zerfallen, dessen beide prominentesten Politiker Leopoldo López und Henrique Capriles sind von der Wahl ausgeschlossen. Die USA, die EU und eine Reihe lateinamerikanischer Länder haben angekündigt, das Wahlergebnis nicht anzuerkennen. Dabei unterscheiden sich Falcóns Forderungen kaum von jenen anderer Oppositionsführer. Er will den US-Dollar als Zahlungsmittel einführen, um die Inflation zu stoppen, die Verstaatlichungen der vergangenen Jahre auf den Prüfstand stellen und den staatlichen Erdölkonzern PDVSA für privates Kapital öffnen.

Aufgrund der Schwäche der Opposition, die in den vergangenen zwei Jahren mehrfach erfolglos ihre Strategie änderte, hatte die Regierung die Wahl von Dezember auf Mai vorgezogen. Ein harter Kern von etwa 20 bis 30 Prozent chavistischer Wähler*innen könnte für Maduro also ausreichen, um zu gewinnen, zumal die Regierung über eine eingespielte Maschinerie zur Mobilisierung zurückgreifen kann.

Dass der Präsident im Amt bleiben wird, glaubt auch Andrés Antillano. Seit 30 Jahren ist der Kriminologe als Aktivist in stadtpolitischen Bewegungen aktiv, derzeit unter anderem in der Siedlerbewegung, aus der auch das Campamento Kaika Shi hervorgegangen ist. So weiter gehen wie bisher könne es aber nicht. „Zentrale wirtschaftliche und politische Ansätze, die es unter Chávez gab, sind einfach verschwunden“, bemängelt er. „Dazu zählen die Förderung der Industrialisierung, von Kooperativen und produktiven Kommunen sowie die Übertragung von Macht auf die Bevölkerung.“ Das sich erschöpfende Modell der Erdölrente versuche die Regierung nun verzweifelt durch eine Ausweitung des Bergbaus zu ersetzen. „Das Wichtigste ist: Die Lösung der Krise muss friedlich und demokratisch ausgehandelt werden und zwar von den Venezolanern ohne Einmischung von außen“, betont Antillano. Die meisten linken Bewegungen seien zurzeit nicht unabhängig genug, um einen eigenen, revolutionären Ausweg aus der Krise durchzusetzen. Deswegen eine rechte Regierung in Kauf zu nehmen, sei jedoch nicht die Lösung. „Es reicht, nach Brasilien oder Argentinien zu blicken, um zu sehen, dass die Räume dann keineswegs größer werden“.

“Wenn nicht 350 Milliarden US-Dollar veruntreut worden wären, wären wir nicht in dieser Lage.”

Santiago Arconada sieht das anders. „Für eine echte Erneuerung muss der Chavismus als Ganzes in die Opposition gehen“, ist sich der Basisaktivist sicher. Er wohnt in einem barrio in Antímano, südlich von La Vega, sitzt jedoch am Rande der Plaza Bolívar in Chacao, einer Hochburg der rechten Opposition im Osten der Hauptstadt. Dies sei kein politisches Statement, stellt er klar, er habe hier lediglich ein paar Dinge zu erledigen und der Platz sei angenehm ruhig. Jemanden wie ihn in die rechte Ecke zu stellen, so wie es die Regierung mit vielen ihrer Kritiker*innen macht, ist ohnehin kaum möglich. Seit fast 40 Jahren ist der längst ergraute Basisaktivist in der venezolanischen Linken als Gewerkschafter, Dozent und Sozialforscher aktiv. In den barrios baute Arconada eine partizipative Wasserverwaltung mit auf, unter Chávez und Maduro war er Berater des Umweltministeriums und der Wasserwerke. Wenn er von den ersten Regierungsjahren des Chavismus und der schöpferischen Kraft in den Armenvierteln erzählt, gerät er genau so schnell ins Schwärmen, wie er den Kopf über das schüttelt, was daraus geworden ist. „Laut den vorsichtigsten Schätzungen sind während der Regierungszeit des Chavismus 350 Milliarden-US-Dollar verschwunden. Davon alleine hätte man zehn Jahre lang alle Venezolaner ernähren können“, schimpft er. „Stattdessen haben wir nun unterernährte Kinder, und Krebspatienten bekommen keine Therapie, weil jede Hilfe als imperialistisch gebrandmarkt wird. Aber es ist ganz einfach: Wenn nicht 350 Milliarden US-Dollar veruntreut worden wären, wären wir jetzt nicht in dieser Lage.“

Die Regierung habe eine riesige klientelistische Struktur geschaffen, die nicht einmal verhehle, dass sie klientelistisch sei, kritisiert Arconada. „Es beschämt mich, wenn ich im Staatsfernsehen ein junges Mädchen sehe, das in die Kamera sagt: ‘Danke für die Impfung, Präsident Maduro.’ Eine Impfung ist doch keine milde Gabe, das Mädchen hat ein Recht darauf!“ Dieser Klientelismus entferne die Menschen immer weiter davon, selbst über ihr Leben entscheiden zu können, mit ihrer eigenen Arbeit das zu verdienen, was sie brauchen. „Niemand aus der chavistischen Bevölkerung sagt: Das ist das, was wir wollten, davon haben wir geträumt, dafür haben wir damals Chávez auf der Straße verteidigt.“

Seine Stimme bei der anstehenden Wahl will Arconada dem politischen Außenseiter Reinaldo Quijano geben, der für eine linke Kleinstpartei antritt. „Natürlich hat Quijano keine Chance, aber die Kandidatur eröffnet die Möglichkeit zu sagen: Ich lehne die Korruption der Regierung strikt ab, aber warte auch nicht mit verschränkten Armen auf den IWF und die Dollarisierung, die Falcón angekündigt hat.“ Einen Sieg des rechten Herausforderers hält er durchaus für möglich. „Ich bin mir absolut sicher, dass Maduro verliert, wenn die Wahlbeteiligung bei über 60 Prozent liegt“, sagt Arconada. Je niedriger sie ausfalle, desto größer sei die Gefahr eines Betruges wie er bei der Wahl der Verfassunggebenden Versammlung Ende Juli vergangenes Jahres stattgefunden habe. Damals hatte die komplette Opposition die Wahl boykottiert.

Präsident Maduro stellte Anfang Mai indes klar, was er tun würde, sollte eine rechte Regierung die Reichtümer Venezuelas verscherbeln. „Ich wäre der erste, der ein Gewehr in die Hand nimmt, um eine bewaffnete Revolution zu machen.“

MIT DER KRISE INS WAHLJAHR

Foto: HausOf_Diegoo via Flickr (CC BY 2.0)

In der ersten Jahreshälfte 2017 war es eine Hauptforderung der venezolanischen Opposition: vorgezogene Präsidentschaftswahlen. Dass ihr Wunsch nun aller Voraussicht nach in Erfüllung gehen wird, löst jedoch keine Freude aus. Am 23. Januar hat Venezuelas Verfassunggebende Versammlung (ANC) beschlossen, die eigentlich für Dezember vorgesehene Präsi­dent­schafts­wahl auf einen Termin vor dem 30. April vorzuverlegen. Es gilt als sicher, dass der Nationale Wahlrat (CNE) dem Ansinnen folgen wird. Politische Beobachter*innen rechneten seit geraumer Zeit mit diesem Schritt. Damit wolle die Regierung die derzeitige Schwäche und Zerstrittenheit der Opposition ausnutzen, so der Tenor. Denn seit der umstrittenen Wahl zur ANC Ende Juli hat die Regierung von Nicolás Maduro politisch Oberwasser. Die monatelangen Proteste kamen zum Erliegen, bei den Regional- und Bürgermeisterwahlen im Oktober und Dezember konnte die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) auf ganzer Linie triumphieren.

Venezuelas Oberster Gerichtshof hat das wichtigste Oppositionsbündnis Tisch der demokratischen Einheit (MUD) von der Präsi­dent­schaftswahl ausgeschlossen. Der MUD hätte sich für die Wahl neu anmelden müssen, nachdem das Bündnis die Kommunalwahlen am 10. Dezember boykottiert hatte. Der Ausschluss des MUD, weil einige daran beteiligte Parteien sich neu angemeldet hatten, andere nicht, verhindert, dass ein gemeinsamer Kandidat für die Opposition antreten kann. Leopoldo López von der radikalen Partei Voluntad Popular und Ex-Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles Radonski sind ohnehin aßen vor. López steht wegen seiner Rolle bei den gewaltsamen Protesten 2014 unter Hausarrest. Capriles darf wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten während seiner Zeit als Gouverneur des Bundesstaates Miranda 15 Jahre lang für kein politisches Amt kandidieren. Als vermeintlichen Retter bringen daher immer mehr Oppositionsanhänger*innen den Milliardär Lorenzo Mendoza ins Spiel. Der Chef des größten venezolanischen Lebensmittelkonzerns Polar stünde als politischer Quereinsteiger jenseits der politischen Grabenkämpfe. Zu einer möglichen Kandidatur schweigt er bisher jedoch beharrlich. Daran hat auch der Beschluss der ANC bisher noch nichts geändert.

Das Parlament schätzt die Teuerungsrate für 2017 auf 2.600 Prozent.

Politisch hat die Regierung Maduro Land gewonnen, doch das Land steckt weiter in einer schweren wirtschaftlichen Krise. In den ersten Wochen des neuen Jahres wurden über 100 Plünderungen in verschiedenen Landesteilem gezählt. Diese verlaufen dezentral und unkoordi­niert, doch für die Regierung unter Präsident Nicolás Maduro könnten die spontan wirkenden Ereignisse bedrohlicher werden als die Straßenproteste der rechten Opposition zwischen April und Juli 2017. Denn die Versorgungskrise erzürnt auch viele Venezolaner*innen, die zur traditionellen Basis des Chavismus zählen.

Die Hoffnung vieler Regierungsanhänger*innen, dass sich die Versorgungslage nach der Wahl der omnipotenten ANC bessern werde, ist jedoch nicht aufgegangen. Auch wenn der Erdölpreis langsam wieder steigt und inzwischen wenigstens die 70-Dollar-Schwelle pro Barrel (159 Liter) überschritten hat, fehlt es den meisten Menschen am Nötigsten. Die Supermärkte sind weitgehend leergefegt, Anfang des Jahres hat sich die Lage nochmals verschlechtert. Während auf dem Schwarzmarkt mittlerweile mehr als 200.000 Bolívares für einen US-Dollar gezahlt werden, liegt der monatliche Mindestlohn nach der jüngsten Erhöhung bei gerade einmal 800.000 Bolívares. Die Regierung macht weiterhin vor allem den „Wirtschaftskrieg“ seitens der ökonomischen Eliten und die Sanktionen der USA für die Lage verantwortlich.

Zwar spielen diese Faktoren eine Rolle, die Vorwürfe wirken ein halbes Jahr nach der Wahl der ANC jedoch zunehmend hilflos. Als der von der Regierung versprochene Schinken für den Festtagsbraten zu Weihnachten nicht eintraf, beschuldigte Maduro Portugal der Sabotage, obwohl Venezuela zuvor offenbar Rechnungen portugiesischer Lebensmittelexporteure nicht beglichen hatte. Auf die jüngsten Plünderungen reagierte die Regierung mit der Entsendung von Soldaten, die vereinzelt Supermärkte bewachen sollen. Die Verbraucherschutzbehörde Sundde wies 26 Lebensmittelketten an, die Preise bestimmter Produkte auf das Niveau von Mitte Dezember zu senken. Offizielle Daten zur Höhe der Inflation gibt es schon seit Jahren nicht mehr. Das oppositionell besetzte, aber machtlose Parlament schätzt die Teuerungsrate für 2017 auf 2.600 Prozent. Um sich finanziell unabhängiger zu machen und Sanktionen zu umgehen, pocht Maduro nun darauf, eine eigene Kryptowährung auszugeben. Anders als der Bitcoin soll das digitale Geld staatlich reguliert und mit den Erdölreserven physisch abgesichert sein. Die Krise beenden wird dies wohl kaum.
Vertreter von Regierung und Opposition kamen indes im Januar in der Dominikanischen Republik zu mehreren Dialogtreffen zusammen. Der Opposition ging es in den Gesprächen vor allem um faire Regularien zur Präsidentschaftswahl, die Freilassung der als politische Gefangene angesehenen Personen und humanitäre Hilfe. Der Sinn des Dialogs ist intern aber umstritten, radikale Oppositionelle liebäugeln mit neuen Straßenprotesten. Eine Annäherung zwischen Regierung und Opposition schien dennoch bereits in greifbare Nähe gerückt. Beide Seiten hatten erklärt, es habe substanzielle Fortschritte in mehreren Punkten gegeben.

Seit der umstrittenen Wahl zur ANC hat die Regierung von Maduro politisch Oberwasser.

Doch dann sagte der MUD seine Teilnahme an den für den 25. Januar geplanten Gesprächen ab. Zur Begründung hieß es, die Regierung unterstelle fälschlicherweise Oppositionspolitikern, sie hätten Verbindungen zu einer Gruppe von Aufständischen gehabt, die Mitte Januar gewaltsam aufgelöst wurde. Deren Aufenthaltsort sei durch Hinweise aus den Reihen des MUD ermittelt worden. Durch die einseitig vorgezogene Präsidentschaftswahl dürfte der Dialog nun ohnehin vor dem kompletten Aus stehen.

Am 18. Januar hatten venezolanische Sicherheitskräfte eine Operation gegen die seit Monaten gesuchten Aufständischen um den früheren Krimi­nal­polizisten Óscar Pérez, geführt. Dieser hatte im vergangenen Juni in einem gekaperten Hubschrauber mehrere Regierungsgebäude beschossen. Sieben Mitstreiter, darunter auch Pérez selbst, und zwei Polizisten wurden bei dem Einsatz getötet. Der Ablauf der Aktion ist umstritten. Pérez stellte noch kurz vor seinem Tod ein Video online, in dem er behauptete, sich ergeben zu wollen. Während die Opposition von extralegalen Hinrichtungen spricht, feiert die Regierung das Ausschalten einer Terrorzelle. In der Kritik stehen venezolanische Sicherheitskräfte immer wieder. Vorwürfe extralegaler Hinrichtungen werden etwa im Rahmen der Kriminalitätsbekämpfung regelmäßig erhoben. Auch im bevorstehenden Wahlkampf werden Gewalt und Kriminalitätsbekämpfung sicher ein Thema sein.

 

KRYPTISCHER SCHULDENPOKER

Die Aussagen sind kryptisch: In seiner fünfstündigen Fernsehsendung sagte Venezuelas Präsident Nicolás Maduro am 3. Dezember, das digitale Geld mit dem Namen Petro werde das Land ins 21. Jahrhundert führen: “Damit werden wir unsere Währungshoheit zurückerlangen. Der Petro wird uns gegen die US-Finanzsanktionen helfen. Wir können neue Formen der internationalen Finanzierung schaffen, die der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung unseres Landes dienen. Gestützt wird der Petro durch unsere Reserven an Gold, Erdöl, Gas und Diamanten.” Dabei ließ Maduro offen, wie mit dem Petro Finanzsanktionen umgangen werden sollen. Die USA haben im Sommer Sanktionen gegen Venezuela verhängt. Unter anderem ist der Handel mit venezolanischen Staatsanleihen untersagt.

Was aus dem Petro wird, bleibt vorerst ein Rätsel, die Schuldenproblematik Venezuelas ist indes akut. Die Bedienung der drückenden Schuldenlast verschlingt durch Zins- und Tilgungszahlungen zig Milliarden Dollar, die dann nicht für Importe zur Verbesserung der teils desaströsen Versorgungslage zur Verfügung stehen. Venezuela ist mit geschätzten 155 Milliarden Dollar (133 Milliarden Euro) bei ausländischen Gläubiger*innen verschuldet und derzeit müssen mindestens zehn Milliarden Dollar pro Jahr für den Schuldendienst aufgebracht werden.

Anfang November kündigte Maduro an, zu den laufenden Konditionen keine Schuldenzahlungen mehr leisten zu wollen, und forderte die Anleihegläubiger*innen auf, über eine Refinan­zierung oder eine Restrukturierung der Schulden zu verhandeln. Dabei geht es nicht um die gesamten Schulden, sondern ausschließlich um die Auslandsschulden Venezuelas und die internationalen Schulden der staatlichen Erdölfirma PDVSA: rund 66 Milliarden Dollar.

Einen ersten Erfolg kann Maduro vorweisen: Mit Russland gab es Mitte November eine Einigung. Caracas bekommt demnach mehr Zeit, um einen Kredit aus dem Jahr 2011 zurückzuzahlen. Gemäß der neuen Vereinbarung können die 3,15 Milliarden Dollar in den kommenden zehn Jahren getilgt werden. Zwar ist China mit 21 Milliarden Dollar Forderungen ein größerer Gläubiger als Moskau, doch Russland ist stärker direkt verflochten: Russlands Ölkonzern Rosneft gewährte seinem Pendant PDVSA von 2015 bis 2017 Vorauszahlungen für Rohöllieferungen über fast 6 Milliarden Dollar. Die sollen bis Ende 2019 durch Öllieferungen beglichen werden. Zudem hat Rosneft sich in Venezuela in fünf Förder- und Explorationsprojekte von PDVSA eingekauft.

Die Sicherheitsleistungen von PDVSA entbehren nicht einer gewissen Pikanterie: PDVSA hinterlegte bei Rosneft unter anderem einen Anteil von 49,9 Prozent an Citgo, einem großen Raffinerie- und Tankstellenbetreiber in den USA, den PDVSA seit 1990 mehrheitlich kontrolliert. Die USA haben deswegen ein Eigeninteresse, dass PDVSA nicht zahlungsunfähig wird: Denn dann könnte sich Rosneft bevorzugt aus der Konkursmasse bedienen und durch die Hintertür in den US-Markt einsteigen.

Die USA sind der wichtigste Abnehmer venezolanischer Ölexporte. Von den täglich zwei Millionen Barrel, die in Venezuela noch gefördert werden, gehen rund 700 000 in die USA. Dafür fließen derzeit täglich rund 30 Millionen US-Dollar nach Caracas, was die schwindsüchtige Staatskasse gut gebrauchen kann. 96 Prozent der Exporterlöse und 60 Prozent der Staatseinnahmen Venezuelas kommen aus der Ölindustrie. Der Ölpreisverfall seit 2014 belastet die Zahlungsfähigkeit schwer und der Poker ist noch nicht zu Ende.

 

DREI STÜCKE SEIFE FÜR EINEN MINDESTLOHN

Drei Stücke Seife legt Jonathan auf das Kassenband und erklärt: „Das hier, das entspricht einer Woche Mindestlohn.“ Wir stehen in einer der Markthallen von Cecosesola in der Millionenstadt Barquisimeto, im Nordwesten von Venezuela. Trotz der regelmäßigen Anpassungen des Mindestlohns durch die Regierung hat die Hyperinflation die Kaufkraft eines Großteils der Bevölkerung längst geschluckt. 50 Prozent Inflation allein im Oktober. Im Juli soll sie noch bei etwa 35 Prozent gelegen haben. Ein Monat Mindestlohn ist heute in etwa zehn Dollar wert – zu dem Wechselkurs, der auf der Straße herrscht.

„Das hier entspricht einer Woche Mindestlohn.”

Cecosesola, ein Kooperativennetzwerk, das etwa 20.000 Leute in verschiedenen Bundesstaaten umfasst, die in 40 Kooperativen organisiert sind,  wurde im Dezember 2017 50 Jahre alt. Es hat im Lauf der Zeit eine Vielzahl von Commons, von Gemeingütern, rund um die Grundbedürfnisse der Bevölkerung geschaffen: Drei große und mehrere kleinere Wochenmärkte in Barquisimeto, eine Gemeinschaftsklinik und dezentrale ärztliche Versorgung in einigen Stadtteilen, ein Bestattungsinstitut – alles zu fairen Preisen sowohl für Konsument*innen als auch Produzent*innen und Dienstleister*innen. Und was in der aktuellen Krise, die Venezuela durchlebt, besonders wichtig ist: eigene Produktion von Nahrungsmitteln und Grundbedarfsgütern verschiedenster Art, von Gemüse über Nudeln oder Müsli bis hin zu Putzmitteln.

Die Kooperative hat heute eine Schlüsselrolle in Barquisimeto: Am Tag meiner Ankunft kaufen allein in einer der großen Markthallen 15.000 Menschen ein – das macht rund 45.000 in allen drei Hallen, die in verschiedenen Teilen der Stadt liegen. „Das ist nicht überdurchschnittlich für einen Tag, es waren auch schon mal viel mehr“, meint Jonathan. Die Markthallen sind vier Tage pro Woche geöffnet, von Donnerstag bis Sonntag.

Auf Whatsapp wird über Maismehl, Zucker und Nudeln diskutiert.

Vor der Halle schiebt sich eine lange Warteschlange zäh über den weiten Parkplatz bis ins Innere, wo die Kund*innen eine Plastikkarte vorzeigen. 250.000 solcher Ausweise hat Cecosesola bisher ausgegeben, das entspricht jeder sechsten Einwohner*in der Stadt, und es werden wöchentlich mehr. Santiago, der mit mir aus Caracas angereist ist, staunt: „Die Stimmung hier hat mit anderen Schlangen in diesem Land nichts gemein. Soviel Respekt, soviel Ruhe und Freundlichkeit“.

Schlangestehen gehört heute zum Alltag in Venezuela. Ein Großteil der Kommunikation dreht sich um Grundnahrungsmittel: Wo sich plötzlich Bezugsquellen auftun, was wieder um wie viel teurer geworden ist, seit wann das staatlich subventionierte Essenspaket des CLAP, des „lokalen Versorgungs- und Produktionskomitees“, nun schon ausbleibt. Die Nachrichtenapplikation Whatsapp ist ein Schlüsselinstrument der populären Krisenökonomie, wenn irgendwo Maismehl, Zucker oder Nudeln auftauchen. Die Schlangen selbst sind zu Orten der Spekulation und Gewalt geworden: Manche Leute verbringen die ganze Nacht auf den ersten Plätzen vor bestimmten Supermärkten, um dann frühmorgens ihre Vorzugsposition gegen Geld zu verkaufen. Oder aber gegen die Hälfte der Güter, die der Käufer oder die Käuferin dann ergattert, in Naturalien. Denn auch Bargeld ist extrem knapp. Fast alle Transaktionen finden über Kredit- oder Debitkarten statt. 50 Dollar in Bolívars füllen eine mittelgroße Sporttasche, und wer damit von der Polizei auf der Straße erwischt wird, gerät leicht in den Verdacht, mit Bargeld zu spekulieren. Denn viele Leute, so erzählt Santiago, nehmen Kommissionen bis zu 50 Prozent für die Ausgabe von Bargeld. „Am Geldautomaten bekommst du täglich maximal umgerechnet 25 Dollar-Cent“, ergänzt er.

Jonathan erzählt, dass bis vor eineinhalb Jahren auch die Schlangen vor den Märkten von Cecosesola leicht ausarten konnten: „Es hat hier sogar Tote gegeben. Es war ein Alptraum für uns damals.

Viele Regierungsinstitutionen negieren die Krise und tun alles, um den Schein zu wahren.

Nicht nur, dass die Schlange sich um den ganzen Block wand und die Leute mehrere Tage und Nächte pro Woche auf Pappkartons auf dem Gehweg verbringen mussten. Bewaffnete Banden kämpften um die ersten 200 Plätze, um möglichst große Mengen der knappsten Güter zu hamstern und sie dann auf dem Schwarzmarkt weiterzuverkaufen.“ Mit der Einführung der Kundenausweise konnte das Kollektiv von Cecosesola diese Bedrohung eindämmen: Heute gibt es einen Ausweis pro Familie, der zu einem wöchentlichen Einkauf in einem der Märkte berechtigt. Strohmänner sind dadurch schwerer einzusetzen: Die elektronische Registrierung beim Eintritt in die Halle verhindert Mehrfacheinkäufe und erkennt Leute, die gestohlen haben.

Die Wirtschaftskrise trifft nicht alle Menschen in Venezuela gleichermaßen. Ähnlich wie in Kubas Spezialperiode entsteht eine immer tiefere Kluft zwischen denen, die irgendwie an Dollars kommen, und denen, die nur Bolívars zur Verfügung haben. Die müssen sich mindestens zwei oder drei Jobs suchen, allein um die Ernährung zu sichern. Viele Venezolaner*innen kündigen formelle Arbeitsverhältnisse, weil der informelle Markt mehr einbringt. Wer Dollars tauschen kann oder als Händler*in mit der Inflation einfach mithält, hat dagegen keine finanziellen Sorgen.

Der Konsum hat sich nicht nur auf das Allernötigste reduziert, sondern die Marktlage hat auch die Essgewohnheiten verändert. Da Maismehl kaum zu bekommen ist, werden die traditionellen Arepas jetzt aus Yuca hergestellt, oder die Frauen stehen um halb fünf Uhr morgens auf, um mit der Hand den Mais zu mahlen.

Die subventionierten Lebensmittelpakete der CLAPs sind sehr wichtig.

Santiago hat in den vergangenen zwei Jahren acht Kilo abgenommen – das scheint ein weit verbreiteter Effekt der Krise zu sein. Cecilia erzählt, dass es in der Oberschule, die ihre Söhne besuchen, häufig vorkommt, dass Jugendliche vor Hunger ohnmächtig werden.

Viele Regierungsinstitutionen und Chavist*innen negieren die Krise und tun alles, um den Schein zu wahren. Wo das nicht möglich ist, wird der Wirtschaftskrieg des Imperialismus verantwortlich gemacht. Die jüngsten Sanktionen der EU gegen Venezuela bestätigen diese These. Doch viel weist auch darauf hin, dass mafiöse Netzwerke im Staatsapparat selbst die Knappheit mit produzieren. Jonathan behauptet zu wissen, dass der Staat bis zu 70 Prozent der noch existierenden nationalen Grundnahrungsmittelproduktion, beispielsweise Nudeln, direkt vom Fabrikanten abzweigt. „Die Bedingung dafür, der Fabrik subventionierte Dollars für den Import von Hartweizengrieß zu geben, ist, dass 70 Prozent der produzierten Nudeln gleich wieder an den Staat zurückgehen, praktisch umsonst, für das CLAP-System. Die restlichen 30 Prozent müssen dann auf dem freien Markt die gesamten Produktionskosten decken.“

Ein subventionierter Import-Dollar kostet zehn Bolívar, ein informell gehandelter 50.000 Bolívar. Diese gigantische Differenz lädt zur Spekulation mit Import-Dollars oder subventionierten Gütern ein, die unerhörte Bereicherungsmöglichkeiten bietet. Oft sitzen Militärs an wichtigen Schaltstellen, die auch zahlreiche hohe Regierungsämter bekleiden. „Solange die Krise für diese Leute so lukrativ ist, wird sie sich hinziehen“, sagt Santiago. „Sie haben keinerlei Interesse an einem politischen Wechsel.“

Grobe Schätzungen weisen darauf hin, dass etwa zwei Millionen Menschen seit 2015 emigriert sind, so der Soziologe Edgardo Lander. Genaue Zahlen gibt es nicht. Neben den USA leben viele von ihnen in Kolumbien, Ecuador oder Peru und schicken so oft sie können Dollars nach Hause.
Die wichtigste Struktur, die die Regierung als Antwort auf die Krise geschaffen hat, sind die subventionierten Lebensmittelpakete der CLAPs. Auch wenn das P, das in der Abkürzung für Produktion steht, eher symbolisch ist, sind die CLAPs immerhin ein flächendeckender Verteilungsmechanismus, der vor allem nicht verderbliche Lebensmittel wie Mehl, Nudeln, Öl, Zucker, Sardinen oder Thunfisch und manchmal Kaffee in arme Haushalte bringt. Laut Regierung waren es 2016 knapp zwei Millionen Empfänger*innenhaushalte, 2017 sollte diese Zahl auf sechs Millionen steigen.

Das Schlangestehen in der Markthalle wird zum Akt der Solidarität und Gemeinschaft. 

Obwohl das System landesweit funktioniert, ist es alles andere als einheitlich und scheint ein hohes Maß von Willkür zu beinhalten: Manche bekommen die Pakete 14-täglich, manche nur zweimonatlich. Auch was sie enthalten, variiert, je nachdem, wo man wohnt. Verteilt werden sie über Partei- oder parteinahe Strukturen der Regierungspartei. In manchen Vierteln, den sogenannten Barrios, bekommen alle gleichermaßen ihr Paket, in anderen wird politisch konditioniert.

Jonathan erinnert sich: „In meinem Viertel wurde vor den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung im Juli, als die Opposition zum Boykott aufgerufen hatte, offen damit gedroht, dass am Wahllokal die Beteiligung registriert werden würde. Wer nicht wählen geht, bekommt kein Essen mehr.“ Santiago erzählt, in seinem Viertel in Caracas müsse das Geld für das Essenspaket auf das Privatkonto der Frau überwiesen werden, die für die Verteilung zuständig ist. Bei Cecilia wiederum wurde ein Extrakonto eingerichtet.

Während viele der Polarisierung und der Krise müde sind und sich keinem politischen Lager zurechnen, gibt es immer noch eine aktive chavistische Basis. Für sie sind solche Korruptions- und Kontrollstrukturen sekundär. Es überwiegt die Erinnerung an die vielfältigen Sozial- und Wohnungsbauprogramme noch unter Chávez, in deren Genuss die meisten von ihnen gekommen sind, und sie sehen die CLAPs in dieser Kontinuität.

Heute gibt es je Familie einen Ausweis, der zum Einkauf in einem der Märkte berechtigt.

Rechtsstaatlichkeit oder Transparenz im Umgang mit Geld sind bürgerliche Werte, mit denen sie sich nicht unbedingt identifizieren. Wichtig ist der Zusammenhalt im Barrio, und dass sie in genügend informelle Verteilungsstrukturen eingebunden sind. Diese können familiär, aber auch kriminell ausgerichtet sein. Wobei auch hier, wer für „seine Leute“ sorgt, nicht schlecht angesehen ist. So entsteht ein schizophrenes Verhältnis zum bachaqueo – das ist der Begriff, mit dem die Parallelökonomie bezeichnet wird.

In meinem Wohnviertel in Barquisimeto verkauft mindestens jeder zweite Haushalt irgendetwas, von Motoröl über Tomaten bis hin zu kleinen Mengen von Maismehl, Öl oder Zucker. Wer durch Schlangestehen bei einem Supermarkt etwas ergattert, kauft so viel, dass er oder sie nicht nur den Familienbedarf decken, sondern auch noch von zu Hause aus ein kleines Geschäft mit dem Rest machen kann. Man erleidet den bachaqueo, aber man versucht nach Möglichkeit, Nutzen daraus zu ziehen. Deshalb haben die Leute von Cecosesola nicht nur die Frequenz der möglichen Einkäufe, sondern auch die Mengen pro Einkauf reguliert. Für sie sind die Markthallen nicht nur Stätten der Versorgung, sondern auch ein Instrument, über das sie bestimmte verbindende Werte wie Solidarität, Autonomie und Gemeinschaft verteidigen wollen, die die venezolanische Gesellschaft heute dringender braucht denn je.

 

 

 

// GOLDENE HIMBEERE FÜR MENSCHENRECHTE

Nelson Mandela, Aung San Suu Kyi und sogar die Madres de la Plaza de Mayo haben ihn bereits erhalten. Seit 1988 verleiht das Europäische Parlament den mit 50.000 Euro dotierten „Sacharow-Preis für geistige Freiheit“ an Personen und Gruppen, die sich „weltweit in besonderer Weise für die Menschenrechte eingesetzt haben“.
Dieses Jahr darf sich die „demokratische venezolanische Opposition“ in eine Reihe mit vielen namhaften Menschenrechtler*innen stellen. Dass es sich bei „der“ Opposition um eine stark zersplitterte, politisch heterogene Gruppe handelt, scheint dabei ebenso nebensächlich, wie der implizite Hinweis auf deren undemokratische Akteure. Denn diese wollen freilich ausdrücklich nicht gemeint sein. Ebenso wenig wie die kleine linke, tatsächlich demokratische Opposition.

Ausgezeichnet werden vielmehr Parlamentspräsident Julio Borges stellvertretend für die Nationalversammlung sowie die von der Nichtregierungsorganisation Foro Penal Venezolano anerkannten politischen Gefangenen. In Venezuela handele es sich nicht nur um eine politische, sondern um eine grundlegende Konfrontation, „in der es um konkrete Werte geht“, wird Borges auf der Webseite des Europäischen Parlaments zitiert. Von welchen konkreten Werten er dabei spricht, bleibt ebenso nebulös wie die Frage, womit sich die Preisträger*innen eigentlich konkret für den Menschenrechtspreis qualifiziert haben. In Bezug auf die politischen Gefangenen heißt es lediglich, sie würden ihr Leben dem „friedlichen Kampf um die Menschenrechte widmen.“

Wie dehnbar die Begriffe „friedlich“ und „demokratisch“ für die EU sind, wird deutlich, wenn man sich die politischen Werdegänge einiger der namentlich Nominierten ansieht: Leopoldo López, unter Hausarrest stehender Oppositionsführer, war aktiv am gescheiterten Putsch im Jahr 2002 beteiligt und ist zumindest mitverantwortlich für gewaltsame Proteste im Jahr 2014, bei denen mehr als 40 Menschen starben. Daniel Ceballos, Ex-Bürgermeister von Sán Crístobal, soll sich bei den Protesten 2014 persönlich an Gewaltaktionen gegen die Regierung beteiligt haben. Und der „studentische Aktivist“ Lorent Saleh verfügt nachweislich über Kontakte in rechtsextreme und paramilitärische Kreise in Kolumbien.

Ohne Zweifel ist an dem heute autoritären Kurs der venezolanischen Regierung und auch bei deren Vorgehen gegen die rechte Opposition deutliche Kritik angebracht. Zu glauben, die nun geehrte „demokratische Opposition“ könne diese notwendige Kritik glaubhaft verkörpern, zeugt jedoch im besten Fall von Unkenntnis. Vielmehr ehrt das EU-Parlament eine zersplitterte Gruppe, die weder in der Tradition einer demokratischen Opposition steht, noch sich in der Vergangenheit groß um Menschenrechte und Meinungsfreiheit gekümmert hat. Es handelt sich um dieselbe Opposition, die seit der erstmaligen, demokratischen Wahl von Hugo Chávez lautstark die Verletzung ihrer „Menschenrechte“ beklagte, damit aber jahrzehntelang bestehende eigene Privilegien meinte. Der Ruf nach Menschenrechten der rechten Opposition Venezuelas ist ebenso heuchlerisch wie diese nun mit dem Sacharow-Preis auszuzeichnen.

Was legitimiert und qualifiziert die EU als moralische Instanz zur Verleihung von Menschenrechtspreisen? Kein Wunder, dass derartige Anti-Preise dann an Gruppen verliehen werden, die für die Verteidigung der gleichen unsozialen, neoliberalen Verhältnisse stehen, wie die EU selbst. Angesichts konkreter, kontinuierlicher und systematischer Verletzungen von grundlegenden Menschenrechten nicht nur an den EU-Außengrenzen, sondern auch „innerhalb der EU“, sollte sich die Europäische Union besser etwas zurückhalten. Und sich im nächsten Jahr vielleicht selbst die goldene Himbeere für Menschenrechte verleihen.

UNERWARTETER RÜCKSCHLAG

Die Ergebnisse überraschten. Entgegen den Vorwahlprognosen gewann die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) bei den Regionalwahlen am 15. Oktober in 18 von 23 Staaten. Landesweit holte sie etwa 54 Prozent der Stimmen. Das rechte Oppositionsbündnis Tisch der Demokratischen Einheit (MUD) errang mit fünf Gouverneursposten zwar zwei mehr als bei den vorangegangenen Wahlen 2012. Doch angesichts der tief greifenden Wirtschaftskrise und verbreiteten Unzufriedenheit in der Bevölkerung hatten sich die Regierungsgegner*innen deutlich mehr erhofft.

Laut Verfassung hätten die Regionalwahlen eigentlich bereits Ende 2016 stattfinden müssen. Mit fast einem Jahr Verspätung wurden nun zumindest die Gouverneur*innen, nicht aber die legislativen Vertretungen gewählt. Die Opposition konnte immerhin die beiden strategisch bedeutsamen Staaten Zulia und Táchira an der Grenze zu Kolumbien für sich entscheiden. Darüber hinaus gewannen MUD-Kandidat*innen im angrenzenden Mérida, dem zentralen Anzoátegui sowie dem Inselstaat Nueva Esparta. Der PSUV dagegen gelang eine symbolischer Erfolg im bisher oppositionell regierten Küstenstaat Miranda. Hier setzte sich der Nachwuchspolitiker Héctor Rodríguez durch.

Noch am Wahlabend sah es zunächst danach aus, als weise der MUD die Wahlergebnisse geschlossen zurück: „Zum jetzigen Zeitpunkt erkennen wir keines der Resultate an“, verkündete der Leiter der oppositionellen Wahlkampagne, Gerardo Blyde. Vereinzelt sprachen MUD-Vertreter*innen direkt von Betrug.

Vor allem sah sich die Opposition aber bereits im Vorfeld der Wahl benachteiligt. Dem Nationalen Wahlrat (CNE) warf sie vor, auf die Demobilisierung ihrer Wählerschaft hingearbeitet zu haben. Unter anderem hatte der CNE 212 Wahllokale (knapp 1,5 Prozent) „aus Sicherheitsgründen“ kurzfristig verlegt, häufig von Hochburgen der Opposition in chavistisch dominierte Viertel. Zudem durfte die Opposition ihre in internen Vorwahlen unterlegenen Kandidat*innen nicht löschen, so dass diese auf den Bildschirmen der Wahlcomputer erschienen, obwohl sie eigentlich gar nicht mehr zur Wahl standen.

Die Opposition sah sich im Vorfeld der Wahl benachteiligt.

Die Beteiligung stieg gegenüber den letzten Regionalwahlen zwar um sieben Prozentpunkte auf gut 61 Prozent, dass die Opposition im Vergleich zur Parlamentswahl Ende 2015 jedoch fast drei Millionen Stimmen verlor, liegt allerdings vor allem an eigenen Fehlern. Die von Anfang April bis Ende Juli andauernden Proteste, bei denen mindestens 120 Menschen ums Leben kamen, hatten dem MUD außer auf internationalem Pakett keinerlei Erfolg eingebracht. Eine unklare Strategie, interne Uneinigkeit und die offene Diskreditierung des Wahlsystems dürfte zudem viele Wähler*innen verprellt haben. Die beiden rechts außen stehenden kleineren Parteien Vente Venezuela und Alianza Bravo Pueblo hatten die Regionalwahlen außerdem von vornherein boykottiert und fühlen sich nun bestätigt.

Nach einem aus Sicht der Opposition völlig verkorksten Jahr zeigt sich, wie schwach der Zusammenhalt bei den Regierungsgegner*innen ist. Nur wenige Tage nach den verlorenen Regionalwahlen brach offener Streit über den Umgang mit der Regierung und die zukünftige Teilnahme an Wahlen aus. Auslöser war zunächst die Haltung der früheren sozialdemokratischen Regierungspartei Acción Democratica (AD), die vier der insgesamt fünf oppositionellen Gouverneursposten erringen konnte. Deren gewählte Gouverneur*innen Laidy Gómez (Táchira), Juan Barreto Sira (Mérida), Alfredo Díaz (Nueva Esparta) und Ramón Guevara (Anzoátegui) leisteten ihren Amtseid zwei Tage nach der Wahl vor der umstrittenen Verfassunggebenden Versammlung ab. Die Regierung hatte andernfalls mit Neuwahlen in den betroffenen Staaten gedroht. Der fünfte oppositionelle Gouverneur, Juan Pablo Guanipa von der Partei Primero Justicia (PJ, Zulia), weigerte sich hingegen und darf sein Amt nun nicht antreten.

Die Verfassungsgebende Versammlung wurde unter dem Boykott der Opposition gewählt.


Hintergrund ist, dass die Opposition die Verfassunggebende Versammlung nicht anerkennt. Diese war Ende Juli unter Boykott aller Oppositionsparteien gewählt worden und steht laut ihren Statuten über allen anderen staatlichen Gewalten. Die vier oppositionellen Gouverneur*innen brachen den bisherigen Konsens innerhalb des MUD, wonach die Verfassung-gebende Versammlung eine illegale Institution sei und gegen die bestehende Verfassung verstoße. Bereits bei deren Wahl, an der sich laut offiziellen Angaben gut 41 Prozent der Wähler*innen beteiligt hatten, gab es Betrugsvorwürfe. Im Gegensatz zu den Regionalwahlen waren Vertreter*innen der Opposition damals allerdings nicht in den Abstimmungslokalen präsent.

Henrique Capriles von der PJ (Foto: Wikimedia (CC BY-SA 3.0) )

Nach der Vereidigung der oppositionellen Gouverneur*innen traten die schon länger schwelenden internen Spannungen offen zu Tage. Der zweifache Ex-Präsident­schaftskandidat Henrique Capriles Radonski von Primero Justicia warf AD-Chef Henry Ramos Allup vor, seit dem oppositionellen Sieg bei den Parlamentswahlen Ende 2015 nur auf eine eigene Präsidentschaftskandidatur geschielt zu haben und sich bei der Regierung anzubiedern. „Ich spreche nur für mich und nicht meine Partei. So lange Herr Ramos Allup Teil des MUD ist, werde ich dort nicht weitermachen“, verkündete Capriles. Ramos Allup reagierte verschnupft. Für viele sei die Vereidigung der Gouverneur*innen nur ein willkommener Anlass, Acción Democrática anzugreifen, diesbezüglich werde er aber „mit niemandem diskutieren“. Doch eindeutig ist seine Position aber nicht: Hatte der AD-Chef den gewählten Gouverneur*innen kurz nach der Wahl noch frei gestellt, ob sie sich vor der Verfassunggebenden Versammlung vereidigen lassen würden, behauptet er nun, sie hätten gegen die Parteilinie gehandelt und sich daher „selbst ausgeschlossen“.

Der abgewählte Ex-Gouverneur des Staats Lara, Henri Falcón von der Regionalpartei Avanzada Progresista, bezichtigte derweil Primero Justicia und Voluntad Popular bei den Regionalwahlen „gegen ihn gespielt“ zu haben. Als einer der wenigen Oppositionspolitiker gestand er seine Wahlniederlage ein.

Die internen Streitigkeiten spielen der geschwächten Regierung unter Nicolás Maduro in die Hände, die nach einem langen Umfragetief wieder aufatmen kann. Hatte die Regierung die Regionalwahlen noch um fast ein Jahr verzögert, beschloss die Verfassunggebende Versammlung nun, dass die ebenfalls noch ausstehenden Kommunalwahlen bereits am 10. Dezember stattfinden sollen.

Die drei wichtigsten Oppositionsparteien Voluntad Popular, Primero Justicia und Acción Democrática kündigten daraufhin getrennt voneinander an, die anstehenden Wahlen zu boykottieren. Stattdessen wollen sie sich für eine transparente Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr einsetzen. Viele kleinere Parteien des MUD-Bündnisses nehmen an den Kommunalwahlen hingegen teil. Einzelne Mitglieder der größeren Parteien treten zudem auf dem Ticket kleinerer Parteien an.

Der prominenteste Fall ist Yon Goicoechea. Anfang November wurde der junge Politiker der rechten Partei Voluntad Popular überraschend aus der Haft entlassen. Im August vergangenen Jahres war bei ihm im Vorfeld einer geplanten Großdemonstration nach offiziellen Angaben Sprengstoff gefunden worden. Obwohl ein Gericht im darauf folgenden Oktober seine Freilassung angeordnet hatte, verbrachte er über ein Jahr inhaftiert im Hauptsitz des Geheimdienstes Sebin. Nun kündigte Goicoechea an, als Kandidat von Henri Falcons Partei Avanzada Progresista für das Bürgermeisteramt der oppositionellen Hochburg El Hatillo im Großraum von Caracas zu kandidieren. „Es ist ein großer Fehler, nicht an den Kommunalwahlen, dann aber an den Präsidentschaftswahlen teilzunehmen“, begründete er den Schritt. Seine Partei Voluntad Popular wolle er trotz der Diskrepanzen über das taktische Vorgehen jedoch nicht verlassen. Beinahe zeitgleich mit Goicoecheas Freilassung suchte dessen Parteifreund, der Parlamentsabgeordnete Freddy Guevara, Zuflucht in der chilenischen Botschaft. Zuvor hatte das Oberste Gericht seine Immunität aufgehoben, ihm soll wegen Aufrufen zu Gewalt der Prozess gemacht werden.

Goicoecheas Ankündigung sorgte für harsche Kritik seitens der großen Oppositionsparteien. Gleiches gilt für die Kandidatur Manuel Rosales‘ von der viertgrößten Oppositionspartei Un Nuevo Tiempo. Der Präsidentschaftskandidat von 2006 und ehemalige Gouverneur von Zulia will bei der ebenfalls am 10. Dezember stattfindenen Neu-wahl in dem westlichen Bundesstaat antreten. Aufgrund von Korruption dürfte er eigentlich zurzeit keine offiziellen Ämter bekleiden. Kurz nach den Regionalwahlen hob das Oberste Gericht (TSJ) den Beschluss allerdings auf. In einem gemeinsamen Kommunique wendeten sich Voluntad Popular und Primero Justicia gegen Politiker*innen der Opposition, die „die derzeitige Situation ausnutzen, um ihre persönlichen Projekte voranzutreiben“.

Streitigkeiten in der Opposition spielen der geschwächten Regierung in die Hände.

Doch auch der Chavismus tritt nicht überall geschlossen auf. Die kleineren Bündnispartner der PSUV bemängeln, dass die Regierungspartei vielerorts eigenmächtig ihre Leute durchsetze. In Libertador, dem größten Teilbezirk von Caracas, registrierten sich gleich mehrere chavistische Kandidat*innen. Zudem hat sich mit Nicmer Evans ein Vertreter des so genannten kritischen Chavismus eingeschrieben, der die Regierung Maduro ablehnt.

Sollte die Opposition ihre internen Probleme nicht bald in den Griff bekommen, hätte Maduro sogar bei den Präsidentschaftswahlen Ende 2018 reelle Siegchancen. Gefährlicher als der MUD dürfte für ihn vorerst die weitere wirtschaftliche Entwicklung sein. Nach weit verbreiteter Meinung steht Venezuela kurz vor der Staatspleite. Maduro kündigte Anfang November eine Neustrukturierung der Auslandsschulden an, die vor allem China und Russland, aber auch private Banken und Fonds, beträfe. Sollten sich einzelne Gläubiger widersetzen, droht ein sofortiger Zahlungsausfall. Die Ende August verhängten US-Sanktionen erschweren eine weitere Schuldenaufnahme Venezuelas. Auch die EU drängt derzeit auf die Verabschiebung von Sanktionen. Und wenige Tage nach den Kommunal-wahlen wird das Europäische Parlament die „demokratische Opposition“ Venezuelas mit dem diesjährigen Sacharow-Preis für geistige Freiheit ehren. Entgegennehmen soll die mit 50.000 Euro dotierte Auszeichnung Parlamentspräsident Julio Borges von der Partei Primero Justicia. Ob dieser dann überhaupt die Mehrheit der rechten Opposition repräsentiert, darf nach der gerade ausgebrochenen internen Krise bezweifelt werden.

 

DER FLUCH DER TEUFLISCHEN SCHEIßE

Venezuelas Wirtschaft kämpft mit des „Teufels Scheiße“. So bezeichnete der einstige venezolanische Erdölminister und Mitbegründer der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) Juan Pablo Pérez Alfonzo einst das Erdöl, um die Schwierigkeiten wirtschaftlicher Gestaltung angesichts der übermächtigen Dominanz des schwarzen Goldes zu beschreiben. Eine Herausforderung, die schlicht darin besteht, „Öl zu säen“, wie es der venezolanische Schriftsteller Arturo Uslar Pietri bereits in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts plastisch auf den Punkt brachte: mittels Öleinnahmen die Gesellschaft zu entwickeln und die Wirtschaft zu diversifizieren. Die erste Konzession zur Ausbeutung der Ölquellen Venezuelas war schon im Jahre 1866 erteilt worden, der Ölboom setzte ab den 1930er Jahren ein und veranlasste Uslar Pietri zu seiner weitsichtigen Aussage. Alle Ansätze in Venezuelas Geschichte, seine ökonomische Abhängigkeit vom Öl durch eine Diversifizierung der Wirtschaft abzubauen, scheiterten seitdem unterm Strich.

Mit des „Teufels Scheiße“ haben und hatten sich alle venezolanischen Regierungen herumzuschlagen, auch die derzeit amtierende Regierung von Nicolás Maduro und die seines Vorgängers Hugo Chávez, der von 1999 bis zu seinem Tod 2013 als Präsident amtierte. Chávez propagierte den sogenannten Sozialismus des 21. Jahrhunderts und das Schmiermittel dafür war das Erdöl: Chávez’ großes Verdienst war es, das staatliche Erdölunternehmen PDVSA, das sich zu einem „privaten“ Staat im Staate entwickelt hatte, wieder unter staatlichen Zugriff zu bekommen. PDVSA wurde zusätzlich zu einer Art Sozialministerium. Aus dem Haushalt der Ölfirma werden Sozialprogramme wie die misiones finanziert – die von Bildung (misión Robinson und misión Ribas) über Gesundheit (misión barrio adentro) bis hin zur Versorgung mit subventionierten Lebensmitteln (misión mercal) reichen. Damit trieb Chávez den Umbau der staatlichen Strukturen voran und vermochte, bedeutende soziale Fortschritte in der Armutsbekämpfung und dem Zugang zu Gesundheit, Bildung und Lebensmitteln für alle zu erreichen. Im Jahr 2011 flossen fast 40 Milliarden US-Dollar in Sozialprogramme und Sonderfonds des Präsidenten. Laut dem Nationalen Statistikinstitut in Venezuela (INE) ist der Anteil extrem armer Haushalte (1,25 US-Dollar pro Kopf pro Tag) von 1998 bis 2009 von 21 Prozent auf sechs Prozent massiv gesunken. Der Anteil der relativ armen Haushalte (unter 50 Prozent des Durchschnitts-einkommens) sank im selben Zeitraum von 49 auf 24 Prozent.

Als Hugo Chávez im zweiten Halbjahr 1998 seine erste Wahl gewann, dümpelte der Ölpreis im Zuge der Asienkrise bei rund zehn US-Dollar pro Barrel (ein Barrel sind 159 Liter). Kein Wunder, dass Chávez schon zu Beginn seiner Amtszeit 1999 verkündete, dass er neben der Neuordnung der Ölgesellschaft PDVSA auch Landwirtschaft, Industrie und Tourismus neu ausrichten werde, um dem Auf und Ab des Ölpreises mit all seinen Konsequenzen für die venezolanische Konjunktur weniger ausgeliefert zu sein. Die Diversifizierung der Wirtschaft unter Chávez gelang nur ansatzweise und brachte unterm Strich nur dürftige Ergebnisse.

Das grundlegende Problem Venezuelas ist die sogenannte Holländische Krankheit.

Das grundlegende Problem Venezuelas ist die sogenannte Holländische Krankheit. In den Niederlanden wurde in den 1960er Jahren nach dem überraschenden Fund reichhaltiger Erdgasvorkommen zum ersten Mal festgestellt, dass sich Rohstoffreichtum in einen Fluch verwandeln kann. Der Zufluss von reichlich US-Dollar aus dem Rohstoffexport führt zu einer Aufwertung der eigenen Währung. Der angenehme Aspekt daran ist, dass sich die Importkapazität des Landes erhöht, sprich sich das Land mehr Güterimporte leisten kann. Der schwerwiegende Nachteil besteht darin, dass einheimische Produzent*innen nahezu unweigerlich an Wettbewerbsfähigkeit verlieren, sowohl gegenüber Importeur*innen als auch auf dem Weltmarkt, sofern es sich um Unternehmen handelt, die etwas anderes als Rohstoffe exportieren. Denn der unangenehme Aspekt der Aufwertung der venezolanischen Währung besteht darin, dass sich venezolanische Güter im Vergleich zu Importgütern verteuern. Der Verlust an Arbeitsplätzen in den nicht rohstoffnahen Sektoren ist fast unumgänglich. Die ganze Volkswirtschaft bekommt so mehr und mehr Schlagseite in Richtung des dominanten Rohstoffsektors, in Venezuela des petrochemischen Bereichs.

In Venezuela hat die Holländische Krankheit unter anderem die einheimische Landwirtschaft befallen. Das Land ist seit Jahrzehnten auf beträchtliche Nahrungsmittelimporte angewiesen, obwohl es potenziell an geeigneten Agrarflächen nicht fehlt. So ist Venezuela das einzige südamerikanische Land mit einer negativen Agrarbilanz. Dabei war die Regierung Chávez nicht untätig. Schon im Jahr 2001 wurde mit einem Landgesetz der Weg für eine Agrarreform geebnet. Das Nationale Landinstitut INTI verteilte in den Jahren 2003 und 2004 insgesamt 2,3 Millionen Hektar brachliegendes Staatsland an Kooperativen, danach wurden noch über 100.000 landlose Familien mit enteignetem ungenutzten Privatland ausgestattet. All dies hat zwar die nationale Produktion bei Agrargütern nach oben getrieben, doch noch kräftiger wuchsen die Kaufkraft und dementsprechend der Konsum der ärmeren Bevölkerungsschichten. Venezuela muss rund 70 Prozent seiner Lebensmittel einführen.

Die Regierung Maduro hat 2016 einen Plan zum Ausbau der Landwirtschaft vorgestellt. Der „Agrarplan Zamora Bicentenario 2013-2019“ sieht zahlreiche Maßnahmen zur Erhöhung der Nahrungsmittelproduktion vor. Besonderes Augenmerk gilt der städtischen Landwirtschaft und dem Einbezug lokaler Gemeinschaften sowie der Streitkräfte des Landes in die Produktion. Ob und wann der Plan greift, lässt sich noch nicht absehen.
Auch im Jahr 2017 machen Ölexporte mehr als 90 Prozent der Exporterlöse des Mitglieds der Organisation Erdölexportierender Länder (OPEC) aus, die Öl- und Gasindustrie ist für etwa ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts verantwortlich und trägt rund die Hälfte zu den Staatseinnahmen bei. Ohne die Öleinnahmen läuft so gut wie nichts.

Der rapide Ölpreisverfall und der Rückgang der Fördermenge wegen unterlassener Investitionen haben die Importkapazität massiv gesenkt.

Der rapide Ölpreisverfall seit 2014 und der Rückgang der Fördermenge wegen unterlassener milliardenteurer Investitionen haben die Importkapazität massiv gesenkt. Die Folge ist eine sich vertiefende Versorgungskrise, für die die Regierung Maduro bisher keine Lösung zu finden vermochte.
Der Holländischen Krankheit und der Überbewertung des Bolívar könnte theoretisch durch eine gezielte Strategie der Unterbewertung des Bolívar seitens der venezolanischen Zentralbank begegnet werden. Dafür müssten die Devisenzuflüsse in ihrer Wirkung auf die heimische Geldmenge und Währung so weit wie möglich sterilisiert werden, indem sie in einen Zukunftsfonds fließen und dort langfristig angelegt werden. Ein solches Modell praktiziert Norwegen mit beachtlichem Erfolg. Im dortigen Ölfonds werden seit dem Jahr 1990 die enormen Erträge aus dem Ölexport angelegt. Dies geschieht ausschließlich auf ausländischen Märkten, um einem Überhitzen der inländischen Wirtschaft und einer Aufwertung der Norwegischen Krone entgegenzuwirken.
Angesichts der enormen sozialen Schuld, die in Venezuela über die vergangenen Jahrzehnte akkumuliert wurde, ist ein solches Modell in Venezuela wohl schwer politisch durchsetzbar.

Die Öldollar gleichzeitig aufzuschatzen und auszugeben, geht logischerweise nicht. Entwicklungsökonomisch wäre Venezuela immer gut beraten, zumindest einen Teil der Öleinnahmen langfristig anzulegen, um auf lange Sicht einen nachhaltigen Umbau der Wirtschaft mit einer Stärkung des Binnensektors zu erreichen. Dazu bedarf es neben der Unterbewertungsstrategie einer selektiven Protektion, bei der die Zollsätze mit dem Verarbeitungsgrad ansteigen. Damit könnte Venezuela das erreichen, was bisher verfehlt wurde: eine breitere Produktpalette der heimischen Wirtschaft und eine konkurrenzfähige Binnenmarktentwicklung.

Diese grundlegenden Weichen in Zeiten der aktuellen Versorgungs- und Liquiditätskrise zu stellen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Nach vier Jahren Rezession und angesichts einer galoppierenden Inflation von über 1.000 Prozent sind viele soziale Fortschritte der Vergangenheit hinfällig geworden. Noch 2013 würdigten die Vereinten Nationen die Erfolge des Landes im Kampf gegen Hunger und Unterernährung. Davon ist wenig geblieben. Nicht wenige teilen die Sicht von Menschenrechtsaktivist Rafael Uzcátegui: „Heute sind in Venezuela wieder genauso viele Menschen arm wie im Jahr 2000.“
Als Chávez 1999 an die Regierung kam, lagen Venezuelas Auslandsschulden bei etwa 30 Milliarden Dollar. Heute betragen sie ein Vielfaches. Der Staat sowie der Staatskonzern PDVSA haben insgesamt Anleihen im Wert von 110 Milliarden Dollar aufgelegt. Zusammen mit den Zinszahlungen und Krediten summieren sich die Gesamtforderungen gegen Caracas auf bis zu 170 Milliarden Dollar. Rund zehn Milliarden Dollar an Schuldendienst muss die Regierung Maduro im Jahresverlauf 2017 aufbringen.

Wie klamm Venezuelas Staatskasse ist, dafür liefert der Deal mit Goldman Sachs Hinweise. Über Mittelsmänner kaufte Goldman Ende Mai von der venezolanischen Zentralbank Anleihen des staatseigenen Ölkonzerns PDVSA im Nennwert von 2,8 Milliarden Dollar für knapp ein Drittel des Ausgangswerts. Dabei soll die Bank laut dem Wall Street Journal (WSJ) nicht einmal den normalen Marktpreis gezahlt, sondern einen speziellen Abschlag ausgehandelt haben. Laut WSJ zahlte Goldman lediglich 31 Cent für die Papiere, die an den Börsen noch bei deutlich über 40 Cent notierten, was einem Discount von mehr als 30 Prozent entspricht. Nur für den Discountpreis von 31 Cent pro Dollar Nennwert war Goldman Sachs bereit, 865 Millionen Dollar Cash in die venezolanische Staatskasse zu spülen.

Maduro helfen kurzfristig nur steigende Ölpreise: Ende des Jahres werden erneut Anleiherückzahlungen in Höhe von 3,6 Milliarden fällig. Allein Hauptgläubiger China hat Venezuela bereits 60 Milliarden Dollar geliehen, die mit künftigen Öllieferungen abgesichert sind. Neues Kapital kommt derzeit nur noch aus Russland. Im April hat der Staatskonzern Rosneft PDVSA für künftige Erdöllieferungen 1 Milliarde Dollar überwiesen. 2016 kaufte sich Rosneft zudem für 1,5 Milliarden Dollar bei der PDVSA-Tochter Citgo ein, an der das Unternehmen 49,5 Prozent hält. Seit 1990 kontrolliert Venezuelas staatlicher Ölkonzern PDVSA in den USA drei Raffinerien, Pipelines und ein vor allem an der Ostküste gelegenes riesiges Tankstellennetz von Citgo, einer US-Tocher von PDVSA. Diese Gemengelage senkt die Wahrscheinlichkeit, dass die US-Regierung Sanktionen gegen den Ölsektor verhängt. Aber selbst wenn diese ausbleiben, gilt: Dümpelt der Ölpreis weiter um 50 US-Dollar, droht die Zahlungsunfähigkeit. Es wäre die erste in der Geschichte Venezuelas.

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