Militarisierung der Gesellschaft

Seit 1995, aber vor allem seit Beginn diesen Jahres hat sich die Achtung der Menschenrechte auf verschiedene Weise verschlechtert. Dreierlei läßt sich unterscheiden. Zum einen wird versucht, die politischen, ökonomischen und kulturellen Menschenrechte den sogenannten “höheren” Interessen der Nation unterzuordnen. Zweitens polemisiert die Regierungsseite gegen die unabhängige Menschenrechtsarbeit. AktivistInnen werden verleumdet und diskreditiert. Zum dritten hat sich gezeigt, daß die venezolanische Regierung mit ihrer öffentlichkeitswirksamen Rhetorik, die Strukturanpassungsprogramme des IWF nur mit “menschlichem Antlitz” durchzusetzen, vor allem Schaumschlägerei betrieben hat und die soziale Abfederung der Strukturanpassung üblicherweise dem wirtschaftlichen Erfolg hintangestellt wird. Zusammen haben diese drei Tendenzen in den letzten Monaten zu einem gesellschaftlichen Klima beigetragen, indem die Verletzung von Menschenrechten auf breiter Basis geduldet wird.
Von den Menschenrechtsverletzungen, die 1995 verschiedene NGOs registriert haben, wurde ein großer Teil staatlich legitimiert, indem auf die Aufhebung konstitutioneller Rechte verwiesen wurde. Leitlinie für die Regierungspolitik bildet das Decreto No. 285 vom 22. Juli 1994, indem es heißt, daß “die Aufrechterhaltung des Friedens der Republik … essentielle Pflicht des Staates ist.” Der Erlaß diente zur Rechtfertigung der Suspendierung verfassungsmäßiger Garantien bis zum Juli 1995. In den konfliktbeladenen Grenzregionen zu Kolumbien herrscht der Ausnahmezustand jedoch weiterhin. Von staatlicher Seite wurde und wird davon ausgegangen, daß die venezolanischen BürgerInnen inzwischen an die zunehmenden Menschenrechtsverletzungen gewöhnt sind. Mit einem massiven Protest gegen ein Außerkraftsetzen verfassungsmäßiger Rechte wird deshalb nicht gerechnet.

Höhere und niedere Interessen

Der Schutz der Menschenrechte ist in den vergangenen Jahren von der Regierung zu einem sekundären politischen Ziel degradiert worden. Dabei fügen die “höheren”, “nationalen” Interessen der Bevölkerung eher Schaden zu, als daß sie ihr nützen.
Eines dieser “höheren” Interessen ist die nationale Souveränität. Nach einem Zusammenstoß zwischen kolumbianischen Guerillakämpfern und venezolanischen Marine-Streitkräften im Februar 1995, bei dem acht Soldaten ums Leben kamen, wurde an der Zivilbevölkerung Vergeltung geübt. In Cararabo, einem Ort nahe der kolumbianischen Grenze, wurden dreiundzwanzig Bauern verhaftet und gefoltert – unter dem Verdacht, daß sie die kolumbianische Guerilla unterstützen. Nach Auskunft der militärischen Befehlshaber der Zone handelte es sich um die legitime Verteidigung der nationalen Souveränität. Damit hatte es jedoch nicht sein Bewenden. Die gegen KolumbianerInnen gerichtete Fremdenfeindlichkeit und das permanente Mißtrauen gegenüber den in der Grenzregion lebenden VenezolanerInnen, gipfelte darin, daß hunderte Personen ausgewiesen wurden, und dies ohne vorherige Ankündigung und ohne Rücksicht auf die venezolanische Staatsbürgerschaft vieler Betroffener. Auch hier argumentierte mensch von offizieller Seite mit der Verteidigung der nationalen Souveränität, um die Aussetzung verfassungsmäßiger Rechte, zum Beispiel auf persönliche Freiheit, auf Freizügigkeit und die Unverletzlichkeit der Wohnung, zu begründen. Diese Rechte sind in den sechzehn Verwaltungseinheiten im Grenzgebiet für unbegrenzte Zeit aufgehoben. Nicht ohne Grund erscheint diese Politik großangelegter militärischer Operationen und der Restrukturierung militärischer Gerichtsbarkeit wie eine Neuauflage diktatorischer Willkür.
Die zunehmende Militarisierung der Grenzregionen wird begleitet von zahlreichen Meldungen über Menschenrechtsverletzungen an Zivilisten, die zumeist von Angehörigen irregulärer Einheiten der venezolanischen Streitkräfte begangen werden. Die militärische “Lösung” der vielfältigen Entwicklungsprobleme in den marginalisierten Grenzregionen Venezuelas ist bei deren EinwohnerInnen mehrere Male auf erbitterten Protest gestoßen. Der Bau von Militärbasen an Orten, wo nicht einmal die überlebensnotwendigen Grundbedürfnisse der Bevölkerung befriedigt werden, stößt zunehmend auf Unverständnis und Widerstand.
Die Gewährung “bürgerlicher Sicherheit” dient paradoxerweise als weiteres Argument, die Interessen der Nation den Interessen des einzelnen Bürgers vorzuziehen. Um der steigenden Gewaltkriminalität zu begegnen, wird in jüngster Zeit insbesondere das aus der Diktatur von Marcos Pérez Jiménez stammemde Gesetz von 1956 über “Landstreicher und Gauner” (Ley sobre vagos y maleantes; siehe LN 259) angewendet. Dieses Gesetz erlaubt eine willkürliche Verhaftung ohne festgelegte Haftzeit bei geringfügigen Delikten. Der Justizminister, der Innenminister und der Regierungschef des Zentraldistrikts (Caracas und Umgebung) äußerten Kritik an dem offensichtlich verfassungswidrigen Gesetz – was konsequent überhört wurde.
Natürlich begrenzt sich die platte Logik der Regierung unter dem Motto “Gewalt gegen Gewalt” nicht auf das eine Gesetz. Die Einführung der Todesstrafe, der Bau von Isolationshaftzentren und die Herabsetzung des straffähigen Alters sind in der Diskussion und besitzen für die politische Elite, aber auch für die Öffentlichkeit einige Attraktivität. In den Elendsvierteln von Caracas sind Selbstverteidigung und der Lynchmord an Kleinkriminellen durch die eigenen Nachbarn durchaus gängig. “Schnelle Justiz” wird das genannt.
Auch der Innenminister setzt im Regierungsplan über “integrierte Sicherheit” von Mitte 1995 auf die Repression als Lösung des Kriminalitätsproblems. Es ist symptomatisch, daß sich der Plan nicht mit den Wurzeln und der Vorbeugung von Gewaltkriminalität beschäftigt. Die heftige Kritik, die verschiedene Gruppen deswegen an dem Plan geäußert haben, ist ohne Einfluß geblieben.
Die Tendenz zur Militarisierung und die Anwendung massiver Gewalt hat nicht nur für die individuellen Rechte negative Folgen, sie greift auch in soziale und Arbeitskonflikte ein. Streiks, Landkonflikte und Konflikte mit kleinen Bergbauunternehmen werden immer öfter durch das Militär “befriedet”.
Die Regierung lehnte die Forderungen der venezolanischen ArbeiterInnen nach Lohnerhöhungen, Arbeitsplatzsicherheit und Gewerkschaftsfreiheit in den letzten Jahren mit dem Argument ab, daß das angesichts der komplizierten wirtschaftlichen Lage ungerechtfertigt und nicht durchsetzbar sei. Siehe oben: Grundrechte, die zur Essenz einer Demokratie gehören, werden ausgehebelt, betreffen sie nun das Individuum oder die Arbeitnehmerschaft eines Betriebes. Die Regierung entscheidet, wann die venezolanische Bevölkerung ihre in der Verfassung verankerten Rechte einfordern darf und wann nicht.

Diskreditierung von Menschenrechtsaktivisten

Die Kehrseite der unbekümmerten Repressionspolitik ist, daß die Regierung gegen alle diejenigen polemisiert, die sich dennoch für demokratische Grundrechte einsetzen. Die Tatsache, daß der Regierungschef des Zentraldistrikts, der Innenminister und der Justizminister in der Vergangenheit Posten als Richter des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofes bekleideten, schien in den letzten Jahren zunächst eine positive Perspektive für die Zusammenarbeit zwischen NGOs und staatlichen Institutionen zu bieten. Dennoch schaffte es der Generalstaatsanwalt, zugleich Dekan der juristischen Fakultät der katholischen Universität, ein in Ansätzen vorhandenes Klima der Dialogbereitschaft und der Annäherung zwischen staatlichen Stellen und NGO-VertreterInnen zu zerstören. Er hat dazu beigetragen, daß sich in den Regierungsinstitutionen die Ansicht breitmachte, die VertreterInnen der Menschenrechtsorganisationen seien verantwortlich für Situationen, die den “öffentlichen Frieden” gefährden.
Manche Methoden, Menschenrechtsarbeit ins Leere laufen zu lassen, sind altbekannt, auch in Venezuela: Anzeigen werden formal nicht anerkannt – oder schlicht ignoriert. In letzter Zeit wurden nun neue Geschütze aufgefahren: Es werden Hetzkampagnen gegen VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen losgetreten. Dabei ist immer öfter die Beschuldigung zu hören, die AktivistInnen würden die kolumbianische Guerilla protegieren und überhaupt Landesverräter sein, die dem internationalen Ansehen Venezuelas schaden. Selbst die katholische Kirche blieb davon nicht verschont, als VertreterInnen des bischöflichen Menschenrechtsbüros in Puerto Ayacucho, der Hauptstadt des Bundesstaates Amazonas, die Folterung von Zivilisten durch Angehörige des Militärs anzeigten. Im Venezuela von 1996 ist es gefährlicher denn je, Soldaten oder Polizisten für Folterungen und Tötungen anzuzeigen. Wer dies wagt, muß mit Rufmord rechnen – und mit der Straffreiheit der Verantwortlichen sowieso.
Eine weitere Form der Propaganda gegen die Menschenrechtsarbeit richtet sich gegen die Beobachtung und das Recherchieren von Polizeieinsätzen. Offizielle Stellen vertreten immer wieder die Meinung, daß diese Überwachungsarbeit kontraproduktiv auf die Verbrechensbekämpfung wirke. Ein Parlamentsabgeordneter der Partei Acción Democrática wiegelte die Kritik von Menschenrechtsorganisationen an den repressiven Polizeieinsätzen mit den folgenden Worten ab: “Der Staat kann nicht rücksichtsvoll vorgehen und warten, bis ein Verbrecher aus eigenem Willen entscheidet, ob er weiterhin Verbrechen begeht oder nicht…”
Die schwerwiegendste Konsequenz dieser Auffassung der venezolanischen Regierung ist die Hierarchisierung der Menschenrechte, derzufolge das Leben eines Verbrechers in den Augen einiger RegierungsvertreterInnen nichts zählt.
Auch die Arbeit in internationalen Menschenrechtsforen bleibt von der Mißbilligung der Regierung nicht verschont. Der Juristenkommission der Anden (Comisión Andina de Juristas) beispielsweise wurde vorgeworfen, sie schade dem Ansehen Venezuelas vor den Vereinten Nationen und stelle die Regierung Rafael Calderas in eine Reihe mit blutrünstigen Despoten.
Gerne vergleichen venezolanische Diplomaten die Menschenrechtssituation im Land mit der in anderen Staaten, um zu unterstreichen, daß Venezuela ihrer Meinung nach ein Rechtsstaat ist, in dem gefahrlos die Möglichkeit bestehe, Menschenrechtsverletzungen anzuzeigen. Dabei sind sie aber der Ansicht, daß heutzutage eigentlich gar nichts mehr anzuzeigen sei, denn schließlich sei unter der Diktatur alles viel, viel schlimmer gewesen, und davon hätten die heutigen KritikerInnen keine Ahnung. Sie seien jedenfalls nicht ernst zu nehmen.

Unangenehme Kritik

Daß an dieser Theorie etwas faul ist, bestätigte zu allerletzt ein Menschenrechtsbericht des US-State Department vom März 1996. Darin wird Venezuela in die Reihe der Staaten des amerikanischen Kontinents eingeordnet, in denen die schwersten Menschenrechtsverletzungen registriert wurden. Das Kapitel über Venezuela basiert auf offiziellen wie NGO-Quellen und beruft sich besonders auf Informationen der NGO Provea (Programa Venezolano de Educación – Acción en Derechos Humanos). Die Reaktion der venezolanischen Regierung ließ nicht lange auf sich warten: Provea wurde zur LandesverräterIn abgestempelt. Hinzu kam, daß Provea Erfolg mit einer Klage gegen die venezolanische Regierung vor dem Interamerikanischen Gerichtshof hatte und ein Schuldeingeständnis der Regierung am El Amparo-Massaker sowie die Entschädigung der Angehörigen der Opfer erreichte. (1988 wurden bei einem Massaker in El Amparo an der kolumbianischen Grenze durch Spezialeinheiten der Armee 14 Bauern und Fischer hingerichtet. Die Öffentlichkeit erfuhr davon nur durch den Bericht zweier Überlebender; die Red.) Obwohl zu diesem Zeitpunkt noch keine Einigung über die Höhe der Entschädigungssumme erzielt worden war, setzten venezolanische RegierungsvertreterInnen Gerüchte in Umlauf, Organisationen wie Provea nutzten internationale Gerichtsverfahren zum Ausbau ihrer finanziellen Kontakte und zur eigenen Bereicherung. Es wurde in der venezolanischen Presse darüber spekuliert, ob ein Teil der Entschädigungssumme für die Angehörigen der Opfer in die Tasche Proveas wandern werde und ob eine mögliche andere Dollarquelle nicht vielleicht sogar der Drogenhandel mit der kolumbianischen Guerilla sei. Derartige Verleumdungskampagnen gegen VertreterInnen von Provea und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen gehören heute in Venezuela zur Tagesordnung.
Die aggressive Haltung gegenüber MenschenrechtsaktivistInnen beschränkt sich nicht auf den Nichtregierungssektor. Internationale ExpertInnen der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (Comisión Interamericana de Derechos Humanos) mußten dies erfahren, als sie den Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) um die Entlassung der venezolanischen Kommissionsvorsitzenden baten, weil sie das Verantwortungsgefühl der Vorsitzenden und die Zusammenarbeit mit ihr als ausgesprochen schlecht beurteilten. Die venezolanische Regierung interpretierte dies als feindselige Strategie, ohne zu berücksichtigen, daß es in dem Fall um einen internationalen Posten ging, bei dem Kompetenz und nicht Nationalität zählt.
Die nationale Debatte über Menschenrechte wurde auch durch den Meinungsumschwung einiger Parlamentarier beeinflußt, die sich lange Zeit auf Regierungsebene als exponierte Verteidiger der Menschenrechtsidee verstanden wissen wollten. Sie sprachen sich beispielsweise dafür aus, die kolumbianische Guerilla wegen dem Tod der acht Armeeangehörigen bei dem Zusammenstoß von Cararabo beim Interamerikanischen Gerichtshof anzuzeigen. Dieser Meinungsumschwung reflektiert eine Haltung, die die Bedeutung internationaler Menschenrechtsstandards verneint und die staatliche Verantwortlichkeit für Menschenrechtsverletzungen relativiert.

Strukturanpassung mit “menschlichem Antlitz”

In der venezolanischen Gesellschaft ist die Debatte um die Durchführbarkeit eines Strukturanpassungsprogrammes eng verbunden mit der Problematik ökonomischer, sozialer und kultureller Menschenrechte. Im Wahlkampf 1993 auf Stimmenfang ging, versprach der heutige Präsident Rafael Caldera ein Programm des ökonomischen Ausgleichs, jenseits der bekannten Schocktherapie des Internationalen Währungsfonds. Von der einstigen Betonung sozial verträglicher Entwicklungsprogramme ist die Regierung Calderas inzwischen dazu übergangen, es vor allem den potentiellen Investoren in der Opposition recht zu machen, ohne die Linie der sozial verträglichen Wirtschaftsreform aufgeben zu wollen.
Seit der Präsentation des ersten Reformplanes (Plan Sosa I) von 1994 über die Venezuela-Agenda von 1995 nimmt der Druck von Seiten der Unternehmer und der internationalen Finanzinstitutionen kontinuierlich zu. Aus der ursprünglichen Distanz zu den “Rezepten” des Internationalen Währungsfonds, Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank wurde eine offensichtliche Annäherung. Die internationalen Finanzinstitutionen empfehlen eine kontinuierliche Steigerung der Brennstoffpreise sowie eine Freigabe der Wechselkurse, vor allem aber eine institutionelle und strukturelle Reform derjenigen Wirtschaftsbereiche, die nicht zur Ölindustrie gehören.
Der Einfluß solcher Empfehlungen offenbarte sich zuletzt vor den Kommunalwahlen im Dezember 1995. Angekündigt und inzwischen verwirklicht wurde die Einführung einer Mehrwertsteuer, die Förderung von Privatinvestitionen, die Integration strategischer Zusammenschlüsse in der Ölindustrie, die Erhöhung der Brennstoffpreise und die zehnprozentige Kürzung der öffentlichen Ausgaben.
Maßnahmen, die sich auf eine Strukturanpassung mit “menschlichem Antlitz” beziehen und in erster Linie der Unterstützung des Agrarsektors und der mittelständischen Unternehmen dienen würden, sind bis heute nicht in Angriff genommen worden. Von der Wirtschaftsreform im Stile Calderas profitieren nur größere Unternehmer und Financiers, während es der Mehrheit der venezolanischen Bevölkerung eher schlechter als besser geht.
Nicht zuletzt ist ein großer Teil der internationalen Kredite, die für Sozialprogramme vorgesehen waren, nicht zum Tragen gekommen, weil Venezuela seinen Anteil an der Finanzierung solcher Projekte nicht erbrachte. Die Bereitstellung eigener Ressourcen ist jedoch Voraussetzung für die Auszahlung internationaler Kredite.
Unter diesen Umständen rückt die Regierung Caldera von der Verwirklichung des Anpassungsprogrammes mit “menschlichem Antlitz” jedesmal ein Stück weiter ab, wenn die internationalen Finanzinstitutionen sowie die venezolanischen Unternehmer und Finanziers ihre Forderungen erneuern oder ihren Druck erhöhen. Die wirtschaftliche Entwicklung genießt auf unabsehbare Zeit gegenüber der sozialen Gerechtigkeit Vorrang, und die Kompensationsprogramme sind weit davon entfernt, die Last der sozialen Folgekosten einer fehlgeleiteten Strukturanpassung aufzufangen. Die Masse der Menschen, die im heutigen Venezuela in Armut leben, erstreckt sich bereits auf achtzig Prozent der Gesamtbevölkerung.

Collage eines Kontinentes

Havanna und Sao Paulo – diese beiden Namen ste­hen für die zwei lateiname­rikanischen Kunstbiennalen, und für zwei recht unter­schiedliche, konkur­rierende, aber auch sich gegen­seitig er­gänzende Konzepte, der bildenden Kunst dieses Kon­ti­nentes ein in­ternatio­nales Fo­rum zu ver­schaffen. Die Kunst­messe von Sao Paulo wurde 1951 gegrün­det, al­so zu einem Zeit­punkt, als das offizielle Bra­silien sich mit­ten im Mo­dernisierungs­fie­ber be­fand. Er­klärtes Ziel war, der lokalen Kunstszene Anre­gungen zu ver­schaffen und ihr gleichzeitig in­ternatio­nale Ab­satzmärkte zu er­schließen. Ent­spre­chend wurde von vornherein da­r­auf gesetzt, KünstlerInnen und KunsthändlerInnen aus der ganzen Welt einzula­den. Da­ge­gen entstand in den achtziger Jahren die Bien­nale von Ha­vanna ex­plizit als kul­turelles und po­litisches Pro­jekt, um – ähnlich wie bei dem In­ter­nationalen Film­festival von Havanna – Kunst aus La­teinamerika und anderen Re­gio­nen der Drit­ten Welt ein Forum zu verschaffen.
Die Ausstellung “Havanna – Sao Pau­lo” zeigt jetzt sa­lomoni­scher­weise eine Aus­wahl aus beiden Biennalen von 1994. Ölge­mäl­de, Skulptu­ren, Fo­tografien, Installationen, Envi­ronments – die Ar­beitsmate­ri­alien der 33 Künstle­rinnen und Künstler sind so un­terschiedlich wie ihre Aus­drucksweisen. Ein postmodernes Stil­gemisch mit ei­nigen gemein­sa­men Bezugs­punkten im in­halt­lichen Be­reich.
Religiöse Qualen
für Aug`und Seele
Wie es sich für katho­lisch so­zi­alisierte Künst­ler­Innen ge­hört, arbeiten sich einige an sakralen Mythen ab. Bei dem drei­flügeli­gen Altar des venezo­la­ni­schen Künstlers Nel­son Garrido um­armt die le­gen­däre ita­lie­nische Pornodar­stellerin Cic­ciolina einen schwar­zen Chris­tus am Kreuz, des­sen äußerer Er­schei­nung durch Heiligen­schein aus Neon sowie drei wul­stige Stoffpe­nis­se die Krone aufge­setzt wird. Umrahmt wird das ungleiche Paar von einem con­junto aus Pin-Up Fo­tos, Putten­glanzbil­dern, Totenschä­deln und anderen illustren Gestal­ten. Noch qual­vol­ler für Aug` und Seele ist die Rauminstalla­tion “Mea culpa” der ar­gentinischen Künstlerin Kuki Benski. Ein gruf­tiger Raum mit Devolutio­nalien, altertümlichen Sa­do-Maso-Por­nofotos und kle­rikalen Schriften, die vor Unzucht war­nen: “No for­nicarás!” Fast wie Inventar einer Gei­sterbahn er­scheint der dazu­gehörige Altar. Der züchtigen Ma­donna ist eine nackte Brust auf­geklebt, die diese als Schwester je­ner nackten Sex­puppe outet, die davor mit ver­renk­tem Körper und gefes­selten Händen kniet. Die Frau als Hure oder Heilige, klassi­scher Ausdruck bür­gerli­cher Dop­pel­moral, die blasphemische Provo­kation als Gegenreaktion – nichts neues, aber immer noch ak­tuell, wenn man an die Rolle der ka­tholischen Kirche in Lateiname­rika denkt.
Um die “Ausrot­tung des Bö­sen” geht es auch bei den zwei Bildern der Brasi­lianerin Adriana Varejao: Zwei makabre Va­ri­anten stehen zur Auswahl: Ex­or­zismus durch “Einschnitt” oder durch “Überdosis”. Zwei Leinwände, auf denen an Fran­ciso Goyas Monster erinnernde dämonische Fa­bel­wesen skiz­ziert sind, werden auf grausige Art zerstört. Während bei der “Über­dosis” zwei medi­zi­nische Infusionsständer eine blaue Flüs­sigkeit in die Leinwand injizie­ren, welche diese an einer Ecke auf­platzen und das Gift wieder ausbrechen läßt, ist das an­dere Bild unter das Messer eines Chi­rurgen geraten. Die Lein­wand als blutige, klaffende Wunde, das her­ausgerissene Stück einer Leichenhaut gleich auf dem Seziertisch. Die Lein­wand selbst erscheint als Op­fer eines blindwütigen Ein­griffs von außen, der das zerstört, was er angeblich retten will.
Von grotesker Gestalt sind die sieben Straßen­hunde des Argen­tiniers Luis Frei­stav: Sie kratzen sich, sie scheißen, sie ko­pulieren – und verenden. Auf den ersten Blick wir­ken die Skulpturen aus Papp­maché fast wie mumifi­zierte Kadaver, fast meint man den Geruch der Armut, der Ver­wesung in der Nase zu spüren.
Indianischer Kult und Da­daismus
In dieser Ver­bindung von Material und Thema liegt der Schlüs­sel zu einigen der ein­drucksvollsten Objekte: Statt ed­le Materialien zu verarbeiten, werden Ver­satz­stücke der Re­alität zu Assem­bla­gen montiert.
Diese Art des Arbeitens zeugt zum einen von ei­ner Auseinan­der­set­zung mit der europäischen Objektkunst der Moderne: 1917 hatten die Dada­ist­Innen das Ende der bürgerlichen Kunst verkün­det. Der Franzose Mar­cel Duchamp stell­te einen industriell ge­fer­tigten Fla­schentrockner auf ein Podest und erklärte diesen kurzerhand zur Kunst. Im Span­nungsfeld zwischen Kunst und Anti-Kunst ent­stand das Konzept des Materialbildes, der Installa­tion, der Assemblage aus “objets trouvés”, vorgefun­denen Ge­gen­ständen – mal kitschig, mal poe­tisch, mal geheimnisvoll, pro­vo­zierend oder von bra­chialer Heftig­keit.
Die moderne Kunst Eu­ropas entstand allerdings auch nicht im luftlee­ren Raum. Bekann­terweise ka­men die entscheidenden Im­pulse für die deutschen Expres­sionistInnen oder für Picassos Ku­bis­mus aus der sogenannten “pri­mi­tiven” Kunst “exotischer” Kul­turen. Frustriert vom blut­leeren Aka­demismus der euro­päischen Kunst Ende des 19. Jahrhunderts, un­ternahmen viele Künstler­Innen ausgedehnte Fern­reisen, um der mü­den Ima­gination wieder auf die Beine zu helfen. Dabei wur­den zu Spott­preisen “Neger­plas­tiken” oder Kultgegenstände er­worben, im hei­mischen Atelier mit ge­rin­gen Abwand­lungen kopiert und als bahnbre­chende künstlerische Neu­entdeckung ausgegeben. Die Daheimgebliebenen konnten sich zu­mindest von den völkerkundli­chen Sammlungen des Lou­vre, des Britischen Museums oder der Preus­sischen Mu­seen inspirieren las­sen, wo die ge­plünderten Kunst­schätze europäi­scher Kolo­nien hinter Glas zu bewun­dern waren.
In vielen außer­eu­ro­päi­schen Kulturen, darunter auch bei indi­genen Völkern Süd­amerikas, ge­hört das, was wir heute als Ob­jek­te, Installationen oder Perfor­mances bezeichnen, zur kul­turellen Tra­dition. So grup­pieren die Xing-India­ner bei ih­rem Kuarup-Fest be­malte Baum­stämme zu “Envi­ronments”, die Cu­nas in Panamá bauen bei Hei­lungszeremonien ihre “Uchu”-Holz­skulpturen instal­lations­ar­tig auf. Ganz zu schweigen von den vie­len reli­giösen und ästhe­tischen Mischfor­men, die aus dem Aufeinandertreffen indige­ner, euro­päi­scher und afroameri­kani­scher Kul­tu­ren entstanden sind. Da entsteht nichts Eindeu­tiges, Ge­fäl­liges oder Ein­dimen­siona­les, was sich auf den ersten Blick erschließen läßt.
Trotzdem bevorzugten jahr­zehntelang gerade viele latein­ame­rikanische Künst­lerInnen, denen an einer eigenstän­digen kulturellen Identität gelegen war, die gegen­ständliche Malerei. Be­kann­testes Beispiel hier­für sind die mexikanischen muralistas, die Wand­maler im Um­kreis von Diego Rivera. Eine in­nere Verbin­dungs­linie zur Ob­jektkunst liegt allerdings darin, daß auch die Wand­gemälde be­wußt den klas­si­schen Kunstrah­men ver­lassen und sich auf alltäg­li­ches Terrain, in öffentli­che Ge­bäude, auf die Straße be­geben.
Mittlerweile scheint die Ob­jektkunst gerade für junge latein­amerikanische Künstler eine ide­a­le Mög­lich­keit zu sein, Re­alitäts­split­ter aufzugreifen und gegenein­an­der­zu­montieren.
Objektkunst: Medium für Realitätssplitter
Hinzu kom­men aber si­cher auch ökono­mische Motive: Mate­ri­al, das sich auf der Straße finden läßt, ist ein viel billigeres Ar­beitsmittel als Leinwand, edle Höl­zer oder Bron­ze. Auch der Transport ist oft nicht so auf­wendig. So wurden im letzten Jahr, angesichts der wirtschaftli­chen Engpässe der Bien­nale von Ha­vanna, die aus­wär­tigen Künst­ler­Innen gebeten, keine riesi­gen Skulpturen oder Lein­wände zu schicken, sondern nach Möglichkeit an Ort und Stelle Installationen auf­zubauen.
Die wirtschaftliche und politi­sche Si­tuation auf Ku­ba spiegelte sich auch auf an­dere Art in den Ex­ponaten der Bien­nale 1994 wie­der. Es wim­melte von Schif­fen: Während Ob­jekte wie die Konquistadoren­boo­te von Mar­cos Lora Read aus der Dominikani­schen Republik gewis­ser­maßen die Nach­hut des Ge­den­kens an die 500 Jahre Kolo­nia­lismus bilde­ten, enthiel­ten die Boote einiger kubani­scher Künst­lerInnen ei­ne recht ex­plo­sive Fracht. So etwa die As­semblage “Die Re­gatta” von Alexis Leyva: Einer Völ­kerwan­derung gleich, durch­que­ren un­zählige kleine Boote aus Holz, In­du­striemüll und ka­putten Gummilat­schen den Raum. Ge­fährte, so schä­big und wak­kelig wie die Boote, auf denen im gleichen Jahr, wo sich in Ha­vanna die Kunstwelt traf, Tau­sende Kubaner versuchten, die In­sel für immer zu verlas­sen. Noch deutlicher drückt sich die kubanische Künst­lerin Sandra Ramos aus: “Migraciones” sind die bei­den 1993 bemalten Köf­ferchen eti­kettiert, deren In­nen­futter das Thema in einer Mi­schung aus na­i­ver Verspielt­heit und Grausam­keit il­lu­striert. Während in dem einen noch ein Fischer träu­mend in seinem Kahn liegt und von Segeljachten, schnel­len Autos und blon­den Frau­en träumt, be­her­bergt der zweite Behälter die bei der Flucht Ertrun­kenen, de­ren Träume auf dem Meeresgrund zwi­schen Haien und al­ten Auto­reifen ihr feuchtes Grab finden.
Flucht und geopferte Leidenschaften
Mit Tod und ge­scheiter­ten Träu­men setzten sich auch die bei­den großflä­chi­gen Fotocol­la­gen “La pa­sión sacrificada” – “Die geopferte Lei­denschaft” von Paolo Gasparini aus­einander. Der gebürtige Italie­ner, der seit 1967 in Venezuela lebt, widmete sie zwei Legenden der la­tein­amerikani­schen – und eu­ropäischen – Lin­ken: Che Gue­vara und Tina Modotti. Rechteckige Schwarzweißfotos, zum Teil blutrot oder in kühlem Blaugrau einge­färbt, konfron­tie­ren histo­ri­sche Fotos mit aktuel­len Bildern aus Mexiko, wo die Fotografin und linke Akti­vistin Tina Modotti jah­relang lebte, be­zie­hungs­weise aus Bolivien, wo Che Guevara als Guerillero starb. Ches toter Körper, aufgebahrt, be­gut­achtet und aus verschiedenen Rich­tungen foto­grafiert, kontra­stiert mit dem Foto eines ambu­lanten Poster­ge­schäftes, wo die Ikone Che neben Madonnen­bildchen und Rambopo­stern zum Verkauf aus­hängt. Noch kom­plexer die Col­lage zu Tina Mo­dotti: Alltags­fotos aus dem heu­ti­gen Mexiko, das Porträt eines alten Mannes, Ti­nas schönes, ru­higes Gesicht ne­ben einem Porträt von Emi­liano Zapa­ta, ihr nack­ter Körper auf einer Son­nenterasse, der am rechten Bildrand in das Bild ei­nes erschossenen Ar­beiters über­geht. Und ein Foto von einer Versteige­rung im Londoner Kunstauktions­haus Sotheby: Nach ih­rem Tod kommt Tina Modottis berühmtes Stilleben aus dem mexikanischen Bür­gerkrieg mit Gitarre, Sense und Patronengurt unter den Hammer.
“Die geopferte Leiden­schaft” oder “Die ver­marktete Leiden­schaft”: Wenn sich lateinamerika­nische Künstler­In­nen auf die internationalen Pu­bli­kums- und Han­delsmärkte be­ge­ben, müssen sie auf­passen, nicht auf Fol­klore, Armut oder Revolutionsro­man­tik festgelegt zu wer­den. Die Ausstellung “Ha­vanna – Sao Paulo” setzt der­artigen Klischees eine schil­lernde Stil- und Themenvielfalt entgegen. Allerdings um den Preis, daß es auch schon wieder etwas unübersichtlich wird.

“Havanna – Sao Paulo: Junge Kunst aus Latein­amerika bis zum 5. Juni im Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, 10557 Berlin, 030/397870

Die Stadt, der Müll und das Leben

Lateinamerika ist ein Kontinent der Städte. In Argentinien, Venezuela und Uru­guay leben bereits mehr als 80 Prozent der Bevölkerung nicht mehr auf dem Land. Die Hälfte der lateinamerikani­schen Bevölkerung lebt in Städten mit mehr als 100.000 EinwohnerIn­nen. Der Anteil der Men­schen, die in Millio­nenstädten leben, liegt bei 30 Prozent. Zwar hat sich der Wachstumsprozeß der meisten Millionenstädte verlangsamt, dafür wach­sen nun die mit­telgroßen Städte mit höherer Ge­schwin­dig­keit. Etwa die Hälfte des Wachs­tums entsteht inzwischen nicht mehr durch Zuwande­rung, sondern durch die Vermeh­rung der bereits ansässigen Stadt­be­völ­ke­rung. Alle Versuche, die Entwicklung auf dem Land zu fördern und die Mi­grationsströme zu kontrollieren, sind geschei­tert. Die Armut auf dem Land ist weiter gewach­sen, Vertreibung durch Großgrund- oder Planta­genbesitzer oder zuneh­mende Unfruchtbarkeit der Böden zwingen die Menschen weiterhin in die Städte zu ziehen. Noch immer sind für sie die Lichter der Großstadt An­ziehungspunkte, trotz der städtischen Wohnungs­not und des harten Konkur­renzkampfes um das tägliche Ein­kommen. Auf­grund einer besseren Gesund­heitsversorgung und informeller Verdienst­möglichkeiten ist die Über­lebenschance im­mer noch höher. In den 80er Jah­ren, dem “verlorenen Jahrzehnt” Lateinamerikas, sind die Aussichten der jungen Generation von StädterIn­nen auf ein besseres Leben aller­dings nicht besser geworden.
Mehr denn je ist das Gesicht der Großstädte durch eine Spaltung in zwei Lebens­welten ge­kennzeichnet. Oft leben über die Hälfte der Stadt­bewohnerInnen in Ar­mensiedlungen, fave­las, poblaciones, villas de emergencia, turgu­rios… Neuankömmlinge oder die junge Gene­ra­tion sind gezwungen, an den immer weiter vom Stadtzen­trum ent­fernten Rändern zu sie­deln. Immer häufi­ger werden Flächen besie­delt, die durch extreme Trockenheit (Lima), Überschwemmungen (Buenos Aires) oder Erdrutsche (Caracas) gefähr­det sind. Der Wohnraum ist völlig überbelegt und die hy­gienischen Bedin­gun­gen sind katastrophal. Die Beiträge zu Lima und Caracas versu­chen, die Lebensbedingungen in diesen Vierteln zu erfassen.
Die schmale Oberschicht zieht sich zuneh­mend in Festungen des Wohlstands zurück. Nur hier zeigt sich die Stadtverwaltung in der Lage, eine Versorgung mit sozialer und tech­nischer Infra­struktur zu gewährleisten. Gute Trinkwasserver­sorgung, Kanalisation, Müllabfuhr, gefegte Stra­ßen, bewässerte Parkanlagen findet man nur in den reprä­sentativen Zentren und den Wohnvier­teln der Reichen. Strukturanpassung und neolibe­rale Wirtschaftspolitik setzen rücksichtslos das Prinzip durch, daß nur derjenige Leistungen in Anspruch nehmen kann, der auch in der Lage ist, dafür zu bezahlen.
Die Armen finanzieren jedoch den Wohl­stand der Reichen mit. Denn hinter den hinter den Lei­stungen, die einer Minderheit der Be­völkerung zur Verfügung gestellt werden, ver­stecken sich erheb­liche indirekte Subventio­nen. Das Wasser zum Beispiel, das hier hem­mungslos verschwendet wird, um Swimming­pools zu füllen und Parks zu beregnen, wird zu extrem niedrigen Preisen abge­geben. Währenddessen sind zwischen 20 und 30 Pro­zent der Armen ge­zwungen, ihr Trinkwas­ser von Händlern kau­fen, die ihnen dafür überdurch­schnittliche Preise abverlangen. Auch das kosten­aufwendige Straßen­netz, von dem nur die privile­gierte Schicht von Autobe­sitzern pro­fitiert, wird indirekt subventioniert. Dage­gen müssen die im­mer weiter an den Rand ge­drängten Armen teil­weise ein Drittel ihres Tageslohnes für die Fahrt zum Arbeits­platz in oft unsicheren und überfüllten Ver­kehrs­mitteln aufwen­den.
Zur bevorzugten Erlebniswelt gehobener Ein­kommensschichten gehören die soge­nannten Shoppings, große Einkaufs- und Unterhaltungs­zentren nach US-amerikani­schem Muster. In Bue­nos Aires und Rio de Janeiro sind sie angesichts städtischer Armut geradezu obszön. In einer so ländlichen und durch das Erd­beben zentrumslosen Stadt wie Managua müssen diese glänzenden Kon­sumtempel jedoch noch ab­surder wirken.
Trotz der räumlichen Trennung zwischen arm und reich, gibt es allerdings auch zahl­reiche Über­schneidungen der Lebensberei­che. Der durch die Deindustrialisierung ge­wachsene informelle Sek­tor konzentriert sich räumlich auf das Stadtzen­trum. Ambulanter Handel und einfache Dienstlei­stungen stützen die Ökonomie der mo­dernen Wirtschaftssek­toren. Schließlich sind Dienstmäd­chen und Gärtner aus den Wohnvier­teln der Rei­chen nicht mehr wegzudenken.
Im Beitrag zu Rio de Janeiro wird deut­lich, daß es trotz aller medialen Inszenie­rung, die die “Zersetzung des gesunden Stadt­körpers” räumlich den Favelas und damit so­zial den Armen zuordnen möchte, sogar kul­turelle Phänomene gibt, die die Grenzen zwi­schen Favela und Rest­stadt (Asphalt) ver­schwimmen lassen, die soge­nannten bailes funk. Der Drogenhandel, hauptsächliche Legiti­mation zur militäri­schen In­tervention der Favelas, stellt eine weitere ökono­mische Verbindung zur Au­ßenwelt dar.
Der Beitrag zu Bue­nos Aires zeigt, wie die Stadtverwal­tung ver­sucht, sozial-räumli­che Gren­zen zu setzen und Armut und Krimi­nalität zumin­dest aus dem Hauptstadtbe­zirk zu verdrän­gen. Darüber hinaus macht er deut­lich, daß trotz der so­zial extrem unglei­chen Versor­gungssituation und in­folgedessen der unglei­chen Verteilung der Lebensrisiken die Um­weltkrise auch vor den pri­vilegierten Stadtbe­reichen nicht halt­macht. Es er­scheint symptomatisch für die aktuelle Stadtent­wicklung, daß zu den wenigen boomenden Bran­chen des Kontinents private Sicherheit­dienste ebenso gehö­ren wie Mineralwasser­hersteller.
Curitiba ist bisher eines der wenigen Bei­spiele in Lateinamerika, in der die Initia­tive zur Verbes­serung der Infrastruktur unter der Berück­sichtigung der Interessen der ar­men Bevölkerung trotz begrenzter Mittel von einer Stadtregierung ausging. Jaime Lerner, Architekt und zweifacher Bürgermeister die­ser Millionenstadt im brasiliani­schen Süden, schob diesen Prozess noch unter der Militär­diktatur an, der inzwischen von seinen Nach­folgern weitergeführt wird. Für Lerner selbst bedeuteten seine umweltpolitischen Erfolge politi­sches Renomee. Curitiba ist im interna­tionalen Kontext zu Modellstadt geworden, von deren Kon­zepten so manche europäische Stadt lernen könnte.

Editorial Ausgabe 249 – März 1995

Ein Gast fehlte zur Geburtstagsfeier: Alberto Fujimori, peruanisches Staats­oberhaupt. Am 3. Februar hatten sich die Präsi­denten der Staaten Venezuela, Pa­nama, Kolumbien, Ecuador und Bolivien im ve­nezolanischen Städtchen Cumaná ge­troffen, um des 200. Geburtstags Anto­nio José de Sucres zu gedenken. Sucre war ein Untergebener und enger Ver­trauter Simon Bolívars, des Gran Li­bertador, an dessen Seite er für die Unab­hängigkeit von Spanien und den großen Traum eines vereinten Amerikas kämpfte. Ohne Angabe von Gründen hatte der pe­ruanische Präsident sein Kommen in letzter Minute abgesagt. Da­bei waren die Gründe offensichtlich. Schließlich war nur eine Woche zuvor mit dem Abschuß eines peruanischen Militär­hubschraubers in der Sierra del Condor der Grenzstreit der beiden “Brudervölker” Ecuador und Peru in einen Grenzkrieg umgeschlagen.
Knapp einen Monat zuvor hatten sich die Präsidenten der “Bolívar-Erben” schon einmal in Cumaná, der Geburts­stätte Sucres, getroffen. Es ging um den 1969 ins Leben gerufenen Andenpakt, der wie kaum ein anderer Wirtschaftsverbund der Welt an chronischer Lethargie krankt. Die meisten Planungen wurden wieder ver­worfen oder schlicht nicht umgesetzt. Kaum eine einzige der beschlossenen wirtschaftlichen Kooperationsmaßnahmen wurde in die Tat umgesetzt. Das letzte Treffen hatte 1991 stattgefunden. Danach verabschiedete sich Peru unter Berufung auf interne Schwierigkeiten zunächst ein­mal von den Andenpaktverhandlungen. Jetzt, vier Jahre später, wagt man einen erneuten Anlauf. Doch die Begeisterung hält sich in Grenzen. Kolumbien und Ve­nezuela schielen gen Norden nach Me­xiko, Peru hält sich zurück und Bolivien entdeckt seine Sympathie für den Mer­cosur.
Die Einheit, von der Bolívar und Sucre geträumt hatten, ist damit so weit entfernt wie nie zuvor. Zumal Peru und Ecuador bei genauerem Hinsehen nicht die einzi­gen Staaten der Region sind, in denen unterschwellig alte Gebietsansprüche be­stehen, die früher oder später zu einem ähnlichen Grenzkonflikt eskalieren könn­ten. Bolivien träumt vom erneuten Zugang zum Pazifik, Peru von Wüstengebieten im heutigen Chile, usw. Weit entfernt sind die betroffenen Länder von der Einheit, die Bolívar als Ideal entworfen hatte. Einer Einheit, die auch da­mals mit der Realität wenig gemein hatte. So wurde schon Sucre, den Ecuador als eigenen National­held beansprucht, da er die meiste Zeit seines Lebens in der Hauptstadt Quito verbrachte, von den ei­genen Leuten ver­raten, als er in Peru ge­gen den gemein­samen Feind Spanien kämpfte.
Heute ist die Unabhängigkeit Perus und Ecuadors erneut gefährdet. Die Be­dro­hung kommt aus den Zentralen der Welt­bank und des Internationalen Wäh­rungs­fonds, von wo aus immer neue Struk­tu­ranpassungen zu Lasten der Be­völke­rungsmehrheit verordnet werden. Die Re­gie­rungen verkommen auf diese Weise zu bloßen Ausführungsorganen. Um ihre ei­gene Machtlosigkeit zu kaschieren, set­zen die herrschenden Politiker und Mili­tärs auf Nationalismus und beschwören die in­nere Einheit durch chauvinistische Parolen.
So ging es dem peruanischen Schrift­steller und früherem Präsidentschafts­kandidaten Mario Vargas Llosa an den Kragen, der als einer der wenigen In­tellek­tuellen seines Landes das Blut­vergießen verurteilte: Er wurde als “vater­landsloser Verräter” gebrandmarkt und aus dem na­tionalen Schriftstellerver­band aus­ge­schlossen. Im Säbelgerassel der letzten Wochen wurden vernünftige Stim­men leicht über­hört. So etwa, als Ge­werk­schaftsführer beider Länder den Krieg kri­ti­sierten und darauf hinwiesen, daß Hunger und Elend der eigentliche Feind seien, den es zu be­kämpfen gilt.

Programm der Superreichen

Die herausragende Tatsache der post-kommunistischen Welt ist die wa­chsende Konkurrenz zwischen USA, Japan und Deutschland um die Vor­herrschaft auf den Weltmärkten. Jede wirtschaftliche Super­macht hat sich Herrschaftsgebiete ge­schaffen, von denen aus die Wettbewerber aus dem Feld geschlagen werden sollen. Die USA haben während der letzten zwei Jahr­zehnte ihre Wettbewerbsvorteile in vie­len Produktgebieten verloren, zum Bei­spiel im Automobil- und Elektro­nik­be­reich. Hieraus ergab sich für die USA ein riesiges Handelsdefizit sowohl mit Japan (und anderen asiatischen Ländern) als auch in einem geringerem Ausmaß mit Deu­tsch­land.
Der Rückzug der US-Truppen aus Eu­ropa und Japan bewirkt, daß die NATO und andere militärische Bünd­nisse den US-amerikanischen Politi­kern nicht länger als “wirt­schaftspolitischer” Hebel dient. Dro­hende Handelskriege sind scharfe Schwerter, die sowohl US-ameri­kanische Exporteure und Impor­teure als auch die US-KosumentInnen ins­besondere der nie­drigen Einkom­mens­schichten treffen kön­nen. Der kon­genialste und am besten mit histo­rischen US-Strategien (Monroe-Dok­trin, Panamerikanische Union, Allianz für den Fortschritt) zu vereinbarende Weg ist eine regionale Blockstrategie. Inner­halb dieses Blocks könnte die USA als hegemoniale Kraft Handels-, Investitions-, Zins- und Patentein­künfte aus Lateiname­rika herausziehen. Von diesem Stand­punkt aus gesehen, sind Lateinamerika und Kanada strate­gische Quellen für die Akkumulation und den Gewinntransfer, für Zins- und Patenteinkünfte, um die ne­gativen Trans­fers hinsichtlich anderer Regi­onen zu kompensieren. Die Handels­bilanz­überschüsse mit den latein­amerikani­schen Ländern dienen zur Kompensa­tion der negativen Handels­bilanzen bezüglich Asiens und Westeuro­pas. Die kostengünstige Pro­duk­tion in La­teinamerika (Billiglöhne in Mexiko und der Karibik) erlaubt es US-amerikani­schen ProduzentInnen in Übersee und auf dem heimischen Markt, mit den weltweiten Wettbe­werbern zu konkur­rieren.
In diesem Zusammenhang war die Li­beralisierung in Lateinamerika not­wendig, um dem US-amerikanischen Kapital Zu­gang zu Märkten und Ein­künften zu lie­fern und somit wettbe­werbsfähig zu blei­ben. In diesem Sinne ist die Liberalisie­rung eng mit den glo­balen strategischen Interessen der USA verbunden. Diese Po­litik wird von den USA seit den frühen siebziger Jahren konsistent und konti­nentweit betrieben. Liberalisierung wurde mittels IWF und Weltbank durch US-ame­rikanische Of­fizielle verfolgt: Lateiname­rikanische Diktatoren, die die Liberalisie­rung för­derten, wurden finanziert und unter­stützt, ein Übergang zu demokrati­schen Systemen wurde von Washington unter der Bedingung gefördert, daß die neuen demokratischen Systeme die Li­beralisierung vertieften. Liberalisierung ist Teil und Grundbaustein der US-amerika­nischen globalen Politikstrate­gie: Inso­weit, als Liberalisierung funk­tioniert hat, hat sie vorrangig zum Nutzen der US-amerikanischen Trans­nationalen Konzerne (TNC) und Ban­ken funktioniert, aber noch wichtiger war sie für die US-amerikani­sche Wirtschaft als Ganzes. Liberalisierte lateinamerikanische Volkswirtschaften liefern den USA strategischen Nutzen, um ihre Bilanzen auszugleichen.
Patent- und Lizenzeinkünfte
Der Kampf der USA um die Be­rück­sichtigung von Bestimmungen zum “geistigen Eigentum” innerhalb der Ver­handlungen zum Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) ba­siert auf der Tatsache, daß die Ein­künfte aus Pa­tenten und Lizenzen immer wichtiger in der Zahlungsbilanz der USA wurden. Zwischen 1972 und dem ersten Vierteljahr von 1994 belie­fen die Einkünfte sich auf insgesamt 1,06 Milliarden US-Dollar. Von den sechziger bis zu den neunziger Jahren wuchsen sie förmlich in den Himmel: Be­trug der jährliche Durchschnitt in der Dekade 1962/71 2,6 Millionen US-Dollar, stieg der Jahresdurch­schnitt in der Periode 1972/81 auf 24,2 Millionen US-Dollar und in der Dekade 1982/91 auf 39,5 Mil­lionen US-Dollar. 1992/93 betrug der Jahres­durchschnitt 189,8 Millionen US-Dol­lar. Patent- und Lizenzgebühren sind eine Art Renteneinkommmen, das nicht auf produktiven Investitionen beruht. Pa­tent- und Lizenzeinkünfte ziehen Ein­kom­men ab, ohne daß Wertschöpfung statt­findet.
Die wachsende Bedeutung der “Renteneinkünfte” für die Bilanzen der USA ist offensichtlich, wenn wir die US-amerikanischen Erträge aus Inve­stitionen mit denen aus Patenten und Lizenzen ver­gleichen. Zwischen 1961 und 1971 betru­gen die gesamten Pa­tent- und Lizenzein­künfte ein Drittel des Gesamtgewinns aus Direktinvesti­tionen (26 zu 76 Millionen US-Dollar). In der Periode von 1972 bis 1981 sank das Verhältnis von Patent- und Lizenzein­künften zu den Gewinnen aus Direk­tinvestitonen auf sechs Prozent (242 zu 4176 Millionen US-Dollar). Während der Phase von 1982 bis 1991 stiegen die Einnahmen aus Patenten und Lizenzen auf 395 Millionen US-Dollar, während die Di­rektinvestitionen in Lateiname­rika einen Verlust von 373,9 Millionen US-Dollar erbrachten. In der Zeit von 1992 bis 1993 waren die Einkünfte aus Patenten und Li­zenzen dreimal so groß, wie die Profite aus den Direk­tinvestitionen.
Profite aus Direktinvestitionen
In der zwanzigjährigen Periode von 1962 bis 1981 führten die US-amerikani­schen Transnationalen Konzerne 4,25 Milliarden US-Dollar an Gewinnen zu­rück. Dies war die Boomphase der latein­amerikanischen Ökonomien. Insbesondere von 1972 bis 1981 profitierten die US-amerika­nischen Gesellschaften von der er­sten Liberalisierungswelle und dem star­ken Zufluß von ausländischem Kapital nach Lateinamerika.
Mit dem Beginn der Weltrezession 1982 verursachten die Schuldenkrise und die Strukturanpassungsprogramme (SAP) ein Schrumpfen des lateinameri­kanischen Marktes. Die Konsumaus­gaben gingen zu­rück und die meisten Volkswirtschaften der Region gerieten ins Trudeln. Durch die massive Kana­lisierung der Ressourcen in devisener­zeugende Sektoren, um den Schulden­dienst leisten zu können, sanken die Gewinnrückführungen in die USA steil ab. In der Phase von 1982 bis 1991 gab es einen Verlust von 373,9 Millionen US-Dollar. Wie sich noch zeigen wird, gibt es eine inverse Bezie­hung zwischen Zinszahlungen und Ge­winn­rück­füh­­rungen: Sofern die Banken große Sum­men an Zins- und Til­gungszahlungen her­aus­ziehen, fallen die Profite aus den produktiven Inve­stitionen. Nichts­desto­trotz lieferte die Schuldenkrise für den IWF und die Weltbank einen He­bel, um die Privati­sierung von öffentli­chen Unternehmen zu puschen. Viele die­ser Firmen wurden von US-amerikani­schen TNCs gekauft. Als die begrenzte wirt­schaft­liche Erholung einsetzte, stiegen auch die Gewinnrückführungen US-ameri­kanischer Unternehmen wieder an. Im Zeitraum von 1992 bis zum ersten Quartal 1994 wurden 150 Millionen US-Dollar zu­rücktransferiert. Gegen­über den schlech­ten Ergebnissen in den achtziger Jahren eine klare Ver­besserung, jedoch wurde das Niveau der Periode 1972 bis 1981 bei weitem nicht erreicht. Die Schuldenkrise und die Strukturanpassungsprogramme hat­ten nicht nur einen nachteiligen Effekt auf die lateinamerikanischen Ökonomien, sondern ebenso eine substantiell nega­tive Auswirkung auf die Ertragslage der US-amerikanischen TNCs.
Zinszahlungen
Zinserträge waren im Untersu­chungszeitraum die Hauptquelle bei Pri­vaterträgen aus überseeischen Wirt­schaftsaktivitäten. Die wachsende Libera­lisierung des Kapitalverkehrs und die Wandlung der USA in einen Gläubiger der lateinamerikanischen Investoren pri­vater oder öffentlicher Provenienz, führte zu erhöhten Schul­denlasten in Lateiname­rika. Spiralen­förmig ansteigende Zinsen führten zu einem massiven Anstieg der Zah­lungen an die USA. Zinszahlungen von Lateinamerika an die USA waren ein bedeutendes Gegengewicht zum US-ame­ri­kanischen Handelsdefizit gegen­über Japan und Deutschland. Während die USA dabei gegenüber Lateiname­rika in der Gläubigerposition waren, befanden sie sich gegenüber dem Rest der fortge­schrittenen kapitalistischen Staaten in der Schuldnerstellung. Die gesamten Zins­zahlungen von Latein­amerika in die USA in der Zeit von 1972 bis 1992 betrugen mehr als 233 Milliarden US-Dollar, wobei 206 Milliarden US-Dollar zwischen 1982 und dem ersten Quartal 1994 transfe­riert wurden. Diese ausgedehnten Transfers hatten einen äußerst negati­ven Effekt auf das lateinamerikanische Wachstum und die Im- und Export­nachfrage des Subkon­tinents. Hinge­gen boten sie den USA eine ziemlich große Einkommensquelle, um die De­fizite gegenüber Japan und Deutsch­land zu kompensieren.
“Liberalisierung” hat die Folge stei­gender Zins- und Rentenzahlungen an die USA zu Lasten des Wachstums an Pro­duktivvermögen. Liberale Wirt­schafts­politik erhöhte die Abflüsse durch Zinszahlungen, während es gleichzeitig den Abschluß von Lizenz- und Patentver­trägen erleichterte. Pri­vatisierung ermög­lichte den Ausverkauf öffentlicher Unter­nehmen und belebte die Gewinnaussichten wieder.
Die Zahlungsströme in die USA zei­gen ein insgesamt spektakuläres An­steigen im Zuge der Vertiefung der Li­beralisierung – insbesondere der Zins- und Rentenzahlun­gen. Es ist kein Wunder, daß auf einen “freien Markt” gerichtete Politikmaßnah­men zum Kernstück der US-Politik wur­den und dies ist ein Grund, warum US-Poli­tikerInnen bereit sind, demokratische Regierungen, die auf den “freien Markt” orientiert sind, gegen Militär­putsche zu unterstützen.
Handel USA-Lateinamerika
Wenn wir nun den US-amerikani­schen Handelsüberschuß gegenüber La­tein­amerika untersuchen, fügen wir eine an­dere Dimension der asymetri­schen Bezie­hungen zwischen den USA und Latein­amerika hinzu. Eine Dimen­sion, die für die Unterstützung von “Freihandels­abkommen” durch die USA grundlegend ist. Von den sechzi­ger Jahren bis zum Beginn der Schul­denkrise in den Achtzigern hatten die USA einen substan­tiellen Handels­überschuß gegenüber La­teinamerika. In der Phase 1962 bis 1971 betrug der jährliche Überschuß 426 Mil­lionen US-Dollar, in der Zeit von 1972 bis 1981 wuchs der jährliche Überschuß auf 4,3 Milliarden US-Dollar. Das Umschla­gen in ein Defizit begann 1983 und hielt bis 1989 an. Das durch­schnittliche jährli­che Defizit in der Pe­riode 1972/81 betrug 1,725 Milliarden US-Dollar. Mit der öko­nomischen Er­holung in Lateinamerika be­gannen die USA erneut einen Handels­bilanzüber­schuß zu akkumulieren. Der jährliche Überschuß betrug 1992/93 2,2 Milliar­den US-Dollar. Der Handels­überschuß der USA hatte in der ersten Dekade der Liberalisierung (1970-82) steigende Tendenz. Mit der Schuldenkrise und den Strukturanpassungsprogrammen san­ken die US-amerikanischen Exporte nach Lateinamerika, während die Im­porte infolge der lateinamerikanischen “Export­strategie” anstiegen. Die vom IWF entworfene “Exportstrategie” sollte Ein­kommen schaffen, um den Schuldendienst an die Banken zu ge­währleisten. Nichts­destotrotz haben langfristig gesehen, die Strukturanpas­sungsprogramme neue Möglichkeiten für die USA geschaffen, die lateiname­rikanischen Märkte wieder zu erobern und noch tiefer einzudringen. Wenn wir die vier der Schuldenkrise vorange­gangenen Jahre (1979-82) mit den Jahren nach der Anpassung (1990-93) vergleichen, beobachten wir, daß die Kon­sequenzen der vertieften Liberali­sierung ein Ansteigen des US-ameri­kanischen Handelsüberschusses über seine histori­schen Höchstmarken ist. Während einer­seits die Schuldenkrise und die Struktu­ranpassungsprogramme für die USA einen zeitweisen Verlust an Märkten mit sich brachte, führten sie langfristig über den Wegfall von Schutzmaßnahmen zu einem stärkeren Eindringen und der Übernahme von lateinamerikanischen Märkten. Wenn wir die Handelsbilanz USA-Lateiname­rika mit der Handelsbilanz USA-Japan in der Zeit von 1970-82 ver­gleichen, sehen wir, daß die vorteil­haften Bilanzen gegenüber Lateiname­rika teilweise für die Defizite mit Japan aufkommen. Während der Schuldenkrise (1983-1989) machte das Defizit der USA gegenüber Latein­amerika nur ein Bruchteil des Defizites gegenüber Japan aus. Mit der wirt­schaft­lichen Erholung in Lateinamerika tauchte der Überschuß gegenüber La­teinamerika wieder auf, ist allerdings nur ein Bruchteil des Defizites gegen­über Ja­pan und deckt kaum das Defi­zit gegenüber Deutschland.
Lateinamerika:
Die kumulative Bilanz
Wenn wir die drei Quellen US-ame­rikanischen Einkommens aus Latein­amerika addieren (Rente, Handelsge­winn, Unternehmensprofit) und mit den Han­delsdefiziten gegenüber Japan und Deutschland vergleichen, verste­hen wir die strategische Bedeutung Lateinameri­kas für die US-amerikani­sche Gobalpoli­tik. Lateinamerikas Bei­trag zur weltweiten Stellung der USA wird noch deutlicher, wirft mensch einen Blick auf die Gesamt­einkünfte aus Handel, Investitionen, Dar­lehen und Lizenzabkommen. Zwischen 1962 und 1971 betrug der kumulative Rück­fluß in die USA 6,5 Milliarden US-Dollar, 1972 bis 1981 waren es 75,5 Milliarden US-Dollar und im Zeitraum von 1982 bis 1991 156,4 Milliarden US-Dollar und 1992/93 38,1 Milliar­den US-Dollar. Ohne die wachsende Ausbeutung Lateinamerikas hätte sich der Niedergang der USA stärker zu Buche geschlagen.
In der Zeit von 1962 bis 1971 betrug das US-amerikanische Einkommen aus Lateinamerika drei Viertel des Han­delsdefizits gegenüber Japan und übertraf das Handelsdefizit gegenüber Deutschland um 50 Prozent. In der folgenden Dekade entsprachen die Einkünfte aus Lateiname­rika dem Handelsdefizit gegenüber Japan. Im letzten Jahrzehnt von 1982 bis 1991 verdoppelten die USA zwar ihr Ein­kommen aus Lateinamerika, jedoch wuchs das Handelsdefzit gegenüber Japan um das fünfeinhalbfache und das gegenüber Deutschland gar um das siebenfache. Das selbe Muster scheint sich im gegenwärti­gen Jahr­zehnt fortzusetzen. Die Liberali­sierung Lateinamerikas hat den von den USA angeeigneten Überschuß erhöht. Die wachsende Ausbeutung Lateinamerikas korrespondiert mit der sich ver­schlechternden Handelsposition der USA gegenüber den Haupthan­delspartnern auf dem Weltmarkt.
Milliardäre in Lateinamerika
Parallel zur erhöhten Ausbeutung La­teinamerikas durch die USA haben die auf einen “freien Markt” zielenden Politik­maßnahmen zu einer tiefen Po­larisierung der lateinamerikanischen Gesellschaften ge­führt und eine neue Klasse von super­reichen Milliardären hervorgebracht. Diese Klasse ist ein direktes Produkt des Liberalisierungs­prozesses: 1987 gab es in Lateiname­rika weniger als sechs Milliar­däre, 1990 waren es acht, 1991 zwanzig und 1994 gab es schon deren 41. Die mei­sten der Superreichen waren vor der Libe­ralisierung Millionäre. Sie wurden Mil­liardäre durch den Ausverkauf der öf­fentlichen Unternehmen während der späten achtziger und der neunziger Jahre. Zwangsläufig kontrolliert diese Klasse von Milliardären mit ihrem aus­gedehnten Mediennetzwerk und ihren Verbündeten im Staatsapparat die Wirtschaftspolitik und die Wahlpro­zesse. In Mexiko durch die PRI, in Brasilien durch die korrupte politische Klasse, in Chile durch die Con­certación, und in Argentinien, Vene­zuela und Kolumbien durch die tradi­tionellen zwei großen Parteien. Die Superreichen haben wertvolle Minen­konzessionen, Telekommunikationssy­steme, Vermögen im Tourismus und der Industrie erlangt.
Die große Konzentration des Wohl­stands auf eine kleine Gruppe von Fami­lien ist eine der auffälligsten “Erfolgsstories” in Lateinamerika: Diese Gruppen haben das Oberge­schoß der “Ersten Welt” im wahrsten Sinne des Wortes erreicht. Sie haben nicht nur von der Liberalisierung pro­fitiert – zu Lasten der Bevölkerungs­mehrheit – sondern wa­ren dank ihrer Verbindungen zu den libe­ralen Regierungen die größten Unterstüt­zer der neoliberalen Politik.
Dabei ist der Prozeß der Vermö­genskonzentration in Lateinamerika Teil eines weltweiten Prozesses – Pro­dukt der “neoliberalen Konterrevolu­tion.” Im Zeit­raum von 1987 bis 1994 stieg die Anzahl der Superreichen in den USA von 49 auf 120, in Asien von 40 auf 86, in Europa von 36 auf 91 und im Mittleren Osten und Afrika von 8 auf 14.
Der Begriff Zentrum/Peripherie er­faßt die Verflechtungen zwischen den super­reichen Klassen im Norden und Süden nicht. Diese sind durch eine Vielzahl von Investitionen, Finanz- und Handelskreisen als auch Lizenzie­rungsabkommen mitein­ander verbun­den. Die Integration der Su­perreichen in den Weltmarkt und ihre Fä­higkeit, den Nationalstaat zu lenken und zu re­gulieren, damit er ihre internationalen Verbindungen finanziert und subven­tioniert, ist zur auffälligsten Erschei­nung in der Weltpolitik geworden. Globalismus ist das Programm der Su­perreichen.
Das gleichzeitige Wachstum der Klasse der Milliardäre in Lateinmerika und der Ausbeutung Lateinamerikas durch die USA sind duale Ergebnisse der “neo­liberalen Konterrevolution”. Dies ist am offensichtlichsten in den Ländern, die auf dem neoliberalen Pfad am weitesten fortgeschritten sind: Mexiko hat 24 Milliar­däre und war die Hauptquelle des Handelsgewinns, der Lizenz- und Pro­fiteinkommen für die USA. Brasilien mit sechs, Argentinien, Chile und Kolumbien mit jeweils drei und Venezuela mit zwei Milliardären folgen.
Der Hauptgrund für die wachsende Armut und den Abbau im Gesund­heits- und Bildungswesen liegt in der Umver­teilung der öffentlichen Res­sourcen zum Privatsektor und inner­halb des Privatsek­tors zu den sehr Reichen. “Neo­liberalismus” ist in sei­ner Essenz eine Beschönigung für die Konzentration des Einkommens durch die internationale Regulierung der Staatspolitik. Einkommen wird nach oben und nach außen transfe­riert. Die Armen werden dem Überlebens­kampf überlassen: Mit marginalen Kleinst­un­ternehmen, mit informeller Be­schäfti­gung und mit Almosen aus Pro­jekten, die von Nicht-Regierungs-Orga­nisa­tionen gesponsert werden, versu­chen sie, sich über Wasser zu halten.
Jedenfalls ist Liberalisierung nicht oder nicht bloß eine “Entwicklungsstrategie”, die ausgear­beitet wurde, um Lateinameri­kas Inte­gration in den Weltmarkt zu erleich­tern. Noch ist sie ein unvermeidli­ches Produkt eines immanenten “Glob­alisierungsprozesses”. Eher ist Libe­ra­lisierung ein Produkt von US-amerika­nischen Wirtschaftspolitikern, Bankern und Transnationalen Gesell­schaften, die mit lateinamerikanischen transnationalen Ka­pitalisten verbunden sind. Es sind spe­zifische Klassen und Staatsinteressen und nicht Imperative des Weltsystems, die die neue liberale politische Ökonomie dik­tieren. In die­sem Sinne muß die Um­kehrung der Liberalisierung auf der natio­nalen Ebene innerhalb der Klassenstruktur beginnen und dann nach oben und außen weitergetragen werden.

Tierra: Umwelt und Mitwelt indigener Völker

Auf der zweiten Weltkonferenz für Menschenrechte, die im Juni 1993 in Wien stattfand, wurden wichtige Ver­pflichtungen für die Vereinten Natio­nen vereinbart: eine Dekade für Indi­ge­ne Völ­ker zu starten und ein vor­aus­sichtlich permanentes Forum ein­zu­richten. Parallel dazu veranstaltete das öster­reichische La­teinamerika-In­stitut ein Symposium zu der Frage nach den Rech­ten indigener Völker, um einen Dialog zwischen Wissen­schaft­lerInnen, indi­genen VertreterIn­nen und Expert­Innen aus Entwick­lungsprojekten zu er­möglichen. In 14 Beiträgen dieses Bu­ches werden die Er­gebnisse dieses Treffens dargestellt.
Der Titel des Sammelbandes greift die zentrale Frage der internationalen Aus­einandersetzung um die Rechte der indi­genen Völker auf. “Tierra”: For­derung nach Land. Tierra, wird uns im Vor­wort erklärt, sei die “Lebens­grundlage eines je­den indiani­schen Vol­kes”, und entspre­chend sei die Forderung nach einer lega­len Basis für territoriale Ansprüche und politi­sche Auto­nomie eng mit der Ökolo­gie und den indigenen Land- und Nut­zungs­rechten verbunden.
Reale und formelle Politik
Seitdem die UNO 1982 die “Arbeitsgruppe für Indigene Völker” ein­setzte, gibt es formelle und regel­mäßige Kontakte mit VertreterInnen indigener Völker. Die Aufgabe dieser UN-Gruppe ist es, wie es im Beitrag von Julian Burger erklärt wird, “Entwicklungen, die die in­digenen Völ­ker beeinträchtigen, zu beob­achten und Standards für den Schutz ihrer Rechte auszuarbeiten”. Wie die Um­setz­ung dieser Standards auf interna­tionaler Ebene vorangeht, zeigt die Tat­sache, daß der Deklarationsentwurf der UN über die Rechte der indigenen Völ­ker, erst im Fe­bruar 1995, zwei Jahre nach seiner Verab­schiedung, von der Menschenrechtskom­mission der UN angenommen wird. Ob diese De­klaration auf die verschiedenen Re­gierungen einwirken wird bleibt noch abzuwarten.
Der tägliche Kampf der indigenen Völ­ker wird in den Beiträgen der Ex­pert­Innen aus Entwicklungsprojekten dar­gestellt. Berichte über Venezuela und Ecuador zeigen, wie die rechtliche Stellung ihrer Reservate den Indígenas keinen Schutz vor der Ausplünderung ihrer Boden­schätze seitens des Staates gibt. Durch die Militarisierung der Zone und die Zerstö­rung ihrer Le­bens­grundlage sind sie stark bedroht. Andere Beispiele dagegen zei­gen, wie in Guatemala und Brasilien sich die Indígenas gegen die Interessen des Staates wehren. In Guatemala erobern die Kekchí-Indianer die Region Petén mit Bauernsiedlungen, in denen ihre tradi­tionellen Strukturen und ihre Identität auf­rechterhalten werden. In Brasilien ist das Gebiet der Zuflüsse des oberen Rio Negro eine der weni­gen Regionen des Ama­zonasbeckens, in dem seit Jahrhunderten verschie­dene indianische Völker nahezu die ein­zigen ständigen BewohnerInnen sind. Wie die 19 Volksgruppen dieses Ge­biets zusammenleben und ihre kul­tu­relle Vielfalt aufrechterhalten, könnte ein Vor­bild für andere Gesellschaften werden…
Menschenrechte und Indianität
Ethnische Rechte der indigenen Völ­ker als speziell begründeter Anspruch inner­halb der Menschenrechte zu be­trachten, erfordert eine Definition der Indianität. Bei Rodolfo Stavenhagen wer­den die konzeptuellen Problem­fel­der, die dadurch entstehen, benannt: Individuelle und kol­lektive Rechte, ethnische Minderheiten und indigene Völ­ker auf der ganzen Welt. Als Ge­gengewicht steht der Beitrag von Leo Gabriel über die “Indianisierung” der Volksbewegungen in Lateinamerika. Er vertritt die These, daß durch die neu­en Transformationsprozesse in diesem Kon­tinent Begriffe wie Ethnie, Rasse und Klasse nicht mehr gültig sind. Als Folge der neoliberalen Wirt­schaftspolitik orga­nisiert sich die Zivil­gesellschaft in Volks­organisationen, um die Armut zu bekämp­fen. Darin ist die indianische Identität der gemeinsame Nen­ner, unter dem sich auch Mestizen und andere benachteiligte Grup­pen finden.
Natur als Mit- und Umwelt
Aus ökologischer Sicht zeigen die Be­richte der Experten über die indige­nen Auseinandersetzungen mit dem Staat eine alternative Lebensweise, in der die Natur als Mit- und Umwelt erlebt wird. Es ist beeindruckend zu er­fahren, wie in den zwei Vorträgen, die von Indianer-Vertre­tern in Wien gehalten wurden, der Kampf um die Um­welt gleichgesetzt wird mit dem Kampf um das eigene Leben. Dieses Natur­konzept ist Gegenstand der Menschen­rechtsdiskussion, weil es ein anderes Rechtsverständnis darstellt als das von Europa in die Kolonien über­tra­gene und heute international gültige. Eine Al­ternative zu diesem juristischen Problem wird von Wolfgang Dietrich analysiert, sowie im Beitrag von Otmar Höll, in dem die juristischen Hinder­nisse zu einer nachhaltigen Entwick­lung gezeigt werden.
Ob die Internationale Dekade der Indi­genen Völker, die im Dezember 1994 be­gonnen hat, dazu beitragen wird, die Lage der Indígenas zu ver­bessern, bleibt noch offen. Was der Sammelband zeigt, ist die Vielschich­tigkeit eines Problems, das durch den europäischen Kolonialismus vor 500 Jahren in den Trikont-Ländern in Gang gesetzt wurde.

Tierra: Indigene Völker, Umwelt und Recht./ Doris Cech u.a., Frankfurt a.M. 1994,. ISBN 3-86099-131-0 (Brandes und Apsel), 180S.,ca 28DM.-

Nein zur Gewalt gegen Frauen

Während das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) kon­statiert, daß in Nicaragua inzwischen über zwei Drittel aller Menschen unterhalb der Ar­mutsgrenze leben, beobachten Menschen­rechts- und Frauenorganisationen gleich­zeitig eine kontinuierliche Zunahme der Gewalt gegen Frauen und Kinder. “Nicaragua charakterisiert sich durch seine mit Gewalt beladene Geschichte. Die Dik­tatur, der lange Bürgerkrieg … und auch heute noch sind bewaffnete Aus­einandersetzungen und Entführungen gängige Mittel im Kampf gegen das herr­schende politische und ökonomi­sche Sy­stem. In den letzten vier Jahren hat zudem die Gewalt innerhalb der Familie spürbar zugenommen. Viele Männer haben ihre Arbeit verloren, sind frustriert, flüchten in den Alkohol, und zu Hause fangen sie dann an, ihre Frauen und Kinder zu schla­gen”, so Paola Zuniga, eine der Aktivi­stinnen vom “Frauennetz gegen Gewalt”.
Die weibliche Bevölkerung Nicaraguas hat hauptsächlich zwei Möglichkeiten, Schlagzeilen in der Presse zu machen: Entweder als Opfer vergewaltigt, er­mordet und zerstückelt oder – genauso sensatio­nalistisch – vermarktet als strahlende Ge­winnerin eines regiona­len, nationalen oder weltweiten Schön­heitswettbewerbes. We­der die Gewalt noch die Misswahlen ken­nen dabei eine untere Altersgrenze. Miss Baby aus Leon erscheint auf der sel­ben Seite der Tageszeitung wie ein gleichaltri­ges, mißhandeltes Mädchen. Umfassende Daten über das Ausmaß der Gewalt gibt es trotz der vielen Pressemeldun­gen nicht. Ein für Zen­tralamerika ein­maliges “Frauenkomissariat”, das nur mit weibli­chen Polizistinnen besetzt ist, re­gistriert nur einen Bruchteil der Ge­walttaten, die in der Hauptstadt be­gangen werden. Und obwohl viele an­dere Gewaltopfer sich an eines der über zwanzig landesweiten Frauenzen­tren wenden, ist die Zahl der tatsäch­lichen Übergriffe nur schwer zu schätzen.
Frauennetz
Im “Frauennetz gegen Gewalt” haben sich mehr als 20 Frauenzentren lose zusam­mengeschlossen. Das Netz ge­hört damit zu den wenigen Bewegun­gen Nicaraguas, die noch nicht von in­neren Streitigkeiten oder Finanznöten aufgerieben worden sind. An diesem Aktionsbündnis sind u.a. die Frauen­gesundheitszentren von Si Mu­jer und Ixchen, die Stiftungen Xochi­quetzal und Puntos de Encuentro und seit diesem Jahr sogar einige Frauenzen­tren von AMNLAE, der sandinisti­schen Frau­enorganisation, die bisher mit den unab­hängigen Frauen nicht zusammenarbeiten wollten, beteiligt. “Es werden jedes Jahr mehr Frauen, die wegen Mißhandlungen, Vergewalti­gungen oder Morddrohungen zu uns kommen. Dies ist für uns ein Indiz, daß die häusliche Gewalt stetig zu­nimmt. Gleichzeitig wissen aber jetzt auch immer mehr Frauen, wohin sie sich wenden kön­nen und daß sie dieses Unrecht nicht still­schweigend ertragen müssen. Das werten wir als einen Er­folg unserer Kampagne”, so Paola.

Das “Frauennetz gegen Gewalt” hat u.a. zwei Broschüren erarbeitet und veröffent­licht, die kostenlos landesweit mit Aufla­gen von über 50 000 Exem­plaren verteilt wurden. In der leicht verständlich ge­schriebenen Broschüre mit dem Titel “Was machen und wohin gehen im Falle von Gewalt?”, werden die verschiedenen Arten von emotio­naler, körperlicher und sexueller Ge­walt und der Gewaltzyklus innerhalb der Familie beschrieben. Ebenso wird auf anschauliche Weise die rechtli­che Situation der Frauen dargestellt. Ein Extrakapitel erläutert, was frau erwar­tet, wenn sie Anzeige erstattet. Indirekt ist das Gesetz dabei auch in Nicaragua noch im­mer auf der Seite des Mannes: Verläßt eine Frau das Haus, z.B. auf der Flucht vor ihrem Agressor, hat sie kaum Chan­cen, dorthin wieder zu­rückzukehren, da es üblicherweise auf den Namen des Mannes in das Grundbuch eingeschrieben ist. Ein Schwangerschaftsabbruch, selbst nach Vergewaltigung, ist in Nicaragua, wie in den meisten Ländern Lateinameri­kas, ille­gal. Vergewaltigung in der Ehe kennt das Gesetz nicht. Obwohl es im Strafgesetz­buch Artikel gibt, die bei körperlichen oder sexuellen Mißhand­lungen Bestrafung der Täter vorsehen, ist die Beweisführung schwierig, und es kommt letztlich nur zu wenigen Ver­urteilungen.
In der Broschüre “Seien wir anders – Nein zur Gewalt in der Straße, im Haus und im Bett”, wenden sich die Autorinnen an Ju­gendliche beiderlei Geschlechts und zei­gen, wie Gewalt­strukturen entstehen und wie sie abge­baut werden können. In einem Land, in dem die staatliche Sozial- und Bil­dungspolitik weit davon entfernt ist, ähnlich gutes didaktisches Material zu produzieren, sind die beiden Publika­tionen Mangelware und sehr begehrt. Sie werden im ganzen Land sowohl von Ein­zelpersonen als auch von Gruppen ge­nutzt, um Wege aus der Gewalt zu finden.
Interamerikanische Konvention als Druckmittel
Im Juni diesen Jahres hat Nicaragua zu­sammen mit Argentinien, Brasilien, Costa Rica, Honduras, der Dominika­nischen Republik und Venezuela bei der General­versammlung der latein­amerikanischen Staaten (OEA) eine interamerikanische Konvention zur Vorbeugung, Sanktionie­rung und Ver­nichtung der Gewalt gegen Frauen unterzeichnet. Die 25 Artikel umfas­sende Konvention bietet die rechtli­che Grundlage, um Frauen umfassend vor körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt im öffentlichen und im privaten Bereich zu schützen. Gleichzeitig zu einer veränderten Rechtspraxis zugun­sten der Frauen sieht die Konvention weiterhin vor, daß der Staat den Ge­waltopfern Hilfe anbieten muß. Dazu zählt die Einrichtung von Frauenhäu­sern und psychologischen Beratungs­stellen, die Anstellung speziell ge­schulten Personals in den Justizappa­raten, sowie die Bereitstellung staatli­cher Mittel zur Zahlung von Wieder­gutmachung. Die Aktivistinnen wissen, daß es noch Jahre dauern kann – wenn überhaupt – bis diese Konvention im Par­lament ratifiziert und in die Praxis umge­setzt wird. Dennoch läuft die Kampagne auf Hochtouren und die Frauenbewegung setzt auf den Trumpf der Konvention. Die Regierung Violeta Chamorros, deren Frauen- und Ge­sundheitspolitik seit der Weltbevölke­rungskonferenz vom Opus-Dei-Mit­glied und Erziehungsminister Hum­berto Belli diktiert wird, gerät da­durch zunehmend in Widersprüche.” Die Konvention stärkt uns den Rücken und ist ein wichtiges Instrument, um unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen, da­her brauchen wir die 40 000 Unterschrif­ten”, so Norma Rivera, Schauspielerin und Feminstin.

“Ich ziehe es vor, optimistisch zu sein”

LN: Bis jetzt gibt es immer noch keinen Zeitplan für Friedensverhandlungen, die bewaffneten Auseinandersetzungen zwi­schen Militärs und Guerilla gehen unver­mindert weiter. Stehen die Friedensbe­mühungen vor einem erneu­ten Scheitern?
Méndez: Dies würde ich nicht sagen. Die Verhandlungen werden nicht sofort, also in wenigen Tagen oder Monaten, begin­nen. Man muß in Betracht ziehen, daß es in den vorhergehenden 18 Monaten keine wie auch immer geartete Annäherung ge­geben hatte. Im Gegenteil hatte die Regie­rung Gaviria nach dem Scheitern der Ver­handlungen in Venezuela und Mexiko der Guerilla den “integralen Krieg” erklärt, mit dem Ziel, diese “auszulöschen” oder zu einer vollständigen politischen und mi­litärischen Kapitulation zu zwingen.
Die Regierung Samper öffnet, wenn auch langsam, die Türen. Auf beiden Seiten herrscht eine besonnene Haltung vor, da man weiß, daß man sich nicht gegenseitig die Vorbedingungen für den Verhand­lungsbeginn aufzwingen kann. Man darf sich nicht davon abschrecken lassen, daß nach wie vor bewaffnete Auseinanderset­zungen stattfinden. Ein zu überhasteter Beginn von Friedensverhandlungen könnte zu einem neuen Scheitern führen.
Wie stark ist das tatsächliche Bestre­ben der Regierung, der Gewalt und den Ver­letzungen der Menschenrechte ein Ende zu bereiten? Verhält sie sich nicht sehr widersprüchlich, wenn man zum Bei­spiel an die Verabschiedung des Gesetzes über das “Verschwindenlassen” denkt?
Die gegenwärtige Regierung hat eine dy­namischere, entschiedenere Hal­tung als die vorhergehende. So hat sie bei­spielsweise zugegeben, daß es bisher in Kolumbien keine Politik zum Schutz der Menschenrechte gab. Desweiteren hat sie gesagt, daß es ohne eine Lösung dieses Problems keinen Frieden geben könne. Es hat Willensbekundungen gegeben, die wichtig und bedenkenswert, aber nicht ausreichend sind. Entsprechend muß von den progressiven und demokratischen Sektoren der Gesellschaft Druck auf die Regierung ausgeübt werden, damit den Worten auch Taten folgen.
Bezüglich des “Verschwindenlassen” gab es ständige Gespräche zwischen der Re­gierung und den Menschenrechtsorgani­sationen, damit diese im Senat eine kla­rere Position bezöge. Die Regierung di­stanzierte sich, was das Gesetz angeht, relativ klar von der vorherigen, allerdings nicht ausreichend.
Diese Regierung weiß, daß sie sich nicht mehr so einfach herausreden kann: Mitt­lerweile klagen sogar einige Staatsorgane, wie die “Defensoría del Pueblo” und die Generalstaatsanwaltschaft, die staatliche Verantwortung für die Verletzung der Menschenrechte ein. Der nationale und internationale Druck auf die Regierung muß so groß sein, daß diese sich an die Wand gedrückt fühlt und gezwungen ist, ihr gegenwärtiges ambivalentes Verhalten aufzugeben und klar Position zu beziehen.
Wie ist gegenwärtig die Rolle des Militärs einzuschätzen? Werden sie versu­chen, die Verhandlungen zu torpedieren?
Der Spielraum der Militärs ist enger ge­worden. Neue repräsentative Um­fragen haben ergeben, daß trotz einiger Gue­rillaaktionen, die öffentliche Ableh­nung erfahren haben, mehr als 60 Prozent der Bevölkerung für eine politische Ver­handlungslösung sind. Das betrifft auch die Streitkräfte, die für ihre bisherige strikte Ablehnung von Verhandlungen mit der Guerilla nicht mehr so viel Unterstüt­zung haben wie zu anderen Zeiten. Offen­bar haben die Militärs sich mittlerweile bereiterklärt, mit am Verhandlungstisch zu sitzen. Das würde bedeuten, sie hätten faktisch akzeptiert, daß die Gespräche be­ginnen, ohne daß die Guerilla vorher die Waffen übergibt oder sich an einem be­stimmten Ort festsetzen läßt.
Welche Gefahr geht von der Zu­nahme der Aktivitäten von Todesschwa­dronen aus? Erst im Sommer dieses Jahres wurde Manuel Cepeda, der einzige kom­munistische Parlamentsabgeordnete, er­mordet.
Die Förderung paramilitärischer Aktivitä­ten ist wohl die bevorzugte Form der Mi­litärs, um Druck auszuüben. Indem sie politische und soziale Kämpfer sowie tatsächliche oder angebliche Sympathi­santen der Guerilla eliminieren, versuchen sie, den Friedensprozeß zu verhindern. Der Mord an Manuel Cepeda oder an ei­nigen Gewerkschaftsführern in Antio­quia oder Todesdrohungen gegenüber po­litischen Aktivisten verkomplizieren den Friedensprozeß. Die Regierung weiß, daß es nicht zu Verhandlungen kommen kann, wenn es keine Sicherheitsgarantien sowohl für die Guerillaführer als auch für die sozialen Gruppen gibt, die sich mit re­gierungskritischen Positionen an den Dis­kussionen beteiligen wollen. Das ist wahr­scheinlich der schwierigste Faktor bei zu­künftigen Verhandlungen.
Samper sagte neulich in einem Gespräch mit Menschenrechtsorganisationen, die Regierung müsse langsam und vorsichtig agieren, um zu vermeiden, daß diejenigen Kreise innerhalb des Staatsapparates, die keinen Frieden wollen, diesen nicht torpe­dieren können. Solche Argumente können natürlich auch benutzt werden, um uns zu moderateren Forderungen zu zwingen. Immer wieder wird gesagt: Verlangt keine Veränderungen in den Strukturen der Streitkräfte, verlangt keine Gerechtigkeit bei Menschenrechtsverletzungen, rührt die Vorrechte und die interne Gerichtsbarkeit des Militärs nicht an. Mit solchen Argu­menten wurde schon die ehemalige Gue­rilla und jetzige Partei M-19 Anfang der neunziger Jahre in der Verfassungsgeben­den Nationalversammlung erpreßt. Nach und nach mußte die M-19 immer mehr Forderungen aufgeben.
Man darf sich in diesem Bereich nicht er­pressen lassen, sondern muß die Regie­rung dazu zwingen, die Kontrolle der Streitkräfte und die Beseitigung der Para­militärs als ihre Verantwortlichkeit anzu­erkennen.
Wie ist die gegenwärtige politische Stärke der Guerilla einzuschätzen? Es ist zum Beispiel in der Presse davon die Rede, daß diese bei den Kommunalwah­len im November in etlichen Gemeinden an indirektem Einfluß gewonnen habe.
Nach der Periode des “integralen Krieges” von Seiten der Regierung ist die Guerilla militärisch getroffen, wenn auch nicht in entscheidendem Maße. Einige Führer sind in Haft. Die militärischen Strukturen blie­ben allerdings intakt. Poli­tisch gesehen hat die Guerilla in den großen Städten an Ein­fluß verloren, hält diesen aber in den ländlichen Gebieten, wo sie seit Jahr­zehnten agiert, weiterhin aufrecht. Es gibt Gemeindevertreter, die mit der Guerilla sympathisieren, und es gibt welche, die dies nicht tun, aber wis­sen, daß sie ohne bestimmte Überein­künfte mit ihr nicht re­gieren können. Dies wurde von der Rech­ten immer wieder als Vorwand benutzt, um lokale Autoritäten zu attackieren. Die Regierung muß als Ausgangspunkt für Verhandlungen aner­kennen, daß die Gue­rilla keine Kriminel­lenbande ist, sondern auch politisch agiert.
Wie ist die momentane Stimmung in der Gesellschaft? Sind die sozialen Bewe­gungen, die Gewerkschaften und die lin­ken Parteien in der Lage, den erforderli­chen Druck auf die Regierung aus­zuüben?
Die Situation ist nicht gerade optimal, da die sozialen Bewegungen durch die vielen Jahre des schmutzigen Krieges ziemlich geschwächt sind. Gleichzeitig gibt es ge­genwärtig in der Gesellschaft ein eindeu­tiges Klima für Verhandlungen – sei es, weil die Leute Veränderungen wollen, sei es, weil sie einfach für eine Beendigung des Krieges sind. Viele, die vor anderthalb Jahren noch die Auslöschung der Guerilla ver­langten, haben heute die realistische Ein­schätzung, daß dies mit militärischen Mitteln nicht möglich ist. Bei den sozialen Bewegungen oder den Intellektuellen gibt es das Bewußtsein, daß die Möglichkeit besteht, die Verhandlungen zum Anlaß zu nehmen, um über die gesellschaftlichen Probleme zu diskutieren.
In der Vergangenheit haben Regierung und Guerilla immer allein verhandelt. Heute wollen sich viele Sektoren der Ge­sellschaft, wie zum Beispiel die Kirche, die Gewerkschaften, die politischen Par­teien, die Menschenrechtsgruppen, Intel­lektuelle, am Friedensprozeß beteiligen. Sogar ein so traditionalistischer Bereich wie die Kirche verkündet mittlerweile, daß der Frieden nicht die Frucht der Ab­wesenheit von Krieg, sondern die Frucht der sozialen Gerechtigkeit sei. Auch die Massenmedien haben ihre Position voll­ständig geändert, sind jetzt flexibler in dem Sinne, daß sie fordern, daß Bedin­gungen geschaffen werden, um über eine Reihe von gesellschaftlichen Problemen zu diskutieren. Sie geben mittlerweile der Debatte Raum und rufen nicht mehr, wie in der Vergangenheit, zum Krieg auf. Ei­nige Medien der Alternativpresse, wie etwa “Colombia hoy” und “Utopías”, nehmen aktiv an den Diskussionsprozes­sen teil.
Bemerkenswert ist, daß diese Regierung im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen bereit ist, die Anwesenheit von gesell­schaftlichen Gruppen bei den Friedensge­sprächen zu akzeptieren, beispielsweise der Vertreter der Erdölgewerkschaft, die sich besonders vehement gegen die neoli­berale Politik wehren.
Wichtige Verhandlungspunkte werden die Landverteilung, die öffentlichen Ausga­ben und die Rohstoff- und Umweltpolitik sein. Die Regierung ist sich offenbar dar­über im Klaren, daß sie Zugeständnisse machen muß. Aber auch die sozialen Be­wegungen und die Guerilla müssen ver­stehen, daß der Friedensvertrag, der am Ende der Verhandlungen steht, nicht die “Revolution per Dekret” sein kann. Doch müssen einige solide Grundlagen im wirt­schaftlichen und sozialen Bereich geschaf­fen werden. So muß beispielsweise die Situation der ärmsten Bevölkerungs­schichten deutlich verbessert werden.
Es handelt sich also um einen Prozeß von großer sozialer Dynamik, was mir als weitaus produktiver erscheint, als wenn lediglich die Regierung und die Guerilla sich an einen Tisch setzen würden. Gleichzeitig sind die Entwicklungen kaum vorhersehbar. Ich ziehe es vor, optimi­stisch zu sein.
Gibt es nicht genug Anlaß, skeptisch zu sein? In der Vergangenheit übergaben schon andere Guerillas die Waffen, und später wurden viele ihrer legalen Vertrete­rInnen ermordet. Besteht nicht die Gefahr, daß dies wieder geschieht?
Diese Möglichkeit kann auf kei­nen Fall ausgeschlossen werden. Um un­nötige Ri­siken zu umgehen, ist es wichtig, daß sowohl Guerilla als auch soziale Be­wegungen von der Regierung konkrete Si­cherheitsgarantien verlangen. So müssen die Militärs aufhören, in den Medien poli­tischen Druck auszuüben und gegen die Guerilla zu provozieren, um anschließend ihre Morde rechtfertigen zu können. Auch muß die Regierung klar signalisieren, daß Militärs, die mit den Paramilitärs zusam­menarbeiten, aus den Streitkräften entfernt und die Verbindungen zwischen Militärs und Todesschwadronen zerstört werden. Es ist natürlich schwierig, dies in einem Vertrag festzuschreiben, da es sich hierbei nicht um offizielle, sondern um verdeckte und illegale Verknüpfungen handelt.
Zudem ist von entscheidender Wichtig­keit, daß sowohl auf die Guerilla als auch auf die Regierung Druck ausgeübt wird, daß sie zu der Übereinkunft kommen, die Internationalen Menschenrechte zu ak­zeptieren. Eine internationale Kontroll­kommission könnte dazu beitragen, daß sich das Klima verbessert, würde aller­dings noch keine vollen Sicherheitsgaran­tien gewährleisten. Auch in diesem Be­reich muß man Schritt für Schritt vorge­hen. Die Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien haben komplexe Ursachen und lassen sich daher nicht einfach durch ein Dekret des Präsidenten abschaffen.
Was ist angesichts dieser politischen Entwicklungen die Interessenlage der Drogenhändler?
Auf diese Frage habe ich keine sehr prä­zise Antwort. In der Zeit, als das Medel­lín-Kartell noch stärker war, waren die Verbindungslinien zwischen dem Dro­genkartell und der Aufstandsbekämp­fungspolitik sehr offensichtlich. Einer der politischen Akteure des Drogenhandels, die überlebt haben, ist Fidel Castano, der in Urabá und Cordoba agiert und parami­litärische Gruppen befehligt, die mit dem Militär zusammenarbeiten. Ihm ging es stets nicht nur darum, seinen Drogenhan­del zu schützen, sondern auch die Guerilla und ihr soziales Umfeld zu bekämpfen, indem er beispielsweise gegen Bauern vorging, die Land besetzten. Es ist damit zu rechnen, daß Drogenhändler wie Ca­stano versuchen werden, sich in die Ver­handlungen einzumischen.
Es gibt allerdings keine offene Opposition gegen Verhandlungen, sondern vielmehr Forderungen, daß die Drogenhändler und Paramilitärs in den Friedensprozeß inte­griert werden. Die Regierung hat ange­kündigt, sie wolle die Verhandlungen mit der Guerilla von der Lösung der Probleme des Drogenhandels und der Paramilitärs trennen, da sie letztere nicht als politische Akteure und Gesprächspartner anerkennt. Trotzdem gehe ich davon aus, daß unter der Hand Verhandlungen stattfinden.
Das Kartell von Calí äußert sich selten zu solchen Fragen. Es setzte immer auf Übereinkünfte mit wirtschaftlichen Kräf­ten in der Region Cauca, investierte Geld und mischte sich kaum in die Politik ein. Wenn es paramilitärische “Säuberungsaktionen” durchführte, tat es sie einfach, ohne gleichzeitig Propaganda zu betreiben. Auch wenn das Cali-Kartell den Ruf hat, nicht terroristisch, sondern kultivierter und zivilisierter vorzugehen, waren seine Methoden im Tal von Cauca immer sehr barbarisch. Es ließ zwar keine Bomben legen, massakrierte aber Campesinos und richtete Blutbäder in der Bevölkerung an.
Es ist sehr schwierig abzuschätzen, wie sich die Drogenmafia verhalten wird. Man kann nur sagen, daß sie heute ein weniger komplizierter Akteur ist als in der Ver­gangenheit.
Weil sie so geschwächt sind?
Das Kartell von Medellín ist ge­schwächt, das Cali-Kartell ist an Ver­handlungen in­teressiert, weil sie wissen, daß sich in Zu­kunft der Druck auf sie er­höhen wird. Früher befanden sich die Drogenbosse aus Cali nie im Konflikt mit der kolumbiani­schen Regierung oder der US-amerikani­schen Drogenbekämpfungs­behörde DEA, da diese sich auf das Me­dellín-Kartell konzentrierten. Dabei wurde teilweise auch mit dem Cali-Kartell zu­sammengearbeitet. Jetzt, nach dem Tod von Pablo Escobar, dem Chef des Medel­lín-Kartells, wissen die Bosse in Cali, daß die DEA ihr Augenmerk auf sie gerichtet hat. Deswegen treten sie in Verhandlun­gen mit der Staatsanwaltschaft ein. Einige Drogenhändler haben sich bereits gestellt.
Unterstützen die Menschenrechtsor­ganisationen die Politik des Straferlasses für Drogenbosse, die sich stellen?
Nein. Einige Menschenrechts­gruppen sind der Meinung, daß eine Le­galisierung des Drogenhandels Vorteile hätte. Es ist aller­dings nicht akzeptabel, daß die Menschen­rechtsverletzungen der Drogenhändler straffrei bleiben. Viele von ihnen sind noch dazu in die Aufstandsbe­kämpfung verwickelt. Es ist für uns schwer zu ak­zeptieren, daß die Strafe für diese Verbre­chen zwischen ihnen, der Staatsanwalt­schaft und der Regierung ausgehandelt wird.
Während ein Drogenhändler dann nur zwei oder drei Jahre absitzen muß, werden Gewerkschaftsführer der staatlichen Tele­fongesellschaft Telecom, die kein anderes Delikt begangen haben, als einen Streik zu organisieren, zu acht Monaten Haft ver­urteilt. Viele politische Gefangene sitzen nach wie vor sogar ohne Gerichtsverfah­ren und Verurteilung seit mehr als vier Jahren in Haft. Es gibt eine Politik, die Drogenhändler willkürlich zu bevorzugen und soziale Bewegungen zu kriminalisie­ren.
Gleichzeitig bin auch ich der Meinung, daß man dem Phänomen des Drogenhan­dels nicht nur mit Repression begegnen darf. Es handelt sich um ein gutes Ge­schäft, weil es illegal ist. In dem Moment, wo es legalisiert wird, ist es für die Dro­genhändler weniger lukrativ. Gleichzeitig würde die Gewalttätigkeit zurückgehen, die mit einem illegalen Gewerbe einher­geht. Diese Position wird nicht von allen Menschenrechtsgruppen in Kolumbien geteilt. Meine Organisation vertritt aller­dings die Meinung, daß der Handel mit Drogen und Betäubungsmitteln entkrimi­nalisiert werden muß.
Die kolumbianischen Menschen­rechtsgruppen werden zusammen mit der internationalen Kampagnenkoordination im kommenden Februar einen Kongreß in Brüssel abhalten. Welche Unterstüt­zung erwarten sie sich vom Ausland?
Gerade jetzt, nach der internatio­nalen Kampagne von “amnesty internatio­nal” und der Vorlage des Berichtes der Intera­merikanischen Menschenrechts­kommission, befindet sich die kolumbia­nische Regierung in einer Situation, wo sie klare Zeichen setzen muß, damit die internationale Gemeinschaft ihr abnimmt, daß sie Anstrengungen zur Bekämpfung der Menschenrechtsverletzungen unter­nimmt. Heute kann sich ihr politischer Wille nicht mehr darin erschöpfen, daß sie einige Menschenrechtskurse für Militärs anbietet oder ein Büro für Menschen­rechte im Verteidigungsministerium ein­richtet.
Wir erwarten von der internationalen Ge­meinschaft, daß sie anfängt, die kolum­bianische Regierung nicht mehr als ohn­mächtiges Opfer, sondern als Verantwort­liche für die Menschenrechtsverletzungen und den schmutzigen Krieg anzusehen. Der Fall Kolumbien muß in der UNO-Menschenrechtskommission analysiert werden. Jahrelang war der Blickwinkel der Staaten des Nordens und auch der Vereinten Nationen auf Militärdiktaturen verengt. Dort, wo formale Demokratien existierten, wurden Menschenrechtsver­letzungen als interne Probleme angesehen. Dies hat lange verhindert, daß die interna­tionale Gemeinschaft sich mit der Situa­tion in Kolumbien beschäftigt. Jetzt ist eine unserer Forderungen, daß ein UNO-Sonderberichterstatter für Kolumbien er­nannt wird.
Momentan hat die kolumbianische Regie­rung enorme Angst, durch ihre Verletzun­gen der Menschenrechte einige ökonomi­sche Vorzugsbedingungen im Exportbe­reich zu verlieren, die sie zur Zeit bei der Europäischen Gemeinschaft oder einigen Mitgliedsländern hat. Zwar handelt es sich hierbei mehr um eine Befürchtung als um eine Realität, denn bis jetzt gab es keine offenen Äußerungen, daß die europäi­schen Staaten wirtschaftliche Sanktionen in Erwägung ziehen.
Wichtig ist, daß diese kolumbianische Re­gierung großen Wert darauf legt, was im Ausland von ihr gehalten wird. Der Druck, der von der internationalen Öf­fentlichkeit ausgeht, ist daher von ent­scheidender Bedeutung.

Der Irrsinn nimmt seinen Lauf

Die Dramaturgie wiederholt sich: Der UNO-Generalsekretär Boutros Ghali un­ternimmt einen “letzten Versuch”, die Haiti-Krise auf diplomatischem Wege zu lösen. Zu diesem Zweck wird ein schwe­discher UN-Emissär auf die Insel ge­schickt, um die technischen Absprachen für ein erneutes Treffen zwischen dem OAS-Vermittler Dante Caputo und den Militärs vorzunehmen. Während dieser vergeblich auf einen Gesprächstermin mit der de-facto-Regierung wartet, strecken MG-Salven einen engen Freund Aristides, den Priester Jean Marie Vincent, vor sei­nem Ordenshaus nieder. Wer denkt bei dem Attentat auf Vincent nicht an die un­gesühnten Morde an Antoine Izméry und Guy Malary, die vor knapp einem Jahr, als die Rückkehr Aristides unmittelbar bevor­stand, unter den Augen der UNO-Beob­achter begangen wurden? Mit Vincent wurde eine weitere wichtige Stütze für den demokratischen Wiederaufbau des Landes ausgeschaltet. Der UN-Gesandte kehrte unverrichteter Dinge wieder nach New York zurück. Was soll noch alles passieren, damit dieses entwürdigende Schauspiel endlich ein Ende hat?
Da sitzt ein mit überwältigender Mehrheit gewählter Präsident, überzeugter Katholik und konsequenter Pazifist, seit Jahren in den USA – also gewissermaßen in der Höhle des Löwen – und muß mitansehen, wie dieser in aller Seelenruhe seine Kral­len wetzt, um dem haitianischen Regime einen Hieb zu versetzen. Dieses hält den US-Löwen offenbar eher für einen kläf­fenden Hund, der bekanntlich nicht beißt, und zeigt sich daher relativ unbeeindruckt von den offiziellen Verlautbarungen aus dem Weißen Haus oder dem UN-Haupt­quartier.
Mörderbuben als Hätschelkinder des Heiligen Vatis
Und dennoch, die Zeit der Junta scheint endgültig abgelaufen. Die mit päpstlichen Weihen ausgestatteten haitianischen Narko-Gorillas haben länger als genug zu erkennen gegeben, daß sie dem völlig verwüsteten, wirtschaftlich herunterge­kommenen Land auch nicht den Schim­mer einer Perspektive zu bieten vermögen. Die Militärs und ihre mittlerweile dritte zivile Marionettenregierung sind seit drei Jahren von allen offiziellen politischen und wirtschaftlichen Handelskanälen ab­geschnitten, bis auf einen, den zum Vatikan. Der Heilige Vati kann es sich immer noch leisten, intime Beziehun­gen zu weltweit kompromittierten Mör­derbuben zu pflegen, ohne daß ein Auf­schrei durch seine internationale Fan-Ge­meinde geht. Haiti ist hierfür jedoch nicht das einzige Beispiel. Zu Pinochet in Chile bestanden und bestehen ebenfalls sehr herzliche Beziehungen. Der apostolische Nuntius in Mexiko betreibt offene Hetze gegen den äußerst populären Bischof Sa­muel Ruiz und empfängt gleichzeitig zwei der meistgesuchtesten Drogenkartell-Häuptlinge, um ihnen die Absolution zu erteilen beziehungsweise diplomatischen Schutz zu gewähren.
Eine Politik des Vatikans, die weniger auf das Wohl seiner Schafe, als vielmehr auf das seiner Hirten und Oberhirten bedacht ist, hat besonders in Lateinamerika eine lange Tradition. Im Falle Haitis jedoch hat sie Formen angenommen, die jeglichen, wenn auch noch so dürftigen Rechtferti­gungsversuchen bitter Hohn sprechen. Die von Rom protegierten Militärs gehen so­gar so weit, sich die internationalen UN-Hilfsgüter – Treibstoff, Lebensmittel, Me­dikamente – unter den Nagel zu reißen, mit denen die verheerenden Auswirkun­gen des “totalen” Handelsembargos zu­mindest für einen Teil der Bevölkerung abgefedert werden sollten.
Die Schmerzgrenze für die Gottesmänner in Rom dürfte aber nun überschritten sein, da selbst vor einem geweihten Priester nicht Halt gemacht wurde. Der kaltblütige Mord an dem Ordenspriester und ehema­ligen Caritas-Repräsentanten von Cap Haitien, Jean Marie Vincent, ist ein Indiz dafür, daß die Machthaber entweder im Begriff sind, eine neue Stufe der Repres­sion zu beschreiten, oder daß sie die Kon­trolle über ihre selbstgeschaffenen Mord­werkzeuge verloren haben. Beides wiegt gleich schwer. Jegliche Beileidsgeste von Seiten des Papstes oder auch der haitiani­schen Bischofskonferenz – deren Vorsit­zender der frühere Vorgesetzte von Vin­cent im Caritas-Verband ist – wirkt eher wie eine heuchlerische Pflichtveranstal­tung denn als aufrichtig gemeinte Äuße­rung der Betroffenheit.
Nach drei Jahren Schweigen zu den Ver­brechen gegen die Menschlichkeit hat die katholische Amtskirche jeglichen Kredit beim haitianischen Volk verspielt.
Die internationalen “Freunde” haben ihren Kredit verpokert
Aber gibt es überhaupt noch irgendeine Instanz, die der Bevölkerung gegenüber kreditwürdig ist? Die UNO etwa, die als säkuläre Repräsentanz der internationalen Gläubiger-Gemeinschaft seit drei Jahren ihren unerschütterlichen Willen und ihre Entschlossenheit bekundet, mit dem Un­rechtsregime aufzuräumen und die legi­time, demokratisch gewählte Regierung Aristide wieder in ihr Recht zu setzen? Oder gar ihr kontinentaler Ableger, die OAS, die seit ihrem Bestehen nichts als Machtlosigkeit dokumentiert? Die, wenn überhaupt, nur als Feigenblatt-Organismus für nordamerikanische Interessen in Er­scheinung tritt? Die “vier Freunde” etwa – USA, Kanada, Frankreich, Venezuela – von denen die drei Letztgenannten nur so lange etwas zu sagen haben, wie sie nicht mit eigener Stimme sprechen? Niemand spricht mehr von diesem Kreis. Und was ist mit den USA, dem angeblich aller­größten Freund?
Wer traut dem unaufhörlich grinsenden US-Präsidenten Clinton noch die Fähig­keit zu, einen überzeugenden Plan anzu­bieten, um zumindest sein Gesicht zu wahren? Clinton scheint rettungslos über­fordert in seinem Amt, weiß angesichts der wachsenden Anzahl von Flüchtlingen aus Haiti und Kuba weder ein noch aus. Innenpolitisch gerät er zunehmend unter Handlungsdruck – schließlich sind bald Halbzeitwahlen in den USA.
Überhaupt scheint in Washington ein wil­des Durcheinander zu herrschen: Stel­lungnahmen verschiedener Regierungs­funktionäre widersprechen sich teilweise diametral, von dem Haiti-Sonderbeauf­tragten William Gray ist seit Wochen nichts mehr zu hören. Der Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses im Reprä­sentantenhaus, der Demokrat Lee Hamil­ton, sagt, das Parlament folge den Plänen der Entsendung einer 10.000 Mann star­ken Invasionstruppe nur sehr widerwillig und skeptisch. Der republikanische Sena­tor Richard Lugar bezeichnet ein bewaff­netes Eingreifen als einen “historischen Irrtum”. – Der “historische Irrtum” kann doch allenfalls darin liegen, Mr. Lugar, daß die von US-Streitkräften ausgebilde­ten haitianischen Militärs überhaupt je­mals so viel Macht und Einfluß erhalten haben. – Vielleicht dient das ganze wortreiche Geplänkel in den Vereinigten Staaten auch nur dazu, von ganz anderen gesamtkaribischen Überlegungen – Stich­wort Kuba – abzulenken?
Aristide: kompromißbereit bis zur Selbstaufgabe?
Und wie steht es um Aristide selbst? Ist es politisch, moralisch, ethisch noch zu rechtfertigen, daß an seiner Wiedereinset­zung mit allen Mitteln festgehalten wird? Wie kann er mit den jahrelangen Demüti­gungen, den permanenten Vertrags- und Vertrauensbrüchen von so vielen Seiten zurechtkommen? Welche Spuren in seiner Seele hinterlassen die täglichen Morde an Menschen, deren einziges Verbrechen es ist, als Sympathisanten seiner Politik zu gelten? Wie wirken Zeitungsmeldungen wie jene aus jüngster Zeit, wonach Ex-Präsident Bush in Buenos Aires vor ar­gentinischen Bankern heftig gegen eine militärische Invasion zu Felde zog, mit der Begründung, der vor drei Jahren ge­stürzte Aristide sei total unzuverlässig und zu keinerlei Kompromissen bereit? Solche und ähnliche Ungeheuerlichkeiten werden ständig unwidersprochen in den Medien verbreitet, sowohl in den USA als auch anderswo.
Gleichzeitig erscheint Aristide bis zur Selbstaufgabe zu Kompromissen bereit zu sein, um seinem vom Volk erhaltenen Auftrag bis zum verfassungsmäßigen Ende seiner Amtszeit zu erfüllen. Aber entspricht seine derzeitige Rolle, außer­halb Haitis gegen die Diktatur zu prote­stieren, noch dem vom Volk erhaltenen Auftrag? Hätte Aristide nicht längst – spätestens im Dezember ’93, nach dem of­fenkundigen Scheitern des Abkommens von Governors Island – zum militanten Widerstand des Volkes gegen seine Mör­der aufrufen beziehungsweise für dessen Bewaffnung sorgen müssen? Gibt es nicht auch ein christliches Widerstandsrecht?
Vielleicht kommt es letztendlich doch zu dem unwürdigen Moment, daß Aristide auf den Flügeln einer ausländischen Mili­tärmaschine nach Port-au-Prince segelt. Selbst wenn dies geschehen sollte, wird inzwischen so viel Zeit ins Land gegangen sein, daß er es kaum mehr wiedererkennt. Die politische Klasse Haitis wird im We­sentlichen noch dieselbe sein, wogegen die Menschen aus Aristides früherem Um­feld entweder nicht mehr da sein oder mittlerweile mit großer Zurückhaltung auf seine Wiederkehr reagieren werden.
Dem politischem Projekt Lavalas sind so tiefe Wunden geschlagen worden, daß eine Neuauflage dieses basisdemokrati­schen, transparenten und gerechten Ge­sellschaftsmodells auf Jahre hin erschwert sein wird.
Das zarte Pflänzchen Hoffnung, das da vor fast vier Jahren mit der Wahl Aristides erste Wurzeln geschlagen hatte, wurde zu lange von der brutalen Dummheit der Macht und ihren militärischen Stiefeln zertreten, als daß es sich in dem ohnehin verdörrten haitianischen Boden schnell erholen könnte. Ob dies auch für seinen Ableger, die für einen historischen Mo­ment lang wiedergewonnene Würde, gilt, wird sich in den kommenden Wochen und Monaten erweisen. Zur Zeit hat es eher noch den Anschein, als modere diese in den stinkenden Pfützen von Cité Soleil vor sich hin.

Vorwärts, aber nicht vergessen!

Der Polyp und die Demokratie in Guatemala
Am Ende des Zweiten Weltkrieges hatte sich Guatemala endlich von der häßlichen Diktatur Jorge Ubicos befreit, der als der “Napoleon der Tropen” in die Geschichte eingehen wollte. Seine wichtigste Tat hatte 1936 darin bestanden, die einseitigen Verträge mit der US-amerikanischen Ba­nanengesellschaft United Fruit Company für weitere 45 Jahre zu verlängern. Diese Gesellschaft, “El Pulpo” – der Polyp – ge­nannt, hatte zehn Prozent der Böden des Landes unter seine Kontrolle gebracht, ei­gene Straßen, Eisenbahnen, Telephon­netze und Hafenanlagen aufgebaut, brauchte keine Steuern zu zahlen und keine Gewerkschaften zu fürchten.
Die guatemaltekischen Demokraten, die das Erbe Ubicos antraten, wollten das Land ganz sachte und vorsichtig aus sei­nem halb feudalen, halb kolonialen Zu­stand in die Neuzeit führen und zimmerten dafür erst mal eine liberale Verfassung, die einige eher zaghafte Reformen erlau­ben sollte. Der erste Präsident, der Uni­versitätsprofessor Juan José Arévalo, baute Schulen und setzte durch, daß auch die United Fruit Company Gewerkschaf­ten und das Streikrecht anerkennen mußte. Schon das war dem Polypen zuviel. Umso heftiger war die Reaktion, als Arévalo – ganz im Rahmen der Verfassung – nach sechs Jahren das Amt an seinen demokra­tisch gewählten Nachfolger Jacobo Ar­benz abgab. Arbenz war Sohn eines Schweizer Apothekers und als Hauptmann der Armee maßgeblich am Sturz Ubicos beteiligt gewesen. 1952 verkündete er eine äußerst bescheidene Landreform, wie sie auch in der Verfassung vorgesehen war: Die Kaffeeplantagen der während des Weltkrieges ausgewiesenen Deutschen wurden verstaatlicht, und brachliegender Grundbesitz – auch von der United Fruit – wurde an landlose Indios verteilt. Natür­lich wurde Entschädigung gezahlt, aber nur gemäß dem Buchwert, den die ent­eigneten Unternehmen dem guatemalteki­schen Fiskus für die betroffenen Lände­reien selbst gemeldet hatten. Für die Uni­ted Fruit ergab das eine Summe von 600.000 Dollar, was US-Präsident Eisen­hower “traurig unangemessen” fand.
Eisenhower kannte sich gut aus, weil er sich mit Leuten umgeben hatte, die in den Diensten des Polypen gestanden hatten oder noch standen oder gar selbst beteiligt waren. Außenminister John Foster Dulles hatte 1936 als Mitglied des New Yorker Anwaltsbüros Sullivan und Cromwell die Verträge mit Ubico selbst ausgehandelt. Sein Bruder Allen Dulles war Chef des Geheimdienstes CIA. John Moors Cabot, Staatssekretär für interamerikanische An­gelegenheiten, war ein Bruder des Präsi­denten der United Fruit. Henry Cabot Lodge, Botschafter bei den Vereinten Na­tionen, war Großaktionär des Unterneh­mens. Anne Whitman, Privatsekretärin von Eisenhower, war mit dem Leiter der Public-Relations-Abteilung von United Fruit verheiratet. Eisenhower und Dulles kannten sich also aus und forderten das Fünfundzwanzigfache an Entschädigung.
1954: Das Ende der Hoffnung
Präsident Arbenz wollte mit seiner Landreform etwas mehr gemäßigten Ka­pitalismus nach Guatemala bringen, aber das bringt ihm nun den Vorwurf des Kommunismus ein.
Die kleine Kommunistische Partei unter­stützt ihn, und er muß sich bei der wach­senden Opposition der konservativen Oligarchie auf alle Kräfte stützen, die ihm helfen. Während CIA, United Fruit und die Reaktionäre Guatemalas längst die In­vasion planen, wird Arbenz selbst be­schuldigt, die Nachbarländer zu bedrohen: “Die Krakenarme des Kreml sind unüber­sehbar”, warnt John Moors Cabot aus dem Weißen Haus in Washington.
Am Fronleichnamstag 1954 hat Oberst Castillo Armas, an der US-Generalstabs­akademie geschult, mit der Unterstützung von CIA-Offizieren in Honduras genü­gend Kräfte beisammen, um mit etwa 1000 Söldnern, Flugzeugen und Torpedo­booten das schlecht gerüstete und kaum verteidigte Land zu überfallen und in zehn Tagen zu erobern. Vorwand war die Nachricht, daß der schwedische Frachter “Afhelm” im Hafen Puerto Barrios 2000 Tonnen Waffen und Munition aus den tschechischen Skoda-Werken gelöscht hatte.
Diktatoren wie Somoza von Nicaragua, Pérez Jiménez von Venezuela, Rojas Pi­nilla von Kolumbien oder Trujillo von der Dominikanischen Republik preisen bese­ligt den Sieg der Demokratie in Gua­temala. Der Erzbischof von Guatemala, Mariano Rossell Arellano, feiert den Sieg über den “gott- und vaterlandsfeindlichen Kommunismus”.
Jacobo Arbenz muß in der mexikanischen Botschaft um Asyl nachsuchen. Ein junger argentinischer Medizinstudent verbringt diese Tage in Guatemala und versucht, trotz heftiger Asthma-Anfälle, an der Or­ganisation des Widerstands teilzunehmen: Ernesto Guevara, der Che. Er hat diese Er­fahrung nie vergessen: die Macht des Im­periums, den Einfluß des Großunterneh­mens, den Verrat der Oberschicht, den Kleinmut der offiziellen Armee und die Ohnmacht der Indios, die nun wieder ent­eignet wurden.
Demokratische Reformen waren offenbar auf friedliche Weise nicht durchzusetzen, diese Lehre hatten CIA und United Fruit den lateinamerikanischen Reformern er­teilt. Der Che und Fidel Castro haben es dann in Kuba auf andere Weise versucht

Die Ankunft des evangelikalen Zeitalters

Montag Nacht in der Kirche der Wiedergeburt im Stadtzentrum von Sao Paulo. Es ist Jugendgottesdienst. Die Sitze des um-gewandelten Theaters sind an den Wänden gestapelt. Um die 3000 jungen Leute bewegen sich über das leicht schräge Parken. Das junge Publikum kennt die religiösen Rockklänge gut genug, um während der Pausen der Band eine Akapella anzustimmen. Ein Song katalogisiert drei Jahrzehnte internationaler Jugendkultur mit Anspielungen auf die Beatniks, Drogen, Yoga, Naturkost, und Politik (“Müssen wir töten?”), und endet mit der Strophe: “Die Revolution ist Gott, der Vater und sein Sohn Jesus Christ!” Viele der Jugendlichen tragen T-Shirts mit meist englischen Aufschriften, wie: “Be cool, Jesus loves you!” .
Später am Abend wendet sich ein lässig gekleideter Mann um die zwanzig an das Publikum, das mittlerweile auf dem Boden sitzt. Der Seminarstudent bekommt einen besseren Draht zu den Leuten als der schon ältere Prediger. Seine Botschaft ist einfach: “Jesus Christ”, mahnt er. “möchte Teil eures Lebens sein.” Danach kommen zwei oder drei Dutzend nach vorne, um Christus zu akzeptieren, und werden hinter die Bühne geführt, wo sie aufgenommen werden und weitere Anweisungen bekommen. Währenddessen spielt ein bekannter Gitarrist, der ebenfalls Christus entdeckt hat, ein Bluesarrangement auf den 22. Psalm. Wiedergeburtstaumel und Erfolg sind eine Facette der derzeitigen Welle des evangelikalen Protestantismus, die über Lateinamerika schwappt. 1993 bezahlte die Kirche angeblich 2 Mio. US-Dollar für ein Auditorium im Herzen Sao Paulos. Solche Großveranstaltungen sind in Brasilien kaum noch etwas Neues. 1990 bezahlte die von Bischof Edir Macedo geführte Universalkirche des Königreich Gottes 45 Mio. US-Dollar für eine Fernsehstation in Sao Paulo. Macedo kann das Maracaná-Stadion in Rio mit 150.000 Anhängern füllen. Auf einem solchen Zusammenkommen sagte er den Brillenträgern, ihre Augen seien geheilt. Die Brillen wurden eingesammelt und nach vorne gebracht, wo er auf ihnen herumtrampelte.
Linke verharren in alten Denkmustern
Vielleicht aufgrund der Bewunderung der Linken und AkademikerInnen für die Rolle progressiver Teile der Katholischen Kirche in den sozialen Bewegungen, haben sie nur langsam das beträchtliche Anwachsen der Evangelikalen zur Kenntnis genommen. Außerdem wurde versucht das Phänomen in engen reaktionären Begriffen zu sehen, besonders als Guatemalas wiedergeborener Präsident Efraín Rios Montt (1982-83) Massaker der guatemaltekischen Armee rechtfertigte, und US-Fernsehprediger die nicaraguanischen Contras gegen die “gottlosen” Sandinisten unterstützten.
Die wesentlich andere Realität zeigt der Anteil der Protestanten an der Gesamtbevölkerung: Belief er sich noch vor einer Generation auf 2-3 Prozent, erreicht er heute eine kritische Masse um die 15 Prozent (mit großen Unterschieden von Land zu Land). Obwohl die Mehrheit der LateinamerikanerInnen sich bei Umfragen noch immer als KatholikInnen bezeichnet, besuchen nur wenige regelmäßig die Messe. Das Ergebnis ist, daß die Anzahl aktiver protestantischer KirchgängerInnen heute vergleichbar ist mit der Zahl praktizierender KatholikInnen. Die Anzahl praktizierender ProtestantInnen ist jedoch größer als die Zahl der Mitglieder aller anderen ehrenamtlichen Gruppierungen. ob politisch, kulturell oder sportlich, zusammen.
Siegeszug der Evangelikalen in Brasilien
Forscher des Instituts für Religiöse Studien (ISER) in Rio de Janeiro behaupten. daß der evangelikale Protestantismus “die am meisten meinungsmachende Bewegung der derzeitigen brasilianischen Gesellschaft sei, vor allem in den armen Vorstadtbezirken.” ISER fand heraus. daß sich zwischen 1990 und 1992 mehr als 710 Gemeinden im Großraum von Rio etablieren konnten, das bedeutet fünf pro Woche. Während dieser ganzen Zeit hat sich nur eine neue katholische Gemeinde gegründet. Obwohl die traditionellen Kirchen, besonders die Baptisten und die Presbyterianer weiterhin stark präsent sind, waren 90 Prozent der neugegründeten Gemeinden Pfingstgemeinden. In den armen Bezirken war die Proportion der Kirchen zu den BewohnerInnen dreimal höher als in den reichen, in Strandnähe gelegenen Gemeinden.
Aber es wäre ein Fehler anzunehmen, die evangelikale Bewegung wäre eine unaufhaltsame Schwindelei. Trotz guter Organisation einer einwöchigen Evangelisierungskampagne vieler Kirchen in Caracas in der alten Stierkampfarena, konnten sie nicht einmal 1.000 Leute mobilisieren, von denen .die meisten schon Evangelikale waren. Ähnlich plante die Assembleias de Deus in der Karwoche eine Kampagne im Zentrum von Sao Paulo mit dem Ziel, sechs bis zehntausend Seelen für Christus zu gewinnen. Es kamen vielleicht 5000 Leute, die meisten Evangelikale, und jene, die nach vorne kamen um Christus anzunehmen, gingen in die Hundert.
Kürzlich war ich in Sao Paulo. wo die evangelikale Bewegung gut gedeiht, und in Caracas, wo die Protestanten gerade ein Prozent der Bevölkerung ausmachen (für Venezuela insgesamt liegt die Zahl bei vier Prozent). Diese beiden Städte zeigen die unterschiedlichen Züge der evangelikalen Bewegung recht gut.
Protestanten -oder “Evangélicos”,Evangelikale, wie sie sich selbst nennen, sind nicht alle aus dem gleichen Holz geschnitzt. Die traditionellen, wie die Lutheraner, Methodisten, Presbyterianer, Baptisten, und andere sind den entsprechenden Konfessionen in Europa und den Vereinigten Staaten, woher sie auch stammen. sehr ähnlich. Im allgemeinen verstehen diese Kirchen die Bibel kritischer als die konservativen Kirchen, welche die Bibel wortwörtlich interpretieren. Während diese Kirchen als fundamentalistisch bezeichnet werden, steht bei der sich rasch ausdehnenden Pfingstbewegung weniger die Predigt oder eine Doktrin im Mittelpunkt, als vielmehr eine emotionale Erfahrung mit dem Geist Gottes. Diese allgemeinen Kategorien sind aber auf keinen Fall wasserdicht. Pfingstlensche Praktiken haben mittlerweile auch die traditionellen Kirchen durchdrungen.

Die Pfingstgemeinden
Zudem gibt es eine große Vielfalt im Bereich der Pfingstgemeinden innerhalb der protestantischen Kirche. Bischof Macedos Universalkirche beispielsweise drehte die Praxis der meisten protestantischen Konfessionen einfach um. Diese bildeten neue Gemeinden als Folge einer Kirchenspaltung, oder als kleine Missionsgruppen, die zu einer Gemeinde wurden. Eigentum er-warben und darauf aufbauten. Die Universalkirche bildet generell eine Gemeinde auf kommerzieller Basis. Dann erst wer-den Pastoren ernannt, die damit beginnen, Gottesdienste abzuhalten, üblicherweise viermal am Tag, sieben Tage die Woche. Der Pastor muß die Leute zu den Gottesdiensten locken und sie zu Spenden motivieren.
Bei der Universalkirche hat jeder Tag ein Thema: “Wohlstand”, “Familie”, und so weiter. Das Freitagsthema “Befreiung” hat nichts mit sozialer Veränderung zu tun. sondern mit der Befreiung von bösen Geistern Wie jeder andere Gottesdienst an den anderen Tagen, fängt auch dieser mit einer halben Stunde Singen an. Dann
kommt ein halbes Dutzend Leute. vorrangig Frauen, nach vorne. Schon bald fangen sie an zu stöhnen, zu schreien, zu kriechen. Der Prediger schreit die Dämonen an, und führt den Gesang, wobei er immer wieder singt: “Sai! Sai!” (“Geh raus, Geh raus!”). Die Dämonen verschwinden gehorsam, hinterlassen ihre Opferspendabel, und ihre Familien erleichtert. Die Kirche Deus é Amor (Gott ist Liebe). eine Vorgängerin der Universalkirche, wird ebenfalls von einem “caudillo”-Prediger geführt, David Miranda. Sie legt besonderen Wert auf Heilung, und strahlt über hundert Stunden pro Woche Radioprogramme aus. Diejenigen, die die täglichen Gottesdienste in den riesigen warenhausähnlichen Hauptquartieren in der heruntergekommenen industriellen Region auf der anderen Seite des Flusses von Sao Paulo in Anspruch nehmen, sind sichtlich arm.Und diejenigen, die in der Kirche arbeiten, reflektieren wirklich die Kultur der unteren Bevölkerungsschichten, aus der auch sie stammen, im Gegensatz zur Universalkirche. Deren Pastoren sehen aus. als würden sie Autos oder Immobilien verkaufen Viele Menschen nehmen an den Gottesdiensten der Universalkirche oder Deus é Amor teil, wenn sie gerade das Bedürfnis danach haben, sind aber keine aktiven Mitglieder in einer lokalen Gemeinde
Die Congregacao Crista in Brasilien unterscheidet sich in vielerlei von der Universalkirche. Sie hat keinen vergleichbaren Klerus, führt keine Kampagnen, veröffentlicht keine Bücher, sendet keine Radioprogramme und ist nicht politisch. ihre teilweise pfingstlerischen Gottesdienste sind Vorzeigemodelle des Anstandes. So-gar Angehörige der ArbeiterInnenklasse kommen in Anzügen und Kostümen, Frauen und Männer sitzen getrennt. Trotz ihrer ruhigen Art verbreitet sich die Congregacao Crista immermehr in den Vor-orten von Sao Paulo und entlang der großen Highways.
Geballte Kraft
Die größte einzelne Gruppe in Brasilien wie auch andernorts in Lateinamerika sind die Assembleias de Deus, die Versammlungen Gottes. Sie haben heute bereits mindestens acht Millionen Mitglieder, wobei sie selbst von mehr als 12 Millionen sprechen, und haben 35.000 Gemein-den über das ganze Land verstreut. Sie bilden die größte protestantische Glaubensrichtung in jedem “katholischen” Land. und haben mindestens viermal so viele Mitglieder wie die anglikanische Kirche in England. so der britische Forscher Paul Freston. Die Assernbleias haben mittlerweile einen beeindruckenden Grad an Organisation erreicht. Ich war dabei, als sich 1.100 Geistliche aus dem Großraum S5o Paulo zu ihrem monatlichen Gebet und Planungstreffen versammelten. Als eine Konsequenz ihrer schieren Größe haben sie zu ganz anderen Geldquellen Zugang als die anderen, kleineren Kirchen.
Die weitbewunderte Las Acacias-Kirche in Caracas unterscheidet sich deutlich von den oben genannten brasilianischen Kirchen, und auch von den meisten Pfingstgemeinden in Venezuela. Der Gottes-dienst ist zwar auch pfingstlerisch, aber es gibt immer wieder Momente der Ruhe und des Sich-Sammelns, und die Eindringlichkeit der Predigt wird nicht in Dezibel gemessen. Im Gegensatz zu den strengen Regeln in vielen evangelikalen Gemeinden, die das Rauchen, Tanzen. Alkohol, Filme und Fernsehen verbieten, und einen Kleiderzwang auferlegen (vor dem für Frauen), überläßt es Las Acacias ganz dem Ermessen ihrer Mitglieder. Sie betont vor allem die positive Auswirkung des Glaubens auf das Leben jedes einzelnen. Manche Beobachterinnen lehnen Las Acacias als eine MitteIklassen-Kirche ab, obwohl sie in Wirklichkeit klassenüber- greifend ist. Aber viel wichtiger ist, daß sie eine Alternative zu der Rigidität vieler anderer evangelikaler Kirchen bietet.
Diese Vielfalt an Stilen ist die Stärke des lateinamerikanischen Protestantismus. Innerhalb eines katholischen Pfarrbezirks in Sao Paulo, gibt es ein Dutzend und mehr protestantischer Gemeinden, deren Band- breite von den traditionellen bis zu unabhängigen Konfessionen reicht. die sich von einer größeren Pfingstkirche abgespaltet haben.
Finanzielle und intellektuelle Abhängigkeit von den US-Rechten
Die Linke und die progressiven Katholiken sind erschreckt und befremdet über diese rapide Expansion einer, wie sie sagen, fremden Religion. Sie sind versucht dieses evangelikale Anwachsen einer bewußten US-Regierungsstrategie unter Reagan und Bush zuzuschreiben, und der starken finanziellen Unterstützung der religiösen Rechten in den USA. Und tatsächlich werden die evangelikalen Gemeinden nachhaltig von den großzügigen Beiträgen ihrer Mitglieder finanziert, von denen erwartet wird, daß sie ein Zehntel ihres Einkommens an die Kirche geben, was sie auch tun. Die Katholische Kirche ist da weitaus abhängiger von finanziellen Mitteln von außen -primär aus Europa -als die Evangelikalen. Ein Bereich, indem auch die evangelikalen Gemeinden ab- hängig sind. ist der intellektuelle Bereich. Um ein Beispiel zu geben: 1991 wurden 70 Prozent der 585 in Brasilien publizierten evangelikalen Bücher von ausländischen AutorInnen geschrieben.

Orientierungshilfen
Die meisten der linken und katholischen KritikerInnen scheinen nie einen Schritt in eine evangelikale Kirche getan zu haben, um selbst einmal zu beobachten und ein Verständnis davon zu bekommen, was Millionen armer Leute in ihre Reihen zieht. Ihre Anziehung kommt durch die Intensität des Gebets, und eine einfache, verständnisvolle Botschaft, die dem ganzen Chaos der sie umgebenden Situation einen Sinn gibt. Strenge moralische Verhaltensweisen ermöglichen eine Orientierung. die in mancher Hinsicht einen Rückschritt zu den strengmoralischen Werten kleinbäuerlicher Gesellschaften darstellt. Eine Gemeinschaft, in der sich die Leute gegenseitig Brüder und Schwestern nennen, und ein Gefühl von Selbstrespekt vorhanden ist. Auch wenn den evangelikalen Kirchen oft vorgeworfen wird, sie wären ausländische Importe, scheinen sie in den armen Bezirken der Volkskultur näher zu sein, als die Katholische Kirche. Die meisten protestantischen Geistlichen kommen aus derselben Schicht und Kultur wie die anderen aus der Gemeinde. Die Mehrzahl der progressiven katholischen Priester dagegen versuchen, die “Option für die Armen” zu bieten, leben aber in einer anderen kulturellen Welt und Schicht. Die “Option für die Armen”, die für die Erneuerungsbewegung der Katholischen Kirche in den Sechzigern steht, fand ihren Ausdruck in einer neuen Form pastoraler Arbeit, was auch die Verteidigung der Menschenrechte und die Zusammenführung von Basisgemeinden beinhaltete. Kleine Gruppen, die sich zum gemeinsamen Gebet, Diskussionen und Bewußtseinsbildung trafen. All das war unterlegt von einer Theologie der Befreiung. Progressiver Katholizismus war noch nie eine Massenbewegung, obwohl er qualitativ sehr wichtig war, vor allem in seiner Oppositionsrolle, die er während der Militärdiktaturen einnahm und bei den Kämpfen in Zentralamerika, wo nur eine kleine Minderheit daran teilnahm. Auch wenn es in Brasilien wirklich 80.000 Basisgemeinden mit jeweils mindestens 25 Mitgliedern gibt, beträgt ihre absolute Anzahl an AnhängerInnen gerade mal 2 von 160 Millionen. Und neuere Forschungen sehen diese Zahlen sogar als überhöht an.
Befreiungstheologie in der Krise
Diese Strömung innerhalb des Katholizismus ist aber in einem gewissen Maß in eine Krise geraten. Die Ernennungspolitik des Vatikan, der seit zehn Jahren konservative Bischöfe ins Amt beruft, verbunden mit massiven Druck gegen die Befreiungstheologen, hatte ihren Preis. Die Krise sitzt tiefer, und hat etwas mit dem Aufeinanderprallen der in das Befreiungsprojekt gesteckten Hoffnungen und den gegenwärtigen Zukunftsaussichten der lateinamerikanischen Gesellschaft zu tun. Christliche Basisgemeinden, so die Worte eines brasilianischen Theologen, hätten der “Ausgangspunkt für eine soziale Revolution sein können, die zu einer neuen Gesellschaft geführt hätte. In den Basisgemeinden zu arbeiten hieß, die Zukunft einer neuen lateinamerikanischen Gesellschaft vorzubereiten.” In den 90ern sind diese utopischen Träume, die im Klima der Militärdiktatur genährt wurden, an
dem scheinbar universellen Triumph des Kapitalismus, an der Krise des Marxismus und an dem Zurückdrängen linker Themen zu reformistischer Sozialdemokratie zerplatzt. Venezuelas progressive Katholiken, die nie eine vergleichbare Phase des Widerstands gegen eine Militärdiktatur hatten, und deren Hoffnungen vielleicht weniger utopisch sind, sind weniger in der Krise als die Brasilianischen.

Religiöser Pluralismus
In jedem Fall kommen diejenigen. die sich zum Protestantismus bekehren, nicht aus den christlichen Basisgemeinden, sondern aus der großen Mehrheit derer, die nur beiläufig Kontakt zur Katholischen Kirche haben. Die zum Protestantismus Bekehrten gehörten nie fest zur Katholischen Kirche im Sinne aktiver Gemeindemitgliedschaft. So ist es wohl auch richtiger davon zu sprechen, daß sich Lateinamerika in religiöser Hinsicht zum ersten Mal pluralistischer zeigt, und nicht “protestantischer wird”. Selbstverständlich haben schon immer andere religiöse Anschauungen, vor allem afrobrasilianische Religionen und ähnliche Formen hinter der katholischen Fassade prächtig geblüht.

Das aufkommende protestantische Zeitalter aber markiert das Ende einer katholischen Hegemonie.
Als direkte Folge ihrer Masse an Mitgliedern stellt die protestantische Bewegung nicht zuletzt auch eine potentielle politische Kraft dar. Ohne seine evangelikale Identität hätte Jorge Serrano wohl nicht Präsidentschaftskandidat in Guatemala werden können, und Alberto Fujimori warb bei den Präsidentschaftswahlen 1990 in Peru offen um die Stimmen der Evangelikalen. Evangelikale Abgeordnete repräsentieren mittlerweile den wichtigsten Block im brasilianischen Kongreß.
Protestantische politische KandidatInnen sind stärker vertreten als jemals zuvor. Die Botschaft an ihre AnhängerInnen ist, daß der Moment gekommen sei, und da5 die evangelikale Bewegung ein Recht auf politische Repräsentation hätte. Sie versuchen große Teile der Bevölkerung davon zu überzeugen, daß ihre evangelikale Politik sich von der machtgierigen und korrupten Politik herkömmlicher Politiker- Innen absetzt (ein Anspruch, der nicht viele Jorge Senanos überleben wird). Einige protestantische Führungsköpfe sehnen sich nach einer gesellschaftlichen Stimme wie die der katholischen Bischofskonferenz. Da aber die meisten lokalen Pastoren nicht die Notwendigkeit einer derartigen Stimme sehen. und auch nicht eine zentrale evangelikale Dachorganisation anerkennen, ist die Unterstützung recht gering.
Die Konservativen haben sich rasch das Argument des britischen Soziologen David Martin zu eigen gemacht, wonach der Protestantismus letztendlich durch die Überwindung des kapitalismusfeindlichen Katholizismus helfen könnte, die Modernisierung Lateinamerikas voranzutreiben. In einem Artikel über den lateinamerikanischen Protestantismus in dem Magazin “Forbes”, ein Magazin. daß normalerweise weder Lateinamerika noch Religion beachtet, freute man sich hämisch darüber, daß “der kulturelle Umbruch durch das Anwachsen der Evangelikalen “nichts anderes ist, als die andere Seite der ökonomischen Transformation”, und “zeigt solide Anhaltspunkte für die Zukunft, einer kapitalistischen. bürgerlichen Zukunft, und keiner marxistischen oder traditionellen.”

Nicht rechts, nicht links, sondern religiös!
Im Gegensatz zur öffentlichen Meinung sind nicht alle Evangelikalen konservativ. Eindeutiger Hinweis dafür ist die Mitgliedschaft von Evangelikalen in der linken Arbeiterpartei Brasiliens, der PT. Hier ist ihr Anteil nur ein bißchen geringer als ihre Präsenz in der brasilianischen Gesellschaft. Benedita da Silva zum Beispiel, die schwarze Sozialarbeiterin, die in den Kongreß gewählt wurde. und 1992 beinahe das Rennen um das Bürgermeisteramt Rio gewonnen hatte. ist aktives Mitglied in der Assembleias de Deus.
Wenn man sich überlegt, daß für 15 Prozent der lateinamerikanischen Bevölkerung der protestantische Glaube von Bedeutung ist, erkennt man. daß diese Kirchen eine wichtige Rolle in der Gesellschaft spielen. Und selbst wenn ihre Theologie für ein soziales Engagement eher demotivierend ist, könnte sich ihre politischer Stellung noch weiter ausbauen. In einigen theologisch-konservativen Kreisen hört man die Behauptung, daß die versprochene Erlösung durch Christus “umfassend sei: Das bedeutet, daß es nicht nur die “Seele” betrifft, sondern die gesamte Person, und somit auch die Gesellschaft. Diese Position ist analog zur Position im römischen Katholizismus, die die Grundlage für soziales Engagement und für die Befreiungstheologie legte. Eine Gruppe konservativ-protestantischer Theologen. die sich 1988 in Medellín versammelten, kritisierten zwar die Befreiungstheologie, gestanden aber ein, daß es Evangelikale bei weitem daran fehlen lassen, sich sozialen Mißständen zuzuwenden. Das abschließende Dokument dieser Zusammenkunft rief zu mehr Verbindlichkeit bei sozialen Themen auf.
Wenn die lateinamerikanische Linke nach dem Kalten Krieg dabei ist, Bündnisse mit anderen gesellschaftlichen Gruppen zu schließen um Alternativen zum Neoliberalismus zu finden. muß sie die Stereotype bezüglich evangelikaler Kirchen fallen lassen. Es ist höchste Zeit, daß die Linke endlich diese religiösen Bewegungen ernstnimmt, die sie bisher nur verspottet, ignoriert oder distanziert wahrgenommen hat.

Beny Moré – “Der Barbar des Rhytmus”

Seine Boleros tragen die Schwermut tropischer Abende oder die Melancholie der bleiernden Herbsttage Havannas. Seine Stimme dabei ist wie das Rauschen von Brandung, von Palmenblättern ( – “como arullo de palma”) oder wie die Brise eines Ventilators; manchmal auch wie das Klagen der stürmischen Karibik, unterstützt von seufzenden, oft sogar gellenden und schmetternden Metallbläsern. Seine Sones, Guajiras und Mambos haben den Geschmack von Tabak und Rum, aber von Rauch und Besäufnis in Spielhöllen und Tanzhallen der großen Stadt. Das unterscheidet Moré von Matamoros, Portabales oder Celina González, den musikalisch schollenverbundenen Soneros der guateques campesinos, die den Sonnenaufgang in Oriente besingen oder das vom Mondlicht silbern gezeichnete Tal, die Machete des Zuckerrohrschneiders oder die kleine weiße Hand, die zum Abschied aus dem bohío winkt. Beny Moré tauscht gewissermaßen die Bauernhütte aus Stroh gegen eine Suite im Hotel Nacional, als er in Havanna ein Engagement als Sänger bei Miguel Matamoros bekommt. (Matamoros führt den kubanischen Bolero später als Folklore in New York auf, obwohl dort kubanische Musik, wie auch die Fusion des “Cubop” von Gillezpie und Bauzá, nicht sehr geschätzt und gehandelt wird, weil sie schwarz ist). Aber spätestens in Mexiko (dort ist kubanische Musik beliebter) erkennt Moré als erfinderisches Talent, daß Matamoros seine klassischen Son- und Bolero-Arrangements niemals ändern will; der Sänger löst sich von der Gruppe und wird, noch in Mexiko, durch die Begegnung und künstlerische Zusammenarbeit mit Dámaso Pérez Prado und seinem Orchester “amerikanisiert” – ohne jedoch selbst jemals seine Cubanía in die USA zu bringen (wie Mario Bauzá und Chano Pozo). Der Ruhm einiger Lieder in den USA (die tanzbaren Fast-Step-Nummern wie “Mambo Nr. 5”) bleibt später allein dem Mambo-Erfinder und “König” Pérez Prado vorbehalten, mit seinen quirligen Klaviereinlagen, der donnernden Perkussion und den schrillen Bläsersätzen. Moré, nur der “Prinz” des Mambo, verleiht der Big Band von Pérez Prado vorerst seine Stimme und das exotische Kolorit der Afrocubanía: Guaguancó-Schritte und Hahnenschreie als wichtiger Bestandteil der musikalischen Dramaturgie einer Mambo-Orchester-Show. Dadurch ist der Sänger in Mexiko (hier sogar als Schauspieler), Panama, Kolumbien oder Venezuela bekannter als in Kuba selbst, jedenfalls bis 1950, dem Jahr seiner Rückkehr, oder vielleicht bis 1951, als Moré im Fernsehkanal “Oriental” auftreten kann und sich das Publikum mit seiner vieltönigen Stimme, seinen spontanen, aber rhytmisch scheinbar ausgeklügelten Ausrufen und seinen schnellen Tanzschritten erobert: Die alten Sextette aus Oriente erreichten ihren Durchbruch mit dem Radio und der aufkommenden Plattenindustrie, aber Beny Moré wird durch das Fernsehen als neuem Medium populär und entwickelt sich zum Showmaster des Son. Beny Moré behält sein afrikanisches Erbe (der Nachname geht auf versklavte Vorfahren der Mutter zurück), respektiert die musikalische Tradition der alten Provinz Oriente (Sones und Guajiras), und setzt eigene Innovationen, aber auch den Einfluß amerikanischer Big Bands hinzu (“Beny Moré y su Banda Gigante”). Beny Moré ist bárbaro im doppelten Sinne: Sowohl als Meister des Rhytmus und der Erneuerung (also des Mambo) wie auch als Bauer/guajiro aus Oriente, der keine Noten lesen kann und schon mit zwölf Jahren die Schule verlassen muß, um Zuckerrohr zu schneiden. Verschieden sind deshalb auch die Plattencover, für die er posiert: einmal singend unter Bananenstauden mit Gitarre und Strohhut, neben Schaufel, Machete und einer linden guajira; dann in einem offenen amerikanischen Zweisitzer am städtischen Malecón, mit Congas und Gitarre, Anzug, Fliege und (wieder) Strohhut. Das gelbe Nummernschild des Automobils trägt die Aufschrift “Particular”, und das heißt, Beny Moré ist, anders als viele berühmte kubanische Musiker, nach der Revolution im Land geblieben, obwohl die meisten Musiklokale geschlossen wurden (Che Guevara hatte eine bekannte Abneigung gegen die garitos und bevorzugte humanistische Lektüre), aber Beny Moré läßt sich von Kuba inspirieren und ein Kubaner, coño, gehört nun mal nach Kuba. In den Boleros von Moré liegt, wie gesagt, alle tropische Schwermut oder die der Tanzhallen ab 4 a.m.; in seinen Sones und Mambos liegt die Bewegung der Tanzenden eher als die der Feldarbeiter, seine Musik riecht nach Tabak und Rum, doch weniger nach Anbau und Ernte als nach Verbrauch und Genuß. Beny Moré stirbt an Rum und Tabak und Kuba (wie Chano Pozo, paradise lost, an den Drogen New Yorks), aber mit der Tragik und Sinnlichkeit seiner Boleros, unerwartet, im Jahr 1963. In Havanna, New York und anderswo huldigt man ihm wie einem orisha der Santería; Tito Puente erhält einen Grammy (den einzigen für die entstehende Salsa) ausgerechnet für seine musikalische “Hommage an Beny Moré”, und Celia Cruz sieht zum Himmel auf und singt (begleitet von Pacheco): Beny Moré – en gloria esté!

Notmaßnahmen und Putschgerüchte

Die Einführung der Devisenbewirtschaf­tung durch Präsident Caldera ist der ver­zweifelte Versuch, die schwere Finanz­krise unter Kontrolle zu bekommen, die Venezuela seit Anfang des Jahres erfaßt hat. Das Vertrauen in das nationale Ban­kensystem ist zusammengebrochen, die Devisenreserven sind durch Kapitalflucht geplündert. Die venezolanische Währung, der Bolívar, hat seit Anfang des Jahres ra­pide an Außenwert verloren. Entsprachen im Januar einem US-Dollar noch 90 Bolí­vares, mußten am 23. Juni schon 200 Bolí­vares für einen Dollar hingelegt werden. Gleichzeitig hat auch der Bin­nenwert in­folge der kräftig anzieh­enden Inflation von inzwischen etwa 70 Prozent stark ge­litten. Alle Stabilisierungs­versuche ohne Devisenkontrolle schlugen fehl, weshalb nun zur Devisenbewirt­schaftung gegriffen wurde.
Die ansteigende soziale und politische Unruhe untergrub die Stabilität der Regie­rung. Es war erneut die Rede von Militärputsch, immer häufiger kam es zu StudentInnenunruhen und anderen Protest­aktionen. Das erleichterte Aufatmen nach dem Wahlsieg Calderas im Dezem­ber und die stumme Hoffnung auf eine zwar langsame, aber sichere Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Verhält­nisse, die die Bevölkerung auf diesen al­ten und bewährten Politiker gesetzt hatte, ist in steigenden Zorn und Ungeduld um­geschlagen. Die erwarteten mutigen Re­formen sind nicht eingetreten, wobei die Regierung keine rechte Klarheit darüber herstellte, in welcher Weise sie vorge­nommen werden sollten, da die traditio­nellen Machtinteressen in ihr stärker ver­treten sind, als das wohl der Wunsch der WählerInnen gewesen ist.
Immer im Mittelpunkt: die Ölindustrie
Die Veränderungen in der Weltwirtschaft und der Druck zur Öffnung der nationalen Wirtschaft gegenüber den internationalen Märkten haben in Venezuela einen beson­deren Stellenwert. Das Land lebt von der Ausbeutung großer Rohstoff-Lagerstätten, vor allem dem Erdöl, daneben Eisenerz und Aluminium, neuerdings kommt Kohle hinzu. Die Erdöl-Exporte sind trotz der gesunkenen Preise weiterhin die wichtig­ste Devisenquelle und auch die wichtigste Einnahmequelle für den Staatshaushalt, wenn auch die relative Bedeutung abge­nommen hat. Daher ist die Stellung der Ölindustrie in der nationalen Wirtschaft erneut eine zentrale politische Frage.
Seit der Nationalisierung von 1975 ist die Ölindustrie in einer großen Staatsholding, PDVSA, zusammengefaßt, als oberste Verwaltungsinstanz der verschiedenen Nachfolgegesellschaften der großen aus­ländischen Unternehmen (Lagoven (Esso), Maraven (Shell) etc.). Die Übernahme der schon existierenden Strukturen der Ölkon­zerne erleichterte den Übergang in die staatliche Verwaltung und stützte sich auf die venezolanischen Techniker und Ange­stellten mit anerkannt sehr hohem Quali­fikationsniveau. PDVSA ist also das Un­ternehmen, das den venezolanischen Staat in der Ölindustrie vertritt. Allerdings be­steht daneben weiterhin das Ministerium für Energie und Bergbau, das als eigentli­che Regierungsinstanz die Kontrollfunk­tion innehat.
Ölmärkte: Strategische Planungen
PDVSA verfolgte in den vergangenen Jahren eine Politik der “Internationali­sierung”, der strategischen Ausdehnung der venezolanischen Indu­strie in die aus­ländischen Konsumenten­märkte durch den Aufkauf oder die Betei­ligung an Ver­marktungsorganisationen für Erdölpro­dukte in den USA, Kanada und Europa (Citgo, Veba etc.). Diese Strategie basiert auf der Erkenntnis, daß die neue Situation auf dem Erdölmarkt mehr auf die Sich­erung von Märkten auszurichten ist als auf die Strategie der hohen Preise. Eine wei­tere Überlegung venezolanischer Wirt­schaftsplanerInnen läuft darauf hin­aus, daß der Konsum von Erdöl als Ener­gie­träger in den nächsten Jahren eher sta­gnie­ren oder sogar sinken werde, so daß es “sich nicht lohnt”, das ganze Erdöl im Bo­den zu lassen und auf höhere Preise zu warten, sondern es besser ist, jetzt größere Mengen abzusetzen, solange es noch wirt­schaftlich interessant ist.
Eine weitere wichtige Überlegung von PDVSA geht dahin, daß die bisher er­schlossenen Erdöllagerstätten bald er­schöpft sein werden und es daher notwen­dig ist, die Industrie mit kräftigen Neuin­vestitionen auf den modernsten techni­schen Stand zu bringen. Im Bewußtsein der venezolanischen Regierungen und der Bevölkerung ist die Ölindustrie im we­sentlichen als eine Einnahmequelle für Devisen präsent, kaum aber als integraler Bestandteil der venezolanischen Industrie, so daß viele WirtschaftheoretikerInnen immer noch die Öleinnahmen und die hinter ihr stehenden Industrieinvestitionen als “nicht-nationale Wirtschaft” einstufen.
So entstand der Konflikt zwischen PDVSA und der Regierung dadurch, daß die Konzernführung beanspruchte, auch in Sachen Besteuerung wie eine ganz nor­male Industrie behandelt zu werden, um weiterhin adäquat funktionieren zu kön­nen. Die Ölindustrie wird traditionell mit einem besonderen Steuersatz belegt: Wäh­rend die “normalen” Unternehmen maxi­mal 34 Prozent Steuern bezahlen, erhebt der Staat bei im Erdölsektor tätigen Be­trieben 67 Prozent. Diese Aufspaltung stützt sich darauf, daß die Erdölindustrie besonders hohe Gewinne machen kann, weil die Preise für ihre Produkte im Aus­land durch die spezielle Form der Preis­bildung (Renten) besonders hohe Gewinn­spannen ermöglichen. Die Abschöpfung dieser hohen Gewinne, die man als natio­nales Eigentum und nicht als Privatge­winn des Unternehmens betrachtet, wer­den über ein historisch entwickeltes Sy­stem von Produktionssteuern (royalty von mindestens 16,6 Prozent des Produkti­onswertes) und Einkommensteuern vor­genommen. Die Einkommensteuerrege­lung, seit 1943 als flexible Maßnahme in Händen der Regierung gegen die auslän­dischen Unternehmen eingeführt, blieb nach der Nationalisierung bestehen. Der Staat hat seitdem auch noch stets weitere Zugriffe auf das Geldvermögen des Kon­zerns unternommen, wenn er in finanzielle Schwierigkeiten geriet. PDVSA behauptet nun, dies habe zu einer unzureichenden Kapitaldecke geführt, die die Eigenfinan­zierung der Investitionen zur Modernisie­rung und Ausdehnung der Produktionska­pazitäten unmöglich mache.
Abbau von Errungenschaften
Dagegen entwickelte sie zwei Strategien: die Forderung nach Abschaffung des be­sonderen Steuersatzes für Erdöl und die strategische Verbindung mit ausländi­schen Unternehmen, die neueste Techno­logien beherrschen und mit ihr in joint ventures bestimmte Lagerstätten und Erdöltypen (superschweres Öl sowie Bi­tumen, die sogenannte orimulsión) so­wie Erdgas ausbeuten sollen. Das erste Projekt unter dem Namen Cristóbal Co­lón wurde bereits vertraglich fest verein­bart, ohne allerdings umgesetzt worden zu sein.
Als sehr bedenklich wird von Beobachter­Innen kritisiert, daß die Verträge mit dem ausländischen Unternehmen wesentliche Errungenschaften der venezolanischen Ölpolitik dieses Jahrhunderts über Bord geworfen haben. Zum einen versichert Lagoven in einer Sonderklausel als unter­geordnetes Unternehmen von PDVSA, daß alle im Vertrag festgelegten Zahlun­gen fest bestehen bleiben und keine weite­ren hinzukommen dürfen. Sollte die Zen­tralregierung, die Landesregierung oder die Gemeinde durch irgendwelche Steuern oder Abgabenveränderungen höhere La­sten beschließen, müsse Lagoven (also der venezolanische Staat) den ausländischen Partner dafür entschädigen. Dies schränkt die venezolanische Steuerhoheit ein, die 1943 gegen die Ölkonzerne erkämpft werden konnte. Außerdem sieht der Ver­trag die Schlichtung von Streitigkeiten vor internationalen Instanzen vor, auf jeden Fall nicht vor venezolanischen Gerichten, was wiederum einen schweren Rückschritt für die venezolanische Souveränität be­deutet, die seit dem Beginn der Ölaus­beutung Anfang des Jahrhunderts die ve­nezolanische Justiz zuständig bleiben ließ. Ferner wurde für die PartnerInnen der “normale” Höchststeuersatz von 34 Pro­zent festgelegt, also auf diese Weise für sie die Ölsteuer abgeschafft, während der Partner Lagoven weiterhin den erhöhten Satz von 67 Prozent zahlen muß. Alle späteren Veränderungen über Steuern etc. müßten also an das ausländische Unter­nehmen zurückbezahlt werden und zwar nach Maßgabe internationaler Gerichts­barkeit.
Der Cristobal Colón-Vertrag wurde unter der Regierung von Ramón J. Veláz­quez, dem Interimspräsidenten, und unter Ausübung von vom Parlament erteilten präsidentiellen Ausnahmerechten unter­zeichnet. Es gab zwar heftige Kritik von Seiten der KennerInnen der Ölproblema­tik, aber ihre Kritiken fanden weder bei der Regierung noch in der Öffentlichkeit Gehör: Die Regierung und der Kongreß verlassen sich auf die hohen PDVSA-Funktionäre, während die Abgeordneten meist nichts von der Materie verstehen und sich durch Reisen und sonstige Einla­dungen leicht Sand in die Augen streuen lassen.
Der erwähnte Vertrag hat eine tiefe Bre­sche in die venezolanische nationalistische Gesetzgebung geschlagen und gilt nun als Modell für weitere Assoziationsprojekte. Von Seiten der internationalen Ölindu­strie, von PDVSA und von der “Camara Venezolana del Petróleo”, der Sprecherin der privaten Erdölinteressen im Land, wird heftiger Druck ausgeübt, um rasch die Reform der Ölgesetzgebung zu errei­chen. Ziel ist, die Ölindustrie auf allen Ebenen zu privatisieren und die Steuer­sätze zu senken.
Ächzen und Knirschen im Finanzsystem
Das venezolanische Finanzsystem geriet seit Anfang 1994 in den Strudel der Ka­pitalflucht, der Abwertung und der Ban­kenzusammenbrüche, Folgen der andau­ernden Krise des wirtschaftlichen und po­litischen Systems. Die Zentralbank wen­dete den Abwertungsmechanismus des crawling peg an, durch den der Bolívar gegenüber dem US-Dollar täglich zu ei­nem vorab festgelegten Prozentsatz abge­wertet wurde, um den AkteurInnen Pla­nungssicherheit bezüglich des zukünftigen Wechselkurses zu geben. Mit einer über der Abwertungsrate liegenden Verzinsung sollte eine weitere Kapitalflucht vermie­den werden. Über die Ausgabe von spe­ziellen Staatsanleihen, den sogenanten Ze­robonds, sollte die umlaufende Geld­menge reduziert werden.
Was monatelang gut ging, stellte sich schließlich als struktureller Sprengstoff heraus: Die bis auf 80 Prozent steigende Zinsrate verteuerte die Kreditaufnahme, so daß die Investitionen in die produzie­rende Industrie stetig zurückgingen. Die wirtschaftliche Stagnation mit gleichzeitig steigender Investition in nicht-produktives Sachvermögen erhöhte ständig das spe­kulative Finanzkapital, und die Banken konnten ihre Zinszahlungen an die Einle­gerInnen immer weniger bedienen, da sie nur aus spekulativen Bewegungen Ein­nahmen bekamen.
Die Lawine ins Rollen brachte je­doch die politische Seite. Noch vor dem Antritt der neugewählten Regierung Caldera be­schloß die Regierung Veláz­quez im Janu­ar, die drittgrößte Bank des Landes, die Banco Latino, unter dem Vorwurf schwe­ren Betrugs und der Zah­lungsunfähigkeit unter staatliche Kontrolle zu stellen. Als politisch wurde dieser Schritt angesehen, weil die Banco Latino des verstorbenen Ex-Finanzmini­sters Pedro Tinoco einer der Standpfeiler des abgesetzten Präsidenten Carlos An­drés Pérez war, der trotz des gegen ihn laufenden Prozesses und seiner Entmach­tung noch weiterhin aktiv am politischen Spiel teilnahm. Die führenden Manager der Bank und einer Reihe angeschlossener Banken wurden per Haftbefehl gesucht und flohen teilweise ins Ausland. Die Schließung der Bank während mehr als einem Monat sorgte in manchen Orten, in denen sie die wichtigste lokale Banknie­derlassung gewesen war, dafür, daß die Wirtschaft ins Stocken geriet. Viele alte Menschen, denen man besonders hohe Zinsen angeboten hatte, sahen ihre Er­sparnisse und somit den Unterhalt für ih­ren Lebensabend gefährdet.
Flucht in den Dollar
Um die Folgen dieser Intervention zu mil­dern, wurden die Ersparnisse und kleine­ren Guthaben garantiert und nach und nach voll ausbezahlt. Sogar Inhaber gut gefüllter Konten erhielten bis zu 10 Mil­lionen Bolívares (ca. 100.000 DM) aus­bezahlt, was darüber ging, wurde als An­teil kapitalisiert. Die Bank wurde unter staatlicher Regie wieder eröffnet, und der Präsident rief wiederholt die Bürger zu Vertrauen auf. Die große Gefahr schien nun zu sein, daß ein Vertrauensverlust ge­genüber der nationalen Währung die Dol­larisierung in Gang bringen würde und viele versuchen würden, noch schnell alles Geld in Devisen zu tauschen und aus dem Land zu schaffen. Da mit der Banco La­tino auch die Schwäche der meisten ande­ren mittleren Banken bekannt wurde, be­gann die Regierung mittels einer Banken­stützung, den wackligen Instituten wach­sende Zuschüsse zu geben, um ihr Funk­tionieren aufrechtzuerhalten. Die dazu verwendeten Mittel beliefen sich zuletzt auf etwa die Hälfte des gesamten Staats­haushalts von 1994 und waren letzten En­des nur durch Geldschöpfung der Zentral­bank aufzubringen.
Als die noch unter Carlos Andrés Pérez ernannte Präsidentin der Zentralbank, Ruth de Crivoy, Anfang April ihren Rücktritt erklärte, führte dieser Schritt zu einer Welle von Kapitalflucht und einem dramatischen Absinken der Devisenreser­ven. Grund für den Rücktritt de Crivoys war, daß sie die Absicht der Regierung, den Mechanismus des crawling peg auf­zugeben, die Zinsen zu senken und die Zero-Bonds durch konventionelle Staats­anleihen zu ersetzen, als eine unzulässige Einschränkung der Hoheit der Zentralbank ansah. Alle Versuche der Regierung, das Vertrauen der KapitalbesitzerInnen wie­derzugewinnen, blieben erfolglos. Auch die Entlassung aller MinisterInnen, die den Privatisierungen, der neuen Erdölpo­litik und der grenzenlosen Stützung der Banken ablehnend gegenüberstanden, half nichts. Als dann im Juni weitere acht Banken unter staatliche Aufsicht gestellt wurden und die verbliebenen Banken nicht mehr aus der Gerüchteküche heraus­kamen, stieg der Dollar auf über 200 Bo­lívares, und die Regierung entschloß sich zu dem zu Anfang erwähnten drastischen Schritt.
Mit Küchenschaben
an die Macht
Nach zwei gescheiterten Putschversuchen verschiedener Armee-Fraktionen 1992 war es schließlich ein Prozeß wegen Kor­ruption im Amt, der Präsident Carlos Andrés Pérez (CAP) Mitte 1993 aus dem Amt entfernte. Dabei spielte der Oberste Staatsanwalt Ramón Escobar Salóm die Rolle des Anklägers, der Oberste Ge­richtshof gab der Klage statt, der Natio­nalkongreß, in dem CAP die Unterstüt­zung seiner eigenen Partei verloren hatte, ersetzte ihn durch den Senator und Geschichtsprofessor Ramón J. Velázquez, ein altes Kongreßmitglied der sozialde­mokratischen Pérez-Partei AD, mit dem Auftrag, die Regierungsgeschäfte solange zu verwalten, bis am 5.Dezember ein neuer Präsident gewählt sein würde.
Schon vor der Absetzung von Pérez hatte sich der Zerfall der Vertrauensbasis der traditionellen Parteien gezeigt: Die AD verlor viele AnhängerInnen und stellte einen intern durch Fraktionskämpfe ge­schwächten Kandidaten auf; Die christ­demokratische Oppositionspartei COPEI spaltete sich durch die Kandidatur ihres Gründers Rafael Caldera gegen den offi­ziellen Parteikandidaten Osvaldo Alvarez Paz, dem Landeschef des Bundesstaats Zulia (Maracaibo). Caldera baute erfolg­reich auf sein durch seine klare Haltung gegenüber dem Staatsstreich vom 4. Fe­bruar 1992 erworbenes Charisma, nahm eine Minderheit von COPEI-Mitgliedern in seiner kleinen Partei “Convergencia” auf und fand Unterstützung bei den klei­nen linken Parteien MAS, MEP, PCV, URD und wie sie sonst alle heißen. Seiner Bewegung trug dies den Namen “El Chi­ripero” ein, den sie mit Stolz als Wahl­propaganda aufnahm (chiripas sind kleine Küchenschaben, die man nachts beim Lichtmachen als nach allen Richtun­gen davonrennendes Gewimmel über­rascht).
Als vierte wichtige Partei hatte sich be­reits seit den Gouverneurswahlen im Vorjahr die Causa R mit ihrem Kandida­ten Andrés Velázquez (nicht zu verwech­seln mit Ramón J. Velázquez!) profiliert. Aus der Gewerkschaftsbewegung der Stahlarbeiter hervorgegangen besitzt sie ihre regionale Basis im Osten des Landes im Bundesstaat Bolívar. Nach ihrem Wahlsieg im Herzen von Caracas trat die Partei als die eigentliche Alternative zu den alten Parteien auf, gegen Bürokra­tInnen und korrupte PolitikerInnen. An­drés Velázquez gab sich sehr siegesgewiß, aber er überzog etwas sein Image gegenüber den WählerInnen aus den Mittelschichten. Außerdem mußte er in anderen Regionen mit KandidatInnen an­treten, die nicht seiner eigenen Partei ent­stammten, sondern oft als politiqueros, als auf ihren eigenen Vorteil bedachte OpportunistInnen, unangenehm bekannt waren.
In den Wahlkampf griff auch der neue Verteidigungsminister General Rafael Muñoz León massiv ein, dem später vor­geworfen wurde, einen Putsch vorbereitet zu haben. Er nahm mit forschen Reden of­fen Partei gegen Caldera und vor allem gegen die Causa R und ihren Sprecher in Caracas, Pablo Medina, den er sogar unter dem Vorwand von Waffenbesitz aus frü­heren Putschversuchen zu verhaften ver­suchte.
Caldera: 78-jähriger Präsident ohne Mehrheit
Es spricht für die politische Stabilität des Landes, daß trotz allem die Wahlen abge­halten werden konnten. Trotz vieler An­schuldigungen wegen Wahlfälschung wurden die Ergebnisse einschließlich vieler Neuauszählungen akzeptiert. Der Gewinner war Rafael Caldera, der mit seinen 78 Jahren die Rolle des vermitteln­den, weisen und doch bestimmten Politi­kers mit sozialer Rücksichtnahme spielte. Im Parlament jedoch besitzt er keine Mehrheit: Dort fanden sich die beiden Parteien COPEI und AD als Mehrheitsal­lianz zusammen, während dem chiripero die Fraktionsqualität abgeschla­gen wurde, so daß alle Ausschußvorsit­zenden den drei großen Parteien AD, CO­PEI und Causa R angehören. Einerseits hat Caldera damit weitgehend freie Hand gegenüber seinen so ungleichen Gefolgs­leuten, muß aber seine gesetzlichen Initia­tiven mit den beiden Großen abstimmen. Daher wurde von Anfang an von einem möglichen fujimorazo gesprochen, also der Aus­schaltung des Kongresses durch den Prä­sidenten. Die Causa R verlangte sofort die Auflösung des Parlaments, die Wahl einer Verfassungsgebenden Versammlung und die Erarbeitung einer neuen, demokrati­schen Verfassung.
Bis zur Amtsübergabe am 2. Februar 1994 regierte Ramón J. Velázquez mit seinen Ministern mit Hilfe eines Ermächtigungs­gesetzes. Ein neues Bankengesetz wurde auf diesem Weg erlassen, nach dem aus­ländische Banken in Venezuela direkt zu­gelassen werden können, die verhaßte Mehrwertsteuer wurde eingeführt, und das Projekt Cristóbal Colón wurde ebenso durchge­setzt wie die staatliche Kontrolle über die Banco Latino. Skandale umwittern das Ende seiner Interims­präsidentschaft: Nur ein Beispiel dafür ist die angeblich durch einen Trick gegen sein Wissen erreichte Unterschrift zur Begnadigung eines hohen kolumbiani­schen Drogenhändlers.
Vermißt: klare politische Linie
Seit ihrem Amtsantritt am 2. Februar hat die Regierung Caldera im wesentlichen die VenezolanerInnen enttäuscht. Mit der Finanzkrise, dem Rückgang der produkti­ven Investitionen und der Inflation hat die Arbeitslosigkeit stark zugenommen. Die Zahl der im informellen Sektor außerhalb des erst 1991 in Kraft getretenen neuen, von Caldera durchgesetzten fortschrittli­chen, schützenden Arbeitsrechts Tätigen, hat stark zugenommen. Die Sozialversi­cherung leidet durch Mißwirtschaft an chronischer Geldknappheit, und es gibt immer wieder Demonstrationen der Rent­nerInnen um ihre Zahlungen.
Statt der erwarteten regulierenden Ein­griffe in den Markt zum Schutz der Ver­braucherInnen und sozial schwachen Schichten, statt der energischen Lösung der Finanzkrise und des Steuerproblems befaßte sich die Regierung damit, die Fol­geprobleme des Eingriffes in die Banco Latino zu lösen, ohne den beteiligten mächtigen Finanzsektoren weh zu tun. Die Mehrwertsteuer auf KonsumentInnen-ebene wurde zwar wieder aufgehoben, aber verschiedene Minister traten immer wie­der für ihre Notwendigkeit ein. Die Ab­wertung der Währung beschleunigte die Inflation, und die Dollarknappheit führte zu Versorgungsproblemen. Die neue Maßnahme der Devisenkontrolle und das Einfrieren der KonsumentInnenpreise finden daher unter der Mehrheit der Be­völkerung großen Anklang.
Ein weiteres offenes Problem ist die Frage der Außenverschuldung. Man hoffte, Caldera werde ein Schuldenmoratorium erreichen, da er immer von der ungerech­ten Einseitigkeit der Schuldenlast der Entwicklungsländer gesprochen hatte. Bisher sah es jedoch so aus, als wenn die Unterwerfung unter die Regeln des IWF weitergehen würde. Mit Spannung wird zu verfolgen sein, ob die jüngsten Maßnah­men, die mit den Vorgaben des IWF kaum vereinbar sind, zu einer Neuorientierung des Verhältnisses Venezuelas zum IWF führen wird.

Im Schmelztiegel der Reformen wird’s immer heißer

Am 2. Februar sollte der neue Präsident von Venezuela, Rafael Caldera, sein Amt in aller Ruhe antreten. Der Monat zuvor war von spontanen Aufständen und Brandanschlägen in der alten Kolonial­stadt Barcelona, nah der karibischen Kü­ste, der anliegenden Stadt Puerto La Cruz und dutzenden kleinen Städten im Inneren des Landes geprägt. Der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte: die Erhö­hung der lokalen Bustarife. Auch der Ver­such der Händler vor Ort, die neu einge­führte 10 Prozent Mehrwertsteuer zu er­heben, wurde mit spontanen Demonstra­tionen im ganzen Land beantwortet. Ihr war nur ein kurzes Schicksal beschieden. Kurz nach den Unruhen wurde sie wieder aufgeho­ben. Die Bevölkerung, die schon einein­halb Jahrzehnte lang mit ständigen Einkommensverkürzungen leben mußte, rea­gierte mit Gewalt.

Gewalt hat massiv zugenommen

Venezuela befindet sich in einem kata­strophalen Zustand. Die Gewalt, die nicht immer nur politisch erklärt werden kann, eskaliert. Letzte Weihnachten wurden über 100 Morde in Caracas begangen, und an nahezu jedem Wochenende werden 20 bis 30 Caraqueños getötet. Zum einen las­sen sich die Morde mit der fehlenden Po­lizeipräsenz in den armen Stadtteilen be­gründen. Der Polizeichef Orlando Her­nandez führt sie jedoch auf die “sich in den Städten ausbreitende soziale Zerset­zung” zurück. Die “soziale Dekomposi­tion” hängt mit der Verschlechterung des Le­bensstandards zusammen. War 1978, zur Zeit des Ölbooms, ein Maximum des durchschnittlichen Realeinkommens er­reicht, so fallen die Einkommen seitdem ständig, und es wird immer schwerer für die große Mehrheit, den täglichen Kampf ums Nötigste zu gewinnen. Im Gegensatz dazu fällt die geradezu luxuriöse Lebens­weise einer Minderheit von Venezolane­rInnen auf, die zum großen Teil von den marktorientierten Reformen profitiert ha­ben. Der Unterschied zwischen Arm und Reich nimmt kontinuierlich zu, Resigna­tion und Frustration machen sich breit. Die soziale Struktur insgesamt ist zerris­sen.

Die Mehrwertsteuer hat vielen den Rest gegeben

Die Einführung der Mehrwertsteuer sowie die Erhöhung von Benzin- und somit Transportpreisen waren zwei grundle­gende Punkte des marktorientierten Re­formprogramms, dem paquete, der alten Regierung von Carlos Andrés Pérez. In­ternationale Kreditinstitute befürworten diese Form der Besteuerung, da sie leicht zu erheben ist und daher einen sicheren Weg darstellt, den Staatshaushalt aus­zugleichen. BefürworterInnen der Steuer behaupten, daß dem Haushalt 1994 mit dem Wegfall der Steuer ohne die Erhö­hung der innerländischen Preise für staat­lich produziertes Öl 2 Milliarden US-Dollar fehlen würden. Präsident Caldera betonte jedoch, gerade das riskieren zu wollen und das Loch im Haushalt durch eine progressive Steuerpolitik füllen zu wollen, wobei er die Erhebung einer Lu­xussteuer oder einer erhöhten Einkom­menssteuer vorschlägt. Mit dem Antritt der Mitte-Links-Koalition findet die Haushaltsdebatte demnach in einem Spannungsfeld zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen statt. Die Besitzlosen haben das durch die Unruhen deutlich gemacht, die Besitzenden, indem sie klar­stellten, auf ihrem Rücken werde es kei­nen Haushaltsausgleich geben.

Revolten, Putschversuche, Unruhen

Auseinandersetzungen verlagern sich mehr und mehr auf die Straße. Die mili­tanten Aufstände im Januar waren die lo­gische Folge der prekären sozialen und politischen Situation in Venezuela wäh­rend der letzten fünf Jahre. Die drama­tischsten Unruhen kennen die traumati­sierten EinwohnerInnen Venezuelas, der am längsten existierenden konstitutionel­len Demokratie Südamerikas, kurz und knapp als 27F, 4F und 27N. Mit 27F sind die spontanen Aufstände und Plünderun­gen gemeint, die ganz Venezuela am 27. Februar 1989 heimsuchten und eine Re­aktion auf die Erhöhung der Bustarife wa­ren, sowie auf die Ankündigung des da­maligen Präsidenten Carlos Andrés Pérez, die IWF-Maßnahmen zur Reduzierung des staatlichen Defizits seien akzeptiert. Die offiziellen Angaben sprachen von 276 Toten durch die Aufstände, nach inoffi­zielle Einschätzungen waren es über 1000.
4F und 27N. Synonyme für zwei er­folglose Putschversuche – die inten­tonas -, die von populistischen Offizie­ren mittle­ren Ranges am 4. Februar und 27. No­vember 1992 getragen wurden. Obgleich die Unruhen schnell von loyalen Offi­zierseinheiten zerschlagen wurden und die Putschisten im Gefängnis lande­ten, sind sich viele VenezolanerInnen ei­nig, daß die intentonas, besonders der am 4. Februar, zu einer Verlang­samung der neoliberalen Reformen führte. “Auch wenn der Um­sturzversuch im Fe­bruar scheiterte”, so der Ex-Indstriemini­ster Moises Naim, “mobilisierte er gleich­zeitig andere Indi­viduen und Gruppen, die bis­her wenig am politischen Prozeß betei­ligt waren, und kurz darauf befanden sich tra­ditionelle PolitikerInnen in der Defen­sive.” Also rückte das paquete und eben nicht der Putsch in den Mittelpunkt inten­siver De­batten. Viele VenezolanerInnen glauben, daß Pérez nicht wegen der Un­terschlagung von 17,2 Millionen US-Dollar im Mai 1993 angeklagt worden wäre, hätte man ihn nicht für das Leid, das durch seine ökonomischen Reformen her­vorgerufen wurde, verantwortlich ge­macht.

Erwartungshaltung macht Wan­del schwierig

Es gibt viele Erklärungen für die wirt­schaftliche Krise in Venezuela. Ob ihnen geglaubt wird, hängt von der sozialen Si­tuation und der ideologischen Empfäng­lichkeit der einzelnen ab: Mal ist es die Abhängigkeit vom Öl und die ständig fehlende Planung; mal die Auslandsschul­den; mal die Korruption und ein aufgebla­sener Staatsapperat; mal die Abhängigkeit von transnationalem Kapital; oder mal neoliberale exportorientierte Wirt­schaftsstrategien. Einige Erklärungen tref­fen nur auf Venezuela zu, andere gelten für viele Länder Lateinamerikas.
Erklärungen, die sich speziell auf Vene­zuela beziehen, kreisen meist um Vene­zuelas Abhängigkeit vom Öl oder darum, daß sich ein ganzes Land daran gewöhnt hat, vom Öl zu leben. Eine generelle Er­wartungshaltung hat sich breit gemacht, von der Arbeit und den Investitionen an­derer zu leben. Im alten “Modell des Zu­rücklehnens und Abwartens” war der zen­tralisierte Staat in Form von politischen Parteien dafür zuständig, den nationalen Besitz zu verteilen und industrielles Wachstum zu fördern. Dilemma dieser Politik: Die berechtigte und wichtige Er­wartung, der Staat habe sich um die Rechte der Armen zu kümmern, war ver­breitet. Aber: Diese Rechte wurden nur passiv wahrgenommen, ohne die aktive Beteiligung, die für eine demokratische Gemeinschaft von so entscheidender Be­deutung ist. Die Parteien dominierten das politische und soziale Leben, die zivile Gesellschaft entpuppte sich als schwach und einflußlos, und es setzte sich eine kundenorientierte Politik durch. Die Kritik des neoliberalen Ökonomen Ri­cardo Hausmann an dieser Form des Po­pulismus ist nicht unberechtigt: “Die Bür­ger for­derten vom Staat einen annehmba­ren Le­bensstandard, trugen aber selbst nichts dazu bei. Der Populismus führte zu An­sprüchen ohne Verpflichtun­gen, Umver­teilung ohne Beschränkung des Haus­halts.” Als die staatlichen Res­sourcen während der 80er Jahre knapper wurden, verloren die Parteien an Glaubwürdigkeit, da sie die von ihnen erwartete Funktion – nur das Gute zu brin­gen – nicht mehr er­füllen konnten.

Statistiken belegen: Die Armut explodiert

Venezuelas staatliches Amt für Statistic und Information (OCEI) berichtet, daß 1993 acht Millionen VenezolanerInnen, ca. 40 Prozent der Bevölkerung, in Armut lebten, davon 20 Prozent in extremer Ar­mut. Dem OCEI zufolge hat die Armut zugenommen, da für 1986 eine Armuts­rate von 34 Prozent angenommen wird. Viele Studien gehen jedoch von doppelt so hohen Zahlen aus, so zum Beispiel die des Nationalen Institutes für Medizin, das erst kürzlich von einer “kritischen” Ar­mutsrate von 40 Prozent sprach. Damit sind Menschen gemeint, die an ernstzu­nehmender Unterernährung leiden, dazu­zurechnen seien aber nochmal 40 Prozent, die in relativer Armut leben. Zwar gibt es verschiedenste Möglichkeiten, Armut zu definieren und zu messen, eines bleibt aber klar: die Zahlen steigen dramatisch.
Es wäre zu oberflächlich, die Armut nur als Folge von sinkenden Staatseinkünften zu betrachten. Ein Teil ist sicherlich durch die Ineffizienz eines korrupten Staatsappa­rats bedingt.

Aufgeblähte Bürokratie lähmt Bildung

Die Weltbank berichtet zum Beispiel, daß Venezuela zwar 20 Prozent des Staats­haushalts für Bildung verwendet, was einmalig für Südamerika ist, davon aber wiederum 70 Prozent in die Verwaltung fließen. Überfüllte staatliche Schulen sind symptomatisch für den bürokratisch auf­geblasenen und uneffizienten Staat. Re­sultate dieser Bildungspolitik: 11 Prozent SchulabbrecherInnen und im ersten Schuljahr eine WiederholerInnenrate von 28 Prozent.
Die Kinder, die in der Schule bleiben, ha­ben weniger Lehrer und nur bedingt Ar­beitsmaterial. Die Tageszeitung El Nacio­nal aus Caracas meldet, daß viele Lehrer die Schulen verlassen und versuchen, im wachsenden informellen Sektor unterzu­kommen. Der Rückgang von Pflegeperso­nal in den staatlichen Krankenhäusern ist auf ein ähnliches Phä­nomen zurückzufüh­ren. Im Bereich der privaten Kinderbe­treuung ist heute bei­spielsweise mehr zu verdienen als die durchschnittlich 170 US-Dollar pro Mo­nat, die ein Lehrer oder eine Kranken­schwester nach Hause trägt. Folgt man den konservativen Schätzungen, so arbei­ten ca. 2,6 Millionen Menschen, was 38 Prozent der arbeitenden Bevölkerung ent­spricht, im informellen Sektor, zwei Drittel davon im kommerziellen Sektor, was mei­stens dem Verkauf auf der Straße gleich­kommt. Zwar hat das paquete die Si­tuation verschärft, doch es gab schon zur Zeit des Amtsantritts von Pérez 1988 einen informellen Sektor, in dem 35,8 Prozent der venezolanischen ArbeiterIn­nen beschäftigt waren.

Zwei Reformideen im Clinch

Mitte der 80er Jahre stand fest, daß auf die ökonomische Krise des Landes mit neuen Ideen reagiert werden mußte. Zwei Re­formbewegungen, die sehr unterschiedli­che Ziele im Auge hatten, fanden Unter­stützung bei der Regierung: Die Dezen­tralisation des politischen Systems, die mehr Macht für die Bevölkerung vorsah, auf der einen Seite; auf der anderen die Privatisierung und Deregulierung der Wirtschaft, die die ökonomische Sicher­heit des Einzelnen beschneiden würde. Diese Kombination von Ansätzen war und ist gefährlich, da einerseits mehr Demo­kratie eingeführt werden soll, gleichzeitig aber soziale Rechte angetastet werden. Staatliche Planung und Korruption wurde von beiden Reformansätzen kritisiert. Keiner der beiden griff jedoch die Klas­senstruktur an.
Die 1984 gegründete “Präsidentiale Kommission für die Reform des Staates” (COPRE) förderte mit Erfolg die Refor­men, die die politische Kultur öffnen sollten; unter anderem wurde die Dezen­tralisation der Macht zugunsten der Ge­meinden, die Direktwahl von regionalen und lokalen Vertretern sowie von einigen Kongreßabgeordnetern beschlossen. Hiermit war mehr Partizipation möglich geworden, auch für Außenstehende, und der Graben zwischen ziviler und politi­scher Gesellschaft war überwunden.
Den anderen großen Vorstoß gegen die Krise stellte das neoliberale paquete dar, das offiziell “el gran viraje”- die große Wende bezeichnet wird und 1989 von der Regierung Carlos Andrés Pérez vorgestellt wurde. Es bestand die Hoff­nung, daß das paquete die Wirtschaft durch Öffnung, Privatisierung und Um­strukturierung sta­bilisieren könnte. Die Stabilität wurde an folgenden Kriterien gemessen: Stimmig­keit der Preise, Aus­gleich des Haushalts und die Autonomie der Geldinstitute.
Unter stimmigen Prei­sen wurden die Preise verstanden, die sich im Rahmen des Marktmechanismus (Prinzip Angebot-Nachfrage) einpendeln würden, wobei Kontrollen von Wechsel­kursen, Zinsraten und Preisen im privaten Sektor wegfallen sollten. Mit der Forde­rung nach Haus­haltsausgleich war die Re­duzierung öf­fentlicher Gelder, die Einfüh­rung der Mehrwertsteuer und auch die Er­höhung von Preisen im öffentlichen Dienstlei­stungssektor gemeint. Eine autonome Zentralbank sollte etabliert werden, frei vom Einfluß des parlamantarischen Sy­stems. Dahinter stand die Idee, die Geld­politik zu entpolitisieren, da­mit nötige aber unbeliebte Änderungen möglich würden, z.B. könnte die Inflation durch die Reduzierung der im Umlauf befinden­den Geldmenge gebremst werden und neues Vertrauen in die venezolani­sche Währung, den bolivar, entstehen. Im Großen und Ganzen stand ein Härte­programm bevor: Die arbeitende Bevölke­rung befürchtete, bei geringerer Kaufkraft mit weniger staatlichen Angeboten aus­kommen zu müssen.
Mit der Strukturreform sollte versucht werden, die Wirtschaft exportorientierter und kapitalfreundlicher zu gestalten. Da­her wurden Handelsgesetze gelockert, fi­nanzielle Märkte dereguliert, direkte Inve­stitionen freudig aufgenommen und ge­fördert und viele Staatsbetriebe privati­siert. Der Verzicht auf Wechselkurskon­trollen führte zu einem Verfall des bo­livar, die innere Kaufkraft wurde noch ge­ringer und der Exportsektor explodierte.

Für den sozialen Rand: Prinzip Hoffnung

Im paquete wurde die Subventionen abge­schafft, um sich statt dessen gezielter um marginalisierte Gruppen zu kümmern, was in der Praxis bedeutete, den sozialen Be­reich zugunsten religiöser Gruppen und Nicht-Regierungsorganisationen zu priva­tisieren.
Am stärksten wurde der Volkssektor von den Preissteigerungen getroffen. Da Ve­nezuelas privater Sektor eine oligopoli­sche Struktur aufweist, führte die Aufhe­bung der Preiskontrollen nicht zu Preisen, die der Markt steuerte, sondern zu wel­chen, die die Oligarchien vereinbarten. Ein markantes Beispiel: Die Preise für Medikamente: Sie stiegen in der Zeit zwi­schen 1989 und 1991 um 513 Prozent. Die Regierung Perez schaffte es nicht, politi­sche Strategien zu entwickeln, die die Armen vor den Folgen des paquete hätten schützen können bzw die Last ge­recht hätte verteilen können. Im Gegen­teil: Die Regierung nahm an, ökonomi­sches Wachstum werde automatisch zu sozialer Gerechtigkeit führen, die alte Idee aus den 50er Jahren vom trickle-down Ef­fekt. Da die meisten VenezolanerInnen schon mit ständig fallenden Löhnen zu kämpfen hatten, war schon die kleinste Preissteige­rung eine enorme Belastung, die den Kes­sel zum Überlaufen bringen konnte.

Nur eine kurze Durststrecke?

Die Verteidiger des paquete hatten immer betont, daß es eine kurze Durst­strecke ge­ben werde, die sich aber nach wenigen Jahren durch die Früchte des ökonomi­schen Wachstums auszahlen würde. Al­lerdings ist das ökonomische Wachstum nun auf bedrückende Weise zum Still­stand gekommen, was vielleicht auch mit den Unruhen der Bevölkerung zusam­menhängt. Nach 3 Jahren, in denen das Wirtschaftswachstum 8 Prozent betra­gen hatte – die höchste Wachstumsrate Latein­amerikas -, ging das BSP auf 2,2 Prozent zurück, das Haushaltsdefizit wuchs auf 1,9 Milliarden US-Dollar an und die In­flationsrate stieg auf 46 Prozent, der zweithöchste Wert in der Geschichte des Landes.
Das paquete scheiterte, da es die so­ziale Sicherheit zerstörte, die bei der Ein­führung von kapitalistischen Strukturen unbedingt vorhanden sein muß. Perez, der immer die Richtung der historischen Ent­wicklung einzuschätzen wußte, wollte sich zum Ende des 20. Jahrhunderts auf der Seite der GewinnerInnen wissen. In seiner Erklärung an die Weltgemeinschaft stellte er fest, daß “schmerzhafte Um­strukturierungen, die den freien Markt zum Ziel haben, sich auszahlen, und daß ein demokratisches Regime die unbelieb­ten Entsscheidungen, die die Wirtschafts­reform verlangt, fällen kann, ohne dadurch die Macht abgeben zu müssen.”
Aber wenn sich diese schmerzhaften Verände­rungen in einer demokratischen Umge­bung auszahlen sollen, so muß der Ein­druck entstehen können, daß das Leid ge­teilt wird und von wahrnehmbaren Verän­derungen begleitet ist. Falls die Mitte-Links-Koalition Rafael Calderas den Ka­pitalismus anders gestalten will als die Rechte, so sollte sie sich um ein so­ziales Netz bemühen und solidarisches Verhal­ten im täglichen Leben zum Grundprinzip machen. Der freie Markt in seiner Dynamik zerstört diese Solidarität. Das paquete mag technisch machbar ge­wesen sein, es übersah jedoch die soziale Komponente und ignorierte die Erwartun­gen der Bevölkerung sowie die Tatsache, daß es keinen politischen Kon­sens für das Programm gab.

Schlaues aus dem Norden

Ein weiterer Grund für das Scheitern des paquete war, daß der Umbruch in der So­wjetunion falsch interpretiert wurde. Mit dem Ende des Kalten Krieges ging man von dem unzweifelhaften Sieg des “freien Marktes” und des “demokratischen Sy­stems” aus, staatliche Intervention und jede Form autoritärer Staatsführung war verpönt. Diesem vereinfachten Schema folgend, fanden Deutschland, Thatchers England und Japan zur Macht, indem sie sich auf unabhängige private InvestorIn­nen stützen; demgegenüber verharrten Polen, Labor Partys England und Vene­zuela bei alten Konzepten einer ineffizi­enten, staatlich geführten Wirtschafsform. Nicht nur in Venezuela, sondern in ganz Lateinamerika wurden historische Erfah­rungen ignoriert, um, so Jorge Castañeda, “sich dem ideologischen Fieber der 90er Jahre hinzugeben.”
Die überbordernde Menge an Problemen hat zu überstürzten Lösungsversuchen ge­führt. So argumentiert der Ökonom Vik­tor Fijardo, daß das paquete proble­matisch war, weil es nicht für Venezuela, sondern für ein künstliches, stereotypes Staatsge­bilde entworfen wurde: Für ein Land, daß unabhängige, risikofreudige In­vestorInnen besitzt, wo der Markt nach dem Konkur­renzprinzip perfekt funktio­niert, und die Armen Verschlechterungen protestlos hinnehmen. Zwar gab es in je­dem latein­amerikanischen Land geson­derte Wider­sprüche, der ökonomische Kollaps in den 80er Jahren war jedoch ein kontinentaler Trend, der auf die Schul­denkrise zurück­zuführen ist. Die den gan­zen Kontinent betreffenden Gemeinsam­keiten legten eine Gesamtlösung für alle betroffenen Länder nah, die unter dem Namen “Konsens aus Washington” be­kannt ge­worden ist und die am Markt ori­entierte Anpassung der Wirtschaft der einzelnen Länder vorschlug. Der “Konsens aus Washington” – Strukturan­passung als All­heilmittel – kommt einem sehr allgemein gefaßten Plädoyer gleich, die lokalen Un­terschiede zwischen den Ländern werden kaum beachtet. Pérez’ Minister betonten zwar des öfteren die spezifischen Bedin­gungen Venezuelas, wandten dann aber doch die allgemeinen “Gesetze” an.

Caldera in der Zwickmühle

In dieser immer drastischer werdenden ökonomischen Situation wurde der Au­ßenstehende Rafael Caldera zum Präsi­denten gewählt, Causa R, die Arbeiter­partei, bekam 22 Prozent der Stimmen, und generell hatten DissidentInnen größe­ren Ein­fluß auf den Ausgang der Wahl. Im Wahl­kampf hatte sich Caldera auf die Seite de­rer gestellt, die das paquete ableh­nen, was ja schon deutlich wurde, als er es nach dem ersten Putschversuch in einer Fernsehansprache massiv kritisierte. Aber Anklage allein wird nicht ausreichen, Caldera muß seine Wahlversprechen ein­halten und eine fortschrittliche Alternative zur Mehrwertsteuer anbieten. Er muß einen Weg finden, wie Defizite ausgegli­chen werden können, ohne den Preis für Benzin – der unter den Produktionskosten liegt – sowie all das, was vom Öl abhängt, unbezahlbar zu machen. Zudem liegt es an ihm, Wachstum zu stimulieren, ohne da­bei die soziale Solidarität und den Schutz der Bevölkerung zu vergessen.
Mit den Umsetzungen der Reformen ist die Rolle des Staates, des privaten Kapi­tals und der lokalen Gemeinde wieder in Frage gestellt worden. In Venezuela, ei­nem Land, wo die große Mehrheit in Ar­mut lebt und Sozialismus nicht aktuell ist, werden momentan drei mögliche Optio­nen diskutiert: Von rechts nach links ge­sehen fordert die erste Fraktion ein neoli­berales Programm nach dem Vorbild Pi­nochets oder Fujimoris. Auf diese Posi­tion stößt man automatisch, wenn man sich auf Gespräche mit Leuten aus dem Bereich des Business einläßt. Die zweite Position favorisiert “Neoliberalismus mit men­schlichem Antlitz”, es wird von einem so­zialen Netz gesprochen, das die Armen auffangen soll, außerdem sollte die Not­wendigkeit marktorientierter Reformen den Armen besser vermittelt werden. Diese Position geht auf die beiden tradi­tionellen Parteien, AD und Copei, zurück. Beide Positionen brechen nicht mit der neoliberalen Logik, die besagt, daß eine Durststrecke unvermeidlich ist und die Last nicht von den Reichen getragen wer­den kann, da sonst die privaten Investitio­nen gefährdet wären. Folglich muß die Notwendigkeit der Durststrecke den Ar­men verständlich gemacht und von ihnen getragen werden.

Auf der Suche nach der kreativen, menschlichen Lösung

Als letztes bleibt der sozialdemokratische Vorschlag, der die Beteiligung der Armen nicht nur in Form eines Dialogs vorsieht, sondern die Interessen der Armen in dem Modell vertreten sehen möchte. Da ein aufrichtiges neoliberales Programm nur mit autoritären Methoden umgesetzt wer­den kann, in ähnlicher Weise, wie Pino­chet und Salinas Politik verstanden, so bleibt als einzige demokratische Alterna­tive ein Modell des “sozialen Kapitalis­mus”, oder auch der Sozialdemokratie. Die meisten sozialistischen und regime­kritischen Christdemokraten, die die Ko­alition um Caldera bilden, sowie deren Koalitionspartner Causa R vertreten diese Position. Vielleicht holt Caldera auch ei­nige Modelle aus einer ganz alten Kiste: Einbindung der Armen durch höhere Ein­kommen, die die Kaufkraft erhöhen und somit die Wirtschaft ankurbeln; Förderung des inländischen Marktes und die Protek­tion ausgewählter venezolanischer Fir­men. Auch Elemente des paquete sol­len herangezogen werden: Die Entwick­lung einer Mikroindustrie, ausgewählte Privati­sierung und die Öffnung des Marktes nach außen. Privates Kapital soll weiterhin den Motor der Wirtschaft bil­den, jedoch kon­trolliert von einem demo­kratischen, öf­fentlichen Sektor. Caldera glaubt, daß eine gerechtere Verteilung möglich ist, wenn das wirtschaftliche Wachstum dafür ge­nutzt wird, das Humankapital zu fördern, sprich im Bil­dungsbereich und Gesund­heitswesen eine Priorität zu setzen.
Im Gegensatz zu den Erfahrungen in an­deren lateinamerikanischen Ländern ha­ben die politischen Reformen eine ver­stärkte Demokratisierung in Venezuela bewirkt, insbesondere in der Zeit, in der die wirtschaftlichen Härtemaßnahmen eingeführt wurden. Die politischen Unru­hen sind eine Folge. Die aktive Teilnahme von Basisorganisationen, unabhängigen Vereinigungen und politischen Parteien, die nicht von Eliten kontrolliert werden, läßt die Hoffnung für eine demokratische, basisorientierte Lösung realistisch er­scheinen. Auf alle Fälle wird vieles von der Caldera-Koalition und Causa R ab­hängen. Die Mitte-Links-Koalition muß versuchen, kreative, menschliche Lösun­gen zu finden, um die akuten Probleme wie die Inflation und den Haushaltsaus­gleich bewältigen zu können, langfristig ist die Sicherung des wirtschaftlichen Wachstums unabdingbar. Das alte Para­digma des Systems, in dem der Staat für alles Sorge trägt, ist noch nicht vollständig überwunden. Es besteht die Chance, die momentane “Systemkrise” kreativ zu nut­zen, da durch die Dezentralisierung ein neuer Blick auf die Basis möglich wurde. Die Form des neuen politischen Systems wird entscheidenden Einfluß darauf ha­ben, wie Venezuela seine Krise überwin­den wird.

USA schieben Aristide aufs Abstellgleis

Zu der in Miami durchgeführten Konferenz wurden RepräsentantInnen aller haitianischen politischen Parteien, Organisationen und Gruppen eingeladen. Außerdem sollten VertreterInnen internationaler Organisationen und der nordamerikanischen zivilen Gesellschaft dabei sein. Die zahlenmäßige Beteiligung übertraf alle Erwartungen. Die nationale Konferenz fand ohne die Militärs statt, obwohl Aristide eine Einladung an den von ihm vorgesehenen Nachfolger des derzeitigen Armeechefs Cédras geschickt hatte. Die US-Regierung drohte bis kurz vor dem Beginn mit einem Boykott. Der Zankapfel war ein von Aristide in den Mittelpunkt gerücktes Thema: haitianische Flüchtlinge und US-Abschiebepolitik. Die dreitägige Konferenz brachte aber nur Vorschläge, die der Regierung Aristides vorgelegt wurden. Eine durchsetzungsfähige Resolution oder sogar Mittel zur endgültigen Beendigung der Herrschaft der Militärs in Port-au-Prince wurden jedoch nicht beschlossen.
Still und fast unbemerkt verstrich unterdessen am 15. Januar das Ultimatum, das die sogenannten Vier Freunde Haitis, die USA, Kanada, Frankreich und Venezuela, den Militärs gestellt hatten. Sie hatten mit schärferen Sanktionen gedroht, falls die Putschisten nicht bis zum gesetzten Datum die Macht übergeben haben sollten. Frankreich schlug ein totales Embargo vor, wogegen sich die USA aus humanitären Gründen wandten. Kanada beschloß die Bildung einer haitianischen Polizei außerhalb Haitis; die USA waren in Zugzwang geraten und froren das Guthaben aller haitianischen Militärs auf US-amerikanischem Boden ein. Das Tauziehen um die Vorlage einer Verschärfung der UNO-Sanktionen vor dem Sicherheitsrat findet gegenwärtig unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Bisher geschah jedoch nichts Neues, was die Macht der Militärs ernsthaft gefährdet hätte. Einzig die verschärfte Erdölknappheit in Haiti und die dadurch erzeugte Putschmüdigkeit in den bürgerlichen Kreisen scheinen zu fruchten.
Angesichts der andauernden Verzögerung wandte sich Aristide Anfang Februar an die UNO, die OAS und einzelne “befreundete Staaten”, um Schutz für die verfolgten und flüchtenden HaitianerInnen zu erbitten. Er kritisierte dabei die widersprüchliche Politik der USA gegenüber den haitianischen Flüchtlingen. Das US-Außenministerium hatte einige Tage zuvor in seinem Bericht zur Lage der Menschenrechte in der Welt die Situation in Haiti als katastrophal bezeichnet und die Militärs dafür verantwortlich gemacht. Trotzdem schwimmt die “Berliner Mauer” weiter, wie Aristide die US-amerikanischen Schiffe, die haitianische Flüchtlinge auf hoher See abfangen, genannt hat. Er bezeichnete diese Praxis als unvereinbar mit den internationalen und interamerikanischen Konventionen, denen die USA und Haiti angehören. Er drohte auch mit der Kündigung des Staatsvertrags, den seinerzeit Jean-Claude Duvalier unterzeichnet hat. Dieser gestattet es den USA, die abgefangenen HaitianerInnen ohne jegliche Einschaltung der US-Einwanderungsbehörde und ohne die gesetzlich vorgeschriebene Prüfung der möglichen Asylanträge nach Haiti zurückzubringen.
Die US-Regierung reagierte prompt und kündigte einen Plan zur Rückkehr der Demokratie in Haiti an, der die sofortige Ernennung eines Premierministers vorsieht, aber die Rückkehr Aristides nach Haiti nicht mehr erwähnt. Daß hiermit die Clinton-Administration hinter die Position des Vorgängers Bush zurückgefallen ist, scheint die US-Öffentlichkeit derzeit nicht zu wundern. Gleichzeitig werden Gerüchte lauter, denen zufolge der Druck der USA auf Aristide, einen ihnen genehmen Premier sehr bald zu ernennen, sich verstärkt haben soll. Der angeblich geeignete Kandidat ist Julio Larosillière, ein Abgeordneter, der sich eindeutig zugunsten des Putsches ausgesprochen hatte. Larosillière reiste bereits nach Washington, um Kontakt mit der US-Administration aufzunehmen. Aristide seinerseits zögerte nicht und veröffentlichte am 15. Februar seine Stellungnahme: “Unter den gegenwärtigen Umständen wäre die Ernennung eines neuen Premierministers unverantwortlich. Nach dem Abkommen von Governors’ Island (das den Rücktritt der Anführer des Staatsstreichs sowie die Rückkehr Aristides zu einem späteren Zeitpunkt vorsah, d. Red.) habe ich bereits einen Premierminister ernannt. Die Gewalt und Unterdrükkung des Militärregimes verhinderten die Regierungsfähigkeit des neu ernannten Premierministers. Das politische Vakuum ist das Ergebnis der Angst, die die Militärs schüren. Die Regierung wird einen neuen Premierminister ernennen, wenn die Putschisten abgetreten und durch Offiziere ersetzt sind, die die zivile Macht anerkennen.”
Es bleibt noch offen, in welchem Ausmaß der Druck der US-Regierung zunehmen und welchen Einfluß dies auf die Position der anderen “Vier Freunde” haben wird. Die Auseinandersetzung zwischen der gewählten Regierung Aristides und den de facto-MachthaberInnen in Port-au-Prince ist bereits seit langem auch zum Kampf zwischen den USA und den haitianischen demokratischen Kräften geworden.

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