Theater der Widerstands

Kunst und Protest Eine Straßentheatergruppe setzt sich in Szene (Fotos: Josue Guerra Alvarado)

Am 18. und 19. Oktober 2019 wehte in Chile ein Frühlingswind. Er brachte widersprüchliche Nachrichten über eine „soziale Explosion”, die sich an verschiedenen Stellen des U-Bahn-Netzes von Santiago entzündet und mit ihren Barrikaden schnell auf die Straßen der ganzen Stadt und aller Regionen des Landes ausgebreitet hatte. Nach zwei rätselhaften Tagen war der schmale Landstreifen Chiles mit Transparenten übersät, die zahlreiche historische soziale Forderungen verkündeten, im Mittelpunkt jene nach einer verfassunggebenden Versammlung. Die Chilen*innen forderten ein Ende des neoliberalen Modells, das von der Diktatur Augusto Pinochets in der noch heute gültigen Verfassung von 1980 festgeschrieben wurde.

Die Diktatur (1973 bis 1990) war eine Abfolge grausamer Jahre, denn für die Einführung dieses sozioökonomischen Modells brauchte man ein hohes Maß an Gewalt. Hierfür sorgten die Militärinstitutionen des chilenischen Staates in Ab- stimmung mit der US-Regierung im Rahmen des Kalten Krieges und der sogenannten Operation Condor. Ihr Experiment führte zur Einführung einer Weltanschauung, die sich wie eine Epidemie ausbreitete und jede Art von Beziehung zwischen dem Sein und dem Leben nur noch auf seine Wirtschaftlichkeit bezog.

Dazu gehörten jahrelang Hausdurchsuchungen bei allen, die auch nur ansatzweise mit indigenen, anarchistischen oder marxistischen Idealen in Verbindung gebracht wurden; die Anwendung systematischer Foltermethoden, die an der Escuela de las Américas erlernt wurden; der Zwang ins Exil und die Errichtung von Konzentrationslagern im ganzen Land. Mehr als 3.000 Menschen wurden ermordet, weitere 1.000 gewaltsam verschwunden gelassen. Die überwiegende Mehrheit dieser Verbrechen gegen die Menschlichkeit blieb in den folgenden 33 Jahren ungestraft – und die, die sie ausführten, in Machtpositionen.

Wie ein donnerndes Echo der dunklen Vergangenheit dieser 17 Jahre Staatsterrorismus waren die Gesichter der Menschen in Chile im Oktober 2019 erneut von großer Angst und Wut erfüllt. Die Geschichte unseres Landes nahm eine neue Wendung. Wieder waren wir im Abgrund einer ungeheuren Unterdrückung gefangen. Die Regierung von Sebastián Piñera trat im Fernsehen auf und erklärte den Krieg. Sie setzte die Militärs auf den Straßen ein und verkündete den Ausnahmezustand. Ausgangssperre und Augenverstümmelungen begannen. Die altbekannte Figur des „Feindes im Inneren“ erwachte wieder zum Leben.

Das politische Straßentheater als widerständige Erinnerungsstrategie

Wenige Tage nach Beginn der „sozialen Explosion“ im Oktober 2019 haben wir das Kunstkollektiv Ejercicio Libertario Almado del Sur (E.L.A.S.) gegründet. Zusammen mit einem sehr gemischten Grüppchen von Theaterkünstler*innen aus Valparaíso wollten wir auf den Demonstrationen die Erinnerungen wachhalten. Erinnerungen daran, was die Diktatur, ihr neoliberales und neokoloniales Erbe sowie die Revolte verbindet. Seitdem sind wir auf der Straße geblieben, haben das Theater als Protestform und sozialen Kitt genutzt. Wir sind Teil einer großen Bewegung, die das Straßentheater und seine Sprache in Chile spätestens seit den 1970er Jahren weiterentwickelt hat. Wir haben dabei viel von den großen Straßentheaterkompanien der Diktatur- und Nachdiktaturzeit gelernt und ihre Methoden an unsere Zeit und Produktionsmittel angepasst.

Über unsere Geschichte haben wir nicht aus Schulbüchern gelernt, denn die große Tragödien sind bei uns in Chile noch immer ein Tabu. Diejenigen von uns, die zuhören wollten, haben aus den Geschichten der Überlebenden gelernt, von unseren Familien, Freund*innen und Lehrer*innen, aus Gedichten und Musik, aus Filmen und Theaterstücken. So sind auch städtische Theaterbewegungen gemeinschaftliche Strategien des Widerstands und der Erinnerung. „Ich möchte unsere ermordeten, verschwundenen und gefolterten Menschen ehren. Ich denke, man muss den 50. Jahrestag des Putschs unbedingt nutzen, um ihre Geschichte zu erzählen, sie aufzuschreiben, Filme zu drehen. Alles, was man sich als eine Form der Didaktik vorstellen kann, damit wir nie wieder vergessen”, sagt mir Myriam Espinoza, als ich sie besuche, um mich mit ihr über die Visionen des politischen Theaters in Chile auszutauschen.

Myriam ist Professorin, Forscherin, Schauspielerin und Theaterregisseurin und arbeitet derzeit als Wissenschaftlerin an der Theaterfakultät der Universität von Valparaíso. Bekannt ist sie vor allem als Aktivistin in politischen Theatergruppen, darunter die Gruppe Cristal für soziale Wiedereingliederung, die sich aus Insass*innen des Hochsicherheitsgefängnisses von Valparaíso zusammensetzt. Während der Militärdiktatur rettete Myriam mithilfe der Theaterkunst mehreren ihrer verfolgten Kamerad*innen das Leben, zum Beispiel, indem sie mit Verkleidungen und gefälschten Pässen ihre Flucht nach Argentinien ermöglichte. Die Lebensgeschichten dieser Menschen sind schockierend, denn mit dem Straßentheater riskierten sie damals buchstäblich ihr Leben. „Ich stehe voll und ganz hinter dem Straßentheater. Denn es ist eine Art der Unterhaltung, die die Dinge beim Namen nennt”, sagt Myriam heute.

Das Straßentheater ist in Chile als Ausdrucksform der untersten sozialen Schichten entstanden, als Waffe des Widerstands und des gemeinschaftlichen Ausdrucks. Und der gewalttätige Kontext, als dessen Produkt es entsteht, kehrt immer wieder. So wird das Straßentheater damals wie heute praktiziert, indem es die Kunst mit der großen Kraft eines drängenden gesellschaftlichen Sinnes in die Prekarität des Verborgenen spinnt. Es geht um den hartnäckigen Widerstand der Gemeinschaften von Bürger*innen, die versuchen, ihre Geschichte und ihre grundlegende Identität am Leben zu erhalten.

„Die Wahrheit muss heute nicht auf der Bühne, sondern auf der Straße gesucht werden. Und wenn man dem Publikum auf der Straße die Möglichkeit gibt, seine Menschenwürde zu zeigen, wird es das immer tun“, sagte der französische Dramatiker Antonin Artaud in Das Theater und sein Doppelgänger. Und wenn der Zugang zur Theaterbühne aus politischen Gründen versperrt ist, nutzen die Theaterleute eben die Straße als Bühne.

Es gibt große Vertreter*innen des Straßentheaters, darunter Regisseur*innen und Theatergruppen, die einen wertvollen Beitrag dazu geleistet haben, Chiles Geschichte auf volkstümliche Weise zu erzählen und den Menschen näher zu bringen. Dazu gehören, um nur einige zu nennen, Mauricio Celedón mit dem Teatro del Silencio, Arturo Rossel mit der Kompanie Equilibrio Precario oder Andrés Perez mit dem Gran Circo Teatro und den Yeguas del Apocalipsis. Natürlich gibt es auch in anderen Ländern Südamerikas große Vertreter*innen ähnlicher Ausdrucksformen. Wir erkennen sie alle als Früchte einer großen historischen Entwicklung an, die uns vereint.

Die eigentliche Bedeutung dieses politischen Theaters liegt jedoch nicht so sehr im Genius einzelner Autor*innen, sondern in der Zusammenarbeit und darin, die einzelnen Zuschauenden einzubeziehen und zu einer rituellen Durchquerung des öffentlichen Raums einzuladen. So wird die von den Autoritäten aufgestellte Ordnung und Erzählung hinterfragt.

Normalerweise inszeniert eine Gruppe von Bühnenkünstler*innen die Aktionen, wählt die geeigneten szenischen Mittel für jeden Anlass aus, entwickelt eine Dramaturgie, verwaltet die Proberäume und die technischen Bedingungen sowie den Entwurf von Kostümen, Kulissen, Pyrotechnik und Requisiten. Vervollständigt wird jede öffentliche Inszenierung aber erst durch die Teilnahme von Lai*innen. Das sind Teilnehmende ohne professionelle Ausbildung, die diese Art des szenischen Ausdrucks lieben und ihre Energie einbringen.

Unsere Ästhetik ruft zum Mitmachen auf. Wir wollen, dass die Menschen aus ihrem alltäglichen Individualismus heraustreten und interagieren, indem sie öffentliche Räume einnehmen – und das entgegen der Aufforderung der staatlichen Sicherheitskräfte, die uns einsperren wollen. Zu diesem Zweck schaffen wir attraktive, nicht alltägliche Bilder, die zum Nachdenken und zur Teilnahme an unseren Aktionen einladen. Wenigstens für einen Moment befreien sich die Teilnehmenden damit von der Unterdrückung. Zusammen schaffen wir eine kollektive Katharsis, die auf Zuschauer*innen und Vorbeigehende überspringt.

Diese performativen Akte sind Formen des Widerstands gegen neoliberale Logiken. Sie sind ein kollektives Angebot von uns Theaterleuten und allen, die sich dazu berufen fühlen. Ich wage zu behaupten, dass das Straßentheater für uns, die wir an diesem südamerikanischen Erbe teilhaben, eine warme Zuflucht und auch unser Schutzschild ist.

Eine der stärksten Strategien, die wir in unseren Straßentheatergruppen anwenden, ist die Konstruktion von allegorischen Figuren. Diese sind so entworfen, dass sie über das Menschliche hinausgehen, da ihre Aufgabe darin besteht, übergeordnete Konzepte darzustellen. Außerdem gibt es oft einen großen Chor, der aus einer Masse von Darsteller*innen besteht, die von diesen allegorischen Figuren bewegt werden. Anstelle von Worten sprechen Material, Musik, Farben, Zeichen, Gesten und Bewegungen. Bei den vielen Ablenkungen auf der Straße bleibt für ausführliche Dialoge ohnehin kein Platz. Visualität und Silhouette müssen attraktiv genug sein, um die Reizüberflutung in den heutigen Städten zu überwinden. Wir arbeiten mit Abfall oder recycelten Materialien, es gibt keine kommerziellen Beziehungen zu unserem Theater oder seinen Objekten. Stattdessen ist der Charakter unseres Strassentheaters flüchtig, er erfüllt die Funktion des jeweiligen Ereignisses.

Wir verwenden Zeichen, die an historische Kämpfe erinnern und mischen sie mit aktuellen Symbolen. So entsteht ein verschlüsseltes Potpourri, das historische Verbindungen zwischen den Gemeinschaften der jeweiligen Zeiten webt. So passt sich unser Erbe, das Straßentheater, mit der Zeit immer wieder an. Es stirbt nie, denn auch die Unterdrückung ist nicht tot.


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IN DER ANGST GEFANGEN

Das Thema Kriminalität dominiert Präsident Boric im November 2022 bei der Übergabe neuer Polizeiautos (Fotos: Prensa Presidencia)

Im Zentrum von Santiago steht das mächtige Gebäude der Nationalen Handelskammer. Stacheldraht trennt den hauseigenen Park vom Getümmel der chilenischen Hauptstadt. Kameras und Wachhäuser bewachen jeden Schritt der Passant*innen. Der Prachtbau beherbergte einst die US-amerikanische Botschaft und wurde 1997 von der Handelskammer übernommen. Bernardita Silva, die Geschäftsführerin des kammereigenen Studienzentrums, spricht in dem Gebäude von erschreckenden Zahlen. „Wir erleben einen starken Anstieg der Kriminalität“. Umfragen bei Ladenbesitzer*innen hätten ergeben, dass im ersten Halbjahr 2022 knapp 60 Prozent aller Läden Opfer von Diebstahl, Raub oder Gewalt wurden. Die zweithöchste Zahl seit Beginn der Umfrage im Jahr 2007.

Als Konsequenz müssten immer mehr Läden auf immer mehr Sicherheitsmaßnahmen zurückgreifen: Gitter trennen Lokale von ihrer Kundschaft, Kameras werden überall angebracht und sofern sie es sich leisten können, stellen Läden mehr privates Sicherheitspersonal an. Und die Läden sind nicht die einzigen, denn in Chile herrscht Angst. Seit Monaten dominiert das Thema Kriminalität die Medien und öffentliche Debatten. So stark, dass die einst verlangten sozialen Veränderungen an Bedeutung verlieren und die Regierung ihr Programm in Richtung Sicherheit ändern muss. Was passiert in Chile?

Die Menschen sperren sich ein. Nach der Revolte von 2019 und monatelangen Lockdowns, hat sich die Strasse zu einem Ort der Gefahr verwandelt. Nachdem die Polizei als Reaktion auf die Kritik an den begangenen Menschenrechtsverletzungen ihre Präsenz im öffentlichen Raum deutlich reduziert hatte, versuchen die Menschen auf andere Weise ein Gefühl der Sicherheit zu schaffen. Wer derzeit durch die Straßen der Wohnviertel von Santiago geht, bemerkt: kleine Gassen und Straßen werden mit Gittern und meterhohen Toren abgesperrt, die nur über den Tag für alle offen sind. In der Nacht sind die Tore verschlossen – nur Anwohner*innen mit Schlüssel kommen durch.

Auch Andrés Valbenedito hatte das ursprünglich vor. Zusammen mit Nachbar*innen seines Straßenzuges in einem typischen Santiagoer Arbeiter*innenviertel organisierte er sich, um einen Zaun am Straßenende zu bauen. Doch die Straße, in der er wohnt, ist zu groß als dass die Lokalregierung eine komplette Sperrung zulassen würde. „Wir haben uns deswegen entschieden, mit einer Betonsperre die Durchfahrt zur Autobahn zu sperren“, erzählt er. Der schwere Klotz aus Beton hatte für die Bewohner*innen einen erfreulichen Effekt. „Wir erleben weniger Diebstähle und fühlen uns sicherer“, meint Valbenedito. Früher seien viele Menschen von Motorradfahrern ausgeraubt worden, die den schnellen Zugang zur Autobahn nutzten, um zu flüchten. „Wir können nun unsere Autos ohne Sorgen draussen stehen lassen“, sagt Valbenedito erfreut.

Straßen werden mit meterhohen Toren abgesperrt

Es vergeht kein Tag, an dem die chilenischen Nachrichtensender nicht über Diebstahl, Mord und Totschlag berichten: Erschrockene Menschen erzählen vor der Kamera von der täglichen Angst, aus dem Haus zu gehen. Verschwommene Videoaufnahmen von Sicherheitskameras zeigen bewaffnete Banden, die wahlweise Autos stehlen oder Geschäfte ausrauben.

„Ich habe Angst, wenn ich auf die Straße gehe“, erzählt auch Valbenedito. „Das heißt für mich oder meine Frau, zu überlegen, mit welchen Wertsachen wir das Haus verlassen.“ Und das sei nicht nur bei ihm so, er kenne viele Menschen, die sich mit dem Thema beschäftigen.

Die Zahlen bestätigen Valbenedito. „Noch nie haben Menschen so viel Angst vor Kriminalität verspürt“, meint Daniel Johnson, Geschäftsführer des Thinktanks Paz Ciudadana, der seit dem Jahr 2.000 Erhebungen zum Thema durchführt. Einmal jährlich fragt er in einer Umfrage Personen, ob sie oder andere aus ihrem Haushalt im vergangenen Jahr Opfer von Diebstahl wurden und ob sie Angst haben, Opfer zu werden. Im Jahr 2022 verspürten 28 Prozent der Befragten sehr viel Angst, von Kriminalität betroffen zu werden – mit Abstand der höchste Wert seit Beginn der Studie.

Der Thinktank wurde in den 1990er Jahren vom ultrarechten Medienmogul Augustin Edwards ins Leben gerufen, der bis zu seinem Tod auch dessen Präsident war. Finanziert wird Paz Ciudadana von tragenden Unternehmen der chilenischen Wirtschaft. Derzeit arbeiten dort verschiedene Expert*innen, die unter der rechten Regierung von Sebastián Piñera in den Behörden tätig waren, so auch Johnson, der von 2011 bis 2013 die Santiagoer Zweigstelle der nationalen Behörde für Wohnen und Stadtplanung leitete und später in beratender Funktion für das Innenministerium tätig war. „Es herrscht ein Klima der Angst“, erklärt Johnson, „das allerdings nur teilweise mit der Realität übereinstimmt“. Denn, so die Zahlen von Paz Ciudadana, die effektive Kriminalität ist im Vergleich zu den Jahren vor der Pandemie gesunken. 32 Prozent der Befragten gaben an, dass sie selbst oder jemand aus ihrem Haushalt Opfer eines versuchten oder gelungenen Diebstahls wurde. Mit Ausnahme der Pandemiejahre war dies die niedrigste Zahl seit 2001. Die Zahlen des chilenischen Innenministeriums bestätigen diese Entwicklung. Zwar machten seit Ende der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie wieder mehr Menschen Anzeigen aufgrund von Diebstahl und anderen Delikten, die Werte von vor der Pandemie wurden bislang aber in keiner Weise überschritten.

Trotzdem prägt das Thema die Medien – untermauert durch verschiedene Studien wird dort regelmäßig gezeigt, wie das Thema der Unsicherheit an Bedeutung für die Bevölkerung gewinnt. Während in Umfragen aus den Jahren 2020 und 2021 soziale Reformen als wichtigste Aufgaben der Regierung angesehen wurden, ist es im Jahr 2022 durchgehend die Sicherheit.

Nachrichtensender berichten jeden Tag über Diebstahl, Mord und Totschlag

Johnson wundert das nicht:„Viele Menschen beurteilen soziale Fragen, wie die Renten oder Löhne, als individuelles Schicksal, an dem sie selber etwas ändern können. Bei der Sicherheit sind die Menschen auf den Staat angewiesen“. Ein Verständnis von Staatsaufgaben, das an die Ideen des Nachtwächterstaates erinnert: Ein liberaler Staat, der sich vor allem auf die Sicherheit der Bürger*innen konzentriert und den Rest privaten Akteur*innen überlässt.

Aber woher kommt die Angst? Johnson meint, sie würde durch Debatten über Kriminalität und das Gefühl„unkontrollierter Migration“ gefördert. Denn, so Johnson, „obwohl Migranten im Schnitt weniger häufig Straftaten begehen als Chilenen, führt das Gefühl, die Migration sei unkontrolliert, zu Angst“, sagt Johnson. Dies sei nicht nur in Chile, sondern auch in Europa so.

Chile ist im Zusammenhang mit den Krisen in ganz Lateinamerika zu einem wichtigen Migrationsziel für Menschen aus Ländern wie Haiti, Kolumbien oder Venezuela geworden. In den letzten zehn Jahren stieg der Anteil an Migrant*innen in der Gesamtbevölkerung von 2,3 Prozent auf 7,5 Prozent. Viele Migrant*innen leben unter sehr prekären Verhältnissen, haben aufgrund eines laufenden Visaverfahrens keine formelle Arbeit und nur erschwerten Zugang zu Wohnraum, Bildung und Gesundheit. Aufgrund dessen wächst insbesondere in dieser Bevölkerungsgruppe die Anzahl an Menschen, die auf der Straße leben und an belebten Orten irreguläre Verkaufsstände eröffnen. Ein Phänomen, dass häufig mit Kriminalität in Verbindung gebracht wird.

Johnson teilt seine Analyse mit einem Großteil der politischen Klasse in Chile. Ob auf Basis eines imaginären oder wahren Phänomens, der Diskurs der Unsicherheit nimmt zunehmend an Raum ein – und damit auch typisch rechte Erklärungsansätze.

„Ohne Sicherheit funktioniert nichts“, meint Silva von der Handelskammer. „Geschäfte funktionieren nicht, es kommen keine ausländischen Investitionen, es gibt keine Arbeitsplätze. Und das wollen wir doch alle.“ Es sei deshalb richtig, dass die Regierung die Bekämpfung der Straßenkriminalität zur höchsten Priorität erklärt habe.

Anfang November erklärte Präsident Boric bei einer Reise in die nördliche Küstenstadt Antofagasta, die Regierung würde mit harter Hand gegen die Kriminalität vorgehen und alle Migrant*innen des Landes verweisen, die in Chile das Gesetz brechen. Schon bis Oktober 2022 verwies die eigentlich linke Regierung knapp 1.000 Migrant*innen des Landes, eine leicht höhere Zahl als die der rechten Vorgängerregierung im Jahr 2021. Gleichzeitig erhöhte die Regierung den Etat für die militarisierte Polizei Carabineros de Chile sowie die Kriminalpolizei PDI um ganze 20 Prozent für das Jahr 2022.

Dadurch stärkt die Regierung eine Institution, die eigentlich nicht mehr existieren sollte: aufgrund der massiven Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei in den Jahren 2019 und 2020 hatte Boric noch als Präsidentschaftskandidat im Wahlkampf eine Neugründung der Carabineros de Chile angekündigt. Derzeit besteht einzig noch eine Kommission, die eine Polizeireform anstoßen soll.

Gleichzeitig sagen Umfragen, dass die Carabineros erneut Vertrauen und Rückhalt der Bevölkerung gewinnen. Während laut Paz Ciudadana im Jahr 2020 knapp 40 Prozent der Befragten Vertrauen in die Carabineros äußerten, tun dies mittlerweile wieder 50 Prozent – der höchste Wert seit fünf Jahren.

Die lang erwarteten Reformen sind auf unbestimmte Zeit verschoben und unzureichend

Auch Andrés Valbenedito, der Anwohner des Santiagoer Arbeiter*innenviertels, glaubt, es brauche mehr harte Hand gegen Kriminalität. Doch er glaubt auch, dass das Problem tiefer sitzt. „Mit dem ganzen Gerede um Straßenkriminalität lenken die Politiker von sich selbst ab“ sagt er erbost. In Chile habe eine Mentalität überhand gewonnen, in der alle stehlen. „Die oben stehlen und die unten auch. Dann sagen die einen, die Supermärkte rauben uns durch überhöhte Preis aus, deswegen darf ich dort klauen. Aber wohin kommen wir damit?“, fragt er rhetorisch.

Er hat den derzeitigen Präsidenten Gabriel Boric gewählt. „Ich hatte gehofft, er würde mit dem Diebstahl durch die Reichen Schluss machen“, meint er, doch nichts von dem sei geschehen. Die lang erwarteten Reformen, die private Akteur*innen im Bereich der Pensionen, im Gesundheitssystem oder der Bildung zurückdrängen sollten, sind entweder auf unbestimmte Zeit verschoben oder werden aufgrund ihrer unzureichenden Tiefe von linken Sektoren kritisiert. Obwohl im August die ersten Schritte für eine Gesundheitsreform angekündigt wurden, ist seit dem gescheiterten Referendum von September nichts weiter passiert. Die langersehnte Rentenreform sieht derweil vor allem eine Erhöhung der Beitrage vor, während die privatisierten Rentenfonds nur leicht in die Schranken gewiesen werden und ein kleiner Teil der Beiträge in eine neue solidarische Rentenkasse eingezahlt werden soll.

Was daneben bleibt, ist der Kampf gegen Kriminalität und die Stärkung der sogenannten harten Hand.


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DAS ORGANISIERTE VERBRECHEN DER STRAFLOSIGKEIT

Fotos: Finja Henke

An einem Montagmorgen zieht Simón Pedro Pérez López los, um mit einem seiner vier Kinder einkaufen zu gehen. In der Nähe des Marktes in der Gemeinde Simojovel hält ein Motorradfahrer an und zielt direkt auf seinen Kopf. Ein einziger präziser Schuss beendet das Leben des 35-jährigen Tzotzil-Mannes, Menschenrechtsaktivist und Mitglied der zivilgesellschaftlichen Organisation Las Abejas de Acteal. Er fällt vor den Augen seines Sohnes mit dem Gesicht nach unten zu Boden. Es ist 10 Uhr morgens am 5. Juli 2021, und der Markt ist voller Menschen, die sich um ihn versammeln, während sein Blut in Strömen fließt.

Neun Tage zuvor hatte Simón Pedro die Bewohner*innen von Pantelhó begleitet, um eine förmliche Beschwerde bei der Landesregierung einzureichen. Sie forderten die Behörden auf, angesichts des Vormarschs bewaffneter Gruppen zu intervenieren. Die Ermordung des Menschenrechtsverteidigers ist nur ein Beispiel für Zwangsvertreibung, Erpressung und den Einsatz von Gewalt im Kampf um die von Drogenkartellen begehrten Gebiete. Heute, über ein Jahr später, ist der Mörder noch immer nicht verurteilt worden. Die extreme Gewaltsituation im Landkreis Pantelhó hält derweil weiter an. Mehr als dreitausend indigene Personen wurden aus ihren Gemeinden zwangsvertrieben. Zeitgleich kam es dort zur Entstehung der selbsternannten bewaffneten Selbstverteidigungsgruppe El Machete, die sich als Reaktion auf die „hohe Präsenz des organisierten Verbrechens und die Abwesenheit der Landes- und Bundesregierung “ versteht. El Machete verlangt Gerechtigkeit im Fall der Ermordung von über zweihundert Personen und ließ aus diesem Grund den gewählten Landrat von Pantelhó im letzten Jahr sein Amt nicht antreten, da ihn die Gruppe mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung bringt. Gleichzeitig wird von der Nationalen Suchkommission (Comisión nacional de búsqueda) nach 21 Personen gesucht, die im Juli 2021 − zur Zeit der Machtübernahme von El Machete − verschwunden gelassen wurden.

Die Gewalt in Chiapas hängt eng mit der strukturellen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Marginalisierung der indigenen Bevölkerung zusammen. Chiapas gehört zu den Bundesstaaten mit dem höchsten Anteil indigener Bevölkerung und gleichzeitig der höchsten Armutsrate.

Im Juli dieses Jahres prangerte das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas (Frayba) die gewaltsame Vertreibung von sechs zapatistischen Familien, die Verbrennung ihrer Häuser und ihres Besitzes in der autonomen Gemeinde Comandanta Ramona an. Dies geschah durch die Mitglieder der Landgenossenschaft von Muculum Bachajón zusammen mit der städtischen Polizei und dem Zivilschutz, so Frayba. Durch diesen Angriff werde „die Autonomie und Selbstbestimmung der Bevölkerung ernsthaft gefährdet”, und er stelle „eine schwere Verletzung des Rechts auf Sicherheit, Leben und Unversehrtheit” dar. Ein weiterer Grund für die Zunahme der Gewalt beruht auf Gebietsstreitigkeiten zwischen verschiedenen Drogenkartellen. Dies äußerte sich im vergangenen Jahr durch eine hohe Gewaltrate bei den Landtags- und Kommunalwahlen. Chiapas hat landesweit die höchste Rate von Morden an Politiker*innen. Die Einrichtung von 232 Wahllokalen wurde verhindert. Im Juni 2022 wurde der Landrat von Teopisca, Rubén de Jesús Valdez Díaz, ermordet. Damit steigt die Zahl der ermordeten Landräte und Bürgermeister*innen während der Legislaturperiode von Andrés Manuel López Obrador (AMLO) auf 17 Personen.

Seit Juli 2021 ist auch das Grenzgebiet von Chiapas zu Guatemala von der Gewalttätigkeit krimineller Gruppen um die territoriale Kontrolle geprägt. Ein Ereignis im Juni dieses Jahres, das sowohl national als auch international für viel Aufmerksamkeit sorgte, waren Schießereien, Straßenblockaden und brennende Autos durch bewaffnete Gruppen in San Cristóbal de Las Casas, die für mehrere Stunden die Kontrolle über verschiedene Straßen der Stadt einnahmen. Als Polizei und Militär endlich in Erscheinung traten, hatten sich die bewaffneten Gruppen, bereits zurückgezogen. Eine Farce angesichts der Tatsache, dass die mexikanische Regierung besonders in Chiapas eine massive Militarisierung und den Einsatz der Nationalgarde vorangetrieben hat. Dies geschah im Namen der Bekämpfung des organisierten Verbrechens und der Pflichten gegenüber der mit den USA vereinbarten Migrationspolitik an der Grenze zu Guatemala, die darauf abzielt, Migrant*innen in ihrem Recht auf Ein- und Durchreise Richtung USA einzuschränken.

Mehr als dreitausend indigene Personen wurden aus ihren Gemeinden zwangsvertrieben


Verschiedene feministische Gruppen und Frauenrechtsorganisationen berichten über die schwerwiegenden Auswirkungen der Militarisierung auf die massive sexualisierte Gewalt mit 11 Feminiziden pro Tag in Mexiko. Laut der Nationalen Erhebung zur Dynamik der Haushaltsbeziehungen (ENDIREH), die zuletzt 2016 vom Nationalen Institut für Statistik und Geografie (INEGI) durchgeführt wurde, wurden allein im Jahr vor der Erhebung rund 97.000 Frauen über 15 Jahre von Soldaten oder Marinesoldaten vergewaltigt. Die Dunkelziffer soll weitaus höher liegen.

Eine weitere gefährdete Gruppe sind Journalist*innen, die in Mexiko durch die Regierung selbst eine massive Kriminalisierung ihrer Arbeit und Bedrohungen erfahren. So wurden von Januar bis Ende August 2022 in Mexiko 15 Journalist*innen ermordet. Die journalistische Arbeit ist in Mexiko durch die verbreitete Korruption und das organisierte Verbrechen bedroht. Die Todesfälle werden gewöhnlich Drogenhändler*innen angelastet, die nicht wollen, dass ihre Geschäfte über die Medien öffentlich werden. Fachleute, die sich der Dokumentation dieser Verbrechen widmen, wie die Organisation Artículo 19, haben jedoch bei zahlreichen Gelegenheiten darauf hingewiesen, dass die meisten Taten von Beamt*innen ausgehen: etwa von Polizeichef*innen oder Politiker*innen, um ihre Verwicklung in Korruption oder ihr Zusammenspiel mit dem Drogenhandel zu schützen, wie die Zeitung El País berichtet. Im Mai mussten zwei Journalist*innen, die in der Stadt Tapachula, im Süden von Chiapas, arbeiteten, aufgrund von Morddrohungen und dem Ausbleiben von Schutzmaßnahmen der Regierung das Land verlassen.

Brutal ermordet Kollektive Trauer um den Menschenrechtsaktivisten Simón Pedro


Zur Kriminalisierung von Seiten des Staates kommt das erschreckend hohe Maß an Straflosigkeit hinzu. Diese beträgt bei der Aufklärung von Morden an Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalistinnen in Mexiko 99 Prozent. Zudem werden im Falle einer Ermittlung häufig unschuldige Personen verhaftet und mittels Folter Geständnisse erpresst.

Angesichts dieses Panoramas wurden 2022 in Chiapas bereits in mindestens 10 Landkreisen von Kirchen und der Zivilgesellschaft Demonstrationen und Kundgebungen für den Frieden organisiert. Im Juli nahmen mindestens 10.000 Personen daran teil. Vergangenes Jahr besuchte eine Delegation des EU-Parlaments Chiapas und prangerte die Menschenrechtsverletzungen an. Die vom EU-Parlament ausgedrückte Besorgnis über die Kriminalisierung der Arbeit von Journalist*innen durch die Regierung und die hohe Rate an Mordopfern nahm der mexikanische Präsident AMLO zum Anlass, um einerseits die Gewalt in Mexiko zu verharmlosen und sich der Verantwortung zu entziehen, und andererseits dem EU-Parlament koloniales Verhalten vorzuwerfen.

Inzwischen stattete die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte Chiapas einen Besuch ab, um die Einhaltung der gewährten Schutzmaßnahmen für die 22 Gemeinden in Aldama, Chalchihuitán und Chenalhó zu überprüfen. Für Anfang September hat auch die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für die Menschenrechte von Binnenvertriebenen einen Besuch angekündigt.

Die Intervention internationaler Menschenrechtsorganisationen könnte den Kampf vieler indigener Gruppen für Gerechtigkeit stärken und auch Las Abejas de Acteal wieder Hoffnung schöpfen lassen, dass ihnen im Fall des Massakers in ihrer Gemeinde 1997 sowie der Ermordung von Simón Pedro 2021 Gerechtigkeit widerfährt.


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