“DAFÜR SOLLTE IHM DIE RECHTE DANKBAR SEIN”

JOSÉ RAGAS lebt seit 2018 in Santiago de Chile, wo er an der Pontificia Universidad Católica de Chile lehrt. Um auch ein nicht-akademisches Publikum zu erreichen, schreibt er Kolumnen in Noticias SER und in El Comercio. Aktuell arbeitet er an dem Buch Los años de Fujimori (1990-2000) über dessen Regierung aus der Sicht von Alltagsakteur*innen, das in Kürze vom Sozialforschungsinstitut Instituto de Estudios Peruanos veröffentlicht wird. (Foto: privat)

Im März entschied das Verfassungsgericht, die Begnadigung von Alberto Fujimori aus dem Jahr 2017 wieder in Kraft zu setzen. Das bedeutet die faktische Freilassung. Wie kam es dazu?
Es ist schon lange versucht worden, irgendein juristisches Schlupfloch zu finden, um Fujimori aus dem Gefängnis zu holen. Nachdem er nach Japan geflohen war, tat Fujimori alles, um sich der peruanischen Justiz zu entziehen. Als die Dinge nicht gut liefen, kam er nach Chile, um zu versuchen, die peruanischen Präsidentschaftswahlen im Jahr 2006 zu beeinflussen. In einem neuen Versuch, die Justiz zu umgehen, kandidierte Fujimori, der die japanische Staatsbürgerschaft besitzt, von Chile aus für den japanischen Senat und versuchte so, Immunität zu erlangen.
Erst nach seiner Verurteilung ging er zu einer anderen Taktik über, der öffentlichen Lobbyarbeit, aber auch der Erpressung der amtierenden Regierungen. Das Einzige, was er in all den Jahren nicht getan hat, um aus dem Gefängnis zu kommen, war seine Verbrechen einzugestehen, sich bei den Opfern zu entschuldigen und ihnen die zivilrechtliche Entschädigung zu zahlen.

Der Interamerikanische Gerichtshof hat nun interveniert und Fujimori bleibt vorerst in Haft. Was kann der politische Fujimorismus als nächstes tun?
Die Tatsache, dass die humanitäre Begnadigung in diesem Fall nicht funktioniert hat, bedeutet meiner Meinung nach nicht, dass sie es nicht weiter versuchen werden. Die Gefahr besteht nun darin, dass der Fujimorismus zu den Manövern „unter dem Tisch“ zurückkehrt, wie wir sie im Fall von Pedro Pablo Kuczynski gesehen haben.

Wie hat sich die öffentliche Meinung gegenüber Fujimoris Regierung seit 2000 verändert?
Der Fujimorismus ist – im Guten wie im Schlechten – zu einem Paradigma der Anti-Regierung geworden: das, was die Regierung nicht sein sollte. Sie wird mit der Verletzung grundlegender Menschenrechte sowie mit struktureller Korruption verbunden. Diese Verbrechen haben nicht nur Fujimori und die Mitglieder seiner Regierung, sondern auch seine Tochter überschattet und sie zum dritten Mal in Folge daran gehindert, die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen. Das erklärt sich aus der Tatsache, dass der Anti-Fujimorismus es regelmäßig schafft, in den Wahlkampagnen zu mobilisieren und zu einem bestimmten Zeitpunkt als eine Art Schutzwall zu dienen. Aber er ist nicht unbedingt eine Garantie dafür, dass die neue Regierung – und das sehen wir jetzt mit Pedro Castillo – unbedingt eine gute Regierung sein wird.
Wir erleben Fälle von Korruption, von politischen Fehlentscheidungen sowie Allianzen der Regierungspartei Peru Libre, die Fujimoristen einschließen. Man hat das Gefühl, dass der Anti-Fujimorismus ins Wanken geraten könnte. Und genau das könnte dazu führen, dass Keiko Fujimori bei den nächsten Wahlen gewinnt.
Ebenso ist unser Bild von den 1990er Jahren eines, das wir hauptsächlich durch Klischees kennen, was für die öffentliche Debatte nicht günstig ist. Warum waren die Regierungen der letzten zwanzig Jahre nicht in der Lage, ein autoritäres, korruptes und elitäres politisches Projekt wie den Fujimorismus zu zerschlagen? Was macht dieses Erbe des Fujimorismus trotz all des Wirtschaftswachstums der letzten Jahrzehnte und trotz der Umverteilung der Einkommen so dauerhaft und so attraktiv für Eliten und andere Sektoren?

In der jüngeren Geschichte Perus haben wir gesehen, dass der Fujimorismus zerfällt, sobald er öffentlich in Frage gestellt wird, dann aber wieder aufersteht. Liegt das am „Erfolg“, den Fujimori in den 1990er Jahren hatte?
Ja, wir müssen uns anschauen, ob es eine Art „harten” Fujimorismus gibt, der von Wahl zu Wahl beibehalten und weitergegeben wird. Es gibt viele junge Menschen, die für den Fujimorismus stimmen, aber nicht in den 1990er Jahren gelebt haben. Dennoch sind diese jungen Wähler überzeugt, dass Fujimori der beste Präsident war, dass er das Land von Grund auf verändert hat und ohne ihn Terroristen an die Macht gekommen wären.

Verdankte sich sein Erfolg auch politischen Netzwerken, die Fujimori nach seiner Wahl aufbaute?
Die Kandidatur Fujimoris war nicht als Präsidentschaftskandidatur gedacht. Eigentlich sollte er für das Parlament kandidieren, aber die Wahlordnung ließ es nicht zu, dass er nur Listen für das Parlament vorlegte, so dass Fujimori schließlich eine Präsidentenliste anführte. Diese improvisierte Kandidatur zeigt sich im Fehlen von Programmen und Unterstützung durch konsolidierte politische Sektoren. Diese Lücke wurde schnell von der Rechten und dem militärischen Sektor gefüllt, die dem Fujimorismus die Stabilität und Reichweite gaben, die er bis heute hat.
Was Fujimori getan hat – und ich denke, dafür sollte ihm die Rechte dankbar sein – war, diesen Sektor zu repräsentieren, insbesondere nach der Niederlage von Fredemo (Anm. d. Red.: eine politische Koalition, die 1990 die Präsidentschaftskandidatur von Mario Vargas Llosa unterstützte). Das Problem ist, dass die Rechte, die der Fujimorismus zusammenfasst, nicht die moderne Rechte ist, die durch Vargas Llosas politisches Projekt repräsentiert wurde – eine liberale Rechte mit einer offeneren Mentalität, aber eben auch fanatischer gegenüber dem freien Markt. Diese Option verlor in den Wahlen von 1990. Damit ging die Möglichkeit einer modernen Rechten verloren und sie machte Platz für die vorherrschende: eine Art peruanischer Vor-Trumpismus.

Wer war diese Koalition, die Fujimori stützte?
Es handelte sich um eine große Koalition, an der Unternehmer beteiligt waren, aber es gab auch einen stark konservativen Sektor, der seine Privilegien bewahren wollte und dafür durch Rassismus motivierte Bedenken gegen Fujimori vorübergehend zurückstellen konnte. Fujimori kam ihren Klasseninteressen entgegen. Andererseits entstand der Diskurs einer „neuen Elite“, die im Wesentlichen aus wohlhabenden, weißen Küstenbewohnern besteht. Darüber hinaus ist es eine gewaltbereite Elite, die außerdem – in einer Zeit vor den sozialen Netzwerken – den öffentlichen Diskurs über die Medien bestimmt.
Aber es gab auch Linke, die sich den Reihen des Fujimorismus anschlossen. Es war eine etwas autoritärere Linke, die näher an Fujimoris Agenda war als an der Izquierda Unida (Anm. d. Red.: Linksbündnis aus den 1980er Jahren). Wenn man heute die Annäherung zwischen der dogmatischeren Linken innerhalb der Regierungspartei und der Fujimori-Fraktion sieht, dann sind das Annäherungen, die dreißig Jahre zurückreichen.


Wie fand diese Annäherung zwischen den Sektoren der Wirtschaft und dem „Außenseiter“ Fujimori statt?
Es gibt eine Anekdote, die das sehr gut veranschaulicht: Fujimori forderte Vargas Llosa bei einem Treffen nach dem ersten Wahlgang von 1990 auf, ihm seinen Wirtschaftsplan zu übergeben, weil er selbst keinen hatte. Und am Ende tat Fujimoris neue Regierung genau das, was sie versprochen hatte, nicht zu tun: die Politik der wirtschaftlichen Schocks anzuwenden und die brutale Durchsetzung des Neoliberalismus.
Nach seinem Wahlsieg versuchte Fujimori als erstes, die Beziehungen zu den internationalen Organisationen wiederherzustellen. Für den Internationalen Währungsfonds war es ein Triumph, dass Peru am Verhandlungstisch saß, weil es das „rebellische Kind“ war, das den IWF in den 1980er Jahren ignoriert hatte und nun eine starke Botschaft an die anderen Länder aussandte. Auch auf diesen internationalen Druck hin sollte das System der freien Marktwirtschaft eingeführt werden, so wie zuvor in vielen anderen Teilen der Welt, von Bolivien bis China. Allerdings auf eine komplett vertikale Art und Weise: Der Markt sollte sowohl das wirtschaftliche als auch das politische und soziale Leben des Landes neu ordnen, der Staat sollte weniger Befugnisse und Vorrechte haben. Mit der Verfassung von 1993 wurde der Staat zu einer Art Torwächter des Marktes.

Wie kam es zu dieser Verfassung?
Sie kam zustande, weil nach dem Staatsstreich 1992 Druck auf die Regierung ausgeübt wurde, auf den demokratischen Weg zurückzukehren, international und in Peru. Die Regierung reagierte auf diesen Druck, machte es den Parteien allerdings dabei schwer, sich für die nächsten Wahlen anzumelden, wobei sie ausnutzte, dass die Parteien im offiziellen öffentlichen Diskurs seit langem diskreditiert waren. Letztendlich wurde die Verfassung fast zu einem Auftrag der Regierung an die regierungsnahe Fraktion, die den verfassunggebenden Kongress kontrollierte. Die endgültige Fassung etablierte vor allem die Marktorientierung, die das in der vorherigen Verfassung von 1979 vorhandene Gewicht des Staates hinter sich lässt. Im Grunde machte sie viele Aspekte, die in der vorherigen Verfassung Rechte waren, nun zu Dienstleistungen. Zum Beispiel im Bereich Hochschulbildung: dort konnten Universitäten ohne jegliche Regulierung und mit zweifelhafter Qualität gegründet werden. Der Staat hat seitdem nicht mehr die notwendigen Befugnisse, um den Markt zu regulieren und in diese Prozesse einzugreifen.

In Chile wird gerade versucht, das verfassungsrechtliche Erbe der Diktatur hinter sich zu lassen. Warum hat die Debatte über eine neue Verfassung in Peru nicht die gleiche Intensität angenommen?
Die Debatte über eine Verfassungsänderung in Peru wurde in den letzten Jahren tatsächlich sehr intensiv geführt: zu Beginn der Pandemie und während des Wahlkampfs. In gewisser Weise war die Pandemie in Peru das Pendant zum chilenischen „Estallido Social“ (Anm. d. Red.: Protestwelle ab Oktober 2019). Die Pandemie hat gezeigt, was wir mit dem Land in den letzten 30 Jahren gemacht haben und wo die Grenzen des neoliberalen Modells liegen: Eine gute Absicherung gibt es weder durch den Staat noch durch das private Rentensystem der so genannten AFPs, die interessanterweise von Chile übernommen wurden.
Am Anfang der Pandemie flehten Peruaner auf Twitter um Sauerstoffflaschen für ihre Angehörigen oder Betten auf den Intensivstationen. Für mich war das der Tiefpunkt der letzten 200 Jahre der Republik. Nach 30 Jahren Wirtschaftswachstum, in denen der freie Markt alles zu seinen Gunsten hatte: eine auf seine Bedürfnisse zugeschnittene Verfassung, einen Staat, der sich nicht eingemischt, und Kontinuität mit Mitte-Rechts-Präsidenten, internationalen Organisationen und einem Exportboom. Trotz allem waren wir eines der Länder mit der höchsten Sterblichkeitsrate aufgrund einer Pandemie. Wo ist das Wachstum geblieben? Was ist mit all dem Geld passiert?
In den Debatten mit liberalen Ökonomen wird gesagt, dass nicht das Wirtschaftsmodell schuld sei, sondern die regionale Verwaltung, die die finanziellen Mittel veruntreuten. Aber Korruption ist schließlich Teil eines vorhandenen Systems, das solche Handlungen ermöglicht oder erleichtert. Jenseits der Korruption stellt sich die Frage, warum man sich nie darum bemüht hat, diese Mittel in Grundleistungen zu investieren.
Wenn diese schlimmste Pandemie in unserer Geschichte uns nicht gelehrt hat, welche Art von wirtschaftlichem und politischem Modell wir brauchen oder wie wir unser derzeitiges Modell so ändern können, dass es der Bevölkerung und den am Bedürftigsten zugute kommt, dann weiß ich wirklich nicht, was man noch braucht. Am Beispiel Chiles kann man sehen, dass es nicht einfach ist, eine Verfassung zu ändern, aber manchmal notwendig. Die peruanische Verfassung von 1993 wurde in vielen Punkten durch Volksabstimmungen sowie den Kongress geändert. Aber irgendwann kommt der Punkt, an dem man ein Dokument so oft geflickt hat, dass es einfach nicht mehr zusammenhält.

Halten Sie eine neue Verfassung angesichts der derzeitigen politischen Ausgangslage in Peru für einen gangbaren Weg?
Der richtige Zeitpunkt dafür war entweder im Jahr 2000 nach dem Sturz Fujimoris oder im November 2020 während der Proteste gegen das De-facto-Regime von Manuel Merino, also in einer Krisensituation und mit einer gewissen Mehrheit. Das hätten Gelegenheiten sein können, um eine ernsthafte Verfassungsdebatte anzustoßen, aber das ist nicht geschehen.
Man muss verstehen, dass eine Verfassung nicht ein Rechtstext ist, sondern eine Verbindung zwischen Staat und Gesellschaft, die alle Lebensbereiche umfasst. Es handelt sich nicht nur um eine Frage des Wirtschaftsmodells, sondern auch um eine Frage der Politik: Wer wird einen Vorteil aus der neuen Verfassung ziehen können?
Im gegenwärtigen Klima der Konfrontation zwischen Kongress und Exekutive halte ich es für keine gute Idee, das wichtigste Dokument eines Landes zu erstellen und es in den Händen einer politischen Elite zu lassen, die keine Garantien für Professionalität gewährt. Das heißt nicht, dass die derzeitige Verfassung die beste ist. Aber solange es keine soliden Vorschläge gibt, solange die Parteien nicht ihre besten Leute einsetzen und Leute rekrutieren, die wirklich bereit sind, an einer Debatte teilzunehmen, bei der die Bürger informiert werden, glaube ich, dass eine neue Verfassung eher ein Schaden als ein Nutzen sein kann.

Newsletter abonnieren