Chávez schwört auf Sozialismus

Der Schwur war unüblich. Nach seiner Wiederwahl im vergangenen Dezember, mit einem robusteren Mandat als jemals zuvor, machte Hugo Chávez bei seiner Amtseinführung am 11. Januar einmal mehr klar, wohin sich Venezuela seiner Meinung nach entwickeln soll. Er schwor bei „Jesus Christus, dem größten Sozialisten der Geschichte“, sein Leben dem Aufbau des Sozialismus in Venezuela widmen zu wollen. „Es ist die Zeit gekommen, die Privilegien und die Ungleichheit zu beenden und nichts und niemand kann den Wagen der Revolution aufhalten“.
Schon bei der Vereidigung der 15 neuen und 12 alten MinisterInnen zwei Tage zuvor hatte Chávez keinen Zweifel daran gelassen, den „sozialistischen Wagen“ nun drastisch beschleunigen zu wollen. Bis 2021 – dem 200-jährigen Jubiläum der Unabhängigkeit Venezuelas – solle das Land in den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ geführt werden. Als Antrieb nannte Chávez „fünf Motoren“: die Gewährung einer zeitlich befristeten „revolutionären Vollmacht“, eine „sozialistische Verfassungsreform“, den massiven Ausbau der „Volksbildung“, eine neue „Geometrie der staatlichen Machtverteilung“ sowie eine „Explosion kommunaler Macht“.
Die Gewährung von auf 18 Monate befristeten „revolutionären Vollmachten“ durch das Parlament bezeichnete Chávez als ersten „Motor“. Mit Hilfe von Präsidialdekreten soll vor allem die Transformation der Wirtschaftsstrukturen beschleunigt werden. Unter anderem zählt dazu die Nationalisierung strategischer Sektoren wie Energie und Telekommunikation.
Der zweite „Motor“ ist die bereits zuvor angekündigte Verfassungsreform. Chávez beauftragte Parlamentspräsidentin Cilia Flores mit der Bildung einer Kommission, die Vorschläge erarbeiten soll, welche dann laut Verfassung sowohl vom Parlament (Zweidrittelmehrheit), als auch in einem landesweiten Referendum (einfache Mehrheit) ratifiziert werden müssen. Bereits bekannt ist das Vorhaben, die uneingeschränkte Möglichkeit der Wiederwahl des Präsidenten einzuführen. Als neuen Plan nannte Chávez die Abschaffung der von ihm als „neoliberale Idee“ bezeichneten Unab­hängig­keit der Zentralbank.
Durch den Ausbau einer „bolivarianischen Volkserziehung“ als dem dritten Antriebsmodul, will Chávez die „alten Werte“ des „Individualismus, Kapitalismus und Egoismus“ zugunsten einer sozialistischen Ethik“ überwinden.
Weiter nannte der venezolanische Präsident eine „neue Geometrie der Macht“ als vierten „Motor“ seines Regierungsvorhabens. Hugo Chávez will hier die administrativen Strukturen der Gemeinden in Venezuela neu organisieren, um marginalisierte, ärmere Gebiete besser einzubinden und bürokratischen Aufwand zu minimieren.
Den fünften Antrieb, eine „Explosion kommunaler Macht“, bezeichnete Chávez als den „stärksten Motor der neuen Phase“. So möchte er den seit April letzten Jahren entstehenden Kommunalen Räten, die je nach Region von bis zu 400 Familien gebildet werden, mehr Entscheidungsmacht über kommunale Belange geben. Standen 2006 etwa 1,5 Milliarden US-Dollar für die Räte bereit, sollen es dieses Jahr fünf Milliarden sein. Bisher bestehen um die 13.000 Kommunale Räte im ganzen Land. Weitere Tausende sollen im Laufe dieses Jahres hinzukommen.

Auf Nationalisierungskurs

Im eigenen Land wie auch international hatten diese Bekanntmachungen heftige Reaktionen hervorgerufen. Insbesondere Chávez‘ Plan, den Umbau der wirtschaftlichen Strukturen Venezuelas mittels Dekreten voranzutreiben, hatte viel Aufruhr verursacht. Er kündigte zunächst an, „strategische Industrien“ wie den Energiesektor sowie den erst 1991 privatisierten Telekommunikationsmonopolisten CANTV verstaatlichen zu wollen. Zudem solle der venezolanische Staat, wie beim Großteil der Ölförderung bereits üblich, auch eine Mehrheitsbeteiligung an den Ölförderprojekten im Orinokodelta erreichen, wo unter anderem Unternehmen wie Chevron, BP und ExxonMobil beteiligt sind.
Von den Verstaatlichungen wird, neben tausenden KleinanlegerInnen, auch ausländisches Großkapital betroffen sein. CANTV etwa gehört zu 28 Prozent dem US-amerikanischen Unternehmen Verizon, zu sechs Prozent der spanischen Telefónica und zu vier Prozent dem mexikanischen Medienmogul und reichsten Lateinamerikaner, Carlos Slim. Das Elektrizitätsunternehmen Elecar (Electricidad de Caracas), das den Großraum Caracas mit Strom versorgt und sich seit seiner Gründung 1895 in privater Hand befindet, gehört zurzeit mehrheitlich der US-amerikanischen AES. Die Regierung kündigte jedoch an, die AnlegerInnen „gerecht“ entschädigen zu wollen.
Scharfe Kritik an diesen Plänen kam von der Opposition. Der Gouverneur von Zulia und Ex-Präsidentschaftskandidat Manuel Rosales sagte, Chávez habe „seine Botschaft der Liebe, die er im Wahlkampf angeboten hat, gegen die Botschaft der Gewalt und Aggression getauscht“.
Da die Opposition die letzten Parlamentswahlen Ende 2005 boykottiert hatte und somit nicht in der Nationalversammlung vertreten ist, gilt die Zustimmung zum „Bevollmächtigungsgesetz“ als reine Formsache. Es wäre bereits das dritte Mal, dass Chávez Sondervollmachten vom Parlament erhält. Nach seiner erstmaligen Wahl 1999 wurde Chavez eine Vollmacht zur Sanierung des Haushaltes bewilligt. Auf Grundlage der neuen Verfassung erhielt er zudem 2001 eine einjährige Ermächtigung, die er dazu nutzte, 49 Gesetze zu dekretieren. Präsidiale Sonder­vollmachten per „Bevollmächtigungsgesetz“ sind nun keine Erfindung von Chávez. Für Venezuela ist es seit 1961 bereits das insgesamt neunte „Ley Habilitante“ – die vor Chávez‘ Amtszeit verabschiedeten ernteten allerdings weit weniger öffentliche Entrüstung.

Keine Lizenz für „Putschistensender“

Zuvor hatte bereits die Ankündigung Chávez‘, die am 28. Mai dieses Jahres auslaufende Sendelizenz der Fernsehstation RCTV nicht zu erneuern, in Venezuela und international eine Welle der Empörung ausgelöst. Laut geltendem Gesetz obliegt es dem Staat, die Konzessionen zu erteilen. Schon Ende des Jahres 2006 warf Chávez dem Sender in einer Ansprache vor Militärs „putschistische“ Berichterstattung und permanente Gesetzesverstöße vor. RCTV, das vor allem für die Übertragung von Telenovelas bekannt ist, war während des Putsches gegen Chávez im April 2002 neben Globovisión, Venevisión und Televen einer der Sender, welche die Ereignisse durch gezielte Falschinformation mit herbeigeführt hatten. Während Venevisión und Televen mittlerweile gemäßigter berichten, befinden sich RCTV und Globovisión noch immer in radikaler Opposition zu Chávez und schrecken nicht einmal vor Gewaltaufrufen zurück. Auch Globovisión könnte daher das gleiche Schicksal ereilen wie nun RCTV. Der Sender wird jedoch nicht geschlossen, wie weitläufig interpretiert und einfach gern behauptet wurde, sondern lediglich nicht mehr die öffentliche Sendefrequenz nutzen dürfen. Per Kabel oder Satellit wird man ihn weiterhin empfangen können.
Dennoch bezeichneten die Opposition, die katholische Kirche Venezuelas, die Organisationen Reporter ohne Grenzen und die Interamerikanische Pressegesellschaft (SIP) sowie der Generalsekretär der Organisation amerikanischer Staaten (OAS), José Miguel Insulza, die Maßnahme als Zensur und Einschränkung der Pressefreiheit. Insbesondere die Äußerungen Insulzas deutete Chávez als nicht hinnehmbare Einmischung in innere Angelegenheiten. Er nannte Insulza – den Venezuela ironischerweise bei seiner Wahl 2005 gegen den von den USA favoriserten mexikanischen Kandidaten Luis Ernesto Derbez tatkräftig unterstützt hatte – einen „wahrhaftigen Idioten“ und forderte ihn zum Rücktritt auf.

Vereinigt für die Revolution

Schon Ende letzten Jahres hatte Chávez das Projekt einer Vereinigten Sozialistischen Partei (PUSC) auf den Weg gebracht, um die 23 Chávez unterstützenden Parteien zu vereinen. Ziel der neuen Partei sei der Aufbau des Sozialismus “von unten“, wie Chávez beteuerte. Wer sich allerdings als Partei erhalten wolle „wird die Regierung verlassen“, so der venezolanische Präsident. Noch ist nicht klar, wer sich dem Projekt anschließen wird. Chávez‘ eigene Partei MVR (Bewegung Fünfte Republik), die mit Abstand stärkste Kraft innerhalb des Bündnisses, wird ohne Zweifel den Kern der neuen Partei bilden. PPT (Vaterland für Alle) und Podemos (Wir können), die bedeutendsten der kleineren Parteien fordern jedoch eine tiefer gehende Diskussion über das Thema.
In seine zweite reguläre Amtszeit startet Chávez mit einem etwa zur Hälfte erneuerten Kabinett. Der wohl prominenteste Wechsel betrifft die Vizepräsidentschaft. Der langjährige Chávez-Vertraute José Vicente Rangel, der schon seit 1999 unterschiedliche Ministerposten innehatte, wird von Jorge Rodriguez abgelöst, dem Ex-Präsidenten des Nationalen Wahlrates CNE. Jesse Chacón nimmt als Innen- und Justizminister seinen Hut und übernimmt das neu geschaffene Telekommunikationsministerium. Chávez begründete die Wechsel mit der Notwendigkeit „Bürokratie, Korruption und Ineffizienz“ zu bekämpfen. Persönliche oder politische Gründe lägen nicht vor. Der scheidende Vizepräsident Rangel betonte, dass er und die anderen Minister zwar die Regierung, aber „nicht die Revolution verlassen“.

Demokratie oder Autoritarismus?

Eines sollte klar sein: Die starke Polarisierung sowohl innerhalb der venezolanischen Gesellschaft als auch in der Debatte über die
Beurteilung Venezuelas wird in nächster Zeit wohl kaum abnehmen. Gerade erst sind zwei für gewöhnlich viel beachtete Studien mit völlig gegensätzlichen Ergebnissen erschienen. Während die US-amerikanische Organisation Freedom House in ihrem am 17. Januar veröffentlichten Jahresbericht „Freedom in the World“, Venezuela mit Russland auf eine Stufe stellt und beide Länder als “eindeutig Richtung Autoritarismus fortschreitend“ ansieht, scheint die venezolanische Bevölkerung selbst dies völlig anders zu sehen. Bei der Ende letzten Jahres erschienenen repräsentativen Erhebung des chilenischen Umfrageinstitutes Latinobarómetro, welches jährlich den Zustand der lateinamerikanischen Demokratien zu messen versucht, erzielte Venezuela – wie bereits im Vorjahr – äußerst gute Ergebnisse. So erhielt das Land sowohl bei der Frage ob Demokratie jeglicher anderen Regierungsform vorzuziehen sei als auch bei der Bewertung der real existierenden Demokratie im eigenen Land jeweils den höchsten Wert nach Uruguay. Laut der Studie ist der Prozentsatz der BürgerInnen, die mit der Demokratie in ihrem Land zufrieden sind, seit 1998 – der erstmaligen Wahl Hugo Chávez‘ – in keinem anderen lateinamerikanischen Land stärker gestiegen als in Venezuela (von 32 auf 57 Prozent). Auch das zeitlich befristete Regieren per Dekret wird wohl nichts an diesen Werten ändern. Chávez wird voraussichtlich nichts beschließen, was nicht sowieso eine Mehrheit hätte. Vor knapp zwei Monaten wurde er zudem ausdrücklich dafür gewählt, den Sozialismus des 21. Jahrhunderts voranzutreiben. Aber selbst wenn er im Sinne der Bevölkerungsmehrheit handelt, ist es bedenklich, deren Willen durch ein Bevollmächtigungsgesetz in reale Politik umzusetzen. Zumal das zu 100 Prozent von chavistas gebildete Parlament die geplanten Reformen ohnehin abnicken würde. Durch die Gewährung der Vollmachten wird darüber dort im Einzelnen allerdings nicht einmal mehr diskutiert werden.
Auch wenn Venezuela weit davon entfernt ist, eine Diktatur zu sein: Dass derzeit kaum Mechanismen zur Begrenzung der Macht des Präsidenten bestehen, sollte die Bevölkerungsmehrheit auch dann nicht hinnehmen, wenn dieser in ihrem Sinne entscheidet. Denn darauf, dass er dies auch 2021 noch tun wird, kann schlicht kein Verlass sein.

Den Caudillo überleben

Venezuela zeigt, dass eine neue und bessere Welt möglich ist“, rief Chávez nach Bekanntwerden der ersten Wahlergebnisse vom Balkon des Präsidentenpalastes Miraflores tausenden in strömendem Regen feiernden AnhängerInnen zu. Die Opposition hatte zu diesem Zeitpunkt wie erwartet erneut eine Wahl in Venezuela verloren, sorgte etwas später aber dennoch für die eigentliche Überraschung des Wahlabends. „Heute haben sie uns besiegt“, gab der unterlegene Präsidentschaftskandidat Manuel Rosales zu und nahm damit jeglichen Destabilisierungsversuchen den Wind aus den Segeln. Die Opposition beging somit den historischen Schritt, erstmals seit 1998 die demokratische Legitimität des amtierenden Präsidenten anzuerkennen.

Deutlicher Sieg

Beeindruckend war bei diesen Wahlen die Partizipation der venezolanischen Bevölkerung. Die Wahlbeteiligung war mit fast 75 Prozent so hoch wie seit 1988 nicht mehr. Nach Auszählung von über 98 Prozent der Stimmen kam Chávez auf fast 63 Prozent. Rosales hingegen erreichte knapp 37 Prozent der Stimmen. Damit erhielt der amtierende Präsident ein Mandat für weitere sechs Jahre, das am 2. Februar 2007 offiziell beginnen wird.
Für Chávez bedeutet der Wah­l­erfolg sowohl die höchste Zustimmungsrate als auch die höchste absolute Stimmenzahl, die er je bei Wahlen erreichte. Zwar verfehlte er wie erwartet die angestrebte Zehn Millionen-Marke, konnte die für ihn abgegebenen Stimmen jedoch auf fast 7,3 Millionen steigern. Beim Abwahlreferendum 2004 hatten gut 5,8 Millionen WählerInnen für sein Verbleiben im Amt gestimmt. Auch erreichte der Amtsinhaber in allen 24 Bundesstaaten des Landes die Mehrheit. Selbst in Zulia, wo Rosales amtierender Gouverneur ist, hatte Chávez knapp die Nase vorn. Der Oppositionskandidat konnte zwar in sechs größeren Städten Venezuelas die Mehrheit erringen, seine absolute Hochburg liegt allerdings außerhalb der Landesgrenzen: Im venezolanischen Konsulat in Miami erhielt er fast 98 Prozent der über 10.000 abgegebenen Stimmen.

Saubere Wahlen

Die WahlbeobachterInnen der EU, der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten), des Mercosur und des Carter-Centers stellten wie bei vorangegangenen Wahlen auch diesmal keine größeren Unregelmäßigkeiten fest. Insgesamt kam es lediglich zu einigen organisatorischen Mängeln. Die EU bemängelte in ihrem Abschlussbericht allerdings ein mediales Übergewicht in der Wahlkampfberichterstattung zu Gunsten von Chávez sowie die politische Instrumentalisierung staatlicher Funktionäre und Institutionen. Selbst die USA erkannten das Wahlergebnis an und ließen sogar einen zukünftigen Strategiewandel gegenüber Venezuela durchblicken, indem sie Chávez einen vertieften Dialog anboten. Der venezolanische Präsident hatte in der Vergangenheit jedoch mehrfach betont, dass eine Verbesserung der Beziehungen mit der jetzigen Regierung der USA nicht möglich sei.

Konstruktive Opposition

Rosales forderte den Amtsinhaber auf, das Wahlergebnis „sehr genau“ zu lesen, „weil es nicht zehn Millionen waren, wir sind weiterhin 26 Millionen Venezolaner“. Er kündigte an, dass sich die Opposition in Zukunft konstruktiv an der Politik im Venezuela beteiligen wolle. In den letzten Jahren hatte sie sich durch ihre permanente Ablehnungshaltung immer weiter ins politische Abseits manövriert und auf sämtlichen Entscheidungsebenen gravierend an Einfluss verloren. Die immerhin über vier Millionen erreichten Stimmen können somit durchaus als Achtungserfolg gewertet werden.
Rosales kündigte an, zunächst von einer Kommission Vorschläge für eine Verfassungsreform erarbeiten zu lassen. Vereinzelte inhaltliche Forderungen sind bereits bekannt. So soll die Amtszeit des Präsidenten auf vier Jahre verringert werden, weiterhin nur eine Wiederwahl möglich sein und eine Stichwahl eingeführt werden, sofern niemand im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erreicht. Außerdem fordert die Opposition eine klar definierte Respektierung des Privateigentums.
Rosales kündigte auch an, sich weiterhin für sein im Wahlkampf propagiertes Projekt stark zu machen, ein Fünftel der Erdöleinnahmen mittels einer Geldkarte direkt an die Bevölkerung zu verteilen. Da die Opposition aufgrund ihres Boykotts der letztjährigen Parlamentswahlen ohne Abgeordnete dasteht und gerade einmal noch über zwei Gouverneursposten verfügt, wird ihr politischer Einfluss in der näheren Zukunft allerdings eher gering bleiben. Für die angestrebten Verfassungsänderungen ist sowohl eine Zweidrittelmehrheit im Parlament als auch eine einfache Mehrheit in einem Referendum notwendig. Somit sind die interessanteren Konflikte in den nächsten Jahren innerhalb des chavistischen Lagers zu erwarten.

Weg zum Sozialismus

Chávez begrüßte das Vorhaben der Opposition, sich in Zukunft stärker politisch zu engagieren. „Ich werde immer offen zum Dialog sein, aber ohne Konditionen, ohne Erpressung“, sagte der venezolanische Präsident. Er ließ allerdings keinen Zweifel daran durchblicken, den bolivarianischen Prozess vertiefen zu wollen: „Von dem Weg zum Sozialismus wird mich niemand abbringen und jetzt, mit über sieben Millionen bewussten Stimmen, noch weniger“. Befürchtungen der Opposition, Chávez könnte nach seinem Wahl­­erfolg die bürgerlichen Freiheiten einschränken, trat dieser entschieden entgegen: „Ich garantiere, dass Venezuela in dieser neuen Ära, die die revolutionäre Regierung beginnt, weiterhin die umfassendsten Freiheiten der Beteiligung, der Meinung, des Denkens und des Ausdrucks genießen wird“. Der angestrebte „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ werde sich grundlegend von den gescheiterten Versuchen des 20. Jahrhunderts unterscheiden. Chávez wolle „weder eine Diktatur der Eliten, noch eine Diktatur des Proletariats“. Vielmehr sei er auf der Suche nach „mehr Demokratie“.

Konsolidierung des Prozesses

Auch er plant zunächst einmal eine Verfassungsreform. Außer der Ankündigung, die Möglichkeit der unbeschränkten Wiederwahl des Präsidenten einzuführen, ist allerdings noch nicht viel Konkretes bekannt. Die geplanten Reformen zielen aber vor allem auf eine Stärkung der partizipativen Demokratie und der wirtschaftlichen Transformation ab. Ob sich das bolivarianische Projekt in den nächsten Jahren konsolidieren kann, wird in entscheidendem Maße davon abhängen, ob es gelingt, Ordnung in die staatlichen Strukturen zu bringen und basisdemokratische Entscheidungsmechanismen zu stärken. Denn zurzeit bestehen in Venezuela politische Parallelstrukturen. In der öffentliche Verwaltung sitzen noch zahlreiche Personen, die das bolivarianische Projekt mehr oder weniger offen konterkarieren. Daher wurden zum Beispiel die als misiones bekannten Sozialprogramme außerhalb der traditionellen Institutionen angesiedelt. Anderweitig wäre deren erfolgreiche Umsetzung praktisch unmöglich gewesen. Dies hat aber gleichzeitig dazu geführt, dass effektive Kontrollmechanismen de facto nicht oder nur unzureichend existieren.
Als eines der wichtigsten Projekte der kommenden Amtszeit kündigte Chávez eine Reform der öffentlichen Verwaltung an, um sich endlich von der weit verbreiteten Korruption zu verabschieden und die „bürokratische Konterrevolution“ aufzuhalten. Außerdem ist die Vereinigung des bolivarianischen Lagers zu einer gemeinsamen Partei geplant. Die Schaffung einer „Revolutionspartei“ ist bei einigen kleineren Parteien aber durchaus umstritten und setzt eine lange Zeit der Diskussion über Vor- und Nachteile sowie die Art der Fusion voraus.

Ausbau der Partizipation

Zur Stärkung der partizipativen Demokratie wird in nächster Zeit vor allem der Ausbau von Gemeinderäten (consejos comunales) vorangetrieben werden. Laut dem Gemeinderatsgesetz, das im April 2006 verabschiedet wurde, werden diese Räte in städtischen Gebieten von 200 bis 400, in ländlichen von 20 und in indigenen Gebieten von zehn Familien gebildet. Die Räte dienen dazu, demokratisch und transparent über die Verwendung von staatlichen Geldern zu entscheiden, die den jeweiligen Gemeinden zustehen. Auf diese Weise soll mit den oft langwierigen und nicht selten von Korruption begleiteten repräsentativen Entscheidungsmechanismen gebrochen werden. Bereits weit über 10.000 Gemeinderäte existieren schon jetzt in Venezuela. Sollte sich dieses Experiment partizipativer Demokratie erfolgreich entwickeln, könnte es die Art und Weise, wie in Venezuela Entscheidungen getroffen werden, dauerhaft verändern.
Auch auf wirtschaftlichem Gebiet soll die Mitbestimmung weiter ausgebaut werden. Im Rahmen der angestrebten endogenen Entwicklung fördert die Chávez-Regierung massiv Projekte solidarischer Ökonomie wie Kooperativen und selbstverwaltete Betriebe. Zwar leidet auch dieser Bereich unter fehlenden Kontrollmechanismen für die maßgerechte Verwendung von Geldern. Zumindest werden aber in großem Maßstab alternative Wirtschaftsformen erprobt, die letztlich die Basis für eine Transformation zu einem gerechteren wirtschaftlichen System hin bilden könnten.

Chávez‘ ambivalente Rolle

Der gerade wiedergewählte Chávez selbst nimmt bei der Konsolidierung des bolivarianischen Prozesses eine so wichtige wie problematische Rolle ein. Einerseits verkörpert er den Transformationsprozess wie kein anderer und ist der Garant dafür, dass dessen Heterogenität nicht in sinnlose Streitereien untereinander mündet. Andererseits existiert ein übersteigerter Personenkult und eine Fortsetzung des Prozesses ist ohne den Präsidenten derzeit undenkbar. Die Herausforderung besteht also vor allem darin, nachhaltige Strukturen zu schaffen, die einen Präsidenten Chávez politisch überleben könnten. Dieser hat selbst oft genug betont, dass eine Revolution den Namen nicht Wert wäre, wenn sie von einer einzelnen Person abhinge. So folgt die offizielle Linie des chavismo nach wie vor dem Diktum, möglichst viel „Macht dem Volk“ zukommen zu lassen. Doch selbst unter chavistischen PolitikerInnen sind längst nicht alle damit einverstanden, Kompetenzen zugunsten einer Vertiefung der partizipativen Demokratie abzugeben. Politische Basisgruppen, die den Prozess im Prinzip stützen, werden somit auch weiterhin politische Reformen tatkräftig einfordern müssen. Davon wird es letztlich abhängen in welche Richtung sich Venezuela entwickelt.

KASTEN
Übersicht über die Wahlergebnisse

Innerhalb der chavistischen Koalitionskräfte wurde die Führungsrolle des MVR (Bewegung Fünfte Republik) mit 41,67 Prozent aller abgegebenen Stimmen untermauert. Es folgen mit großem Abstand die Parteien Podemos (6,54 Prozent) und PPT (5,13 Prozent) sowie die Kommunistische Partei Venezuelas PCV (2,94 Prozent). Rosales‘ eigene Partei, Un Nuevo Tiempo (Eine neue Zeit), bisher lediglich in Rosales´ Bundesstaat eine ernst zu nehmende Kraft, kam aus dem Stand auf 13,36 Prozent der Stimmen. Die bisher bedeutendste Oppositionspartei, die rechte Primero Justicia (Gerechtigkeit zuerst) erreichte dagegen nur 11,16 Prozent. Abgesehen von der christdemokratischen Copei (2,24 Prozent) spielte keine der 40 weiteren oppositionellen Gruppierungen eine Rolle bei diesem Urnengang.

Ein bolivarianischer Aufbruch?

Noch am Wahlabend verkündete der siegreiche Linkskan­didat Rafael Correa das Ende der „langen und traurigen neoliberalen Nacht“ und erklärte, nicht er und sein Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten Lenín Moreno hätten die Präsidentschaftswahl gewonnen, sondern das e­cua­doria­nische Volk. Correa kündigte zudem bereits einige interessante Be­setzungen von Ministerposten an. Unter anderem wird demnach Alberto Acosta Energieminister. Der Wirtschaftswissenschaftler Acosta hat zeitweise an der Universität Köln studiert und ist derzeit unter anderem für das Lateinamerikanische Sozialforschungsinstitut (ILDIS) tätig, der Vertretung der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito. Gustavo Larrea, Menschenrechtsaktivist und bisher Sprecher von Correas Wahlbündnis Alianza PAÍS, soll Innen- und Regierungsminister werden.
Auch nach der Wahl wiederholte Correa seine schon aus dem Wahlkampf bekannten Positionen: Er werde weder einen Freihandelsvertrag mit den Vereinigten Staaten unterzeichnen noch den 2009 auslaufenden Vertrag für die US-Militärbasis im ecuadorianischen Manta verlängern, da die Unabhängigkeit Ecuadors nicht zum Verkauf stehe.
Die Militärbasis in Manta wird von US-amerikanischen Militärs im Konflikt zwischen der kolumbianischen Guerillaorganisation FARC und der kolumbianischen Regierung genutzt. In der Vergangenheit war es immer wieder zu Vorfällen an der Grenze gekommen. Correa bezeichnete den Konflikt als internen Konflikt Kolumbiens, der keine Auswirkungen auf die Souveränität Ecuadors haben dürfe.
Correa kündigte weiterhin an, er werde das Gehalt des Präsidenten von monatlich 8.000 auf 4.000 US-Dollar senken. Wichtigstes Vorhaben sei jedoch die Einberufung einer ver­fassunggebenden Versammlung.

Vorbild Morales

Direkt nach Amtseintritt werde er dafür einen Volksentscheid einleiten. Correa beruft sich auf den Artikel 104 der ecuadorianischen Verfassung, wonach der Präsident ein Plebiszit zur Verfassungsreform anberaumen kann – eine Interpretation, die von vielen nicht geteilt wird. Vielmehr benötige der Präsident die Zustimmung des Kongresses, um eine verfassunggebende Versammlung einberufen und diese mit weitreichenden Vollmachten ausstatten zu können.
Correa skizzierte derweil, wie sich die neue Regierung die verfassunggebende Versammlung vorstelle. Alle EcuadorianerInnen sollen kandidieren können, wenn sie genügend UnterstützerInnen gesammelt haben. Die Unterstützung durch eine Partei soll nicht erheblich sein, der Staat will für gleiche Wahlwerbung aller KandidatInnen sorgen und diese wohl auch finanzieren. Wenn die Versammlung erst installiert sei, werde es keine gegenseitige Blockade zwischen dieser und dem Kongress geben, sondern eine Aufgabenaufteilung. Wie in Bolivien so soll auch in Ecuador der Kongress nicht etwa aufgelöst, sondern mit beschränkten Aufgaben (vor allem fiskalischer Natur) betraut sein, während die asamblea eine neue Verfassung ausarbeiten und beschließen soll.
Auch wenn davor gewarnt wird, zu hohe Erwartungen an eine verfassunggebende Versammlung zu richten, findet dieses Vorhaben Correas viel Unterstützung. So bekundeten unter anderem die Indigenen-Organisation CONAIE, ihr politischer Arm Pachakutik und die Demokratische Volksbewegung (Movimiento Popular Democratico, MPD) ihre Unterstützung der gewählten Regierung und ihres Vorhabens einer Verfassungsreform.
Nicht nur bezüglich der asamblea constituyente sind Ähnlichkeiten zur Agenda des Bolivianers Evo Morales zu erkennen. So erklärte etwa der zukünftige Energieminister Acosta, die Regierung werde in ihrer Politik den Grundsatz anerkennen, dass es ohne Souveränität keine Entwicklung geben könne. Unmittelbar nach der Wahl begann der designierte Minister, die Verträge mit den in Ecuador tätigen Erdölkonzernen zu überprüfen. Correa hatte im Wahlkampf immer wieder erklärt, der derzeitige Zustand, dass die Gewinne aus der Erdölproduktion zu großen Teilen bei den transnationalen Konzernen landeten, sei nicht vertretbar.
Überprüft werden sollen auch die Verträge mit den Energieversorgern sowie mit den Mobilfunk-Anbietern, da die beiden großen Anbieter Porta und Movistar/Telefónica für im lateinamerikanischen Vergleich überhöhte Preise stünden.

Und Vorbild Kirchner

Das zweite große Vorhaben Correas ist ein neuer Umgang mit der Staatsverschuldung. Wie Néstor Kirchner in Argentinien möchte auch Correa die Unabhängigkeit seines Landes und seiner Politik von internationalen Kreditgebern und dem Internationalen Währungsfonds erreichen. Ob er Neuverhandlungen der Kredite anstrebt oder doch ein einseitiges Moratorium durch seine Regierung beabsichtigt, ließ Correa im Wahlkampf offen.
So reagierten auch die Finanzmärkte auf den Wahlsieg Correas: Der Wert ecuadorianischer Schuldentitel fiel umgehend. Correa erklärte, das Leben sei wichtiger als die Schulden, und signalisierte damit, dass er eine andere Verwendung der Staatsfinanzen beabsichtigt. Zugleich machte er aber deutlich, dass es keine einseitige Einstellung der Zahlungen geben werde – was selbst einige der nervös gestimmten Spekulanten für glaubwürdig hielten. Auch in Ecuador läuft es also auf eine Nachverhandlung der Kredite mit dem Ziel der Verbesserung der Konditionen hinaus.
Der bilaterale Freihandelsvertrag zwischen Ecuador und den USA ist mit dem neuen Präsidenten wohl erst einmal vom Tisch. Im Gegensatz zu seinen Nachbarn Peru und Kolumbien, die beide erst vor kurzem Freihandelsverträge mit den USA abgeschlossen haben, wird Ecuador also eine unabhängigere Handelspolitik betreiben.

Wie weiter mit dem Bolivarianismus?

Aus der Sicht Ecuadors ist damit eine verstärkte südamerikanische Zusammenarbeit von vitalem Interesse. Der zukünftige Innenminister Larrea erklärte, die neue Regierung wolle die Beziehungen mit allen „Bruderländern“ ausbauen und mit der lateinamerikanischen Integration vorankommen. Langfristig sei der Traum der Alianza PAÍS eine lateinamerikanische Gemeinschaft.
Die genaue Orientierung zwischen den verschiedenen Wegen der südamerikanischen Integration ist jedoch noch nicht klar. Der designierte Präsident Correa spekulierte öffentlich über einen möglichen Beitritt des derzeitigen Andengemeinschafts-Mitglieds Ecuadors zum Mercosur, da die Andengemeinschaft CAN aufgrund der Freihandelsverträge Perus und Kolumbiens mit den USA nicht mehr funktioniere. Mit der gleichen Begründung war zuvor Venezuela unter Hugo Chávez aus der CAN ausgetreten und ist jetzt assoziiertes Mitglied des Merco­sur. Correas zukünftiger Energieminister Acosta erklärte anderslautend gegenüber der kolumbianischen Tageszeitung El Tiempo, man werde die CAN wiederbeleben und sich gleichzeitig dem Mercosur und der Südamerikanischen Staatengemeinschaft (Comunidad Sudamericana de Naciones, CSN) annähern.
Während die Alianza PAÍS also noch nach ihrer Position in Bezug auf die südamerikanische Integration sucht, verbanden verschiedene südamerikanische Regierungen die Gratulation zum Wahlsieg Correas mit Ideen zur Ausgestaltung des Integrationsprozesses. Nachdem die venezolanische Regierung in einer Erklärung den Wahlsieg Correas feierte und betonte, Ecuador habe „Unabhängigkeit und Freiheit“ wiedergewonnen, unterstrich der venezolanische Energieminister Rafael Ramírez die Möglichkeit einer Zusammenarbeit im Bereich der Erdölproduktion. Auch der argentinische Staatschef Néstor Kirchner verband seine Gratulation mit der Bitte um eine verstärkte Zusammenarbeit und signalisierte Correa seine Unterstützung für dessen Anliegen eines Beitritts zum Mercosur.
Der bolivianische Präsident Evo Morales wusste sich ebenfalls an dieser „bolivarianischen Gratulationsrunde“ zu beteiligen – machte Correa jedoch ein konkreteres Angebot: Auf Einladung von Morales nahm Correa am 8. und 9. Dezember am zweiten Gipfel der Südamerikanischen Staatengemeinschaft CSN in Cochabamba, Bolivien teil, bei dem sich ein Großteil der südamerikanischen Staatschefs über die Zukunft des Integrationsvorhabens auseinandersetzten. Mit verschiedenen süd­amerikanischen Präsidenten kam Correa in der Folge zu Gesprächen zusammen, so sprach er zum Beispiel mit dem brasilianischen Präsidenten Lula über gemeinsame Infrastrukturvorhaben.

Correa vor Regierungsantritt

Die konkrete politische Agenda der Regierung Correa ist über die bis jetzt skizzierten Grundsätze und die angekündigten „Großprojekte“ hinaus noch unklar. Genauso offen ist, wie sich der – ebenfalls neu gewählte – Kongress in puncto verfassunggebender Versammlung, aber auch in Bezug auf die Zusammenarbeit im politischen Alltag verhalten wird.
Die neue Regierung könnte auf einen Dialog mit dem Kongress setzen, würde sich dann aber leicht bei den eigenen WählerInnen unbeliebt machen. Ebenso könnte sie es zu einer Konfrontation mit dem Parlament kommen lassen. Aber gerade für diesen Fall erscheint die Möglichkeit der Umsetzung einer neuen Politik nicht als besonders realistisch. Einfach wird es Correa jedenfalls nicht haben, einen politischen Wandel in Ecuador zu befördern.
Der gewählte Präsident hat aber die Chance, die durch Korruption, gegenseitige Blockade und starke Ablehnung der Politik innerhalb der Bevölkerung beschädigte Demokratie in Ecuador zu stärken. Sollte dies gelingen, könnte das auch eine Konsolidierung der nach wie vor fragmentierten Linken in Ecuador vereinfachen.
In jedem Fall wird sich Ecuador regional neu positionieren. Das Verhalten der Regierung Correa kann die Konstellation zwischen hegemonialen Marktinteressen der USA und den Versuchen einer verstärkten regionalen Integration, aber auch zwischen Andengemeinschaft und Mercosur maßgeblich beeinflussen. Die Zukunft der südamerikanischen Zusammenarbeit hängt unter anderem davon ab. Interessant ist dies gerade auch in Hinsicht auf das Integrationsprojekt Südamerikanische Staatengemeinschaft (CSN). Ob diese sich von einer Idee zum realen Projekt entwickelt, wird sich in den nächsten Jahren entscheiden.

Mit Krimis gegen die Angst schreiben

Herr Valle, Grundlage Ihrer Romane sind reale Erlebnisse, aber auch Untersuchungen und Befragungen. Wo findet man in den Romanen Tatsachen, und wo verwenden Sie Fiktion?

Meine Serie von Kriminalromanen hat eine Vorgeschichte. Ich bin von Haus aus Journalist und untersuchte neun Jahre lang das Phänomen der Prostitution in Kuba. Resultat dieser Recherche war das Buch “Habana Babilonia oder Prostitution in Kuba”. Darauf baut die Serie auf. Alle Motive basieren auf realen Ereignissen, von denen in Zeitungsartikeln berichtet wurde oder die ich in Polizeiakten fand. Ich benutze diese Themen als eine Art Reflexion über die kubanische Realität. Der Kriminalroman verbindet den Leser mit dieser Reflexion, führt ihn bei der Suche nach weiteren Informationen. Ich verteile die wahren Begebenheiten überall in den Büchern, gebe ihnen so Leben. Fiktional sind nur die literarischen Figuren, die ich geschaffen habe. Aber einige von ihnen stammen direkt aus dem wirklichen Leben und sind für ihre literarische Verwendung verändert worden.

Eine Besonderheit Ihrer Krimis ist, dass sie in den verfallenen Vierteln von Havanna spielen. Ihre Prosa ist teilweise sehr nüchtern, teilweise sehr präzise und sehr vulgär. Sexualität ist ein zentrales Thema, das ausführlich beschrieben wird. Was verbindet Sie mit diesem Umfeld?

Seit ich denken kann, lebe ich in Kuba in sogenannten barrios, in einer Gegend, die man in anderen Teilen der Welt als marginale Viertel bezeichnet. Während es andernorts vielleicht möglich ist, marginale Viertel von anderen zu unterscheiden, haben sich in Kuba diese Grenzen aufgehoben. Mein Motiv ist ganz einfach das Leben dort, wo ich selbst lebe. Ganz einfach. Ich möchte, dass der Leser meiner Bücher erfährt, dass es ein Kuba gibt, das verheimlicht werden soll. Ein Kuba, das viel reichhaltiger als dasjenige ist, das die Regierung präsentiert. Es ist viel schöner als das Kuba der Touristenposter. Das ist das Kuba des barrio. Das Kuba der Menschen, die kubanisch denken und kubanisch sprechen. Das Leben in diesen barrios erzeugt in dir eine Identifikation. Wenn Du dich selbst als Schriftsteller ernst nimmst, dann musst du über die barrios schreiben, über die Sinnlichkeit der Frauen. Und du wirst von der Marginalisierung erzählen, davon, dass es an allem mangelt. Dort lernst du den Menschen in allen seinen Facetten kennen. Weil ich genau dort lebe, wo es Prostitution, Drogen und den Schwarzmarkt gibt, schreibe ich darüber. Ich möchte von den 16-jährigen Jungs erzählen, die als Kinder zusammen mit meinem Sohn im Park gespielt haben und die jetzt auf der Straße Drogen verkaufen oder sich als pingueros, als männliche Prostituierte anbieten. Weil ich das alles täglich sehe.

Was bedeutet es, unter diesen Umständen Schriftsteller in Kuba zu sein?

Heute ein Künstler in Kuba zu sein bedeutet vor allem, eine ganz bestimmte Einstellung zu vertreten, einen Kompromiss einzugehen und abhängig von bestimmten politischen, ökonomischen und sozialen Gegebenheiten zu sein. In anderen Ländern ist es vielleicht möglich, trotzdem am Rande der Gesellschaft eine Nische zu finden. In Kuba ist das nicht möglich. Entweder man verhält sich entsprechend der vorgegebenen sozialen und künstlerischen Vorgaben – oder man versucht seine Unabhängigkeit zu bewahren, so wie ich. Diese Unabhängigkeit hat aber Folgen. Man erhält keinerlei Unterstützung von den etablierten Institutionen, man wird verschwiegen und ignoriert. Um die Frage ganz einfach zu beantworten: Heute ein Künstler in Kuba zu sein, bedeutet eine Übereinkunft abzuschließen. Entweder mit Dir selbst, als Person, als Künstler, als unabhängiges menschliches Wesen oder mit einer Gesellschaftsform, die sich leider immer weiter in Richtung Totalitarismus bewegt.

Wie lässt sich das heutige kulturelle Panorama in Kuba beschreiben?

Es gibt auf Kuba eine der beeindruckendsten kulturellen und künstlerischen Bewegungen Lateinamerikas. Wenn Kritiker über Kunst, Musik, Kino oder die grundsätzliche kulturelle Entwicklung des Kontinents sprechen, nennen sie immer Argentinien, Mexiko, Kolumbien und Kuba. Das sind die vier wichtigsten Länder. Im Falle Kubas hängt das eindeutig mit der Revolution zusammen. Kulturelle Einrichtungen wurden eröffnet und Kultur durch Bildung in die Bevölkerung getragen. Ganz eindeutig förderte das auch die Künstler. Aber wenn Du an diesem etablierten Umfeld teilhaben willst, wenn Du es für Dich nutzen willst, damit Du veröffentlichen oder auch im Ausland Bekanntheit erlangen kannst, dann geht das nur, wenn Du dich dem politischen Diktat unterordnest. Und das hat eine Parzellierung der kubanischen Kultur hervorgerufen. Leider sind wir nur sehr wenige, die sich für ein unabhängiges Leben entschieden haben, ohne sich in irgendeiner Form politisch festzulegen. Und das können wir auch nur, weil wir von außerhalb Unterstützung erfahren.

Und die Menschen aus den barrios, die in Ihren Büchern eine so wichtige Rolle spielen – auf welche Weise spielt Politik für diese Menschen eine Rolle?

Die Kubaner sind ein sehr gebildetes Volk. Es macht mich sehr stolz, das zu sagen. In den letzten Jahren haben die Lebensbedingungen in Kuba den Leuten aber etwas aufgezwungen, was wir in Kuba la ley de resolver nennen, die Regeln des absoluten Überlebens. Es gibt nirgendwo etwas, man muss sich alles auf dem Schwarzmarkt besorgen, Medikamente zum Beispiel. Oder Arbeit: Du musst Dir welche erfinden, um Essen kaufen zu können. Die zugeteilten monatlichen Rationen reichen gerade einmal für fünf oder sechs Tage. Deshalb musst Du Dich ausschließlich um Dein Überleben kümmern. Und aus diesem Grund kann der Kubaner sich nicht um Politik kümmern. Außerdem erlaubt der Staat dem Kubaner nicht, politisch aktiv zu sein. Man muss immer wieder sagen, dass die Gesellschaft Kubas denjenigen gleicht, die im ehemaligen Ostblock vorherrschend waren. Es gibt nur eine Partei, und an der Spitze von Partei und Regierung stehen immer nur dieselben Personen, die keinen Raum für einen offenen politischen Dialog lassen.

Obwohl viele Kubaner eine sehr realistische Einschätzung ihrer Lebenssituation haben, scheint noch nicht der Moment gekommen zu sein, dass sich eine breite soziale Bewegung formiert, um diese Verhältnisse zu verändern.

Es geschieht bereits, allerdings sehr langsam. Man muss verstehen, dass das politische System Kubas auf der Basis von Angst funktioniert. Es gibt eine sehr ausgeprägte Struktur der Angst. Um sich in diesem Land als soziales Wesen politisch zu engagieren, muss man erst die Angst überwinden. Und das kostet sehr viel Anstrengung. Es gab beispielsweise das Projekt Varela, bei dem eine Verfassungsreform für mehr Meinungsfreiheit und mehr politische Rechte durchgesetzt werden sollte. Laut aktueller kubanischer Verfassung ist eine Reform bei der Übergabe von 10.000 Unterschriften möglich. Insgesamt wurden mehr als 20.000 Unterschriften gesammelt, ohne dass es eine Änderung gab. Es gibt zwar eine soziale Bewegung, die sich Schritt für Schritt vergrößert. Der Staat aber gibt sich demgegenüber absolut zugeknöpft und verweigert sogar Rechte, die in der Verfassung verankert sind.

Wie würdest Du das heutige Kuba in einem einzigen Satz beschreiben?

Es ist ein gleichzeitig furchtbar schönes und furchtbar trauriges Kuba.

Von Amir Valles Kriminalromanen sind bisher auf deutsch erschienen:

Die Türen der Nacht
Edition Köln, 2005,
203 Seiten, 14,90 Euro

Wenn Christo Dich entkleidet
Edition Köln, 2006, 149 SEiten, 14,90 Euro

Weitere Informationen: www.amirvalle.com

Die „gute Linke“ in Uruguay

Uruguays Finanzminister Danilo Astori kann stolz sein: Im Januar 2006 wählte ihn die britische Wirtschaftszeitschrift The Banker zum Wirtschaftsminister des Jahres. Denn die Regierung von Tabaré Vázquez in Uruguay gehört laut AnalystInnen mit Michelle Bachelet in Chile und Lula da Silva in Brasilien zur „guten Linken“ in Lateinamerika. Auf der „bösen“ Seite sind Hugo Chavez in Venezuela und der kürzlich gewählte bolivianische Präsident Evo Morales. Die britische Financial Times veröffentlichte schon im September 2005 eine Elogie auf die Regierungsführung des uruguayischen Sozialisten: „Die Betonung der makroökonomischen Disziplin und die Bedeutung, die der Notwendigkeit privates Kapital ins Land zu locken, gegeben wird, sind Belege dafür, dass die lateinamerikanische Linke letztendlich gereift ist.“ In Uruguay selbst sehen das aber immer mehr Menschen anders und auch in Lateinamerika isoliert sich die Regierung der Frente Amplio (FA).

Zerbrochene Einheit

Der uruguayische Soziologe Daniel Chávez hält Vázquez’ Politik für politischen Selbstmord der uruguayischen Linken: „Diesen Weg einzuschlagen, ähnlich wie Lula da Silva in Brasilien, wird zwar dazu führen, dass Tabaré Vázquez weiter Beifall von internationalen Medien wie der Financial Times erhält. Doch die Linken, die dem sozialen Ausgleich und der Umverteilung Vorrang geben, kritisieren ihn.“ Obwohl immer noch die Mehrheit der Bevölkerung die Politik mehr oder weniger zähneknirschend unterstützt, wächst die Kluft zwischen der Regierung und Basis der Frente Amplio von Tag von Tag. Mit jeder Entscheidung, die dem Wahlprogramm und dem Parteiprogramm der FA widerspricht, verliert das Regierungsprojekt an Legitimation. Vom „Compañero Presidente“ (Genossen Präsident) ist schon längst keine Rede mehr. Dabei waren es gerade Dialogbereitschaft und starke Basisbindung, die Vázquez 2004 zum Wahlsieg führten. Das intensiv geknüpfte soziale Netz der FA erreichte die letzten Winkel des Landes. Alle sozialen Schichten und die unterschiedlichen Sektoren von extrem links bis Mitte rechts formten bis zum Wahlsieg eine stabile Allianz, die ideologische Streits ausklammerte. Es entstand eine „Frente Amplio-Identität“, die die Identifizierung mit den einzelnen Parteien und Sektoren überlagerte. Die Einheit war weit mehr als die Summe der einzelnen Strömungen. „Die Frente sind wir“, sangen alle gemeinsam. Zumindest damit ist es aber nach dem Regierungswechsel unwiederbringlich vorbei. Schon ein Jahr nach dem 1. März 2005 gibt es von öffentlichen Schreiben voller Enttäuschung und Verbitterung begleitete Austritte aus der FA.

Huidobro will räumen

Zur Enttäuschung trägt auch die Politik der MPP (Partizipative Volksbewegung) entscheidend bei, die vom heutigen Landwirtschaftsminister José Mujica und dem Senator Eleuterio Fernández Huidobro, angeführt wird. In den 60er Jahren waren Mujica und Huidobro Mitgründer der Stadtguerilla Tupamaros. Und noch in den späten 1980er Jahren waren sie Zielscheiben von dumpfen Verunglimpfungen wie: „Die Tupamaros sind gewalttätige Leute, die Kinder entführen, um sie nach Russland zu schaffen“. Heute überbieten sich beide in Beschimpfungen von allen, die ihrem Verständnis von „linker“ Politik widersprechen. Besonders Huidobro, der auch als Autor und Publizist bekannt ist, hat dabei jeden Maßstab verloren. Außenpolitisch verteidigt er das gemeinsame Militärmanöver mit den USA und die Entsendung von uruguayischen Truppen nach Haiti. Wirtschaftlich setzt er sich für das Ende 2005 ohne Diskussion mit der Basis eilig verabschiedete Investitionsabkommen mit den Vereinigten Staaten ein und betont die Notwendigkeit eines Freihandelsabkommens mit den USA. Die Errichtung der Zellulose-Fabriken am Río de la Plata und die Ausweitung der Eukalyptus-Monokulturen segnet er ebenfalls ab. Und er ist für den Verbleib der privaten multinationalen Wasserkonzerne im Land, obwohl 64 Prozent der Bevölkerung im Oktober 2004 für eine Verfassungsreform gestimmt haben, in der die Privatisierung des Wassers ausdrücklich untersagt wird.
Sein neuester Richtungswechsel betrifft seine Haltung im aktuellen Konflikt um eine Landbesetzung von arbeits- und landlosen ZuckerrohrarbeiterInnen im extrem armen Nordwesten des Landes. Der ehemalige Tupamaro, der früher die Enteignung von brachliegendem Land forderte, will heute die seit dem 16. Januar 2006 von 50 Familien besetzten 36 Hektar gewaltsam räumen lassen. Ausgerechnet im Gebiet von Bella Union, wo 1962 der historische Marsch der „Peludos“ (Haarige) genannten Zuckerrohrarbeiter nach Montevideo begann.

Mujica gegen Umverteilung

Der Viehwirtschafts-, Landwirtschafts- und Fischereiminister Mujica steht seinem Kollegen in nichts nach. Bis vor kurzem skandierte er noch: „Das Land denjenigen, die es bearbeiten.“ Jetzt beschimpft er die ZuckerrohrarbeiterInnen und die sie unterstützende Gewerkschaft als Störenfriede, da sie sein ehrgeiziges, aber unausgereiftes Projekt einer Wiederbelebung der Zuckerindustrie behindern. Trotz allen Parolen vom „Produktiven Land”, einem der Wahlslogans der FA, geht die an den Interessen von Großgrundbesitzern und ausländischen Konzernen ausgerichtete Agrarpolitik nahtlos auch unter Mujica weiter. „Nach einem langen Leben voller Opfer im sozialen Kampf, endet ein linkes Leben in den Armen der Rechten“, so die Aussage eines ehemaligen Mitstreiters.
Der häufig prophezeite Machtkampf zwischen dem von der Financial Times gelobten Wirtschaftsminister Astori und Mujica blieb hingegen aus. Der wirtschaftsliberale Astori hat sich durchgesetzt und sein vermeintlicher Gegenspieler José Mujica führt praktisch aus, was ihm der Finanz- und Wirtschaftsminister sowie der Präsident vorgeben. „Reichtum produzieren heißt nicht, ihn zu verteilen. Man kann nicht das verteilen, was es nicht gibt. Man muss den Reichtum vermehren und dann sehen wie er verteilt wird.“ Leider kam diese Aussage Mujicas zu spät für die Auszeichnung der Financial Times. Sonst wäre der Minister sicher ebenfalls vom britischen Finanzblatt lobend erwähnt worden.

Der Zellulose-Konflikt

Das Thema, das die offizielle Politik, die Berichterstattung und die Diskussionen bestimmt, ist der „Zellulose-Krieg“ am Río de la Plata. Von den anderen wichtigen Themen wie der Veränderung des Straflosigkeitsgesetzes oder den anstehenden Reformen im Gesundheits- und Rentensystem ist kaum noch die Rede.
Die von finnischen und spanischen Konzernen geplanten Fabriken sollen gegen alle Widerstände, so wie noch von der konservativen Vorgängerregierung beschlossen, gebaut werden. Kritik kommt von uruguayischen UmweltschützerInnen wie auch von den BewohnerInnen der argentinischen Kleinstadt auf der anderen Seite des Flusses. Die Situation ist absolut verhärtet, von Dialog mit den argentinischen Nachbarn keine Spur mehr. Ein böses Wort jagt das andere und vor allem die führenden Politiker der FA überbieten sich in absurden Vergleichen. „Schlimmer als die Blockade der USA gegen Kuba“, nennt der Transportminister Victor Rossi die Blockade der binationalen Brücke zwischen dem argentinischen Gualeguaychú und der uruguayischen Kleinstadt Fray Bentos, in der die Fabriken gebaut werden sollen. Umweltschützer und die Bevölkerung der argentinischen Kleinstadt sperren die Brücke seit Anfang Februar. Für Mujica ist das eine „Sabotage gegen die uruguayische Tourismusindustrie“; für Huidobro sind die Blockierer vom argentinischen Präsidenten Néstor Kirchner instrumentalisierte Piqueteros. Greenpeace-AktivistInnen, die einen Baustopp fordern, um einen Dialog über den Fabrikbau zu ermöglichen, werden als Faschisten, Verrückte und Ökoterroristen beschimpft.

Nationalistische Linke

Ganz unabhängig davon, wer jetzt im Recht ist, hätte sich Präsident Vasquez um eine Entschärfung der Diskussion bemühen müssen. Oder um internationale Unterstützung für seine Position, zum Beispiel bei den übrigen Mitgliedern des Wirtschaftsbündnisses Mercosur. Statt dessen gießt er Öl ins Feuer: „Die Argentinier sind wie ein Ehemann, der fünf Jahre im voraus seine Frau schlägt, weil sie ihn ja später betrügen könnte“, so Vázquez im Februar 2006. Für März ist die nächste öffentliche Sitzung aller MinisterInnen des Vázquez-Kabinetts ausgerechnet in Fray Bentos geplant. Von Dialogbereitschaft keine Spur. Dabei hat gerade das die uruguayische Linke immer ausgezeichnet.
Der im Streit am Río de la Plata zu Tage tretende Nationalismus in Uruguay ist möglicherweise die Kehrseite des „sentido común“ (Gemeinsinns), an den bei allen Volksabstimmungen gegen die Privatisierung der Staatsbetriebe erfolgreich appelliert wurde. Der Linken war es möglich, dieses Gefühl in ein politisches Votum zu übersetzen.
Kann diese Linke das Land verändern? Diese Frage stellen sich immer mehr Menschen. Die grenzenlose Begeisterung vom Oktober 2004 ist verschwunden. Bei der Bekämpfung der Korruption, den ArbeiterInnenrechten und einer sozialeren Reformpolitik gibt es Veränderungen beziehungsweise Verbesserungen. Aber die Entwicklung eines gerechteren Wirtschaftsmodells und ein Beitrag zur Neudefinition einer lateinamerikanischen Identität sind von dieser uruguayischen Regierung nicht zu erwarten. Die uruguayische „Linke“ wird eine „gute linke Regierung“ bleiben, da braucht sich die Finanzwelt keine Sorgen zu machen. Inwieweit sich als Konsequenz daraus eine tatsächlich unabhängige Linke entwickelt, ist eine noch offene Frage.

Eine Frau – und vor allem eine Überlebende

Dass Dr. Michelle Bachelet als Kandidatin des regierenden Mitte-Links-Bündnisses Concertación am 15. Januar zur Präsidentin Chiles gewählt wurde, ist etwas Besonderes – nicht nur weil sie als erste Frau diesen hohen politischen Posten bekleidet. Dabei stellt ihre Wahl zweifellos einen bedeutenden Paradigmenwechsel dar, eine Feminisierung der Politik, die für viele Frauen Anlass zur Freude und Hoffnungssignal ist. Während des Übergangs zur Demokratie waren Frauen weitgehend vom politischen Geschehen ausgeschlossen. Sie wohnten der Konsolidierung eines Wirtschaftsmodells bei, das Frauen mit geringen Einkommen hart trifft und sie bezüglich Einkommen, beruflicher Weiterentwicklung und Zugang zu Entscheidungsinstanzen diskriminiert. Doch angesichts des enormen sozialen Ungleichgewichts, das in Chile herrscht, ist Bachelet nicht nur für Frauen eine Hoffnungsträgerin. Wie der Wahlkampf die politischen Lager spaltete, so vereinte er gleichzeitig die ärmere Bevölkerung in ihrer Unterstützung der Linken. Geschlossen traten sie gegen den steinreichen Unternehmer Sebastián Piñera auf, den Kandidaten des rechten Bündnisses Alianza por Chile.
Dessen Wirtschaftsimperium umfasst nicht nur Medien, sondern auch das Geschäft mit Kreditkarten – ein Instrument, das für das Konsumverhalten und die Verschuldung einer großen Mehrheit der ChilenInnen verantwortlich ist. Den Wahlkampf Piñeras, der sich in seinen Reden als guter Demokrat gebärdete, leiteten ehemalige Funktionäre des Pinochet-Regimes. Piñera selbst stellt es als seinen Verdienst heraus, beim Plebiszit im Jahr 1989 gegen Pinochet gestimmt zu haben. Dabei verschweigt er allerdings seine damalige Unterstützung für Hernán Büchi, den Kandidaten des Ex-Diktators, der Patricio Aylwin unterlag.

Widerstand gegen Pinochet

Michelle Bachelet hingegen war bis 1975, dem Jahr der Operación Colombo, im Untergrund aktiv. Diese repressive Aktion, bei der 119 Mitglieder der Widerstandsgruppen verschwanden, wurde wenige Tage vor der nachträglichen Pseudowahl Pinochets kurzfristig in die Wege geleitet. Bachelet, damals noch Medizinstudentin, wurde zusammen mit ihrer Mutter verhaftet und überlebte Gefängnis und Folter in der Villa Grimaldi. Später ging sie ins Exil in die DDR. Von dort kehrte sie 1979 nach Chile zurück, um mitten in der Diktatur als Ärztin die Kinder von Gefolterten und Gefangenen zu behandeln. Keiner der drei bisherigen Präsidenten seit dem Übergang zur Demokratie, weder die Christdemokraten Aylwin und Frei noch der Sozialist Ricardo Lagos, können mit einer ähnlichen Biographie aufwarten. Dennoch dürfen auch nicht Bachelets Verbindungen zu der so genannten „Militärfamilie“ übersehen werden, die sie als ehemalige Verteidigungsministerin eingegangen ist. Ebenso wie ihr Vorgänger und Parteifreund Lagos tritt sie zudem für einen „erneuerten Sozialismus“ ein, der in der Praxis nichts anderes als die Fortsetzung des herrschenden neoliberalen Modells bedeutet. Diese Wirtschaftspolitik, die ein Erbe der Diktatur darstellt, wird auch von Bachelet nicht grundsätzlich in Frage gestellt.

Politische Stabilität gesichert

In ihrer ersten Rede nach ihrem Wahlsieg erinnerte die neue Präsidentin an ihren Vater, Alberto Bachelet, einen General der Luftwaffe, der während der Diktatur im Gefängnis starb. Zudem betonte sie, ihre Regierung werde die Einheit aller ChilenInnen darstellen. Mit der Wahl Michelle Bachelets ist der Übergang zur Demokratie für viele ChilenInnen somit endgültig abgeschlossen. Dieses lang ersehnte Ereignis scheint vor allem dadurch belegt, dass sich das politische System eine solch symbolträchtige Figur wie Bachelet als Präsidentin leisten kann, ohne irgendeine Gefährdung der Stabilität befürchten zu müssen. Es ist kein Zufall, dass Bachelet bisher noch keine Anspielung auf die politischen Prozesse, die zur Zeit in Venezuela ablaufen, gewagt hat. Sie zog es vor, zunächst die Beziehungen zu Argentinien in den Vordergrund zu stellen, zu dessen Präsident sie ein gutes Verhältnis pflegen soll.
Michelle Bachelet, die allein erziehende Mutter dreier Kinder ist, wurde von Ricardo Lagos zunächst zur Gesundheitsministerin, später zur Verteidigungsministerin ernannt. Durch ihren klaren und familiären Stil gewann sie schnell an Beliebtheit und stellte immer wieder ihre Fähigkeiten unter Beweis, schwierige Situationen zu meistern. Die Kandidatin der Concertación beginnt nun ihre Regierungszeit mit einem bisher nie dagewesenen Rückhalt von 53 Prozent der chilenischen Bevölkerung. Die neue Präsidentin verfügt zudem über eine Mehrheit im Kongress, der zum ersten Mal seit Ende der Diktatur nur aus gewählten Mitgliedern besteht. Möglich wurde dies durch die kürzlich in Kraft getretene Verfassungsänderung, die die von Pinochet auf Lebenszeit ernannten Senatoren ausschließt.
Trotz dieser guten Ausgangsbasis wird es Bachelet schwer haben, die im Wahlkampf versprochenen Reformen umzusetzen. So hatte sie beispielsweise der Kommunistischen Partei PCI für deren Unterstützung im zweiten Wahlgang zugesagt, das binominale Wahlsystem durch ein Verhältniswahlrecht zu ersetzen. Das aktuelle Wahlsystem hatte bisher immer verhindert, dass kleinere linke Parteien oder andere Minderheiten den Sprung ins Parlament schaffen. Dies wäre aber wohl notwendig, um zum Beispiel die Arbeitsgesetze zu reformieren, wie es von der PCI gefordert wird. Zur Änderung des Wahlrechts bedarf es allerdings einer Verfassungsreform, die Bachelet angesichts der aktuellen Fraktionsstärken nur im Zusammenspiel mit der rechten Opposition erreichen könnte.

Kranke Gesellschaft – Zersplitterte Linke

Die vom Individualismus zerfressene chilenische Gesellschaft, in der bislang normalerweise die Angst die treibende Kraft beim Urnengang war, hat sich größtenteils solidarisch mit der sozialistischen „Frau Doktor“ gezeigt. Auf diese Weise machten die ChilenInnen vielleicht deutlich, wie sehr sie sich der Erkrankung ihrer Gesellschaft bewusst sind und wie sehr sie darauf hoffen, die tiefen Widersprüche, von denen das Land zerrissen ist, zu überwinden. Die Zahl der Depressiven und psychisch Kranken in Chile ist eine der höchsten weltweit. Die gesamte chilenische Linke, welche das neoliberale Wirtschaftsmodell vehement ablehnt, bringt es aber nicht fertig, der Gesellschaft eine Alternative zur „Sanierung“ der Märkte anzubieten. So haben sie sich heute politisch an den Rand katapultiert. Das Bündnis „Junto Podemos Más“ aus PCI, Humanistischer Partei und anderen Splitterparteien, das mit einem sehr mageren Ergebnis aus dem ersten Wahlgang hervorging, hatte vor der Wahl enorme interne Probleme zu bewältigen, die seine Glaubwürdigkeit stark beeinträchtigten. Einen Höhepunkt erreichten die Streitigkeiten, als der Kandidat des Bündnisses, Tomás Hirsch von der Humanistischen Partei, sich der Kommunistischen Partei (PCI) widersetzte und für die Abgabe von leeren Stimmzetteln im zweiten Wahlgang warb.
Weder die Verhandlungen der PCI mit der Concertación noch die propagierten leeren Stimmzettel trugen allerdings dem Dilemma Rechnung, das durch das gute Abschneiden der Rechten im ersten Wahlgang entstand. Dass die WählerInnen schließlich den Rechtsruck abgewendet haben, liegt wohl vor allem an ihrem kollektiven Geschichtsverständnis, welches ihre Stimmabgabe – bewusst oder unbewusst – beeinflusst hat. Dieses Denken der WählerInnen orientiert sich somit nicht an den Vorschlägen der kommunistischen Politiker oder des Ex-Kandidaten Hirsch. Es steht vielmehr in engem Zusammenhang mit einem grundlegenden Politikverständnis, das die WählerInnen die Feinde der Demokratie erkennen lässt und sie davon überzeugt, dass die Äußerung von Unzufriedenheit gegen das herrschende System in einem solchen Moment keine Alternative darstellt.
Die Freude, Erleichterung und auch Hoffnung, die in den Straßen nach dem Wahlsieg Michelle Bachelets zu verspüren waren, beschrieben die Feiernden als „vergleichbar mit dem Nein gegen Pinochet“. Ganze Familien gingen auf die Straße, schwenkten Fähnchen, tanzten und jubelten und störten sich nicht daran, dass die Antrittsrede wegen Ausfall der Lautsprecheranlage nicht zu verstehen war. Eine Überlebende der Diktatur brachte es auf den Punkt: „Michelle ist eine von uns“. Carmen Herz, eine anerkannte Anwältin, die unter anderem in Verhandlungen gegen Pinochet und die Caravana de la Muerte (Karawane des Todes) auftrat, rief die Präsidentin unverzüglich auf, gegen die Straflosigkeit vorzugehen. Einige Monate zuvor hatte Bachelet die von Lagos erlassene Begnadigung eines ehemaligen Militärs abgelehnt, jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dies kein Thema des Wahlkampfs sein sollte.

Hoffnung für die sozialen Organisationen

In ihren ersten Verlautbarungen ließ die neue Präsidentin Distanz zu den Parteien ihres eigenen Bündnisses erkennen. Sie wolle zwar deren Meinung bezüglich der Kabinettsbildung respektieren, die endgültige Entscheidung läge aber in ihren Händen. Auf diese Weise unterstrich sie die Tatsache, dass sie ihr Mandat direkt vom Volk erhalten hat. Sie werde als „erste Frau im Staat“ für mehr Bürgerbeteiligung und Dialog eintreten. Mit einem Augenzwinkern an die Umweltschützer erklärte sie, sich für ein Wirtschaftswachstum einsetzen zu wollen, das nicht zu Lasten der Umwelt gehe. Viele Akteure der Zivilgesellschaft sind der Überzeugung, die Präsidentin werde ein offenes Ohr für alternative Projekte haben. Außerdem glauben sie, dass sich Bachelet der Tatsache bewusst sei, dass alle politischen Parteien in der Bevölkerung immer weniger Unterstützung finden und sie somit stärker auf eine gut organisierte Zivilgesellschaft setzen muss. Eine große Herausforderung angesichts der historischen Gleichgültigkeit der Concertación gegenüber den Vorschlägen sozialer Organisationen und ihrem eisernen Bündnis mit UnternehmerInnen und UnterstützerInnen des aktuellen Wirtschaftsmodells. Letztere hatten die Wahl wohlwollend beobachtet, die Börse blieb weitgehend unbeeindruckt.
Bisher jedoch stellen die sozialen Bewegungen noch keine große Herausforderung für die Regierung der Concertación dar, die den Benachteiligten des Systems „stärkeren Schutz“ versprochen hat. In den Anfängen ihrer Entwicklung, noch in viele kleine Splittergruppen aufgeteilt und bisher ohne nachhaltige Ergebnisse stehen diese Bewegungen, genauso wie die vielen im Land entstehenden linken Kollektive, vor der gleichen Aufgabe wie vor der Wahl: Sie müssen an Stärke gewinnen, um auf das politische Leben Chiles Einfluss nehmen zu können. Aber mit der neuen Epoche in der chilenischen Demokratie, die mit dem Amtsantritt von Michelle Bachelet am 11. März eingeleitet wird, erscheinen die Bedingungen und Möglichkeiten für diese Entwicklungen in einem günstigeren Licht als bisher. Vor allem Frauen glauben dies bemerkt zu haben. Das aktuelle Wirtschaftsmodell wird in seinen Grundlagen kurzfristig erst einmal erhalten bleiben. Aber die Angst wird schwinden und neuer Hoffnung Platz machen.

Politisches Geschacher um neue Verfassung

Das politische Chaos in Ecuador hält an. Um den Forderungen der sozialen Bewegungen nach einer neuen Verfassung für das Land nachzukommen, reichte Präsident Alfredo Palacio Mitte Oktober bei der obersten Wahlbehörde einen Antrag auf ein Referendum ein. Doch die Behörde wies die Initiative des Präsidenten als „unausgewogen und verfassungswidrig“ zurück. Nur in äußerst dringenden Fällen politischer Instabilität sei es dem Präsidenten laut der geltenden Verfassung erlaubt, über den Kongress hinweg eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen. Dies sei aber laut der Wahlbehörde nicht der Fall. Andere VerfassungsexpertInnen erkennen dem Präsidenten generell das Recht ab, ein Referendum für dieses Ziel auszurufen.
Einiges weist somit darauf hin, dass die unausgereifte Initiative von Palacio eher als Versuch zu verstehen ist, die schwache Unterstützung innerhalb der Bevölkerung auszubauen, statt eine tief greifende politische Veränderung des Landes anzugehen. Palacio, unter Ex-Präsident Lucio Gutiérrez Vizepräsident, übernahm nach dessen Sturz im April dieses Jahres das Amt des Präsidenten. Bis Anfang 2007 hat er es weiterzuführen. Bei seinem Amtsantritt verpflichtete er sich, eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen. Zunächst konnte dies die politischen Turbulenzen, die Ecuador seit gut zehn Jahren beherrschen, beenden. Acht Präsidenten hatten erfolglos versucht, das Land aus der Krise zu führen. In der Bevölkerung gilt eine neue Verfassung als Heilmittel, die politische Stabilität wiederzuerlangen.

Angst um die Macht

Die sozialen Bewegungen und linken Parteien setzten den Präsidenten unter Druck, weiter an dem Referendum festzuhalten. Währenddessen bemühten sich die traditionellen Parteien im Kongress, diese Initiative auf eine Reform der Verfassung zu minimieren, über welche der Kongress selbst zu entscheiden hat. Ihre Angst: Eine verfassungsgebende Versammlung hätte die Macht, den Kongress aufzulösen und den Einfluss der Parteien auf die Staatsapparate zu beschneiden.
Mit Erfolg. Palacio legte dem Kongress seinen Entwurf zur Bearbeitung vor, wo dieser nun wahrscheinlich politisch zu Grabe getragen wird, statt wie geplant Ende des Jahres an den Urnen beurteilt zu werden. Die Mehrheit der Abgeordneten des Ein-Kammer-Parlaments kündigte an, die Version des Präsidenten erst gar nicht zu analysieren, sondern stattdessen Reformen für die geltende Verfassung einzuleiten. „Der Vorschlag zu einer verfassungsgebenden Versammlung ist gefährlich für das Land”, verteidigte der Kongress-Präsident Wilfrido Lucero die Haltung des Parlaments. „Dieser rechtfertigt sich nur im Falle einer Diktatur.”
Weit entfernt ist das Land von diesem Szenario nicht. So ist etwa das Justizsystem Ecuadors zutiefst gelähmt. Außerdem konnte seit knapp drei Jahren der oberste Posten der Staatsaufsichtsbehörde nicht besetzt werden. Diese untersucht Unregelmäßigkeiten in den Regierungsstellen. Für die Besetzung ihrer Posten ist eine Zweidrittel-Mehrheit unter den Abgeordneten nötig, die bisher nicht zustande kam. Nun wollen die Abgeordneten durchsetzen, dass eine einfache Mehrheit genügt, um den Stau bei der Postenverteilung abzubauen. Mehr dürfte nicht zu erwarten sein.
Palacio, der keiner Partei angehört und somit kaum Unterstützung im Kongress genießt, könnte zum Bauernopfer im Gerangel um die Verfassungsreform werden. Abgeordnete drohten dem Präsidenten mit politischen Verfahren. Sie warfen ihm vor, anhand der verfassungsgebenden Versammlung eine Verlängerung seiner Amtszeit zu suchen, was dieser umgehend zurückwies. Sollte Palacio nicht das Referendum vorantreiben und sich mit dem Kongress arrangieren, drohen die sozialen Bewegungen mit neuerlichen Protesten auf der Straße. Palacio bekräftigte zunächst, dass der begonnene Prozess für eine neue Verfassung „unumkehrbar” sei. Doch das Einreichen des Referendums im Kongress hat diesem Prozess jegliche Aussicht auf Erfolg genommen.

Ablenken mit Außenpolitik

Vorübergehende Abhilfe bekam Palacio durch außenpolitische Themen, die ins Sichtfeld der Öffentlichkeit rückten und ihm so den politischen Druck durch das Referendum von den Schultern nahmen. Zwischenfälle an der Grenze zu Kolumbien und mögliche Änderungen der peruanischen Grenzpolitik ließen Palacio außenpolitisch agieren, statt die innenpolitische Krise zu meistern. Kampfhubschrauber und Militäreinheiten der kolumbianischen Armee sollen in der zweiten Novemberwoche bei einer Militäroperation gegen Guerillagruppen das Grenzgebiet überschritten haben. Palacio setzte nicht auf stille Diplomatie, sondern ließ den Zwischenfall öffentlich austragen und kündigte eine umgehende Stippvisite in der Zone an. Quito reichte eine Protestnote bei der kolumbianischen Regierung ein und forderte eine öffentliche Entschuldigung. Bogotá verweigerte diese jedoch, da es nie zu einer Grenzüberschreitung gekommen sei.
Die ecuadorianische Regierung rief das Nachbarland ebenfalls auf, eine Lösung für die rund 300.000 kolumbianischen Kriegsflüchtlinge zu finden, die in den letzten Jahren in Ecuador Zuflucht suchten. So sollen allein mehr als 1.000 Bauern und Bäuerinnen auf Grund der jetzigen Militäraktion in ecuadorianische Provinzen geflüchtet sein.
Für weitere Unruhe sorgte der ehemalige Erzfeind Peru. Der peruanische Kongress kündigte Ende Oktober eine Änderung der Meeresgrenzen zu Chile an, was in Ecuador mit Sorge betrachtet wird. Bis zu einem Friedensvertrag 1998 hatten Peru und Ecuador militärisch Grenzstreitigkeiten ausgetragen. Nun wird in Quito befürchtet, das damals abgeschlossene Abkommen über die Anerkennung des Grenzverlaufs beider Länder könnte von Peru annulliert werden. „Ecuador muss sich militärisch für diesen Fall rüsten”, forderte der ecuadorianische Ex-Präsident León Febres Cordero. Der Kongress beschloss, dass es keine offenen Fragen über den Grenzverlauf gebe und Peru somit keine Änderungen vornehmen dürfe. Vorsorglich wurde schon mal mit dem Säbel gerasselt: der Kongress bestellte die obersten Militärchefs für den 22. November ein, um über militärische Reaktionen unterrichtet zu werden, sollte das Nachbarland Schritte zur Veränderung seiner Grenzen unternehmen. Palacio stellte zwar klar, dass sein peruanischer Kollege Alejandro Toledo ihm gegenüber versichert habe, dass die gemeinsamen Grenzen nicht zur Debatte stünden. Ein Zügeln der eifernden ParlamentarierInnen war vom Präsidenten jedoch nicht zu hören.

Ab in den Knast

Ein anderes Manöver, das fehlschlug, leistete sich unterdessen der Ex-Oberst und Ex-Präsident Lucio Gutiérrez, der am 14. Oktober nach monatelangem Asyl im Ausland nach Quito zurückkehrte. Bei seiner Landung in der ecuadorianischen Hauptstadt wurde er umgehend verhaftet. Gutierréz, der sich nach wie vor als legitimer Präsident proklamiert, wollte das politische Chaos in Ecuador nutzen, um mit Hilfe seiner AnhängerInnen eine Rückkehr an die Macht zu erreichen. Sein Versuch endete hinter Gittern.

USA stoppen „Zeitlupen-Putsch“

Nicaragua wurde durch die Intervention der USA vor einem gefährlichen Umsturz bewahrt. Diesen Eindruck vermitteln die Berichte der internationalen Agenturen aus Zentralamerika. Tatsächlich griffen die USA nicht zum ersten Mal ein, um einen innenpolitischen Konflikt Nicaraguas zu schlichten. Anders als im frühen 20. Jahrhundert konnten sie allerdings auf Kanonenboote und Inva­sionstruppen verzichten. Es genügte, dass der stellvertretende Staatssekretär des US-Außenministeriums, Robert Zoellick, nach Managua reiste und die Sperre der US-Hilfe von 175 Millionen US-Dollar sowie Handelssank­tionen androhte. „Ihre Chancen werden verloren gehen“, wird Zoellick in der New York Times aus einem Gespräch mit Geschäfts­­leuten vom 4. Oktober zitiert. Gemeint sind die Exportchancen in die USA. Die Drohung wirkte: Das Destabilisierungs­ma­növer der Opposition gegen Staats­präsident Enrique Bolaños wurde erst einmal abgeblasen.
Die Opposition gegen Bolaños im nicaraguanischen Parlament setzt sich nicht nur aus San­di­nistischer Befreiungsfront FSLN sondern auch aus Abgeordneten der Liberalen Partei PLC zusammen. Diese sind in ihrer Mehrzahl dem Ex-Präsidenten Ar­noldo Alemán hörig, der wegen Bereicherung während seiner Amts­­zeit zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde.
Unter Führung der ehemaligen Präsidenten Daniel Ortega von der FSLN und Arnoldo Alemán von der PLC haben die beiden Parlamentsfraktionen ein Paket von Verfassungsreformen beschlossen, das die Macht des Staatschefs zu­gunsten des Parlaments empfindlich beschneidet. Bolaños stilisierte dieses Manöver als „Staatsstreich in Zeitlupe“ zur umstürzlerischen Verschwörung hoch. Denn in Wahr­­­heit geht es nicht nur um eine Stärkung der Legislative auf Kosten der Exekutive, sondern um eine schleichende Entmachtung des Präsi­den­ten zugunsten seiner beiden Vorgänger Ortega und Alemán. Diese haben jetzt schon alle wich­­tigen Posten in den Staatsorganen unter ihren Par­tei­gän­ge­rInnen aufgeteilt. Das Ringen um die Verfassungsreformen hatte das institutionelle Leben Nicaraguas monatelang gelähmt und die Auszahlung internationaler Wirtschaftshilfe blockiert.
Nach Zoellicks Intervention sagte Ortega seinem Widersacher Bolaños bei einem Treffen der beiden am 10. Oktober zu, das Inkrafttreten der Verfassungsreformen bis zum nächsten Amtswechsel im Januar 2007 zurückzustellen. Der nächste Präsident und die nächste Nationalversammlung sol­len dann erneut darüber entscheiden.
Dieses so­ genannte „Ley Marco“, das die Rücknahme der Verfassungsänderungen vorsieht, muss jedoch noch vom Parlament bestätigt werden.
Unmittelbar nach dem Besuch aus Washington ratifizierte das Parlament auch den US-Zentral­ame­­ri­­kanischen Freihandelsvertrag CAF­TA, der in Nicaragua vor allem von den ImporteurInnen unterstützt wird, aber Kleinbäuerinnen und -bauern in Existenznöte bringt. Wie Ortega es geschafft hat, seine Fraktion davon zu überzeugen, diesem von den Sandi­nis­ten bisher erbittert bekämpften Abkommen zuzustimmen, ist unbekannt.

Ziel Präsidentschaft

Oberstes Ziel des ehe­ma­ligen Revolutionskom­man­dan­ten Ortega ist es schluss­endlich, nach drei aufeinander folgenden Wahlniederlagen, wieder in den Präsidentenpalast einzuziehen. Eine Wahl­rechts­reform und die Spaltung der Liberalen Partei begünstigen seine Absichten. Bisher spekuliert Ortega darauf, dass sein Pakt mit Arnoldo Alemán das anti­san­di­nistische Lager spaltet und damit die eigenen Chancen auf die Präsidentschaft erhöht. Das erfordert strategische Zugeständnisse: Eine sandinistisch dominierte Justiz sorg­te dafür, dass Arnoldo Alemán zuerst in Hausarrest entlassen und zuletzt überhaupt bedingt auf freien Fuß gesetzt wurde. Dieser garantiert im Gegenzug, dass die Liberalen gespalten bleiben.
Ortegas Einlenken im Streit um die Verfassungsreform ist nun ein neuer Schachzug im Machtpoker des Sandinistenführers. Am 14. Okto­ber traf er sich nochmals mit Präsident Bolaños und distanzierte sich danach öffentlich vom Pakt mit den Liberalen. Ortega gab bekannt, die PLC habe ihm gegenüber gefordert, einer Rücknahme der Verfassungsänderungen nur dann zuzustimmen, wenn eine Amnestie des verurteilten Ex-Präsidenten Alemán vorangetrieben würde. Er distanzierte sich von dieser Forderung und sagte „der Pakt, wie viele es nannten, mit der liberalen Partei, hat keinen Sinn mehr“.
Es bleibt abzuwarten, wie lange dieser Positionswechsel Ortegas anhält – es ist schließlich nicht der erste. Die PLC widersprach Ortegas Aussagen: Der Pakt sei nicht beendet noch würde er in Zukunft beendet werden. Bereits ein Jahr vor den Wahlen ist in Nicaragua der Wahlkampf in vollem Gange.

Drei Caudillos lähmen das Land

Ganz im privaten Kreis, in der verschwiegenen Kapelle der Katholischen Universität von Managua, erneuerten der sandinistische Expräsident Daniel Ortega und seine Frau Rosario Murillo am 10. September ihr Eheversprechen vor Kardinal Obando y Bravo und erbaten dessen Segen für ihr Bündnis. Der Bräutigam in einen steifen dunklen Anzug mit roter Krawatte umarmte nach der Zeremonie den ganz in weiß gekleideten Kirchenfürsten. KritikerInnen Ortegas, die sich über dessen plötzliche Hinwendung zum praktizierten Glauben wundern, sehen in dem Akt die offizielle Ölung des ehemaligen Revolutionskommandanten zum Kandidaten der Kirche.

Spätestens mit der öffentlichen Versöhnung in der Kathedrale am 19. Juli letztes Jahr war ein Schlussstrich unter zweieinhalb Jahrzehnte gespannter Beziehungen zwischen der sandinistischen Führung und der katholischen Kirchenhierarchie gezogen worden. Vergessen die vorübergehende Ausweisung von Bischof Pablo Antonio Vega im Jahre 1985, vergessen die Sexfalle der Staatssicherheit, in die 1982 der damalige Assistent Obandos, Bismarck Carballo, heute Bischof von Rivas, tappte. Vergessen offenbar auch Obandos Messfeiern für die Contras in Miami und seine wenig verschleierten Wahlempfehlungen für die Liberalen noch im Jahr 2001. Daniel Ortega hat sich ganz der Autorität des greisen Kirchenfürsten unterworfen, der mit seinen 80 Jahren zwar schon längst in Pension sein sollte, auf besondere Bitte des Papstes aber weiterhin inoffizieller Präsident Nicaraguas bleiben darf.

Der gefangene Präsident

Die offiziellen Präsidentschaftswahlen finden in knapp einem Jahr statt. Bis dahin werden qualvolle Monate für den nominellen Staatschef der liberalen Partei PLC Enrique Bolaños vergehen, der außer einigen MinisterInnen und BotschafterInnen niemanden hinter sich hat. Zwar ist es ihm gelungen, das Korruptionsregime seines Vorgängers und inzwischen verfeindeten Parteikollegen Arnoldo Alemán teilweise aufzuräumen und diesen hinter Gitter zu bringen, doch der eigentliche Gefangene ist nicht Alemán, sondern Bolaños. Alemán, egal ob er hinter den Kerkermauern von Tipitapa sitzt, im Hausarrest seines goldenen Käfigs lebt oder auf freiem Fuß lebt, ist eine der bestimmenden Kräfte im Land. Die Nationalversammlung wird von den Sandinisten und einem Arnoldo Alemán hörigen Flügel der Liberalen Partei beherrscht. Auch die Entscheidungsposten in den anderen Staatsgewalten – Justiz und Oberster Wahlrat – wurden zwischen Sandinisten und Arnoldisten aufgeteilt. Eine Verfassungsreform, vom Parlament beschlossen, die dem Präsidenten einen guten Teil seiner Kompetenzen nimmt, wurde vom Obersten Gerichtshof bestätigt. Dass Bolaños vom Interamerikanischen Gerichtshof und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) Recht bekam, hilft ihm nicht wirklich weiter, denn das institutionelle Leben ist großteils blockiert.

Die von der Nationalversammlung ernannten Chefs der halbautonomen Institutionen wie Telefon- oder Energiegesellschaft werden von Bolaños nicht anerkannt. Er wollte diese Unternehmen zwecks Privatisierung einer einheitlichen Führung unterstellen und ließ deshalb die Polizei aufmarschieren, die den neuen DirektorInnen den Zugang zu ihren Diensträumen verwehrt.
Wie Sandinisten und Liberale mit den Institutionen spielen, zeigt die Burleske um die Haftentlassung von Arnoldo Alemán. Der ehemalige Präsident, der nach Ende seiner Amtszeit wegen Veruntreuung von mindestens hundert Millionen Dollar zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde, genießt wegen angeblicher Haftunfähigkeit bereits seit Monaten die Annehmlichkeiten des Hausarrests auf seiner Hacienda El Chile, südlich von Managua. Kurzzeitig wurde von einer Richterin seine Haft sogar ganz aufgehoben. Eine Entscheidung, die schnell von den sandinistischen RichterInnen der Berufungsinstanz wieder rückgängig gemacht wurde. Denn offenbar sind die politischen Kosten für die Freilassung des korrupten Caudillos für die FSLN zu hoch. Zuletzt blieben die sandinistischen Richter „aus gesundheitlichen Gründen“ zu Hause, um einem nur von Liberalen besetzten Obersten Gerichtshof zu ermöglichen, dem prominenten Gefangenen ein Familienleben zuzugestehen. Für einen Kenner der nicaraguanischen Politintrigen wie den Journalisten Carlos Fernando Chamorro ist es nur eine Frage der Zeit, bis Alemán wieder all seine Bürgerrechte genießen kann. Denn Daniel Ortega braucht ihn, um die dauerhafte Spaltung des liberalen Lagers zu garantieren. Nur wenn zwei rechte Kandidaten antreten, so sein Kalkül, kann wieder ein Sandinist die Mehrheit erringen. Allerdings kann die Rechnung nur aufgehen, wenn das linke Lager geeint antritt. Wenn es Ortegas Rivalen Herty Lewites (siehe Interview) gelingt, eine Mitte-Links-Allianz zu schmieden, die für die enttäuschten Sandinisten eine Alternative darstellt, muss Ortega ihm ein Angebot machen.
Über Präsident Bolaños und einige seiner MinisterInnen, denen Wahlmanipulationen vorgeworfen wird, hängt außerdem das Damoklesschwert einer Anklage. Ihre GegnerInnen verfügen in der Nationalversammlung über eine ausreichende Mehrheit, um jederzeit ihre Immunität aufzuheben und sie an die Justiz ausliefern zu können – eine Justiz, die von Daniel Ortega nach Belieben manipuliert wird. Dass es wirklich zur Auslieferung des Präsidenten kommt, ist wenig wahrscheinlich, erweist es sich doch politisch als opportuner, ihn im Amt selbst zu lähmen. Seine GegnerInnen haben ihm politische Verhandlungen angeboten. Nachdem sich OAS-Generalsekretär Miguel Angel Insulza mit seinem ganzen Gewicht als Vermittler eingeschaltet hatte, wurde in der Katholischen Universität ein runder Tisch eingerichtet. Kardinal Obandos Privatuniversität ist damit zum Zentrum der Macht geworden. In ersten Verhandlungsrunden bot man Bolaños an, die Verfassungsreformen bis zum Ende seiner Amtszeit auszusetzen. Außerdem wollen sich Sandinisten und Arnoldisten verpflichten, künftige Ernennungen des Präsidenten zu ratifizieren.
In jedem Fall bliebe Bolaños weiterhin in politischer Geiselhaft, weil die Caudillos Ortega und Alemán in einer Neuauflage ihres politischen Paktes alle Schalthebel der Macht besetzt haben. Dritter im Bunde ist diesmal der Kardinal, der Bolaños grollt, weil dieser ihm die von Alemán zugestandenen Privilegien, die den Haushalt belasteten, stornierte. Zollfreiheit für Autoimporte hatten der erzbischöflichen Beschaffungsstelle einen schwunghaften Handel ermöglicht und Stipendien für die teure Privatuniversität Redemptoris Mater erhöhten den Einfluss der Kirche auf das Bildungswesen.

Widerstand gegen den Pakt

Die unheilige Allianz, die der sandinistischen Basis als notwendiges Mittel des politischen Machterhaltes verkauft wird, trifft jedoch auf immer mehr Widerstand. Am 28. August zog ein Protestmarsch durch Chinandega im Nordwesten des Landes. Die ersten Anti-Pakt-Demonstrationen waren in Managua und Granada vom Netzwerk für Nicaragua organisiert worden, einem Dachverband von Organisationen der Zivilgesellschaft. Die überparteiliche Plattform wird auch von den Präsidentschaftskandidaten Herty Lewites und Eduardo Montealegre genützt. Beide wurden aus ihren Parteien verstoßen, weil sie bei Vorwahlen gegen die alten Caudillos antreten wollten. In der sandinistischen Befreiungsfront FSLN erklärte Daniel Ortega, diesmal wolle man auf Vorwahlen verzichten, da ohnehin klar sei, dass niemand anderes als er kandidieren könne. Der dreimal gescheiterte Kandidat, der im November 60 wird, will 2006 einmal mehr antreten. Zwar zeigen alle Umfragen die unabhängigen Kandidaten Lewites und Montealegre weit vor den jeweiligen Parteichefs Ortega beziehungsweise Alemán, doch ist deren Mobilisierungskapazität außerhalb der größeren Städte begrenzt. Daher ist keineswegs ausgemacht, dass die guten Werte der vor allem in Städten erhobenen Umfragen sich auch wirklich in Wahlerfolge ummünzen lassen.
Ortega lässt nicht nur den populären Herty Lewites, der als Bürgermeister von Managua eine gute Figur machte, als Verräter brandmarken. Er versucht auch zu demonstrieren, was er sogar in der Opposition bewegen kann. So traf er sich im August mit Venezuelas Staatschef Hugo Chávez in Havanna und konnte diesen für „ölige“ Wahlkampfhilfe gewinnen. Venezuela will ein Kontingent billigen Erdöls liefern, das zu Vorzugspreisen an die nicaraguanischen Kommunen gehen soll. Die BürgermeisterInnen können derzeit wegen der hohen Spritpreise den öffentlichen Verkehr nicht mehr subventionieren. Angesichts der explodierenden Energiekosten will sich sogar Präsident Bolaños mit dem ungeliebten Chávez treffen, um für Nicaragua Vorzugspreise auszuhandeln. Allerdings befinden sich seit der Privatisierungsorgie der 90er Jahre nicht nur die Tankstellen in der Hand der großen Ölmultis, sondern auch die Transportinfrastruktur. Die einzige Raffinerie gehört dem Exxon-Konzern, der vertraglich verpflichtet ist, Benzin und Diesel nur zum jeweiligen Marktpreis abzugeben. Der Bau einer staatseigenen Raffinerie würde den knappen Haushalt sprengen. Nicaraguas schwache Erdölgesellschaft Petronic verfügt im übrigen nicht über die Transportkapazität, um die Gemeinden mit dem Billigsprit zu beliefern.
Der explosionsartige Anstieg des Erdölpreises hat auch den spanischen Energiekonzern Unión Fenosa in Schwierigkeiten gebracht. Der gewinnorientierte Stromversorger, der die Nicaraguaner mit hohen Preisen und schlechtem Service gegen sich aufgebracht hat, hat auch die Instandhaltung der Kraftwerke vernachlässigt. Stromrationierungen und gelegentliche Blackouts erinnern fatal an die Energiekrise während der sandinistischen Revolution, die damals der Unfähigkeit der comandantes angelastet wurde.
Auch sonst vermisst man die blühenden Landschaften, die Enrique Bolaños einst seinen WählerInnen versprach. Zwar wird von Managua bis Corn Island in der Karibik viel gebaut, doch außer den Villen der Reichen und Hotels, hinter denen Geldwäschetransaktionen vermutet werden müssen, ist die Investition gering. Nicaragua konnte sich rein statistisch im vom UN-Entwicklungsprogramm UNDP erhobenen Index der menschlichen Entwicklung um sechs Plätze verbessern (auf Rang 112 von 145 gemessenen Ländern). Gleichzeitig gehört es jedoch laut José Luis Machinea, dem Generalsekretär des Wirtschaftskomitees für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL), gemeinsam mit Honduras, Paraguay und Bolivien zu der Gruppe von Ländern, die die Millenniumsziele der Vereinten Nationen, allen voran die Halbierung der Zahl der an Hunger und Armut leidenden Menschen, bis 2015 nicht erreichen werden.
Besonders armutsgefährdet ist die karge Region nördlich von León und Chinandega sowie Teile der Departements Carazo und Boaco, wo laut einer Umfrage fast 43 Prozent der Familien höchstens zwei Mahlzeiten am Tag zu sich nehmen. Bei über 26 Prozent reicht es gar nur für eine. Der Anstieg der Kaffeepreise kommt für all jene Familien von ErntearbeiterInnen zu spät, die in den letzten Jahren ihre Existenz verloren haben, weil die großen Kaffeebarone ihre Plantagen nicht mehr bewirtschafteten. Die Familien sind längst abgewandert und vegetieren in den Elendsvierteln der Städte vor sich hin. Die Aufgabe jeder zukünftigen Regierung muss sein, die politische Lähmung des Landes zu überwinden und die zunehmende Verelendung der Bevölkerung zu bremsen.

Die „demokratische“ Konsolidierung des autoritären Neoliberalismus

Die verabschiedeten Reformen der Verfassung, die noch aus der Diktatur stammt, sind zugegebenermaßen nicht zu unterschätzen. Dennoch sollte man die euphorische Äußerung des Sozialdemokraten Lagos kritisch hinterfragen. Auffällig ist die Einstimmigkeit des chilenischen Parlaments bei der Verabschiedung der Reformen. Besonders die Zustimmung der Partei Nationale Erneuerung (RN), der „liberale“ Flügel der Rechten, und der ultrarechten Unabhängigen Demokratischen Union (UDI) sind auffällig. Beide Parteien haben jahrelang das Handeln und die Person Pinochets fast ausnahmslos leidenschaftlich verteidigt. Erst die Verhaftung des Ex-Diktators in London brachte einige Sektoren der Rechten zum Nachdenken.
Hierbei haben sicher der Bericht der Valech-Kommission über die politischen Gefangenen und die Folter unter der Diktatur sowie die Enthüllung der schmutzigen Geschäfte des Generals Pinochets eine wichtige Rolle gespielt. Dennoch bedeutet die aktuelle Verfassungsreform noch keine „Versöhnung“ der chilenischen Rechten mit der Demokratie.
Wem die Reformen wirklich nützen, wird deutlich, wenn man die konkreten politischen Folgen der wichtigsten Reformen kurz skizziert.

1. Verfassungsänderung: Abschaffung der institutionellen Senatoren und der Senatoren auf Lebenszeit

Entsprechend der Verfassung von 1980 sitzen in der oberen Kammer des Parlaments vier vom Nationalen Sicherheitsrat gewählte Senatoren (als Vertreter der drei Waffengattungen und der Militärpolizei), zwei Vertreter des Obersten Gerichtshofes, ein ehemaliger Vorsitzender der Obersten Kontrollbehörde der Republik, der ebenfalls vom Obersten Gerichtshof gewählt wird, ein ehemaliger Staatsminister und ein ehemaliger Universitätsrektor, beide vom Präsidenten der Republik designiert. Dazu kommen die ehemaligen Präsidenten der Republik. Als die Verfassung in Kraft trat, war dies nur Augusto Pinochet. Demzufolge saßen im ersten Parlament 1990 zehn nicht gewählte Senatoren, die schon während der Diktatur an der Spitze des Staates gestanden hatten und nun die Möglichkeit hatten, eine Sperrminorität zu bilden.
Im Laufe der letzen 15 Jahre hat sich die Situation deutlich verändert. Ohne eine Reform des entsprechenden Verfassungsartikel würden ab März 2006 zumindest fünf nicht gewählte Mitglieder des Senats aus der heute regierenden Koalition von Sozial- und Christdemokraten (Concertación para la Democracia) kommen: Die ehemaligen Präsidenten Frei und Lagos (als Senatoren auf Lebenszeit) zusammen mit einem ehemaligen Vorsitzenden der Kontrollbehörde, dem Ex-Rektor einer Universität und einem ehemaligen Staatsminister (als institutionelle Senatoren), die zur Concertación gehören. Ihnen gegenüber säße im besten Fall eine Gruppe von vier Vertretern der Uniformierten und zwei des Obersten Gerichtshofes, es entstünde also eine Pattsituation.
Die zukünftige Besetzung der zuletzt genannten vier Stellen durch Richter, die durch die regierende Koalition in den Obersten Gerichtshof gekommen sind, oder durch Vertreter des Militärs, die sich von der Rechten verraten fühlen, könnte die Situation für die Parteien RN und UDI noch schwieriger gestalten. Mit anderen Worten: Die Institution der designierten Senatoren war für die konservativen Kräfte keine Garantie mehr, sondern hatte zur Stärkung der regierenden Concertación beigetragen.

2. Verfassungsänderung: Absetzbarkeit der Oberbefehlshaber von Militär und Polizei

Angesichts der Unhaltbarkeit des Anspruches, die Autonomie des Militärs gegenüber dem Staatschef aufrechtzuerhalten, haben die konservativen Kräfte Chiles auf eine andere Karte gesetzt. Sie forderten, in Zusammenhang mit den Befugnissen der obersten Staatsautorität gegenüber dem Militär eine Kontrollinstanz zu schaffen. Um einen Oberbefehlshaber in Ruhestand zu versetzen, muss der Präsident der Republik nunmehr zuerst den Senat informieren und die Meinung der oberen Kammer des Parlaments einholen. Damit verwandelt sich die „normale“ Funktion der Exekutive in ein Politikum.

3. Verfassungsänderung: Beschränkung der Machtbefugnisse des Nationalen Sicherheitsrats (CSN)

Die Machtbefugnisse des CSN, der von den Juristen der Diktatur als oberste Kontrollinstanz über alle Verfassungsorgane vorgesehen war, ist in bedeutendem Maße beschnitten worden. Der CSN ist lediglich eine beratende Instanz, die in Zukunft prinzipiell nur noch vom Präsident der Republik einberufen wird. Die Vorsitzenden des Senats und des Obersten Gerichtshofes können allerdings eine Sitzung des Rates beim Präsidenten einfordern.
Obwohl der CSN nicht mehr die Befugnis hat, Entscheidungen zu treffen, bleibt jedem Mitglied das Recht vorbehalten, „seine Meinung gegenüber jedem Vorgang, Akt oder Gegenstand, die die Grundlagen der Institutionalität oder der nationalen Sicherheit betreffen könnten“ zu äußern. Dies ist der Wortlaut mit dem auch im CSN die Machtbefugnis des Militärs über die drei klassischen Staatsgewalten, die wie ein Damoklessschwert über der bisherigen Verfassung hängt. Die Tatsache, dass die Akten des CSN in der Regel öffentlich sein sollen, birgt Möglichkeiten für das Militär, sich an die Öffentlichkeit zu wenden, um seine Ansprüche publik zu machen.

4. Verfassungsänderung: Besetzung des Verfassungsgerichts

Die Reformen des Verfassungsgerichts zeigen, dass der Einfluss des Militärs bei der Besetzung des Tribunals zurückgedrängt wurde. So werden die zehn Mitglieder des Verfassungsgerichts künftig vom Obersten Gerichtshof (drei), vom Präsidenten der Republik (drei) und vom Parlament (vier) benannt. Bermerkenswert ist, dass der Senat, in dem die Rechte traditionell stärker vertreten ist, zwei Mitglieder des Gerichts direkt wählt und außerdem die Sonderbefugnis bekommen hat, seine Zustimmung zu den beiden vom Abgeordnetenhaus gewählten Mitgliedern zu geben.

5. Verfassungsänderung: Aufhebung des binominalen Wahlsystems

In Chile wird das Parlament durch Mehrheitswahl bestimmt. Damit wird garantiert, dass in jedem Wahlkreis zwei Parlamentarier gewählt werden. Die zweitstärkste Partei (bzw. ein Parteienbündnis) benötigt nach dem Wahlgesetz nur 34Prozent der Stimmen für einen Parlamentssitz. Auf diese Weise konnte sich bis jetzt die Rechte im Parlament einen festen Platz und eine entscheidende Rolle sichern. Das Gesetz zur Einteilung der Wahlkreise garantiert außerdem durch eine große Zahl von kleinen Wahlkreisen eine zusätzliche Übermacht der konservativen Kräfte. So wird der Rahmen für eine schmutzige Praxis gesetzt, die in der politischen Literatur als „gerrymander“ bekannt ist.
Zukünftig soll das Verhältniswahlsystem gelten. Das Wahlgesetz hat jedoch den Rang eines „organischen“ Verfassungsgesetzes, dessen Änderung eine Mehrheit von vier Siebteln der amtierenden Abgeordneten und Senatoren erforderlich macht. Ein ziemlich schwieriges Anliegen, da die konservativen Kräfte, von der bisherigen Gesetzgebung bevorteilt, ihr Veto einlegen dürften.
Einen Vorgeschmack darauf bekommen wir schon in diesen Tagen. Der Präsidentschaftskandidat der UDI, Joaquín Lavín, das binominale System verteidigte und verkündete, dass die mögliche Pattsituation im Parlament – als Folge des Wahlsystems – gut für Chile sei: Sie zwinge die Regierungen zur Mäßigung. Sebastián Piñeira, der andere Rechtskandidat (RN-Partei), erklärte sich lediglich dazu bereit, „das binominale System zu perfektionieren“.

Keine Aufarbeitung der Diktatur

Diejenigen, die die bestialische Diktatur Pinochets möglich gemacht haben und jahrelang, sogar über die Dauer der Militärregierung hinaus unterstützt und verteidigt haben, sind noch immer nicht bereit, eine wirkliche Demokratisierung des Landes zu akzeptieren.
In letzter Zeit haben sich Armee, Marine, Luftwaffe und Polizei zu ihren Verbrechen während der Diktatur halbherzig und unvollständig bekannt. Auch seitens der Justiz und der Kirche haben wir kritische Stimmen über die Haltung dieser beiden Institutionen gegenüber der Diktatur gehört. Das sorgt noch lange nicht für Gerechtigkeit, ist immerhin aber ein erster Schritt.
Das Unternehmertum allerdings, die bürgerliche Presse und die konservativen Parteien haben sich bis jetzt dazu ausgeschwiegen. Sie versuchen das Land weiterhin im Griff zu behalten, zum einen durch das Instrumentarium ihrer in der Verfassung verankerten Wirtschaftsdiktatur, zum anderen durch neue Blockademechanismen im politischen System und durch die Massenmedien, die sie fast flächendeckend kontrollieren.
Die bürgerliche Presse kann jetzt in Chile und überall auf der Welt behaupten, dass Chile – erstes Beispiel für die Durchsetzung des neoliberalen Modells – sich von seinem blutigen Ursprung befreit hat und inzwischen salonfähig geworden ist. Vergebens: Das historische Gedächtnis, die Erinnerung und der Kampf derjenigen, die sich nicht dem autoritären neoliberalen System unterwerfen wollen – mit oder ohne reformierte Verfassung – lassen dies nicht zu.

Neuwahlen als Ausweg

Nur über den Termin für Neuwahlen sind sie sich noch uneinig: Während der ehemalige Staatschef und Präsident der Sandinistischen Befreiungsfront FSLN, Daniel Ortega, einen Termin im November bevorzugt, hält der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), José Miguel Insulza, erst Februar 2006 für realistisch.
Dabei erschien die Krise eine Woche zuvor noch als geradezu ausweglos: Der erste Vermittlungsversuch der OAS zwischen Regierung und Opposition war gescheitert, nach viertägigem Aufenthalt verließ Insulza am 19. Juni Nicaragua unverrichteter Dinge. Die Positionen des konservativen Präsidenten Enrique Bolaños und der Opposition unter Führung der zwei ehemaligen Präsidenten Daniel Ortega (FSLN) und Arnoldo Alemán (Liberal Konstitutionalistische Partei, PLC) standen unversöhnlicher denn je nebeneinander.

Recht auf jedermanns Seite

Sowohl Bolaños als auch seine zwei miteinander verbündeten Widersacher (siehe LN 371) sehen sich in ihrem seit Monaten andauernden Streit im Recht. Hintergrund ist, dass das nicaraguanische Parlament im Januar diesen Jahres eine Verfassungsreform beschlossen hat, die unter anderem vorsieht, führende Posten in öffentlichen Ämtern und Staatsbetrieben nicht mehr durch den Präsidenten, sondern durch das Parlament vergeben zu lassen. Auch bei der Erennung von MinisterInnen soll das Parlament grundsätzlich Mitspracherecht haben. Im Parlament haben FSLN und PLC eine klare Mehrheit. Faktisch bedeutet die Reform eine Schwächung der Macht des Präsidenten und eine Stärkung der von Ortega und Alemán kontrollierten Legislative. Präsident Bolaños lehnt diese Pläne als „Verstoß gegen grundsätzliche demokratische Prinzipien“ strikt ab und vermutet als eigentliches Ziel, ihn politisch zu isolieren. Was die einen also als „Demokratisierung“ anpreisen, um den autoritären Führungsstil des Präsidenten zu mindern, bezeichnet der Präsident als „Diktatur“. Und während sich Bolaños auf ein Urteil des Zentralamerikanischen Gerichtshofs (CCJ) beruft, der die Verfassungsänderungen im März als „inakzeptabel“ bezeichnet hatte, stützen sich Ortega und Alemán auf das Oberste Gericht von Nicaragua, das wiederum das Urteil der CCJ als „nicht anwendbar“ bezeichnet.
Die Allianz zwischen FSLN und „Arnoldistas“ wird auch von Teilen der FSLN selbst kritisiert. Diese werfen Ortega vor, sein Vorhaben, wieder Präsident zu werden, um jeden Preis durchsetzen zu wollen – ungeachtet seiner einstigen Ideale und politischen Überzeugungen und auf Kosten der breiten Bevölkerungsmehrheit.
Doch auch Bolaños kann nicht auf Unterstützung durch die Massen setzen. Seine Politik wird von großen Teilen der Bevölkerung und der sozialen Bewegungen scharf kritisiert. Er gilt als US-hörig und autoritär.
Die politische und institutionelle Krise Nicaraguas erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt, als das Parlament Anfang Juni sechs Führungspostitionen des Aufsichtsorgans für Öffentliche Dienste (SISEP) ernannte – eine von den „Pactistas“ neu gegründete Institution. Diese verschafft der Legislative die Kontrolle über sämtliche öffentliche Güter. Das Parlament benannte daraufhin neues Führungspersonal für die staatlichen Wasser-, Strom- und Kommunikationsunternehmen. Die alten – von Präsident Bolaños eingesetzten – Funktionäre wehren sich jedoch gegen ihre Absetzung und Bolaños selbst ordnete die Bewachung der Unternehmenssitze durch die Polizei an, um die neu ernannten Funktionäre daran zu hindern, ihre Arbeit aufzunehmen. Gleichzeitig erbat der Präsident die Entsendung einer Delegation der OAS, um zu vermitteln und einen „landesweiten Dialog“ zu fördern.
In dieser angespannten Lage traf OAS-Chef Insulza am 15. Juni in Managua ein. Für den kommenden Tag hatten verschiedenste soziale Organisationen, Jugendgruppen, Frauenorganisationen, religiösen Gruppierungen aber auch Unternehmerverbände zu einer Demonstration „Gegen den Pakt, gegen die Korruption, für die Demokratie und für die Stärkung des Rechtsstaates“ aufgerufen. Trotz des Versuchs der FSLN-Führung, die Kundgebung durch Gegenmobilisierung zu stören, marschierten am 16. Juni etwa 50.000 DemonstrantInnen durch die Straßen Managuas. In einer verblüffend vielfältigen Zusammensetzung demonstrierten BefürworterInnen neoliberaler Wirtschaftsmodelle und ultra-konservative PolitikerInnen gemeinsam mit linken Organisationen, SchülerInnen und vielen anderen durch die Straßen der Hauptstadt. Auch viele FSLN-Mitglieder waren darunter – unter ihnen auch Nicaraguas zurzeit beliebtester Politiker, der frühere Bürgermeister von Managua, Herty Lewites. Die teilnehmenden Organisationen hatten sich über tiefe politische Unterschiede hinweg zu einer gemeinsamen Demonstration entschieden. Dabei ging es ihnen nicht „nur“ darum, gegen den Pakt der „Caudillos“ zu demonstrieren. Sie übten auch lautstark Kritik an der fehlenden Verhandlungsbereitschaft von Präsident Bolaños und brachten ihre Besorgnis über die demokratische Ordnung des Landes zum Ausdruck.

Neuwahlen

Angesichts dieser Polarisierung und der drei Tage später vorerst als gescheitert angesehenen Vermittlungsversuche der OAS, war es um so überraschender, dass Bolaños am 21. Juni der Forderung Ortegas nach Neuwahlen nachkam. Obwohl die PLC noch keine Zustimmung signalisiert hat, gilt der Erfolg der nächsten Vermittlung der OAS, die Ende Juni wieder nach Nicaragua reist, damit als gesichert.
Es steht zu vermuten, dass die neue Haltung Ortegas und Bolaños´ weniger auf ihren demokratischen Überzeugungen beruht, als vielmehr in ihrem schlichten Wunsch nach persönlichem Machterhalt und Machtzuwachs begründet liegt.
Denn nicht nur angesichts der verfahrenen juristischen und institutionellen Situation, sondern auch im Hinblick auf die steigenden Proteste der nicaraguanischen Bevölkerung, bietet eine „Tabula Rasa“ in Form von Präsidentschafts- und Parlamentswahlen paradoxerweise einen Ausweg.
Die größten Chancen auf einen Wahlsieg hätte zurzeit Ortegas schärfster Kontrahent Herty Lewites, dem Ortega durch Parteiausschluss bereits die Möglichkeit einer FSLN-Kandidatur zum Präsidentschaftskandidaten untersagte (siehe LN 371). Dieser jedoch kämpft weiter darum, bei den nächsten Wahlen kandidieren zu dürfen. Um Lewites Kandidatur zu verhindern, heißt es sowohl für Bolaños als auch für Ortega, das Gesicht zu wahren und sich möglichst schnell zumindest als formale Demokraten unter Beweis zu stellen.
Einen Vorgeschmack darauf, wie das aussieht, bekam die kritische Öffentlichkeit schon am selben Tag, an dem die Pläne für Neuwahlen bekannt wurden, zu spüren: Das Büro der unabhängigen Zeitung „Trinchera“ wurde von der Polizei gestürmt und geschlossen. Die offizielle Begründung: fehlende Steuerzahlungen. Kein Zeichen für eine Stärkung der Demokratie.

Jeder mit jedem gegen die anderen

Selbstherrlich hat sich Daniel Ortega, Chef der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN), am 7. März zum Präsidentschaftskandidaten seiner Partei ausrufen lassen. Vorwahlen werden diesmal nicht stattfinden. Damit entzieht sich der ehemalige Revolutionskommandant einem Kräftemessen mit seinem Herausforderer Herty Lewites, der als ehemaliger Bürgermeister von Managua (2000-2004) enorme Popularität genießt. Doch Lewites wurde nicht nur mittels einer vor zwei Jahren beschlossenen Statutenänderung die Kandidatur untersagt. Nebst seinem Wahlkampfmanager Víctor Hugo Tinoco wurde er außerdem aus der Partei ausgeschlossen. Die Verwendung der rot-schwarzen Farben und anderer Symbole der FSLN ist ihm nicht gestattet. Doch er hat Ortega, der sich bereits zum fünften Mal um die Präsidentschaft bewirbt, den Kampf angesagt.

Lewites hat die Basis hinter sich

Wenn Vorwahlen unter fairen Bedingungen stattfänden, könnte sich der Sohn jüdischer Einwanderer seines Sieges sicher sein. Jüngste Meinungsumfragen bescheinigen Lewites 59 Prozent Unterstützung bei den sandinistischen WählerInnen. Daniel Ortega kommt dagegen nur auf knapp über zehn Prozent. Auch wenn man in Rechnung stellt, dass die Umfrage von der konservativen Zeitung La Prensa in Auftrag gegeben wurde, die offen mit Lewites sympathisiert, so wird doch ein Trend bestätigt, der sich auch bei öffentlichen Veranstaltungen zeigt. Während Daniel Ortega vor allem die Parteisoldaten zu seinen Veranstaltungen kommandieren kann, bekommt sein Herausforderer spontanen Zulauf von all jenen, die sich nach mehr als 20 Jahren eine echte Erneuerung wünschen. Parolen, wie sie früher gegen die USA oder die Somoza-Diktatur skandiert wurden, werden jetzt gegen die Ortega-Clique gerichtet. Auch KünstlerInnen und Intellektuelle, die sich nach und nach von der „orthodoxen“ Linie der Partei entfernt haben, finden in Lewites einen neuen Hoffnungsträger: Carlos Mejía Godoy, Autor zahlloser Revolutionsschlager, komponierte ihm eigens eine Wahlkampfhymne. Und auch der Dichter Ernesto Cardenal fand sich in seinem Lager ein, ebenso wie die Schriftsteller Sergio Ramírez und Gioconda Belli. Ramírez erkennt an, dass Lewites es geschafft habe, die Basis mitzureißen, anders als er selbst vor zehn Jahren mit seiner abgespaltenen Sandinistischen Erneuerungsbewegung (MRS). Zuversichtlich meint Ramírez: „Ich glaube, jedes Mal, wenn Daniel Ortega und dessen Klüngel über Herty Lewites herfallen, wird dieser stärker.“
Daniel Ortega lässt unterdessen seine Frau Rosario Murillo in der Presse rufmörderische Artikel über Herty Lewites lancieren. Darin stellt sie den ehemaligen Tourismusminister der Revolutionsregierung als kleinbürgerlichen Geschäftemacher dar, der sich vor dem bewaffneten Kampf gegen die Diktatur gedrückt habe. Auch alte Etiketten der politischen Diffamierung wie „Verräter“ und „CIA-Agent“ werden dem lästigen Herausforderer angehängt. Manche Drohung kann gar als Aufruf zur Gewalt gegen Lewites verstanden werden.

Rivalität alter Bekannter

Der Konflikt zwischen den beiden Politikern begann bereits vor zehn Jahren, als Herty Lewites sich erstmals um das Bürgermeisteramt von Managua bewerben wollte. Die FSLN stellte jedoch den Ortega-Vertrauten Carlos Guadamuz auf. Daraufhin gründete Lewites die Bürgerliste Sol, die einen Achtungserfolg erzielte und den Sieg des Liberalen Carlos Cedeño ermöglichte. Fünf Jahre später konnte Lewites sich als offizieller sandinistischer Kandidat durchsetzen und gewann. Aber im Wahlkampf und während seiner Amtsführung bemühte er sich um größtmögliche Überparteilichkeit. Ortega-AnhängerInnen, die der Korruption überführt wurden, feuerte er.
Als Daniel Ortega 2001 erneut im Kampf um die Präsidentschaft unterlag, bemühte sich Herty Lewites um ein korrektes Verhältnis zu Präsident Enrique Bolaños. Seine diskret ausgeübte Brückenfunktion lag durchaus auch im Interesse von Daniel Ortega, ging es doch darum, Ex-Präsident Arnoldo Alemán mit einer breiten politischen Allianz vor Gericht und hinter Gitter zu bringen. Alemán konnte tatsächlich seiner Immunität als Abgeordneter entkleidet und wegen Korruption verurteilt werden. Doch die USA goutierten dieses Bündnis nicht und veranlassten Präsident Bolaños, die Allianz mit den Sandinisten aufzugeben und die Einheit der Liberalen anzustreben. Seither wird die Innenpolitik noch stärker von Intrigen beherrscht: Daniel Ortega paktiert mit dem inzwischen in Hausarrest entlassenen Arnoldo Alemán, um die wichtigsten Posten in Justiz und anderen Institutionen zwischen den beiden Parteien aufzuteilen. Die Gruppe um Lewites hält eine Gesprächsbasis zum Präsidenten aufrecht und lässt kein gutes Haar am Kuhhandel der zwei Caudillos.
Daniel Ortega hat mittlerweile sogar in einem Interview mit der spanischen Zeitung El País zugegeben, dass Lewites größere Aussichten auf einen Wahlsieg habe, ließ jedoch durchblicken, dass es ihm lieber sei, wie bisher aus der Opposition zu agieren. Das ist auch die wahrscheinlichste Perspektive. Denn ein sandinistischer Kandidat hat nur Chancen, wenn das konservative Lager – wie derzeit – gespalten ist. Teilen sich aber auch die sandinistischen Stimmen, ist eine Verlängerung der liberal-konservativen Herrschaft abgesichert.

Ringen um Verfassungsreform

Daniel Ortegas eigenartige Allianz mit dem in Hausarrest sitzenden Ex-Präsidenten Arnoldo Alemán erbost nicht nur so manche ParteigenossInnen, sie hat das Land in ein rechtliches Limbo versetzt. Denn keiner weiß derzeit, ob Verfügungen des Präsidenten oder der Nationalversammlung rechtsgültig sind. Anfang des Jahres hatte die Nationalversammlung mit den Stimmen von FSLN und Liberalen eine Verfassungsreform beschlossen, die die Macht des Parlaments stärkt und die Rechte des Präsidenten einschränkt. Unter anderem ist die Legislative seither befugt, die DirektorInnen staatlicher Institutionen zu benennen. Präsident Bolaños rief daraufhin den Zentralamerikanischen Gerichtshof an, um diese Reform anzufechten, und bekam auch Recht. Daraufhin brachte das Parlament die Sache vor den Obersten Gerichtshof, der wiederum mit Vertrauensleuten von Ortega und Alemán besetzt ist. Dieser erklärte die Reform erwartungsgemäß für rechtens, was zu unklaren Verhältnissen bezüglich der Machtbefugnisse im Land führte und das politische Leben zum Stillstand brachte.
Die Vereinigung der zivilgesellschaftlichen Organisationen, die die ungesunde Stärkung der extrem machtpolitisch agierenden Legislative kritisiert, hat sich in dieser Frage auf die Seite der Exekutive geschlagen obwohl sie ansonsten gegen die Privatisierungspläne des Präsidenten eintritt, und eine Unterschriftenkampagne dagegen initiierte.
Enrique Bolaños, der sich von der vereinigten Opposition in die Enge getrieben sieht, rief den Ausnahmezustand aus, der von der Justiz prompt außer Kraft gesetzt wurde. Wie das Kräftemessen ausgeht, ist noch nicht abzusehen. Denn auch der Dreiergipfel, den Daniel Ortega zur Entschärfung der Institutionenkrise vorgeschlagen hat, will nicht so recht vorankommen.

“Gegen das autoritäre Projekt”

Die Kampagne für eine Wiederwahl von Kolumbiens Staatschef Álvaro Uribe läuft auf Hochtouren – und das 16 Monate vor den Präsidentschaftswahlen. Die kolumbianische Gesetzgebung sieht gar keine zweite Amtszeit des Präsidenten vor. Doch Uribes Parteigänger wollen eine Verfassungsreform. Ihr Argument: Politische Kontinuität sei notwendig. Dabei erinnern sie an die Regierungserfolge in Sicherheitsfragen. Dank Uribes Politik der Seguridad Democrática habe die Zahl der Entführungen abgenommen, die zuvor hochgefährlichen Überlandstraßen könnten wieder befahren werden und selbst die städtische Kriminalität sei zurückgegangen.
In Ciudad Bolívar, in jenen Slums, die die südliche Hälfte Bogotás ausmachen, zeigt sich deutlich, dass diese Analysen nur einen Teil der Realität beschreiben. Die Ziegel- und Kartonsiedlungen an den trockenen Rändern der Hochebene, bilden einen von offiziellen Statistiken kaum erfasste und von den Medien ignorierten Stadtteil. Dabei leben vier von acht Millionen Bogotaner in den Elendsquartieren im Süden der Hauptstadt.

Terror triffst meist Jugendliche

Nora Jiménez betreut eine von sieben selbstorganisierten Armenküchen, die die Frauenorganisation Organización Femenina Popular (OFP) in Ciudad Bolívar unterhält. Fast beiläufig kommt sie auf die Ermordungen vor Ort zu sprechen. „Hier gibt es viele Paramilitärs. Bei uns sind erst vor ein paar Tagen zwei Jugendliche erschossen worden. In der Siedlung nebenan waren es vor kurzem vier. In einem anderen barrio von Ciudad Bolívar allein seit vergangener Woche 20.“ Sie lacht. Bei ihnen sterbe man nicht einzeln, sondern paarweise.
Die Frauen von der OFP, einer der wichtigsten unabhängigen Frauenorganisationen Kolumbiens, berichten, dass die Todesschwadronen keinem eindeutigen System mehr zu folgen scheinen. Die so genannten „sozialen Säuberungen“ treffen ganz verschiedene Leute: Vertriebene aus Kriegsregionen, Kleinkriminelle, Homosexuelle, Straßenhändler, denen die Angehörigen der AUC-Paramilitärs ihren Verdienst abnehmen wollen. Meistens handelt es sich jedoch bei den Opfern einfach um Jugendliche, die sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufhalten. Offensichtlich zielt der Paramilitarismus darauf ab, ein diffuses Klima der Angst zu erzeugen. „Man versucht nicht aufzufallen und sperrt sich abends um acht zu Hause ein. Nachts hörst du eigentlich immer irgendwo Schüsse“, sagt Nora Jiménez.
Der Rundgang durchs Viertel macht klar, welches Ziel dieser Terror verfolgt. Von Stadtplanern in der ganzen Welt wird Bogotá gefeiert, weil es den Kommunalregierungen gelungen ist, die Verwahrlosung der Innenstadt zu stoppen. Ein neues Verkehrssystem ist eingerichtet worden, die Straßen der Altstadt laden wieder zum Ausgehen ein, die Armut scheint weniger erdrückend.
In Ciudad Bolívar lässt sich jedoch die Kehrseite dieses Prozesses beobachten. Zwischen unverputzten Ziegelhütten entstehen täglich neue Plastikverschläge, in denen ganze Familien in einem einzigen brusthohen Raum wohnen. Auf 2600 Meter Höhe und bei fast täglich fallendem Niederschlag sind Kleider und Decken ununterbrochen feucht. Die Aktionen der Paramilitärs sorgen dafür, dass aus diesem Elend keine Proteste erwachsen können.

Demokratische Sicherheit polarisiert

So gesehen weist die Bilanz der Regierung Uribe zwei unterschiedliche Seiten auf. Es gibt weniger Entführungen, aber dafür mehr Verschwundene. Militär- und Polizeipräsenz haben zugenommen, aber die Morde von Ciudad Bolívar oder in den von Paramilitarismus kontrollierten Landstrichen bleiben in der Regel unregistriert. Nach zweieinhalb Jahren Politik der „Demokratischen Sicherheit“ ist Kolumbien selbst in punkto Sicherheitslage polarisiert wie nie zuvor.
Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die kolumbianischen Nichtregierungsorganisationen nichts so sehr fürchten wie eine Wiederwahl Uribes, die von der Rechten angestrebt und offensichtlich auch von Washington befürwortet wird. In einer gemeinsamen Erklärung von Februar 2005 zeichnen die kolumbianischen Menschenrechtsorganisationen ein düsteres Bild. Trotz des „Waffenstillstands“ zwischen Regierung und den AUC-Paramilitärs – ein eigenartiges Konstrukt, immerhin haben die Paramilitärs nach eigenen Aussagen noch nie gegen Armee und Polizei gekämpft – gehen die Morde an politischen AktivistInnen ebenso wie die systematischen Vertreibungen der Zivilbevölkerung weiter.
Mehr als 6000 Menschen wurden zwischen 2002 und 2004 willkürlich verhaftet und sitzen zum Teil seit Jahren ohne Beweise in Haft. Die Gesellschaft sei militarisiert, die Justiz geschwächt und der Paramilitarismus nicht demobilisiert, sondern in den Staatsapparat integriert worden, heißt es in der Erklärung von 83 Menschenrechtsorganisationen.

Querschläger Kolumbien

Der einzig positive Aspekt in diesem Zusammenhang scheint, dass die Uribe-Regierung eine gewisse Einigung der tief zerstrittenen kolumbianischen Opposition ermöglicht hat. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten gibt es ernsthafte Bemühungen für eine breit getragene Oppositionskandidatur. „In ganz Lateinamerika spürt man den Wind der Veränderung“, erklärt Gloria Cuartas, die mit zahlreichen Friedenspreisen ausgezeichnete ehemalige Bürgermeisterin der nordkolumbianischen Kleinstadt Apartadó (Urabá). „In Venezuela, Brasilien, Argentinien und Uruguay bemüht man sich um die lateinamerikanische Einheit. In Ecuador und Bolivien stehen zwar nicht die Regierungen für diesen Trend, aber es gibt starke Basisbewegungen. Nur Kolumbien scheint eine Ausnahme zu sein.“
Um das zu ändern, setzt sich Gloria Cuartas für die Kandidatur des ehemaligen Verfassungsrichters Carlos Gaviria und die von verschiedenen linken Organisationen getragene Alternativa Democrática ein. Gloria Cuartas, die aus der Unión Patriótica stammt und miterlebte, wie ihre Partei zwischen 1985 und 1997 durch Anschläge der Todesschwadronen mehr als 4000 Mitglieder sowie sämtliche PräsidentschaftskandidatInnen und Abgeordnete verlor, macht sich dabei keine Illusionen über die Spielräume der politischen Opposition: „Unser Bündnis besteht aus den Überlebenden. Wir sind diejenigen, die dem politischen Genozid entkommen sind. Man muss der Politik Uribes – ich würde sie als faschistisch bezeichnen – öffentlich etwas entgegensetzen. Wir haben gar keine andere Wahl.“ Uribe verfolge ein Projekt völliger ökonomischer, sozialer und politischer Kontrolle der Gesellschaft. Die Legalisierung und Integration der Paramilitärs in den Staat werde auf verschiedensten Ebenen ein rechtsradikales, autoritäres Regime etablieren, so Gloria Cuartas.
Dieser Aspekt von Uribes Politik stößt auch in Teilen der beiden staatstragenden Parteien zunehmend auf Widerstand. Uribes Kandidatur 2002 wurde zwar von wichtigen Fraktionen der Konservativen und Liberalen unterstützt, doch als die Regierung Mitte 2003 ein Referendum zur Verschlankung von Staat und Justizwesen ansetzte und ganz nebenbei wichtige Bürgerrechte beseitigen wollte, formierte sich auch in den großen Parteien Widerstand gegen den Präsidenten. Der sozialdemokratische Flügel der Liberalen Partei um die afrokolumbianische Abgeordnete Piedad Córdoba gründete gemeinsam mit Gewerkschaftern und linken Organisationen die so genannte Gran Coalición Democrática, die „Große demokratische Koalition“.

Uribe verliert immer mehr Anhänger

Nach einem ohne mediale Unterstützung geführten Wahlkampf gelang es dem Bündnis im Oktober 2003 nicht nur, der Uribe-Regierung beim Referendum eine empfindliche Niederlage zuzufügen, sondern die Protestkoalition ebnete auch mehreren Mitte-Links-KandidatInnen bei den zeitgleich stattfindenden Kommunalwahlen den Weg. Unter anderem die Bürgermeisterposten von Bogotá, Medellín und Barrancabermeja sowie das Gouverneursamt der Region um Cali fielen an alternative KandidatInnen, die zwar die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt haben, aber doch Uribes Machtposition zunehmend symbolisch einschränken.
Im Zusammenhang mit Uribes Anstrengungen zur Legalisierung der Paramilitärs sind die Reihen seiner Gegner sogar noch weiter gewachsen. Ex-Verteidigungsminster Rafael Pardo, 2002 noch einer der wichtigsten Unterstützer des Präsidenten, hat sich unlängst vehement gegen die von Uribe angestrebte weitgehende Straffreiheit für die AUC-Kommandanten ausgesprochen. Und Andrés Pastrana, Uribes Vorgänger im Präsidentenamt, warnte die Regierung davor, eine politische Allianz mit dem Paramilitarismus und dessen Drogengeldern zu schmieden.

Chance der Opposition

So gesehen stehen die Chancen der Opposition, trotz der hohen Umfragewerte Uribes eine zweite Amtszeit des Präsidenten zu verhindern, gar nicht schlecht. Die entscheidende Frage lautet, wer die Opposition glaubhaft vertreten könnte. Die Führung der Liberalen Partei wird die von vielen Linken befürwortete gemeinsame Kandidatur der liberalen afrokolumbianischen Abgeordneten Piedad Córdoba mit Verfassungsrichter Carlos Gaviria sicher nicht zulassen. Dafür steht Córdoba in ihrer Partei zu weit links. Ohne die sozialdemokratischen Strömungen der Liberalen jedoch hat eine alternative Kandidatur keine großen Aussichten. Auf der jüngsten Konferenz der Gran Coalición Democrática vergangenes Wochenende in Bogotá wurde deutlich, dass wohl auch die bevorstehende Kandidatenkür von jenem politischen Geschacher bestimmt sein wird, das die öffentliche Landschaft Kolumbiens seit Jahrzehnten so nachhaltig bestimmt und das dazu geführt hat, dass sich regelmäßig 50 bis 70 Prozent der Bevölkerung bei Wahlen enthält.
„Wir müssen weniger über Personen als über Inhalte sprechen“, sagt Hector Moncayo, Mitherausgeber der kolumbianischen Ausgabe von Le Monde Diplomatique am Rand der Konferenz. „Es gibt einen wachsenden Flügel der Rechten, die für einen ‚Uribismus ohne Uribe’ plädieren. Das Image des Präsidenten hat zuletzt sehr gelitten. Die eher städtische, technokratische Rechte sucht deshalb nach einem neuen, unverbrauchten Gesicht. Uribe stützt sich hingegen zunehmend auf die ländlichen Eliten und die mit ihnen verbündeten Paramilitärs. Vor dem Hintergrund dürfen wir uns nicht auf den Präsidenten fixieren. Es geht letztlich nicht nur um Repression, sondern um ein neoliberales Projekt, das auch von einem Politiker der Liberalen Partei oder einem vermeintlichen Sozialdemokraten fortgeführt werden kann.“

KASTEN
Regierung und Paramilitärs

Die Bemühungen der Uribe-Regierung, die AUC-Paramilitärs zu demobilisieren, haben zu Zerwürfnissen innerhalb der politischen Eliten Kolumbiens geführt. Uribe und der größte Teil der Kongress-Abgeordneten befürworten eine Gesetzesreform, die den Paramilitärs weitgehende Straffreiheit für die vielen Tausend von ihnen begangenen Morde, die Legalisierung des durch Drogenhandel und Raub erworbenen Besitzes und den Verzicht auf Aufklärung der Verbrechen garantieren. Führende Politiker der Liberalen und Konservativen Partei haben sich mittlerweile gegen eine solche Politik des Perdón y Olvido (Vergeben und Vergessens) ausgesprochen. Ex-Verteidigungsminister Rafael Pardo, der den Paramilitarismus während seiner Amtszeit durchaus gewähren ließ, hat im Kongress sogar einen alternativen Gesetzesentwurf eingebracht und damit den Zorn des Präsidenten auf sich gezogen. AktivistInnen von Menschenrechtsorganisationen vermuten, dass hinter dieser Haltung nicht nur aufrechte Empörung über die von den Todesschwadronen begangenen Verbrechen steckt. Von Bedeutung dürfte ebenfalls sein, dass die Paramilitärs und die ihn finanzierenden Viehzüchterorganisationen das Machtgefüge im Land spürbar verschoben haben. Das Phänomen des Paramilitarismus ist seit seinen Anfängen 1981 eng mit dem Drogenhandel verbunden, die lukrativen Exportrouten werden weitgehend von AUC-Kommandanten kontrolliert. Vor diesem Hintergrund könnte die Verbindung der rechten Eliten vor allem Antioquias und der nordkolumbianischen Atlantikküste mit Paramilitarismus und Drogenhandel die Macht einer eher traditionellen Oligarchie nachhaltig in Frage stellen. Zwar wird in Kolumbien damit gerechnet, dass sich Präsident Uribe im Parlament und vor dem Verfassungsgericht sowohl mit der Zusicherung weitgehender Straffreiheit für die Paramilitärs als auch mit der angestrebten Zulassung für eine Wiederwahl durchsetzen wird, doch der politische Konflikt mit Teilen der traditionellen Parteien wird sich vermutlich in den nächsten Monaten noch deutlich vertiefen.

Der stille Staatsstreich

Es ist fast wie in alten Zeiten: Ein sandinistischer Führer spricht, tausende Menschen – nach Angaben der Organisatoren über zehntausend – klatschen begeistert, Optimismus und Kampfgeist liegen in der Luft. So geschehen am 30. Januar in der Kleinstadt Jinotepe, im Norden des Landes – nur dass der Führer nicht Daniel Ortega war, sondern Herty Lewites, der sandinistische Ex-Bürgermeister von Managua. Lewites begann an diesem Tag eine Kampagne mit der Forderung nach offenen und demokratischen Vorwahlen zur Bestimmung des FSLN-Kandidaten für die nächsten Präsidentschaftswahlen Ende 2006 – eine direkte Herausforderung der Parteispitze und ein deutliches Zeichen einer innerparteilichen Spaltung mit Vorgeschichte.

Das nicaraguanische Labyrinth

Nachdem Alemáns Vize, Enrique Bolaños, im Jahr 2000 die Präsidentschaftswahlen gewonnen hatte und gegen seinen einstigen Mentor und dessen Hauspartei PLC (Partido Liberal Constitucionalista) zu regieren begann, nahm die in den Wahlen unterlegene FSLN mit Daniel Ortega gegenüber beiden eine sehr schwankende und opportunistische Haltung ein. Einmal unterstützte sie Alemán, mit dem Ortega während dessen Amtszeit ja bereits einen ersten Pakt geschlossen hatte, einmal buhlte sie um Bolaños, je nachdem, was günstiger erschien, um den politischen Einfluss auszubauen. Alles war darauf ausgerichtet, Daniel Ortega bei seinem vierten Anlauf 2006 das Präsidentschaftsamt quasi im Vorfeld zu sichern. Selbst seinem früheren Erzfeind Kardinal Obando y Bravo biederte sich Ortega an, da dies dem Ausbau seiner Macht diente.
Diese zwanghafte Fixierung auf die Wahlen dürfte auch Hintergrund der jüngsten politischen Krise sein, die der Sandinistenführer ausgelöst hat. Dieser begann nämlich mit Alemán und den Arnoldistas, die, nachdem Bolaños und seine Anhänger eine eigene Partei (APRE) gegründet haben, nunmehr wieder die gesamte PLC in der Hand haben, einen neuen Pakt auszuarbeiteten. Ausgehend von der satten Mehrheit, die PLC und FSLN im Parlament haben, sah dieser zweite Pakt der beiden Parteiführungen eine Verfassungsänderung in wichtigen Bereichen vor, mit der der Einfluss des Parlaments deutlich ausgebaut und der des Präsidenten eingeschränkt wird: Geplant wurde eine Änderung des Wahlrechts, die weitgehende Beschneidungen der Befugnisse und Zuständigkeiten des Präsidenten und die Möglichkeit der Absetzung von MinisterInnen durch das Parlament (mit oben besagter Sitzverteilung). Und quasi als „Zuckerl“ wurde dem wegen Korruption und Veruntreuung von Staatsgeldern zu 20 Jahren Haft verurteilten ehemaligen Staatspräsidenten Alemán, der das Gefängnis wieder verlassen konnte und neuerlich auf seiner Hacienda El Chile unter „Hausarrest“ steht, die baldige Freilassung in Aussicht gestellt.
Im Dezember 2004 wurde diese Verfassungsänderung in erster Lesung durch die Nationalversammlung gebracht, was mit der PLC-FSLN-Parlamentsmehrheit – Bolaños hat nur zehn der 92 Abgeordneten hinter sich – ein Leichtes war.
Daraufhin umwarb der Präsident, der mit Recht eine radikale Beschneidung seiner Machtbefugnisse auf sich zukommen sah, nunmehr den Sandinistenführer und schloss mit diesem in der zweiten Januarwoche überraschend ebenfalls ein Abkommen, wonach die umstrittene Verfassungsänderung vor der zweiten Lesung noch einmal überarbeitet werden sollte. Kardinal Obando y Bravo fungierte dabei als Zeuge und die PLC schloss sich rasch diesem Übereinkommen an. Gemeinsam gelobten alle, in der restlichen Amtszeit von Präsident Bolaños – immerhin noch zwei Jahre – nicht weiter zu versuchen, diesen abzusetzen.
„Das nicaraguanische Volk ist der Gewinner bei diesem Abkommen“, jubelte Präsident Bolaños, und auch Ortega gab sich völlig volksfreundlich: „Wir möchten den Menschen, der Jugend, den Kindern zeigen, dass wir uns wirklich um Versöhnung und Frieden bemühen, und dass dieses Abkommen für alle Nicaraguaner Frieden und Fortschritt sichert.“ Bereits zwei Tage später, am 14. Januar, brachen die beiden Oppositionsparteien das Abkommen allerdings schon wieder und stimmten der paktierten Verfassungsänderungen im Parlament auch in zweiter Lesung zu.

Der totgeborene Dialog

Um aus diesem Schlamassel einigermaßen herauszukommen, vereinbarten alle drei Konfliktparteien nunmehr die Einberufung eines „Nationalen Dialogs“ – unter Einbeziehung des verurteilten Expräsidenten (!). Nun stellte sich die Frage, ob Alemán für die Teilnahme an diesem „Dialog“ seine Haft bzw. seinen Hausarrest unterbrechen dürfe. Ortega kam sogar auf die glorreiche Idee, den Dialog in der Hacienda El Chile selbst, dem Wohnsitz des Ex-Präsidenten, zu veranstalten. Die Villa scheint dem Sandinistenführer zu gefallen, hatte er sich doch dort in den vergangenen Wochen bereits zwei Mal mit Alemán getroffen.
Der „Dialog“ begann dann am 19. Januar, kurioserweise unter den Auspizien der UNDP, des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen. FSLN und PLC hatten dafür als Zeichen des „guten Willens“ angekündigt, sie wollten die Umsetzung der vom Parlament verabschiedeten Verfassungsreform aussetzen. Bolaños hingegen schluckte die bittere Pille und akzeptierte die Approbation des PLC-FSLN-Paktes durch das Abgeordnetenhaus.
Der ohne festes Zeitlimit angesetzte „Nationale Dialog“ soll nun zu einer „Professionalisierung“ der Arbeit der staatlichen Institutionen und zu einer Neuaufteilung der Kompetenzen der drei Gewalten – Exekutive, Legislative und Justiz – führen. In versteckter Form wurde auch die Amnestierung für Arnoldo Alemán in den Dialog aufgenommen. In der Agenda der zu behandelnden Themen heißt es nämlich, „alle jene juridischen Angelegenheiten werden besprochen, die eine legislative Lösung erhalten könnten“. Hier liegt nebenbei aber auch ein Anreiz für Bolaños, gegen den schließlich auch eine Klage wegen Verletzung des Wahlgesetzes durch illegale Wahlkampffinanzierung läuft. BeobachterInnen sprechen jedoch davon, dass Alemán durch die Rolle, die ihm Ortega in dem „Dialog“ beigemessen hat, ohnehin bereits eine politische Rehabilitierung erfahren habe.

Pessimistische Bevölkerung

Nach einer elektronischen Umfrage der Tageszeitung El Nuevo Diario wenige Tage nach Beginn des „Dialogs“, zeigten sich 75,4 Prozent der Befragten von seiner Sinnlosigkeit überzeugt, lediglich 20,5 Prozent bejahten ihn.
Die Pessimisten dürften wohl die Realisten sein. Zu ungleich sind die Machtverhältnisse bei diesen Dreier-Verhandlungen. Der Präsident mit seinen zehn treuen Abgeordneten hat im Parlament so gut wie überhaupt keine Möglichkeiten, das politische Ränkespiel zu beeinflussen. Bolaños hat wegen des Kompetenz-Konflikts zwischen Legislative und Exekutive bereits den Obersten Gerichtshof angerufen, doch wird diese ebenfalls von PLC und FSLN dominierte Institution seine Klage ziemlich sicher zurückweisen. Dem Präsidenten bleibt damit nur mehr der Druck der Öffentlichkeit – doch hat er sich in seiner Amtszeit nie sonderlich darum gekümmert, die Sympathien der Zivilgesellschaft zu gewinnen. Eine zweite Möglichkeit wäre es, Hilfe aus dem Ausland zu bekommen. Bolaños hat sogar bereits laut überlegt, den Ausnahmezustand auszurufen und die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) um militärischen Beistand in diesem Konflikt zu ersuchen.

Der leise Staatsstreich

Der neue Pakt von Ortega und Alemán, mit dem wesentliche Kompetenzen der Staatsführung verändert und de facto das Präsidialsystem abgeschafft wird, kann ohne Übertreibung als Staatsstreich bezeichnet werden. Wenn die dort ausgearbeitete Verfassungsreform in Kraft tritt, wird das von den beiden zu 90 Prozent beherrschte Parlament in Zukunft MinisterInnen und hohe Staatsbeamte ein- und absetzen können. Zusätzlich werden die beiden gegenwärtigen Oppositionsparteien alle staatlichen Institutionen kontrollieren, einschließlich dem Rechnungshof, dem Obersten Gerichtshof und dem Obersten Wahlrat. Ein geschickter Schachzug, bei dem man sich eigentlich wundern muss, dass ihn die beiden Caudillos nicht schon früher gesetzt haben.
Der „Pakt Nummer Zwei“ bedeutet aber auch, dass sich die Eliten der beiden Großparteien FSLN und PLC darauf geeinigt haben, zur Eroberung und zum Erhalt der politischen Macht die eigene Ideologie – die, zumindest theoretisch, bei beiden nicht gegensätzlicher sein könnte – über den Haufen zu werfen. Wie sich die Parteibasis dazu verhalten wird, ist noch unklar. Zumindest bei den Sandinisten gibt es aber erste Anzeichen parteiinternen Widerstandes, der sich um die Person des ehemaligen Bürgermeisters von Managua, Herty Lewites, sammelt.

Lewites gegen Ortega?

Bereits am 10. Januar gab es in Managua eine erste Demonstration gegen den Pakt, mit der Forderung nach einem Mitspracherecht bei der von den PLC- und FSLN-Führungen initiierten Verfassungsreform. Die vom Movimiento por Nicaragua („Bewegung für Nicaragua“) organisierte Protestaktion stand eigentlich im Zeichen des 27. Jahrestages der Ermordung von Pedro Joaquín Chamorro durch das Somoza-Regime, wurde dann jedoch aus aktuellem Anlass umfunktioniert. Die TeilnehmerInnen skandierten dabei einen neuen Slogan: „Ortega, Alemán y Somoza, es la misma cosa!“ („Ortega, Alemán und Somoza sind sowieso alle gleich”).
Der sandinistische Revolutionskommandant Ortega wird sich dadurch in seiner Politik jedoch kaum beeinflussen lassen. Zur Gefahr könnte ihm allerdings der populäre frühere Bürgermeister von Managua, Herty Lewites, werden. Nachdem dieser kürzlich seinen Willen bekannt gegeben hatte, bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober nächsten Jahres zu kandidieren, erfolgte prompt die Antwort der FSLN-Spitze. Am 18. Januar entschied nämlich die „Kommission für juridische und ethische Angelegenheiten“ der FSLN, die unter dem Vorsitz von Altkader Tomás Borge steht, dass eine Kandidatur von Lewites den Parteistatuten widerspreche, da er nicht zehn Jahre ununterbrochen Parteimitglied gewesen sei. Lewites jedoch zog nicht zurück sondern startete Ende Januar in Jinotepe seine Kampagne für die Vorwahlen zur Kandidatur. Dabei wird er offiziell sowohl von den drei historischen Revolutionskommandanten Luis Carrión, Henry Ruiz und Victor Tirado als auch von Ernesto Cardenal und dem Musiker Carlos Mejía Godoy unterstützt. Weiterhin genießt der Ex-Bürgermeister auch die volle Unterstützung von Daniels Bruder Humberto Ortega.
Mit Herty Lewites entsteht Daniel Ortega damit erstmals ein ernsthafter Gegenkandidat. Entsprechend scharf sind auch die ersten Reaktionen der Parteispitze, die dem populären Politiker Reformismus und parteischädigendes Verhalten vorwerfen. Lewites meint dazu: „Es werden die 600.000 Mitglieder der Partei sein, die entscheiden, ob ich bei den Wahlen von 2006 kandidiere oder nicht, und nicht die Spitze einer kleinen Gruppe.“

Die Rückkehr der Sandinisten

Parteichef Daniel Ortega sprach vom „größten Erfolg der FSLN seit dem Sieg über die Somoza-Diktatur im Jahre 1979“ und rief die euphorische Basis auf, den geschlagenen Gegner zu respektieren. Bei den Kommunalwahlen vom 7. November konnte die FSLN (Frente Sandinista de Liberación Nacional) beziehungsweise die „Convergencia Nacional“ 92 der 152 Gemeinden gewinnen. Die FSLN hatte im Vorfeld der Wahlen das Bündnis mit der „Convergencia Nacional“, dem das Movimiento Renovador Sandinista, das Movimiento Unidad Cristiana und die Unión Demócrata Cristiana angehören, reaktiviert, um mehr Wähler gewinnen zu können. Landesweit erhielt diese Allianz 44 Prozent der gültigen Stimmen, was bedeutet, dass etwa drei Viertel der Bevölkerung unter sandinistischen Bürgermeistern leben werden. Auch Managua und 12 weitere Departementshauptstädte wurden gewonnen. Nur Rivas und Bluefields fielen an die Liberalen, Bilwi (Puerto Cabezas) an die Indigenenorganisation Yatama und Granada wahrscheinlich knapp an die regierungsnahe APRE (Das endgültig Ergebnis lag bei Redaktionschluss noch nicht vor.)
Der Sieg der Sandinisten hatte sich bereits im Vorfeld angekündigt. In seiner Ansprache versprach Daniel Ortega, das entgegengebrachte Vertrauen nicht zu enttäuschen und den Kampf gegen die Korruption fortzusetzen. Eben der Geruch der Korruption, der der Liberal-Konstitutionalistischen Partei (PLC) spätestens seit dem Prozess gegen Arnoldo Alemán anhaftet, dürfte wohl das Debakel der bisherigen Mehrheitspartei ausgelöst haben.

Gespaltene Regierung
Ex-Präsident Alemán war vergangenes Jahr wegen Geldwäsche und Veruntreuung von über 100 Millionen Dollar zu 20 Jahren Haft verurteilt worden. Und obwohl der größere Teil der Basis und der PLC-Abgeordneten ihm die Treue hält, ist die Partei gespalten: Präsident Enrique Bolaños Geyer gründete gemeinsam mit seinen AnhängerInnen im liberalen Flügel sowie mit der Konservativen Partei und weiteren kleinen Gruppen die Allianz für die Republik (APRE). Die Kommunalwahlen galten als erster Test für diese Verbindung, sind aber alles andere als erfolgreich verlaufen. Zwar konnte die APRE in acht Gemeinden die Mehrheit erringen, aber es ist offensichtlich, dass es die Allianz nicht geschafft hat, die der PLC davongelaufenen WählerInnen aufzufangen. Selbst in Granada, einer alten Hochburg der Konservativen, konnte kein deutlicher Sieg errungen werden. Erst nach Protest und Neuauszählung scheint es, dass die APRE elf Stimmen vor den Sandinisten liegt. Das Ergebnis ist jedoch noch nicht offiziell bestätigt. Als neue dritte Kraft Nicaraguas blieb die APRE mit landesweit 9,5 Prozent deutlich hinter dem Stimmenanteil der Konservativen im Jahre 2000.
Den Liberalen bleiben von bisher 94 Gemeinden nur 55, hauptsächlich kleinere Landgemeinden. Neben der Parteispaltung dürfte der Alemán-Partei auch die niedrige Wahlbeteiligung geschadet haben: Mehr als 51 Prozent der Wahlberechtigten blieben zu Hause. 2000 hatte die Enthaltung nur 42 Prozent betragen.
In Managua wurde das alte Match Sandinisten gegen Contras neu aufgelegt. Der 58jährige Dionisio Marenco Nicho, Unternehmer und Intimus von Parteichef Daniel Ortega, siegte mit 45 Prozent deutlich über den ehemaligen Konterrevolutionär und Sohn von Expräsidentin Violeta Barrios de Chamorro, Pedro Joaquín Chamorro. Auch in der Hauptstadt ist die Spaltung des antisandinistischen Blocks ein Hauptgrund für den Wahlsieg der FSLN. Außerdem profitierte Marenco vom hohen Beliebtheitsgrad des amtierenden sandinistischen Bürgermeisters Herty Lewites, der 2000 gewählt worden war, aber auf Distanz zum Ortega-Lager steht.

Ortogas Machtkalkül
Daniel Ortega rechnet sich nach diesem Erfolg seiner Partei gute Chancen aus, bei den Präsidentenwahlen 2006 endlich sein Comeback zu feiern. Voraussetzung dafür ist aber, dass die Spaltung des antisandinistischen Lagers bis dahin anhält. Diesbezüglich ist allerdings damit zu rechnen, dass sowohl Druck von außen (Washington) als auch von innen (nationales Kapital) die antisandinistischen Kräfte dazu drängen wird, eine ähnliche Allianz zu schmieden, wie es 1990 die UNO (Unión Nacional Opositora) war. Die konservative Zeitung La Prensa forderte bereits in einem Leitartikel, die PLC müsse sich von Alemán befreien, um wieder mehrheitsfähig zu werden und in zwei Jahren den sandinistischen Sieg zu verhindern.
Auf alle Fälle wird sich Daniel Ortega für die anstehende Postenschacherei gestärkt fühlen. In den ersten Monaten des kommenden Jahres stehen Neubesetzungen von wichtigen Posten in der Justiz sowie im Wahlrat und im Rechnungshof an. Diese Posten werden von der Nationalversammlung vergeben. Dort wiederum stellen seit der Spaltung der PLC die Sandinisten die wichtigste Fraktion. Sie können mit beiden liberalen Flügeln verhandeln während die APRE-Gruppe von Präsident Bolaños sich mit den Alemanisten äußerst schwer tut. Diese verlangen die Enthaftung ihres Caudillos, der voraussichtlich paradoxerweise in Daniel Ortega seinen mächtigsten Fürsprecher haben wird. Denn – so das Kalkül der Sandinisten – ein korrupter Parteiführer in Freiheit wird mittelfristig die Spaltung der Liberalen zementieren. Schon jetzt ist die Kontrolle der FSLN über den Justizapparat so groß, dass alle politischen Prozesse zugunsten der Parteiführung beeinflusst werden können.
Gleichzeitig verfolgt Ortega noch eine andere Strategie, seine Macht auszubauen: Die Androhung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen Präsident Bolaños ist nach Ansicht des bekannten Analytikers und Journalisten Carlos Fernando Chamorro nur ein Scheingefecht. Der Rechnungshof hatte Anfang Oktober eine Verwaltungsstrafe gegen Bolaños verhängt und dessen Absetzung gefordert. Ursache ist dessen Weigerung, die Herkunft von 236.000 US-Dollar aufzuklären, die 2001 im Wahlkampf eingesetzt wurden und aus dem Korruptionssumpf Arnoldo Alemáns stammen sollen. Ortega unterstützte die Forderung des Rechnungshofes. Daraufhin rief Bolaños, der sich innenpolitisch isoliert sah, die Organisation Amerikanischer Staaten an, die prompt eine Delegation nach Managua entsandte und auf ihre Charta hinwies, die verlangt, dass Staatschefs ihre Amtszeit durchdienen sollen. Nach Ansicht von Chamorro wird Ortega die fragwürdigen Gelder in Zukunft immer wieder ins Spiel bringen, die Absetzung des Präsidenten aber nicht aktiv vorantreiben. Ein geschwächter Bolaños sei für seine Zwecke nützlicher als ein abgesetzter, so der Analytiker. Mit der PLC haben sich die Sandinisten bereits geeinigt, noch in diesem Jahr via Verfassungsreform die Vollmachten des Präsidenten zu beschneiden.

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