Schlingerpartien einer politischen Klasse

Mit Spannung erwarteten das EZLN und große Teile der Bevölkerung die Antwort der Parteifraktionen auf das Gesuch der Zapatisten, in einer Plenarsitzung des Kongresses die Gesetzesinitiative der parlametarischen Friedenskommission COCOPA (siehe LN 321) über indigene Rechte und Kultur zu verteidigen. Um so größer war die Ernüchterung, als dann die Antwort kam. Parteiführung von PAN (Partei der Nationalen Aktion) und PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution), allen voran Fraktionsvorsitzender der PAN im Senat, Fernández de Cevallos, hatten eine Ablehnung der Forderung durchgesetzt. Nur Mitgliedern der Legislative sei es erlaubt, von der Rednertribüne Gebrauch zu machen, erklärte dieser. Stattdessen könne aber eine Kommission aus zehn Senatoren und zehn Kongressabgeordneten einberufen werden, die sich anhören würde, was das EZLN und Vertreter des Nationalen Indígena Kongress CNI zu sagen haben.
Diese lehnten jedoch den Vorschlag ab und bezeichneten es als „erniedrigend“, dass „eine historische Forderung so am Rande verhandelt werden soll“. Am 18. März erklärte Marcos: “In Anbetracht dieser parteipolitischen Verdunkelung werden wir Ende der Woche abreisen.“ Diese Entscheidung war bei aller Enttäuschung nicht nur eine moralisch notwendige, sie war auch ein strategisch kluger Schachzug. Der unmissverständlich verdeutlichte, „dass im Kongress mehr die internen Streitigkeiten und Machtkämpfe zählen, und dass die konservativen Gruppen, die die Tribüne mit einem Exklusivclub verwechseln, gesiegt haben“, so Marcos weiter. Auch zeige sich, dass Fox´ Friedensbekundungen nur leere Worte gewesen seien.

PAN macht gegen EZLN mobil

Denn wem unter welchen Umständen erlaubt werden kann, vor dem Kongress zu sprechen, sei nirgends endgültig geregelt, erklärte auch Emilio Ulloa, Abgeordneter für die sozialdemokratische PRD. „Die panistas wollen damit versuchen, eine sachliche Diskussion zu verhindern. Cevallos will einen Zusammenstoß zwischen Vicente Fox und den Zapatistas provozieren“.
Cevallos ist erbitterter Gegner der Zapatisten, mehrmals bezeichnete er diese als Erpresser und sogar als Mörder. Wichtiger aber noch ist, dass Cevallos auch ein bekannter Gegner von Fox ist. So hatte er schon gegen dessen Präsidentschaftskandidatur mobil gemacht. Seine politischen Freunde hat er außerhalb seiner Partei vor allem im konservativen Klerus und in Unternehmerkreisen. Als Anwalt von großen Unternehmen, darunter auch vermeintlichen Geldwäschefirmen, hat er es in der Öffentlichkeit zu einiger Berühmtheit gebracht. Mit einem Scheitern des Treffens hätte er gleichzeitig den Zapatisten, allen voran aber Fox´ nationalem und internationalem Ansehen einen heftigen Schlag versetzt.

Fox wie eh und je

Fox hatte sich hingegen auf eine dreigleisige Strategie eingelassen. Gegenüber den Zapatisten und der Öffentlichkeit inszenierte er sich weiterhin als der große Friedensbringer und Zapatistenfreund. Gleichzeitig bastelte er mit Großunternehmern an dem Entwicklungsplan Puebla-Panama, einem neoliberalen Megaprojekt zur Modernisierung ganz Südmexikos und Mittelamerikas. Die Finanzierung des Planes ist noch ungeklärt. Würde es jedoch zu seiner Umsetzung kommen, so wären Mitbestimmungsrechte in Entwicklungsfragen und über natürliche Ressourcen, die in den Beschlüssen von San Andrés festgehalten sind, verletzt.
Gegenüber seiner Partei wiederum verhielt sich Fox möglichst bedeckt. Obwohl es seine Pflicht gewesen wäre, suchte er nicht die Debatte über die Frage der indigenen Rechte und Kultur mit seiner Partei. Dies zeigt, dass es ihm mit seiner Friedenskampagne nicht ernst gewesen sein kann. Als das EZLN seine Abreiseabsichten bekannt machte, gab sich Fox unverständlich.

Brief von Fox an das EZLN

In seinem Brief an Marcos schrieb er: „Das EZLN darf an unseren Worten nicht zweifeln, denn wir haben alle Bedingungen erfüllt.“ Er wünschte, dass sie nicht abreisten. Er würde sich für einen neuen Vorschlag einsetzen, meinte er. Auf jeden Fall aber, heißt es weiter, würde er sich gerne mit Marcos treffen, bevor er nach Chiapas abführe, „einfach so, ohne Verpflichtungen“.
Das EZLN reagierte eindeutig: Erstens sei nicht der Subcomandante Marcos der Ansprechpartner und zweitens werde das EZLN solange nicht mit der Regierung reden, wie die drei Bedingungen für die Aufnahme des Dialogs nicht erfüllt wären. Bis jetzt ist aber der Gesetzesvorschlag der COCOPA nicht verabschiedet. Auch warten noch 15 zapatistische Gefangene auf ihre Freilassung. Drei von sieben Militärstützpunkten sind noch immer nicht definitiv geschlossen. Das konnten auch Fox´ gegenteilige Vorgaben nicht vertuschen.

Zusammenstöße vor und im Kongress

So war es dann auch nicht der in Kalifornien weilende Fox, sondern der gesellschaftliche Druck und explizit die PRD, die zwei Tage später einen letzten Versuch startete. Es musste ein neuer Vorschlag zu Modalitäten für ein Treffen zwischen Legislative und EZLN her, um den Friedensprozess nicht schon in erster Instanz scheitern zu lassen. Zwei Tage lang lieferten sich die Parteifraktionen um die „Tribünenfrage“ erneut ein Gefecht. Für den Nachmittag des 22. März war die Abstimmung vorgesehen.
Zeitgleich versammelten sich vor dem Kongressgebäude Zapatisten, CNI und Tausende von SympathisantInnen zu einer letzten Protestaktion. In seinem Aufruf schreibt das EZLN: „Die mexikanische Gesellschaft, die indigenen Völker und die Zapatisten sind mit erhobenem Haupte hierhergekommen. Nicht um die Regierung zu stürzen, nicht um das System herauszufordern, nicht um eine Denkweise aufzuzwingen. Aber sehr wohl, um zu reden und um zu überzeugen, dass die Indígenas einen würdigen Platz neben allen MexikanerInnen verdienen.” Einer der comandantes die zu der Menge sprachen, erklärte in seiner Rede: „Wir werden nicht zulassen, dass uns erneut die Wege versperrt werden, die wir eingeschlagen haben.“
Aber dann kam die Überraschung. Mit 220 Stimmen und 210 Gegenstimmen (die geeinte PAN-Fraktion und 20 priístas) wurde der Vorschlag der PRD angenommen, die Zapatisten doch vor dem Kongress sprechen zu lassen. Letzendlich war es ironischerweise die Fraktion der PRI, die das Zünglein an der Wage zum Umschwenken bewegte. Anders fiel das Ergebnis allerdings im Senat aus, da wurde erneut beschlossen, dass „die Tribüne des Senats vor einer erniedrigenden Vereinnahmung durch das EZLN verteidigt werden müsse.“

Zapatisten im Kongress?

Doch vor dem Kongressgebäude brach bei der Verkündung der Nachricht Jubelgeschrei aus. Die comandantes berieten sich kurz bevor sie den Vorschlag annahmen. Sie werden von der Tribüne des Kongresssaals ihre Reden halten dürfen, allerdings nicht vor dem Plenum, sondern in einer Sitzung mit zwei Kommissionen. Diese wird aber für alle Parlamentsmitglieder offen sein. Darüber hinaus könne ab sofort mit Gesprächen über die Modalitäten der Beteiligung des EZLN an Arbeitsgruppen zur Verfassungsreform begonnen werden. Angesichts der veränderten Tatsachen verschob das EZLN seine Abreise, machte aber sogleich deutlich, wessen Verdienst dieses Ergebnis sei: „Das EZLN denkt, dass die Möglichkeit für dieses Übereinkommen dank der nationalen und internationalen Mobilisierung für die Anerkennung der indigenen Rechte und Kultur und dank der Sensibilität der Mehrheit der Kongressabgeordneten und einer Minderheit der Senatsabgeordneten zustande kommen konnte.“

Zapatisten in der Friedensoffensive

Da haben die campesinos in Durango schon gestutzt, als bei der Einweihung des ersten kommunalen Internetcenters Präsident Vicente Fox den Subcomandante Marcos zum Vorbild seiner Informationsgesellschaft machte. „Es ist die Information, die ihm den Wettbewerbsvorteil verschafft … Durch sie ist es ihm gelungen, eine ganze Bewegung ins Leben zu rufen.” Ohne das Internet wäre Marcos längst verloren, philosophierte Fox weiter. So komisch und zeitlich höchst unpassend diese Äußerung aus seinem Mund auch gewirkt haben muss, in ihr steckt wahrscheinlich die tragische Quintessenz davon, wie er auf den Konflikt in Chiapas schaut.
Denn seit die Guerilla im Januar einen Friedensmarsch nach Mexiko-Stadt ankündigte, scheint es Fox vor allem darum zu gehen, in den Medien seinen „Rivalen” Marcos zu übertrumpfen, und nicht darum, die Zapatisten aus ihren Beweggründen her zu begreifen. Das heißt in diesen Tagen vor allem, „Wettbewerbsvorteile” zu suchen, um den Marsch der Zapatisten später auf dem eigenen Konto verbuchen zu können.
Die politische Stimmung gleicht einem Schachspiel, wo es in Hinblick auf eventuelle Friedensgespräche gute Positionen in öffentlicher Meinung und Medien zu gewinnen gilt. Vor dem Hintergrund eines im Wandel begriffenen politischen Systems ist für alle Züge Vorsicht geboten.

Guerilleros auf Reisen

Die Guerilleros aber können sich ihrer Sache sicher sein. Wenn die 24 Aufständischen (darunter nur vier Frauen) vom 24. Februar bis zu ihrem Einzug auf dem Hauptplatz von Mexiko-Stadt am 11. März durch zwölf Bundesstaaten reisen, können sie damit rechnen, von zahlreichen SympathisantInnen begleitet zu werden. Schon Wochen vorher meldeten sich in allen Städten NRO und Einzelpersonen zu Wort, um den Führern der Guerilla zur Seite zu stehen und sie festlich zu empfangen. Auch die sozialdemokratische PRD wird mit 68 Abgeordneten die Delegation begleiten, da sie sich besorgt um deren Sicherheit wähnen, hieß es aus dem Sekretariat für Wahlangelegenheiten der Partei.
Hatte die Bundesregierung einen Tag vor der Abreise die Legalität der Delegation erneut außer Frage gestellt, so sorgte doch für scharfe Kritik, dass die Regierung die Bitte der Zapatisten an das Internationale Rote Kreuz (IRK), ihnen Begleitschutz zu gewähren, nicht bewilligte. Bei anderen Treffen zwischen den Guerilleros und dem Staat hatte das IRK mehrfach jene Rolle übernommen. „Wir erklären, dass wir ab jetzt Herrn Fox und seine Kabinettsmitglieder für alle unerfreulichen Zwischenfälle, die auf der Reise auftreten könnten, verantwortlich machen”, so Marcos in seinem letzten Kommuniqué. Mit dieser „180-Grad-Wendung” ließe die Regierung denjenigen Kräften aus Politik, Wirtschaft und Klerus freie Bahn, die den Zapatisten schon seit Wochen wegen der geplanten Reise drohen. Statt des Internationalen Roten Kreuzes wird nun ausgerechnet die berüchtigte Bundespolizei PFP zusammen mit lokalen Sicherheitskräften den Marsch begleiten.
Drei Tage werden die comandantes auch im Bundesstaat Michoacán verweilen, um dort am Dritten Indigenen Nationalkongress (CNI) teilzunehmen, zu dem über 10 000 Personen erwartet werden. Auch hier wird es um das Gesetz über indigene Rechte und Kultur und Autonomiefragen gehen. Neben der zapatistischen Bewegung kann der CNI als die einzig bedeutende Initiative gelten, die sich außerhalb von Chiapas seit seiner Gründung 1996 konsolidieren konnte.

Motive des EZLN

Die Zapatisten planen mit der zweiwöchigen Rundreise zweierlei. Nach außen soll es darum gehen, mittels Mobilisierung der Zivilgesellschaft und Zusammentreffen mit der parlamentarischen Friedenskommission COCOPA Druck auf den Bundeskongress auszuüben, damit dieser den Vorschlag der COCOPA über indigene Rechte und Kultur verabschiedet. Dies stellte eine der drei Bedingungen der Zapatisten dar, um zu Friedensgesprächen zurückzukehren (siehe Kasten). Die interne Dimension der Rundreise zielt auf die Möglichkeit, sich mit anderen sozialen Kräften und Organisationen treffen zu können, um auf diese Weise Solidaritätsnetzwerke und politische Bündnisse wieder neu zu beleben. Hier wird der Kontakt weniger mit „linken”, sondern vielmehr allgemein mit Basisorganisationen gesucht.

Frieden strategisch

Die Ignorierungs- oder Diffamierungsstrategien haben es nicht vermocht, dass die Zapatisten weniger Zustimmung für ihre Forderungen fanden. Im Gegenteil, Informationen des Präsidialamtes zufolge haben in der letzten Umfrage drei Viertel aller Befragten den Marsch der unbewaffneten Guerilleros für verständlich und unterstützenswert gehalten. So wundert es nicht, dass auch Fox und Teile seiner Regierung im Februar dazu übergingen, den Marsch als „Brücke für den Frieden” zu bezeichnen.
Möchte es die neue Regierung zu größeren politischen Handlungsräumen, Glaubwürdigkeit und Ruhm bringen, brauchen sie ihre Unterschrift unter einem Friedensabkommen mit den Zapatisten. Ein Foto mit dem Subcomandante Marcos ließe sich überall gut verkaufen. So versuchen Fox und seine engsten Minister, sich ins Rampenlicht zu rücken und den Regierungsbeauftragten für einen Frieden in Chiapas, Luis H. Alvarez, in den Schatten zu stellen.
Die Zapatisten sehen die Gefahr der Instrumentalisierung ihrer Kampagne für Regierungszwecke, so dass auch Marcos immer wieder betont „er werde nicht mit Fox reden”. Mit Vorsicht beäugt er die plötzliche Friedensbegeisterung von Fox, der mit großer Medienwirksamkeit immer vehementer zum Ausdruck bringt, dass der Frieden jetzt vor der Tür stehe. Auf die Frage eines Journalisten, was Marcos denn tun würde, wenn Fox auf ihn zu käme, um sich mit ihm fotografieren zu lassen, erwiderte er spöttisch: „Ich würde ihm ein Poster von mir geben, damit er sich mit dem fotografiert.”
Obwohl die Regierung und auch die Wirtschaft durchaus ein großes Interesse an einem Frieden in Chiapas haben, hat die Regierung bis jetzt die Forderungen der Zapatisten nur teilweise erfüllt (s.Kasten). Das könnte zum einen bedeuten, dass die Macht von Fox allgemein, vor allem aber in den Streitkräften an ihre Grenzen stößt, so dass Verhandlungen und ideologische Verpflichtungen ein kompliziertes Unterfangen sind. Zum anderen könnte es sich auch um eine typische Verhandlungsstrategie handeln, immer nur häppchenweise Zugeständnisse zu machen, um zu gucken, wieviel auf der anderen Seite noch herauszuschlagen ist. Große Teile der PAN scheinen jedoch aus Gründen „christlicher Barmherzigkeit” die katastrophalen sozialen Auswirkungen des Neoliberalismus ein wenig reduzieren zu wollen.

Medienrummel

Das Spektakulärste der letzten Wochen ist jedoch die Medienkampagne großer Unternehmen. Die beiden größten Fernsehkanäle senden beispielsweise Spots für den Frieden, in denen ein kleines weiß gekleidetes Indígena-Mädchen auf einem leeren Fußballfeld eine Taube aus ihren Händen emporfliegen lässt. Auch ein Megaevent ist geplant, ein Rockkonzert für den Frieden wird am 3. März in Mexiko-Stadt stattfinden. Darüber hinaus sammeln Supermarktketten Unterschriften „für den Frieden”. In all diesen Kampagnen bleibt der Konflikt abstrakt. Es gibt weder Inhalte, Geschichte, Erklärungen oder Akteure. Zapatisten, Regierung und Militär kommen nirgends vor. Die außerparlamentarische Linke ist noch etwas orientierungslos, wie sie mit dem Fahnenklau umgehen soll. Die Rufe reichen von Boykott oder Störung solcher Veranstaltungen bis zu subversiver Vereinnahmung und kritischer Beteiligung.
Dass der Frieden keine schnelle Sache sein kann, glaubt auch der Direktor des Indigenistischen Nationalinstituts (INI) Marcos Matías, denn „für die Lösung des Konflikts bedarf es neben einer Verfassungsreform auch einer Wirtschaftsreform, die eine Erhöhung der Sozialausgaben erleichtert und diese vermehrt unter der indigenen Landbevölkerung verteilt.”
Der Gesetzesentwurf der COCOPA, der einen Rahmen für weitere kollektive Rechte eröffnet, stößt jedoch auf den Widerstand politischer und ökonomischer Interessengruppen und auf ideologische Ablehnung im Zentrum der Macht. Inwieweit das Gesetz eine wirkliche Beschneidung der Kapitalinteressen darstellen würde, ist jedoch fraglich, da Gesetze in Mexiko auf dem Papier und in der Wirklichkeit zweierlei sind. Sollte es jedoch tatsächlich zu einer Verfassungsreform, dem Abzug der sieben Militärstützpunkte und der Freilassung der politischen Gefangenen kommen, stünden Friedensverhandlungen nichts mehr im Wege.

KASTEN

Bedingungen für den Dialog

Als die EZLN sich im Dezember erstmalig nach den historischen Wahlen im Juli 2000 zu Wort meldete, sprach sie eine klare Sprache. Sie begrüßte den Regierungswechsel als Grundvoraussetzung für einen Frieden in Chiapas. Um zu Friedensgesprächen zurückzukehren, stellte sie drei Forderungen:
1. Abzug von sieben der insgesamt 259 Militärstützpunkte in Chiapas. Bis zum 23. Februar 2001 waren vier geräumt.
2. Freilassung von 102 politischen pro-zapatistischen Gefangenen. Bis zum 23. Februar wurden 39 entlassen und 20 weitere erhielten eine Entlassungszusage.
3. Ratifizierung des Teilabkommens von San Andrés über indigene Rechte und Kultur.

Das Abkommen von San Andrés wurde im Februar 1996 von den Zapatisten und der Regierung unterzeichnet. Im November1996 legte die dafür einberufene parlamentarische Friedenskommission COCOPA (Comisión de Concordia y Pacificación) einen Gesetzesvorschlag zur Verfassungsänderung vor. In dem Teilabkommen (weitere Runde Tische gab es zu Demokratie und Entwicklung, Bildung und Frauen) geht es um die Anerkennung indigener Gemeinden als Rechtseinheiten und um das Recht auf kommunale Autonomie für alle mehrheitlich indigenen Gemeinden, d. h. vor allem um die Gesetzmäßigkeit von traditionellen „Regeln und Bräuchen”, solange diese im Einklang mit den Menschenrechten stehen. Betroffen sind hier vor allem Rechtsprechung, Form der Regierung und Verfügungshoheit über die natürlichen Ressourcen des Lebensraumes mit Ausnahme solcher, die explizites „Eigentum” der Nation sind. Des weiteren geht es um politische Partizipation und Repräsentation auf nationaler Ebene, um Anerkennung der kulturellen Diversität und Förderung der verschiedenen Kulturen und Sprachen.
Der Gesetzesvorschlag wurde von Fox im Dezember an den Bundeskongress gesandt. Neben dem Vorschlag der COCOPA haben auch Ex-Präsident Zedillo und die PAN einen Vorschlag eingereicht, die beide weit hinter die ursprünglich erarbeiteten Beschlüsse von San Andrés zurückfallen. Trotz unbestreitbarer Legitimität des Gesetzesentwurfes der COCOPA sollen alle drei Beschlüsse im März verhandelt werden. Nur die sozialdemokratische PRD steht voll hinter der COCOPA. Die Delegation der Zapatisten wird sich am 13. März mit den Mitgliedern der COCOPA in Mexiko-Stadt treffen. Auf diese Weise soll der Kongress zu einer Befürwortung des COCOPA-Vorschlages bewegt werden.

Mit rotem Barett und gelbem Schutzhelm

Wer siegen will, kann heute nicht mehr von der Sowjetunion lernen. Aber vielleicht von Kuba, das schlechte Erfahrungen mit ausländischen Interventionen gemacht hat. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez ist ein Siegertyp und träumt davon, das zu bleiben. Womöglich hält er darum nichts von Einmischungen in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates. Auch dann nicht, wenn sich ein korruptes Regime nur mit einem Wahlschwindel behaupten kann, wie es im Mai dieses Jahres in Peru der Fall war. Originalton Chávez: „Kein Land der Welt kann sich zum Richter oder Präsidenten aufschwingen, weil der einzige Richter das peruanische Volk ist. Wir respektieren Peru und dessen Entscheidung. Der venezolanischen Regierung steht es nicht zu, die Legitimität von internen Angelegenheiten eines souveränen Staates anzuerkennen oder nicht.“ Chávez votierte entsprechend gegen eine Verurteilung Perus durch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS).
Seit seinem Amtsantritt im Februar 1999 muss Hugo Chávez damit leben, dass er mit dem peruanischen Präsidenten verglichen und als venezolanischer Fujimori bezeichnet wird. Seine Parteinahme für Fujimori gab solchen Vergleichen neue Nahrung.

Kein Baseball mit Fujimori

Dabei haben die beiden Männer eine völlig unterschiedliche Ausstrahlung. Der impulsive und leidenschaftliche Chávez gilt als charismatischer Redner, der wie sein Freund Fidel Castro stundenlang im Fernsehen plaudern und die Massen begeistern kann. Fujimori, stets beherrscht und unterkühlt, ist dagegen einer der farblosesten Präsidenten Südamerikas. Einer, der schon zwei aufeinander folgende Sätze von einem Blatt Papier ablesen muss und nicht einmal die spanische Grammatik beherrscht. Der eine ist ein Träumer, ein Idealist, der sich als Rebell einen Namen gemacht hat, als er 1992 gegen die korrupte Pérez-Regierung aufstand. Der andere – ein pragmatischer Technokrat mit stets exakt gezogenem Scheitel – schlägt eher Rebellionen nieder. Nicht einmal Baseball spielen könnte Chávez mit dem völlig unsportlichen Fujimori.
Der 1990 zum ersten Mal gewählte Alberto Fujimori schrieb in Lateinamerika Geschichte als Mann, der während seiner eigenen Präsidentschaft einen Putsch inszenierte.
Im Jahr 1992 ließ er Panzer auffahren und das Parlament schließen, weil er dort keine Mehrheit hatte. Danach regierte er ein Jahr lang per Gesetzesdekret. Auf Druck der USA schrieb der auf einer Popularitätswelle schwimmende Präsident zwar ein Jahr später wieder Wahlen zum Kongress aus, gleichzeitig setzte er aber per Plebiszit wichtige Verfassungsänderungen durch. Der Senat, die zweite Kammer des Kongresses, wurde abgeschafft und die Anzahl der Abgeordneten auf 120 reduziert. Die einmalige Wiederwahl des Präsidenten – bislang in Peru und in den meisten anderen lateinamerikanischen Staaten aufgrund der negativen Erfahrungen aus der Zeit der Militärdiktaturen verboten – war fortan gestattet.

Hunger auf mehr Macht

Diese Maßnahmen fanden in Lateinamerika schnell Nachahmer. Auch der damalige argentinische Präsident Carlos Menem wollte nach einer Amtsperiode die Macht nicht mehr abgeben und beschritt mit einer Verfassungsänderung den gleichen Weg wie Fujimori. Kurz danach fand der Brasilianer Henrique Cardoso Gefallen an dieser Methode. Beide blieben allerdings einen Schritt hinter Fujimori zurück. Der besaß die Dreistigkeit, sich entgegen dem von ihm selbst geänderten Verfassungsartikel noch ein drittes Mal wählen zu lassen. Dazu verabschiedete der Kongress ein „Gesetz zur authentischen Interpretation der Verfassung“, in dem Fujimoris erste Wahl, die zeitlich vor der Verfassungsänderung lag, nicht mitgezählt wurde. Drei VerfassungsrichterInnen, die solcher scharfsinnigen Argumentation nicht zu folgen vermochten, wurden suspendiert. Das Verfassungsgericht durfte anschließend wegen Unterbesetzung nie wieder zusammenkommen. Fujimori war ein weiteres Kontrollorgan los.
Zweifellos ließ sich auch Hugo Chávez von Fujimori inspirieren. Er ließ in seiner neuen Verfassung ebenfalls die einmalige Wiederwahl des Präsidenten legitimieren und stutzte den venezolanischen Kongress auf eine einzige parlamentarische Kammer mit 165 Abgeordneten zurecht. Während Fujimoris Partner Vladimiro Montesinos sich die Mehrheit im Kongress für teures Geld zusammenkaufen musste, sorgte Chávez vor und beschnitt dessen Kompetenzen zu Gunsten der eigenen. Erst Anfang November ließ er sich für ein Jahr Sondervollmachten ausstellen, aufgrund derer er in der Wirtschafts- und Sozialpolitik Gesetzesdekrete erlassen kann. Schließlich ging der venezolanische Präsident vor seiner Verfassungsreform ebenfalls mit Armee und Polizei gegen den Kongress vor. Und auch für die Judikative scheint Chávez auf den ersten Blick nicht mehr Respekt aufzubringen als Fujimori. Er setzte sich über einen Einspruch des obersten Gerichtshofes hinweg, als er jene Kameraden beförderte, die ihm 1992 bei seinem Putschversuch zur Seite gestanden hatten.

Schweres Erbe

Die Gemeinsamkeiten von Alberto Fujimori und Hugo Chávez sind damit nicht erschöpft. Beide bauten ihre Regierung auf den Trümmern traditioneller Parteien auf. In Venezuela erhielten die bislang dominierende sozialdemokratische Demokratische Aktion (AD) und die rechte Copei bei Chávez’ Triumph 1999 zusammen gerade noch neun Prozent der Stimmen. Kein Wunder – Carlos Andrés Pérez, der letzte Präsident der AD, hatte beim Caracazo, einem Aufstand gegen seine neoliberale Politik im Jahre 1989, ein Massaker an über tausend Demonstranten zu verantworten und beendete seine Karriere wegen Korruption im Gefängnis. In Peru kamen die verbliebenen traditionellen Parteien, die Acción Popular des ehemaligen Präsidenten Fernando Belaunde und die sozialdemokratische APRA, bei den letzten Wahlen nicht einmal mehr auf zusammen fünf Prozent. Fujimoris korrupter Vorgänger Alan García (APRA) hinterließ Fujimori ein wirtschaftlich und politisch völlig zerrüttetes Land: mit einer Inflation von 8000 Prozent – ein trauriger lateinamerikanischer Rekord – und einem mörderischen Bürgerkrieg, der insgesamt 25 000 PeruanerInnen das Leben kostete.
Die traurigen Beispiele ihrer gescheiterten Vorgänger bewegten beide Präsidenten, gleich nach ihrer Amtsübernahme drastisch gegen die Korruption vorzugehen. Chávez’ neue Verfassung sieht sogar neben den traditionellen drei Gewalten noch eine „Moralische Gewalt“ (Poder Moral) vor. Den Abgeordneten wurde die Immunität entzogen, und sie sollen in Fällen von Korruption jederzeit vom Volk abgesetzt werden können. Fujimori machte die verfilzte Steuerbehörde SUNAT zu einem Musterbeispiel staatlicher Effizienz. Nach nur zwei Jahren seiner Präsidentschaft hatte er seine Steuereinnahmen nahezu verdoppelt. In der Justiz setzte er Regierungskommissionen ein, die korrupte Richter und Staatsanwälte aus dem Verkehr ziehen sollten.

Fresspakete und Kochtöpfe

Chávez und Fujimori können auf die Unterstützung der ärmeren Bevölkerung zählen. Während der venezolanische Präsident selbst aus der Unterschicht kommt, gehört Fujimori einer japanischstämmigen Minderheit an, der bislang – ebenso wie den Indígenas und den Schwarzen – der Zugang zur Macht versperrt war. Beide verstehen die Sprache der unteren Bevölkerungsschichten und wissen bei ihren häufigen Besuchen in den Armenvierteln geschickt die Medien einzusetzen. Chávez taucht unangemeldet in Schulen oder Krankenhäusern auf, und Fujimori zieht sich bei seinen Besuchen im Hochland gern eine bunte Mütze über die Ohren, streift sich einen Poncho über und bewegt sich – wenn auch ungelenk – im Rhythmus des Huayno, des traditionellen Tanzes der Andenbewohner. Während der Hochwasserkatastrophe im vergangenen Jahr erschien der Oberstleutnant Chávez mit Kampfuniform und rotem Barett vor Ort, und als im Januar 1998 „El Niño“ in Peru sein Unwesen trieb, war der Ingenieur Fujimori mit gelbem Schutzhelm, Gummistiefeln und Regenjacke zur Stelle. Besonders im Wahlkampf vergessen weder Chávez noch Fujimori die Armen: Der venezolanische Präsident verteilt Fresspakete und Fujimori verschenkt staatliche Grundstücke, Küchenherde oder Kochtöpfe.
Dennoch haben Chávez und Fujimori in der Wirtschafts- und Sozialpolitik einen völlig unterschiedlichen Kurs eingeschlagen. Fujimoris Wirtschaftsminister Carlos Boloña gilt als einer der dogmatischsten Verfechter der reinen neoliberalen Lehre. Mit einer Ausnahme: von den umfangreichen Privatisierungen in Peru füllten sich nicht nur die Staatskassen, sondern auch die Taschen der zuständigen Minister.

Der peruanische Chávez – venezolanischer Fujimori

Hugo Chávez hat von seiner anfänglich scharfen Rhetorik gegen den Neoliberalismus ein wenig Abstand genommen und steht nun Privatisierungen nicht mehr grundsätzlich ablehnend gegenüber. Das Gesundheits- und Erziehungswesen will er aber – entgegen der peruanischen Politik – auf jeden Fall davon ausnehmen.
Während Hugo Chávez noch am Anfang seiner „Bolivarianischen Revolution“ steht, ist das Fujimori-Regime inzwischen definitiv am Ende. So machthungrig Fujimori auch sein mag: der eigentlich mächtige Mann in Peru ist sein nebenberuflich im Drogen- und Waffengeschäft tätiger Partner Vladimiro Montesinos. Er formte das peruanische Regime stärker als der Präsident selbst. Die Regierungskommissionen, die mit der Korruption in der Justiz aufräumen sollten, benutzte der Geheimdienstchef Fujimoris, um sich Richter und Staatsanwälte gefügig zu machen.
Die Steuerbehörde SUNAT setzte er ein, um Unternehmen zu erpressen und kritische Medien unter Druck zu setzen. Sogar die Armee brachte er in wenigen Jahren unter seine Kontrolle. Das Tandem Fujimori und Montesinos konstruierte eines der korruptesten Regime der lateinamerikanischen Geschichte. Allein das von Montesinos geraubte und durch illegale Geschäfte erworbene Vermögen wird von der spanischen Zeitung „El País“ auf rund eine Milliarde US-Dollar geschätzt.
Auch Präsident Chávez hat mit den ersten Korruptionsskandalen zu kämpfen. Die vom Volk gewählte „Moralische Gewalt“ hat aber umfangreiche Kontrollfunktionen erhalten. Sie darf außerdem die Richter des Obersten Gerichtshofes auswählen. Eine gleichgeschaltete Justiz nach peruanischem Muster scheint damit ausgeschlossen. Ein Staatsrat soll sogar den Präsidenten und die Minister überwachen und sie von verfassungswidrigen Handlungen abhalten.
Diente Hugo Chávez heute als Oberstleutnant in der peruanischen Armee, dann wäre er wohl schon längst gegen das korrupte Fujimori-Regime aufgestanden – zumal es sich auch zahlreicher Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht hat. Ende Oktober rebellierte im Südosten Perus ein Oberstleutnant namens Ollanta Humala, den sie nun den peruanischen Chávez nennen. Er will mit seinen Gefolgsleuten erst dann die Waffen niederlegen, wenn Alberto Fujimori und Vladimiro Montesinos im Gefängnis sind.

Zwischen Traumtänzer und Despot

Gabriel García Márquez, der 1999 zusammen mit Hugo Chávez von Havanna nach Caracas flog, schrieb über seinen Begleiter: „Ich bin mit zwei gegensätzlichen Männern gereist, mit denen ich mich angeregt unterhalten habe. Dem einen haben die Launen des Schicksals eine Gelegenheit gegeben, sein Land zu retten. Der andere ist ein Träumer, der in die Geschichtsbücher als weiterer Despot eingehen könnte.“ Wohin die Reise mit Chávez geht, wird die Zeit zeigen.
Kubas Máximo Lider gab sich bei seinem Staatsbesuch in Venezuela jedenfalls optimistisch. Schon in wenigen Jahren, so prophezeite er, könnte Venezuela unter Chávez’ Führung die kubanischen „Errungenschaften“ zu etwa 70 Prozent erreicht haben. Im Interesse des venezolanischen Volkes bleibt zu hoffen, dass sich Chávez stattdessen nicht die peruanischen Errungenschaften zum Maßstab nimmt. Sollte er die irgendwann zu 70 Prozent erreichen, dann hätte er – gemessen am Vermögen des Herrn Montesinos – seine Taschen bereits mit 700 Millionen Dollar gefüllt.

Schlauer Fox oder Luftikus?

Bill Clinton nannte Fox bei seinem Besuch in den USA einen Luftikus. Denn über dessen überraschenden Vorschlag, die Grenzen zwischen beiden Ländern zu öffnen und die Nafta zu einer Währungsunion zu erweitern, konnten seine nordamerikanischen Kollegen nur halb belustigt, halb empört den Kopf schütteln. Als mexikanische Journalisten daraufhin Fox‘ Rundreise als einen Reinfall bezeichneten, wurden sie von seinem Beauftragten für internationale Beziehungen Jorge Castañeda prompt als „ignorantes und schlecht informiertes Pack“ beschimpft, dem man sich „besser nicht anvertrauen sollte“. Diese Anekdote verrät zweierlei: erstens, dass sich Fox gerne überschätzt, und zweitens, dass die neuen Mächtigen des Landes eine fragwürdige Auffassung von Meinungs- und Pressefreiheit haben, die dem viel propagierten Beginn einer Ära der „Toleranz, Pluralität und Diversität“ widersprechen.

Repression und Diskriminierung

Vor allem auf regionaler Ebene ist von Toleranz heute weniger zu spüren denn je. Durch den Wahlsieg ermutigt, haben die Partei der Nationalen Aktion PAN und die ihr nahe stehenden erzkonservativen Kreise der katholischen Kirche wie Opus Dei, Legionäre Christi und Organisationen wie PROVIDA eine sexistische Kampagne gegen Homosexuelle und Frauen initiiert. Ausschlaggebend war eine Gesetzesänderung im nördlichen Bundesstaat Guanajuato Anfang August. Dort hatte die PAN-Mehrheit im Kongress beschlossen, Abtreibung auch im Falle einer Vergewaltigung mit bis zu acht Jahren Gefängnis zu bestrafen. Die Abtreibungsregelungen variieren in Mexiko von Bundesstaat zu Bundesstaat. Gegenwärtig gibt es drei Fälle in den Abtreibungen erlaubt sind: wenn die Gesundheit der Mutter oder des Embryos stark gefährdet ist, oder wenn die Frau vergewaltigt wurde. Guanajuato ist ausgerechnet der Bundesstaat, in dem Fox als Gouverneur Frauen das Tragen von Miniröcken in staatlichen Einrichtungen verboten hatte. Fox versichert nun zwar, die Abtreibungsregelung aus Guanajato nicht auf Bundesebene zu übernehmen, macht aber gleichzeitig deutlich, dass auch er für das „Recht auf Leben“ stehe.
Nachdem die Partei der Demokratischen Revolution PRD in Mexiko-Stadt den Bürgermeisterposten zwar wieder gewonnen, die Mehrheit im Abgeordnetenhaus aber an die PAN verloren hat, brachte die scheidende Bürgermeisterin Rosario Robles Ende August noch eine Gesetzesreform ein, die die legalen Gründe für einen Schwangerschaftsabbruch in Mexiko-Stadt erweitern. Prompt meldeten sich Abtreibungsgegner zu Wort. So sagte ein PAN-Politiker vor Journalisten, dass die Anzahl von zehn Frauen, die in Mexiko laut Statistiken wöchentlich durch illegalisierte und schlecht durchgeführte Abtreibungen stürben, nicht alarmierend sei. Seitens der katholischen Kirche wird den Frauen nahe gelegt, Vergewaltigungen durch dezentere Kleidung vorzubeugen. Für den Fall einer Abtreibung wird ihnen mit Exkommunikation gedroht.
Auch der Fall Paulinas, eines dreizehnjährigen Mädchens, das durch eine Vergewaltigung schwanger geworden war, ist bezeichnend. Hier waren es der PAN-Politiker Carlos Astorga, die Staatsanwaltschaft (PAN) und die Kirche in Baja California, die zusammen mit PROVIDA und den Ärzten des örtlichen Krankenhauses das Mädchen gegen ihren Willen und die geltenden Gesetze zwangen, das Kind auszutragen. Bevor der Fall in die Medien kam, wollte Fox Astorga in die Gesundheitskommision seiner Regierung aufnehmen. Davon musste er zwar abrücken, doch die PAN zeichnete kürzlich die Ärzte aus, die sich weigerten, die Abtreibung vorzunehmen.
Im Bundesstaat Aguascalientes sind es zur Zeit die Homosexuellen, die öffentlich diskriminiert werden. Dort hat ein Mitglied der örtlichen Regierung ein Schild an einem Schwimmbad anbringen lassen, das „Hunden und Homosexuellen“ den Zutritt verbietet.
Die Repression macht auch vor KünstlerInnen nicht Halt. In Guadalajara wurden vor kurzem dreizehn Bilder einer Ausstellung zum Thema Erotik zensiert. Nach landesweiten Protesten mussten die örtlichen Behörden die Bilder zwar wieder in die Ausstellung zurück bringen, eines der Kunstwerke wurde jedoch von zwei Jugendlichen wegen seines „Angriffs auf die Jungfrau von Guadalupe“ zerstört. Das Bußgeld, das ihnen auferlegt wurde, zahlte daraufhin ein Bischof.
Vor diesem Hintergrund erscheint es mehr als zynisch, wenn Fox zur selben Zeit ankündigt, den verschiedenen Glaubensgemeinschaften offizielle Sendezeit in Radio und Fernsehen gratis zur Verfügung zu stellen, damit sie der Gesellschaft ihre „hoch wertvollen moralischen und ethischen Werte“ näher bringen können. Fox’ Verpflichtungen gegenüber der Kirche scheinen erheblich zu sein, auch wenn er innerhalb der PAN in den wirtschaftsliberalen und nicht in den reaktionär klerikalen Kreisen anzusiedeln ist.
Bestimmten Kreisen der PAN ist Fox aber nicht nur zu liberal, sie ärgern sich auch über seinen Protagonismus. Schon einen Tag nach den Wahlen hatte Fox zu verstehen gegeben, dass nicht die PAN, sondern er regieren würde. Auch im Wahlkampf wurde er weniger von seiner Partei unterstützt als von dem Zusammenschluss „Freunde von Fox“, der heute unter dem Namen „Freunde von Mexiko“ als GmbH weiter existiert. Die Mitglieder sind zum größten Teil anonym geblieben. Es handelt sich wahrscheinlich um Großindustrielle und Unternehmer aus dem Norden Mexikos und dem republikanischen Süden der USA.
Der PAN missfällt es, wie Fox bei der Zusammenstellung der themenbezogenen Arbeitskreise für den politischen Übergang vorgeht. Es handelt sich nicht nur fast ausschließlich um außerparlamentarische Personen aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Auch übernehmen diese Funktionen, die der Legislativen vorbehalten ist. So erarbeiten die Übergangskommissionen weit reichende Reformvorschläge, die sich auf Fox’ 150- Punkte-Vorschlag zur Verfassungsreform stützen, bevor dessen Präsidentschaft überhaupt begonnen und das Parlament auch nur eine Debatte geführt hat. Fox und Porfirio Múñoz Ledo, einem Politiker, der in den letzen Jahren dreimal die Partei gewechselt hat und nun die Kommission zur Staatsreform leitet hatte der Kongress jedoch schließlich einen Strich durch die Rechnung gemacht. Denn die Legislative ernannte parallel eine parlamentarische Kommission und sprach Múñoz Ledo und seinen Kollegen jede Kompetenz ab.
Im Großen und Ganzen haben Fox’ Stellungnahmen zu seinen politischen Plänen seine wahlkampftypische Widersprüchlichkeit noch nicht verloren. Einen regelrechten Skandal auch in den Reihen der eigenen Partei seine Ankündigung ausgelöst, in Zukunft eine Mehrwertsteuer von zehn bis 15 Prozent auf Lebensmittel und Medikamente zu erheben. Und das, obwohl unter dem scheidenden Präsidenten Zedillo die Zahl der unterhalb der Armutsgrenze lebenden MexikanerInnen bei gleichzeitigem Wirtschaftswachstum weiter gestiegen ist.
Im Vorschlag zur Bildungsreform ist vor allem davon die Rede, über ein komplexes Stipendienprogramm für zumeist private Bildungseinrichtungen die Bildungschancen anzugleichen.

Chiapas-Konflikt von “lokaler Natur”

Von den Wahlversprechen, den Energiesektor nicht zu privatisieren und den Konflikt in Chiapas zu lösen, ist nicht viel übrig geblieben. Die Öffnung des Energiesektors für private Investoren ist für Fox beschlossene Sache und den Konflikt in Chiapas nannte er vor kurzem „lokaler Natur“. Eine graduelle Entmilitarisierung der Zone soll es zwar geben, Voraussetzung für die Rückkehr zum Dialog mit der EZLN kann sie aber nicht sein. Der Wahlsieg des unabhängigen Oppositionskandidaten und Ex-PRI-Mitgliedes Pablo Salazar Mendiguchía eröffnet zwar neue Hoffnungen für einen Friedensprozess, die Zuständigkeit des Bundes in militärischen Fragen beschränkten die Möglichkeiten des neuen Gouverneurs jedoch erheblich.

Konsens und Kontinuität

In seinen Reden spricht Fox lieber von nationalen als von politischen Interessen, behauptet von sich, gleichzeitig links und rechts zu sein und verbreitet das Credo einer „Politik des Konsenses“. Dahinter verbirgt sich nicht nur die Idee, sich möglichst wenig Feinde zu machen. Vielmehr sind es die realen Machtverhältnisse im Kongress, die ihn zu dieser Politik zwingen, zumal auch die Parteiführung der PAN deutlich gemacht hat, dass ihre und Fox’ Interessen nur bedingt übereinstimmen. Gemäß der endgültigen Sitzverteilung stellt die Partei der Institutionalisierten Revolution PRI im Kongress 211 von 500 Abgeordneten und ist damit die größte Fraktion vor der PAN mit 206, den konservativen Grünen mit 17 und der PRD mit 50 Sitzen. Im Senat schneidet die PRI sogar noch besser ab, auf sie entfallen 60 Sitze, auf die PAN 46, auf die Grünen fünf und auf die PRD 15. Hinzu kommt, dass die PRI in 18 von 32 lokalen Kongressen die Mehrheit hat. Alle Reformvorhaben können von der PRI blockiert werden, da für sie Zweidrittelmehrheiten notwendig sind. Auch im Fall von einfachen Mehrheitsentscheidungen ist Fox auf die Stimmen anderer Parteien angewiesen. Zusätzlich muss er sich mit einer PAN arrangieren, in der die reaktionären und klerikalen Kreise deutlich im Vormarsch sind. An Stelle von Wechsel und Veränderungen ist also vor allem mit einer Kontinuität der Politik zu rechnen.
Alarmierend ist zudem, dass Fox auf Grund seiner demokratischen Legitimation und dem Nimbus des Wechsels und Sieges über 71 Jahre autoritäre und korrupte PRI-Herrschaft leicht das Bild eines demokratischen Mexikos verkaufen kann.

Der Foxbonus

Vertreter der Menschenrechtsorganisation Pro Juárez und der Entwicklungshilfeorganisitaion Servicio, Desarrollo y Paz fürchten, dass für Fox die Organisationen der Zivilgesellschaft lediglich darum wichtig sind, weil sie ihm zum Bild einer pluralen und inklusiven Regierung verhelfen. Fox werde vor allem NGO’s mit unpolitischem Charakter fördern und anhören, glaubt Emma Maza von Pro Juárez. Dadurch entstehe die Gefahr, dass sich die NGO-Landschaft entpolitisiert, wie es zum Beispiel in Chile in den letzten Jahren passiert sei. „Der Wechsel an sich ist wichtig, aber Fox und die PAN machen mir trotzdem Angst”, sagt sie.
Bis Fox sein Kabinett zusammengestellt hat und am 1. Dezember sein Amt antritt, bleibt Mexikos politische Zukunft ungewiss. Eines aber ist sicher: Fox mag Mexiko am liebsten modern. So gibt es neuerdings eine extra Internetseite, die Regierungsvorschläge der Bevölkerung entgegennimmt. Nur schade, dass alle die, die nicht wissen, wie sie zehn bis fünfzehn Prozent mehr für Lebensmittel und Medikamente bezahlen sollen, auch keinen Internetzugang haben.

„Pinochet vor Gericht!“

Noch während Pinochet im Flugzeug saß, wurde beim zuständigen Richter Juan Guzmán die Aufhebung seiner parlamentarischen Immunität beantragt. Erst damit würde Pinochet, der am 11. März 1998 quasi übergangslos vom Oberbefehlshaber der Streitkräfte zum Ehrensenator auf Lebenszeit wurde, zum Normalbürger, der sich auch vor Gericht verantworten muss. Doch das wird noch dauern, denn das Gericht wird frühestens im Juni über die Immunität entscheiden.
Inzwischen hat Guzmán medizinische Gutachten zur physischen und psychischen Gesundheit des Generals angefordert. Schon die Ärzte in London hatten Pinochet unter anderem geistige Unfähigkeit attestiert (mentalmente incapacitado). Trotz seiner vitalen und stockschwingenden Ankunft in Chile heißt es aus Pinochet-Kreisen, er habe Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren und wirke gelegentlich abwesend. Beste Voraussetzungen, den alten Mann als nicht mehr zurechnungs- und prozessfähig zu erklären. Ungewiss ist, wann die Verteidigung diese Karte ausspielen wird. Während die Pinochet-Anhänger “ihren General” so bald wie möglich für die Gerichte unantastbar wissen möchten, wird es der Regierung Lagos schwerfallen, der Welt zu zeigen, dass in Chile eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Menschenrechtsverbrechen stattfindet, wenn Pinochet nicht einmal die Immunität aberkannt wird.

24 Richter entscheiden über die Immunität

Über die Immunität werden die 24 Richter der Corte de Apelaciones in einfacher Mehrheit abstimmen. Diese Richter sind auch Aspiranten für die höchsten Richterposten am Obersten Gerichtshof, für die sie vom Präsidenten ernannt und von einer Zweidrittel-Mehrheit im Senat bestätigt werden müssen. Bei aller richterlicher Unabhängigkeit gewinnt die Entscheidung über Pinochets Rechtsstatus hierdurch eine politische Dimension und verlangt geschicktes Manövrieren in der Karriereplanung, denn im Senat sind die Rechtskonservativen und das Mitte-Links-Regierungsbündnis fast gleich stark vertreten; qualifizierte Mehrheiten können nur durch koalitionsübergreifende Absprachen erreicht werden.
Augusto Pinochet war der erste, der in Chile dank der von ihm geschaffenen Verfassung als Ex-Präsident in den Genuss der Ehrensenatoren-Würde kam. Zwei Jahre später folgte ihm nun, am 21. März 2000, Eduardo Frei. Außen vor blieb bei dieser Regelung Patricio Aylwin, der erste Präsident nach dem Ende der Diktatur, der für eine Übergangszeit von nur vier anstatt sechs Jahren regierte. Um diese Ungleichheit etwas wett zu machen, beschloss das Abgeordnetenhaus im vergangenen Jahr eine Verfassungsänderung, nach der alle ehemaligen Präsidenten die Immunität über ihre Amtsperiode hinaus behalten und zudem eine lebenslange Abgeordnetendiät beziehen. Diese Verfassungsänderung muss nun am 25. März – mitten in der Debatte zu Pinochets Immunität – noch einmal im Senat ratifiziert werden. Das hat bereits zur ersten Spaltung der Abgeordneten der Regierungskoalition geführt. Denn was eigentlich dem Christdemokraten Aylwin nutzen sollte, könnte sich nun als Rettungsanker für Pinochet erweisen. Als ehemaliger Präsident hätte er Immunität auf Lebenszeit, auch nach einem Ausscheiden aus dem Senat. Was den Spielraum für einen von der Rechtsaußenpartei UDI geforderten “würdigen Rückzug” Pinochets aus dem politischen Leben erweitern würde. Die Sozialisten und die Partei für die Demokratie (PPD) haben deshalb angekündigt, gegen die Verfassungsreform zu stimmen, während die Mehrheit der Christdemokraten Aylwin die Stange halten und vermutlich auch die Rechtskonservativen der Verfassungsänderung zustimmen werden. Allerdings hat deren Partei der „Nationalen Erneuerung“ (RN) ihren Abgeordneten parteiunabhängiges Abstimmen zugestanden, so dass schwer zu sagen ist, wie die Auszählung ausgehen wird.

Eine der Klagen: die Todeskarawane

Von diesem Ergebnis und der daraus folgenden rechtlichen Garantie für Pinochet als ehemaligen Präsidenten wird dann auch die weitere Strategie der Pinochet-Anwälte abhängen. Die Juristen, die zu den besten Chiles zählen, werden sich mit den 76 Klagen auseinandersetzen müssen, die inzwischen in Chile gegen den einstigen Capitán General vorliegen. Dabei geht es unter anderem um die Caravana de la Muerte. Die so genannte Todeskarawane, eine landesweite „Säuberungsaktion“, bei der 1973, kurz nach dem Militärputsch, unter der Leitung des Generals Arellano Stark über 70 Gewerkschafter und Funktionäre linker Parteien exekutiert wurden. Stark handelte im Auftrag des Oberbefehlshabers Pinochet. Im Fall “Pisagua” geht es um ein Massengrab in der Wüste im Norden Chiles, in dem Anfang der 90er Jahre Dutzende von Leichen von Verschwundenen gefunden wurden. Vom Wüstenklima konserviert, wiesen die Körper noch Folterspuren auf, selbst Augenbinden und Fesseln waren noch erhalten.
Diese Verbrechen werden in Chile heute nicht mehr bestritten. Das Problem ist jedoch, die Verantwortlichen auszumachen, denn alle Beteiligten schieben sich gegenseitig die Schuld zu. Da es sich allerdings bei der Caravana de la Muerte um so viele Exekutionen in kurzer Zeit handelt, so argumentieren die Kläger, müsse eine offizielle Anweisung des damaligen Staatsoberhauptes Pinochet vorgelegen haben.
Diese Verbrechen fallen in die Zeit der Amnestie, die die Junta für die Jahre 1973 bis 1978 verordnete. Allerdings gilt nach jüngsten Interpretationen das Verschwindenlassen, so lange der Körper nicht auftaucht, als „unbeendetes“ Verbrechen, das noch andauert und deshalb nicht unter die Amnestie fällt.
Konkreter und – nach Angaben aus Pinochet nahestehenden Kreisen – kritischer könnten für den ehemaligen Diktator die Verfahren im Zusammenhang mit zwei anderen Fällen werden: der Ermordung des Gewerkschafters Tucapel Jiménez im Jahr 1982 und der Operación Albania, bei der 1987 der Geheimdienst CNI fünfzehn Widerstandskämpfer in einer konzertierten Aktion erschoss. Beide Verbrechen wurden also nach 1978 begangen und fallen damit nicht unter das Amnestiegesetz. Nachdem der Fall „Tucapel Jiménez“ 17 Jahre lang von der Justiz untersucht worden war, ohne dass irgendetwas geschehen wäre, wurde er 1998 auf öffentlichen Druck hin einem anderen Richter, Sergio Muñoz, übergeben. Dieser machte in Rekordgeschwindigkeit nicht nur Verdächtige aus und ließ diese festnehmen, sondern er war auch der erste chilenische Richter , der Pinochet in England verhören ließ.
Auch wenn seit der Verurteilung des ehemaligen Geheimdienstchefs Manuel Contreras und des Brigadiers Pedro Espinoza wegen der Ermordung von Allendes Außenminister Orlando Letelier in Washington noch keine weiteren Militärs verurteilt wurden, so werden doch immer mehr Militärangehörige zu Zeugenaussagen vor Gericht zitiert oder in Untersuchungshaft genommen. Etwas, was die Streitkräfte zunehmend beunruhigt. Der Oberbefehlshaber des Heeres, Pinochets Nachfolger Ricardo Izurieta, zeigte sich “besorgt über die Aggressivität einiger Kommentare über das Heer”.
Die Pinochet einst treu ergebene UDI forderte im Gespräch mit Präsident Lagos, die seit zehn Jahren andauernde Übergangsphase zur Demokratie, die so genannte transición endgültig zu beenden und Pinochet einen “würdigen Rückzug” zu ermöglichen. Was im Klartext heißt, einen Schlusspunkt hinter die Diktatur zu setzen und alte Geschichten nicht wieder aufzuwärmen. Die UDI verfolgt damit weiterhin die Linie des gegen Lagos knapp unterlegenen rechten Präsidentschaftskandidaten Joaquín Lavín, die Vergangenheit und Pinochet nicht zu verleugnen, sie aber hinter sich zu lassen und „gemeinsam nach vorne zu blicken“, anstatt immer neue Konflikte um die Person Pinochets auszutragen.
In diesem Sinne unterstützte die Rechte auch den Dialog am mesa de diálogo, des unter Eduardo Frei eingerichteten Runden Tisches, über die Menschenrechtsverletzungen in Chile, an dem VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen, der Regierung und des Militärs teilnahmen. Ziel war es, die Wahrheit über die Menschenrechtsverbrechen und über den Verbleib der seit über 25 Jahren Verschwundenen herauszufinden. Fast hätte Eduardo Frei auch hier noch einen glorreichen Schlusspunkt hinter seine Amtszeit setzen können. Die gemeinsame Erklärung war Anfang März schon aufgesetzt, doch wenige Tage vor dem offiziellen Unterzeichnungstermin wurde Pinochet plötzlich mit Marschmusik und militärischen Ehren empfangen. Für die Menschenrechtsvertreter ein Schlag ins Gesicht, die sich hierauf von der Erklärung distanzierten, da die konkreten Tatsachen der militärischen Unterstützung für Pinochet offensichtlich mehr Gewicht hatten als die versöhnlichen Worte am Dialogtisch. Auf Seiten der Opfer der Diktatur waren diese “Verhandlungen” von Anfang an zwiespältig aufgenommen worden und beispielsweise von der Organisation der Angehörigen der Verhaftet-Verschwundenen nie anerkannt worden, da ihr Ziel die Herbeiführung von Wahrheit und Gerechtigkeit sei: Und diese Werte ließen sich nicht verhandeln.
Ricardo Lagos wird diesen Dialog über Menschenrechte auch unter seiner Regierung weiterführen und hat gleichzeitig im Zeichen des Dialogs Runde Tische mit Gewerkschaftern und Unternehmern, sowie mit den Mapuche eingerichtet. Pinochet ist für ihn seit seiner Rückkehr nach Chile ein rein juristisches Problem, für das Richter Guzmán zuständig ist. Dieser hat unlängst die Exhumierung der Massengräber auf dem Zentralfriedhof in Concepción, im Süden Chiles, angeordnet. Dort wurden einige Leichen mit Gewaltspuren wie Einschusslöcher, gebrochene Knochen und Schädel gefunden, die vermutlich von Verschwundenen stammen. Auch auf dem Zentralfriedhof in Santiago wurden in den letzten Jahren die anonymen Gräber aus den 70er Jahren geöffnet und darin während der Diktatur verhaftete Männer und Frauen gefunden, so dass sich nach und nach einige der symbolisch leeren Grabnischen neben dem Mahnmal für die Opfer der Diktatur auf dem Zentralfriedhof füllen. Auf Hinweise von Seiten der Militärs, wo weitere seit Jahrzehnten verschwundene Verhaftete verscharrt worden sind, warten deren Angehörige allerdings auch zehn Jahre nach Ende der Diktatur weiterhin vergebens.

Zwischen Referendum und Constituyente

Im Kampf Alemáns gegen seinen schärfsten und populärsten Gegenspieler, den Rechnungshofpräsidenten Agustín Jarquín, hatte letzterer zunächst einen Erfolg verbucht: Am 24. Dezember wurde er aus dem Gefängnis freigelassen, wohin ihn der Druck des Staatschefs auf die Justiz einen Monat zuvor gebracht hatte. Das Berufungsgericht hatte die Klage gegen Jarquín, Danilo Lacayo und Néstor Abaunza aufgehoben, da die der Klage zugrunde liegenden angeblichen Vergehen unklar typifiziert waren. Zur Erinnerung: Jarquín war beschuldigt worden, dem Journalisten Danilo Lacayo unter falschem Namen – unter dem Decknamen „Ramón Parrales“ – Honorare ausbezahlt zu haben, damit dieser Beweise für die Korruption der Alemán-Regierung sammle.

Der Kampf ums Referendum

Bereits einen Tag nach der Entlassung aus dem Gefängnis forderte Jarquín Nicaraguas Nationalversammlung dringend auf, über die von der Sandinistischen und der Liberalen Partei eingebrachten Verfassungsänderungen (den „Pakt“) ein Referendum durchzuführen.
Jarquín wies darauf hin, dass das Referendum eine Maßnahme ist, die „in der Verfassung vorgesehen und im Wahlgesetz definiert ist“. Obwohl die FSLN und Alemáns Liberale Partei behaupten, dass die Verfassungsänderungen der Bevölkerung zugute kommen, betonte der Rechnungshofpräsident, alle Meinungsumfragen würden zeigen, dass die Mehrheit der Bevölkerung diese Reform ablehnt.
Vizepräsident Enrique Bolanos lehnt ein solches Referendum mit dem Hinweis auf die enormen Kosten ab. „Außerdem“, fügte er hinzu, „wählen wir in einem demokratischen Verfahren Abgeordnete in die Nationalversammlung und ermächtigen sie, Gesetze zu machen, die wir befolgen müssen. Es geht nicht, dass jedes Mal, wenn jemand mit einem Gesetz nicht einverstanden ist, er oder sie versucht, es zu ändern. Ein Referendum würde das demokratische Verfahren unterminieren.“
Jarquín gab bei der Präsentation seines Vorschlags zu, dass die Zeit drängt. „Wir müssen uns beeilen. Die Nationalversammlung tritt am 10. Januar wieder zusammen, und die Verfassungsänderungen werden Punkt eins der Tagesordnung sein.“ Der Antrag auf die Verfassungsreform war bereits im vergangenen Herbst von der Legislative verabschiedet worden; um Rechtsgültigkeit zu erlangen, mußte er aber in der neuen Legislaturperiode, die am 10. Januar begann, neuerlich gebilligt werden.
Diese schicksalhafte Abstimmung fand am 20. Januar statt: Im Abgeordnetenhaus wurde das „Gesetz der teilweisen Reform der politischen Verfassung Nicaraguas“ – der „Pakt“ – mit 70 Pro- bei 12 Gegenstimmen angenommen.
„Rette sich, wer kann!“ war die Reaktion der sandinistischen Abgeordneten Mónica Baltodano, eine der wenigen, die sich von Anfang an gegen dieses Abkommen der zwei Großparteien gewendet hatte. Dieser Pakt habe der sandinistischen Partei großen Schaden zugefügt, und die zustimmenden Abgeordneten hätten sich des „politischen Betrugs“ schuldig gemacht, so Baltodano. „Als Vertreterin der FSLN beklage ich aufrichtig diese Entscheidung und muß mich ihr entgegenstellen, da sie zutiefst meiner Partei schadet“, kommentierte die langjährige sandinistische Kämpferin.

Neues Wahlgesetz

Am 20. Januar passierte auch die Reform des Wahlgesetzes das Parlament und ist somit rechtskräftig. Damit dürften zahlreiche Kleinparteien in der nächsten Zeit von der Bildfläche verschwinden.
Um an einer Wahl teilzunehmen, muß eine Partei die Unterstützungserklärungen von drei Prozent der ins Wählerregister eingetragenen Personen vorweisen können (gegenwärtig 2,7 Millionen), d.h. von etwa 80.000 Personen.
Im Falle von Wahlbündnissen liegt die Hürde noch höher: jede der teilnehmenden Parteien muß die Unterstützung von vier Prozent der Stimmberechtigten vorweisen können, also bei einer angenommenen Allianz von drei Parteien sind das an die 320.000 UnterstützerInnen!
Der Abgeordnete Silvio Calderón erklärte, mit dieser Reform sei das Ziel von Sandinisten und Liberalen erfüllt worden, nämlich „ein modernes Wahlgesetz zu schaffen, das transparent und leicht auslegbar ist“. Mit dieser Reform ist auch die suscripción popular abgeschafft, d.h. das Aufstellen parteiunabhängiger KandidatInnen. Ausnahmen gelten für die wahlwerbenden indianischen und ethnischen Gruppen der Atlantikküste.
Eine weitere Hürde für die Kleinparteien liegt darin, dass der staatliche Zuschuß für die Wahlkampagne erst im nachhinein – nach den Wahlen – und nur dann, wenn die erforderliche Stimmenanzahl erreicht wurde, ausbezahlt wird.

Jarquíns Entmachtung

Die ebenfalls erfolgte Ratifizierung einer neuen Struktur für den Rechnungshof bedeutet praktisch die Entmachtung des amtierenden Kontrollamtschefs Agustín Jarquín, wie dieser selbst der Öffentlichkeit mitteilte. Er bereite sich auf eine „harmonische, geordnete und transparente Übergabe seines Amtes vor“, so Jarquín.
Das Rechnungshofgesetz sieht nun vor, dass diese vormals unabhängige Körperschaft von einem Gremium von fünf Personen geführt wird: drei von ihnen werden von den Liberalen nominiert, eine von den Sandinisten – der fünfte ist Jarquín selbst (da er für eine Amtszeit von sechs Jahren gewählt wurde, die erst im April 2002 ausläuft). Die Entscheidungen werden mit einfacher Mehrheit gefällt, d.h. die drei Liberalen bestimmen zur Gänze die zukünftige Politik dieser Institution. Die neuen Mitglieder des Rechnungshofkollegiums werden am 18. Februar bestimmt.

Eine Idee wird zur Lawine

Trotz des Kongreßbeschlusses wird weiterhin für ein Referendum gegen die Verfassungsreformen mobilisiert. Die Möglichkeit eines Referendums ist in Nicaragua zwar gesetzlich verankert, doch wurde bisher noch nie von ihr Gebrauch gemacht. Wenn für eine Vorlage 50.000 Unterschriften gesammelt werden (oder diese von 31 Abgeordneten unterzeichnet wird, was jedoch angesichts des Zwei-Parteien-Paktes im Abgeordnetenhaus derzeit praktisch ausgeschlossen ist), so muss diese im Parlament diskutiert und dann an die Wahlbehörde weitergeleitet werden, damit diese die Vorbereitungen für die Abhaltung der Volksabstimmung trifft. Eine Ablehnung durch die Nationalversammlung ist nicht möglich.
Der Vorschlag Jarquíns stieß sofort auf breite Zustimmung. In dem Vorbereitungskomitee für das Referendum sind zivilgesellschaftliche Organisationen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens vertreten. Eine der AktivistInnen, Ana Quiroz (siehe Kasten) von der “Zivilen Koordination für den Notstand und den Wiederaufbau”, versicherte, nationale und internationale Institutionen hätten bereits finanzielle Unterstützung für die Abhaltung des Referendums zugesagt.
Am 10. Januar setzte die Sammlung der 50.000 Unterschriften ein. Erstunterzeichnerin war Violeta Barrios de Chamorro. Die Ex-Präsidentin verneinte, mit diesem Schritt auf die politische Bühne zurückkehren zu wollen. Sie rief die Bevölkerung auf, sich dieser staatsbürgerlichen Initiative „zum Wohle des Landes“ anzuschließen.
Die Vorbereitungsphase, also das Sammeln der Unterschriften, ist auf einen Monat angesetzt. Möglichkeiten zur Unterzeichnung der Petition gibt es in zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen, wie im Frauennetzwerk gegen Gewalt, der Zivilkoordination, der Acción Ciudadana; gesammelt wird aber auch auf den Märkten, in Geschäftszentren, Spitälern, an Bushaltestellen und vielen anderen öffentlichen Plätzen.
Die Präsidentin der Menschenrechtskommission CENIDH, Vilma Núñez, unterstrich den demokratischen Charakter dieser Initiative: „Der schlechteste Kampf ist der, der unterlassen wird. Wenn die Nationalversammlung das Referendum nicht einberufen sollte, so verweigert sie jedem Staatsbürger seine demokratische Teilnahme.“
Der Staatschef kontert auf die Gefahr, sein Pakt mit den Sandinisten könnte einem Referendum zum Opfer fallen, mit einer Neuauflage seiner Forderung nach Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung (Constituyente), die eine neue Verfassung ausarbeiten soll. Nach dem Vorbild seines venezolanischen Amtskollegen Hugo Chávez, dessen Machtfülle Alemán neidisch betrachtet, würde diese Constituyente die Nationalversammlung auflösen und dann eine Carta Magna redigieren, die die juristischen und politischen Grundlagen für eine neue Republik bieten soll.
Der konservative Abgeordnete Noel Vidaurre sprach bereits vom Versuch eines „Staatsstreichs“, womit sich Alemán an der Macht verewigen wolle. Vidaurre wies auch daraufhin, dass die Einberufung einer derartigen Constituyente nur mit der Zustimmung Daniel Ortegas und der Sandinistischen Partei möglich wäre. Seiner Meinung nach sei der Pakt gefährdet, und FSLN und PLC wollten nun den demokratischen Prozeß im Lande völlig brechen.
Alemán möchte die Idee zuerst im Schoß seiner Liberalen Partei und später dann mit den Sandinisten besprechen. Der Staatschef, bis jetzt mit Ortega Hauptbefürworter der Verfassungsreform durch den „Pakt“, schwelgt nun in vollen Tönen von einer neuen Magna Carta. „Ich glaube, sie ist wichtig für die Institutionalität dieses Landes. Nicaragua braucht eine neue Verfassung mit einer neuen Vision der Nation mit einer Perspektive von 25 bis 30 Jahren oder noch mehr.“ Parlamentspräsident Iván Escobar Fornos unterstützt Alemán und beschwört ebenfalls eine neue, dem „modernen demokratischen Denken angepaßte“ Verfassung.

Ortega: mit dem Pakt an die Regierung

Der ehemalige Staatschef und FSLN-Generalsekretär, Daniel Ortega, verteidigte Mitte Januar neuerlich den Pakt zwischen Sandinisten und Liberalen mit der Versicherung, dadurch könnte die FSLN die Präsidentschaftswahlen von 2001 gewinnen. (Weshalb dann der frühere politische Erbfeind Arnoldo Alemán, der sich selbst über die gegenwärtige Amtsperiode hinaus an der Macht halten will, diesen Pakt ebenfalls will und unterzeichnete, verriet Ortega nicht.) Der FSLN-Führer: „Diese Reformen wurden in Hinblick auf die Wahlen von 2001 erarbeitet. Angesichts des Wahlbetrugs von 1996 blieb uns kein anderes Mittel übrig als dieses Abkommen, um die Wahlen von 2001 zu gewinnen.“ Auch dass dieser Wahlbetrug vom heutigen Pakt-Partner Alemán durchgeführt wurde, verschwieg ‘Revolutionskommandant’ Ortega bei seinem Fernsehauftritt am 15. Januar.
Für das Engagement von Violeta Chamorro für das Referendum gegen den Pakt zeigte der sandinistische Politiker nur Geringschätzung: „Doña Violeta möchte Präsidentin sein. Die Tatsache, dass sie für die Einleitung des Referendums unterschrieb, ist ein Teil der Wahlkampagne, die sie bereits startete. Doch die Bevölkerung ist dieser Kandidaten müde.“ Wie man sieht, beginnt das Jahr 2000 in Nicaragua mit großen Sprüchen und Lügen. So viel kann auf jeden Fall vorausgesagt werden: Das politische Leben wird auch in diesem Jahr vom Paktieren der beiden Großparteien und der Auseinandersetzung zwischen Alemán und Jarquín geprägt sein. Letztere wird wohl an Intensität zunehmen, je näher der Wahltermin von 2001 rückt.

KASTEN

Ana Quiroz im Visier des Präsidenten

Nach dem Hurrikan Mitch wurde von mehr als 300 Nichtregierungsorganisationen in Nicaragua die „Zivile Koordination für den Notstand und den Wiederaufbau“ (CCER) gegründet. Der NRO-Verbund ist zu einer der wichtigsten Initiativen der Opposition gegen Präsident Alemán geworden und kritisiert unter anderem den Missbrauch internationaler Hilfs- und Wiederaufbaugelder durch die Regierung. In der Öffentlichkeit wird der CCER zumeist durch dessen Koordinatorin Ana Quiroz vertreten. Um die eloquente Kritikerin lozuwerden, will Alemán nun der gebürtigen Mexikanerin ihre nicaraguanische Staatsbürgerschaft, die sie erst vor wenigen Jahren erhalten hatte, aberkennen.
LN

KASTEN

Grenzkonflikt zwischen Honduras und Nicaragua

Am 19. und 25. Februar haben sich nicaraguanische und honduranische Patrouillenboote im pazifischen Golf von Fonseca beschossen. Glücklicherweise nahmen dabei weder Mensch oder Material Schaden. Militärsprecher beider Staaten warfen sich danach gegenseitig vor, das Feuer eröffnet zu haben und beanspruchten die betreffenden Seegebiete für sich. Die honduranische Seite erklärte, dass die Patrouillenboote Kutter der Fischereiflotte beschützen wollten, während Nicaragua beabsichtigte, das illegale Fischen und die Piraterie in nicaraguanische Gewässer eingedrungener honduranischer Fischer zu verhindern.
Allerdings bestehen die Probleme im Golf von Fonseca schon länger. Regelmäßig verhaften dort nicaraguanische und honduranische Grenzpatrouillen Fischer der jeweils anderen Nation auf Grund angeblicher Grenzüberschreitung und Schwarzfischerei. Fundamental ist dabei, dass die 1992 vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag angeordnete Demarkierung der Seegrenze zwischen Nicaragua, Honduras und El Salvador bis dato noch nicht durchgeführt wurde, was Fischer beider Seiten zur Erhöhung der Fangquote ausnutzen.
Weitere Grenzstreitigkeiten zwischen Nicaragua und Honduras gibt es auch auf der atlantischen Seite des Kontinents. Am 30. November 1999 ratifizierten die Parlamente von Honduras und Kolumbien einen Vertrag von 1986, nachdem die beiden Nicaragua vorgelagerten Karibikinseln San Andrés und Providencia Kolumbien zufallen, während Kolumbien im Gegenzug anerkennt, dass das honduranische Hoheitsgewässer nördlich des 15. Breitengrades anfängt.
In diesem Vertrag wird die nicaraguanische Seite übergangen, die sowohl die Inseln San Andrés und Providencia einfordert, als auch einen Grenzverlauf mit Honduras entlang des 17. Breitengrades verlangt. Nicaragua beruft sich dabei auf ein Abkommen aus den 20er Jahren, das noch unter US-amerikanischer Militärherrschaft getroffen wurde. Insgesamt geht es dabei um ein Gebiet von 130.000 Quadratkilometern.
Als Reaktion auf diese Ratifizierung hat Nicaragua den Importzoll auf honduranische und kolumbianische Güter um 35 Prozent erhöht, was wiederum die honduranische Seite brüskiert hat. Der Konflikt verschärfte sich weiter, als sich beide Seiten gegenseitig vorwarfen, die Zahl der Militärs an der gemeinsamen Grenze und speziell in der Karibik zu erhöhen.
Durch mehrere Treffen beider Staaten unter Vermittlung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ist der Streit mittlerweile entschärft worden. Es wurde am 7. Februar zunächst eine maritime Sperrzone in der strittigen Region beschlossen und man einigte sich darauf, die Frage des Grenzverlaufes vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag klären zu lassen.
Am 7. März wurde vereinbart, die Zahl der Militärs an der gemeinsamen Grenze auf den Stand vom September 1999 zurückzuführen, internationale Beobachter in den Krisengebieten einzusetzen, die Patrouillenfahrten im Golf von Fonseca und an der Karibikküste zu kombinieren beziehungsweise zu koordinieren und den Grenzverlauf im Golf von Fonseca durch Grenzbojen zu markieren. Offen bleibt die Frage, ob Nicaraguas Präsident Alemán den Zwischenfall im Golf inszeniert hat, um mit aggressiver Aussenpolitik und durch die Beschwörung der nationalen Einheit seine innenpolitische Position zu stärken.
Volkmar Liebig

Ein bißchen spannender als sonst

Welchen Verlauf die Präsidentschaftswahlen auch nehmen werden, ob also eine oder zwei Runden anstehen – ihr Ausgang ist ungleich offener als bei den Pflichtübungen 1989 und 1993, als mit den Christdemokraten Patricio Aylwin und Eduardo Frei die sicheren Sieger – mangels ernstzunehmender Herausforderer von links wie von rechts – bereits Monate zuvor feststanden. Von einem wirklich spannenden Wahlkampf kann freilich auch dieses Mal keine Rede sein. Gleichgeblieben ist die Tradition der außerparlamentarischen Linken, mehrere Eisen gleichzeitig ins Feuer zu werfen – auf daß keines richtig heiß werde. Wieder leistet sie sich, wie schon 1993, den Luxus, einen Humanisten (Tomás Hirsch), eine Ökologin (Sara Larraín) und eine Kommunistin (Gladys Marín) in ein auch aus ihrer Sicht völlig chancenloses Rennen zu schicken. Gespannt sein darf man einzig darauf, wieviele Stimmen Ricardo Lagos am 12. Dezember dadurch am linken Rand abhanden kommen werden. Wenigstens der Chefin der KommunistInnen wird zugetraut, mehr als nur einen Achtungserfolg einfahren zu können. Politisch wird er ihr aber nichts nützen: In einem zweiten Wahlgang wird auch eine Marín keine andere Option haben, als für Lagos zu stimmen.

Die PDC bleibt Präsidentenmacherin

Gleichgeblieben ist auch die Strategie des aus Christdemokraten, Sozialisten, Sozialdemokraten und Radikalen zusammengesetzten Wahl- und Regierungsbündnisses. Zum dritten Mal in Folge wollte die Concertación einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten aufstellen. Anders als in den Jahren zuvor handelt es sich jedoch nicht mehr um einen Vertreter der PDC (Partido Democráta Cristiano): Die „offenen“ Vorwahlen (primarias) von Ende Mai hatten Ricardo Lagos als Vertreter der aus der PS (Partido Socialista) und der PPD (Partido por la Democracia) zusammengesetzten Regierungslinken einen überwältigenden Vorsprung vor seinem christdemokratischen Widersacher Andrés Zaldívar beschert. Damit stand fest: Die PDC würde als größte chilenische Partei nicht nur erstmals seit 1958 keinen eigenen Bewerber in das Präsidentschaftsrennen schicken, sondern mußte sich nolens volens hinter die Kandidatur des – wiewohl geläuterten – Sozialisten stellen. Aus dieser Konstellation aber leitet sich die – neben den Erst-, Nicht- und ProtestwählerInnen – wichtigste Unbekannte dieser Präsidentschaftswahlen ab: das Abstimmungsverhalten der vornehmlich konservativen PDC-WählerInnen. Es wird darüber entscheiden, ob es am 9. Januar 2000 zu einer Stichwahl kommt, und wenn, wer am Ende die Nase vorne haben wird. Gleichgültig, ob sie nun einen eigenen Kandidaten stellt oder nicht – die Christdemokratie bleibt damit einmal mehr ihrer Rolle als Präsidentenmacherin treu.

Auch die Rechte ist gespalten

Einmal mehr auch haben am Ende die bekannten Profilierungssüchte und Grabenkämpfe die Aufstellung eines gemeinsamen, rechts von der Concertación stehenden Einheitskandidaten verhindert. Zwar konnten sich die von ihrer Vergangenheit läuternde Rechte in Gestalt von RN (Renovación Nacional) und der parteipolitisch organisierte Pinochetismus – in Form der UDI (Unión Demócrata Independiente) – mit dem, wiewohl nur unter den Seinigen populären, Bürgermeister von Santiagos Reichenviertel Las Condes, Joaquín Lavín, früh auf einen gemeinsamen Bewerber verständigen. Dann aber brach der mittlerweile bei der rechtspopulistischen UCC (Union de Centro Centro) des Großunternehmers Fransisco Errázuriz gelandete, frühere PDC-Senator Arturo Frei Bolívar in das ohnehin nur oberflächlich befriedete rechte Lager ein. Frei Bolívar, ein Vetter des derzeit amtierenden Präsidenten, meldete indessen nicht erst nach der absehbaren Niederlage seines vormaligen Parteikollegen Zaldívar bei den primarias eigene Ambitionen an. Morgenluft witterte der Ex-Senator und mit ihm die konservative Fraktion innerhalb der PDC, als Lavín sich gewillt zeigte, sich von den Hardlinern unter den Pinochetisten abzugrenzen und sich das Image eines modernen Rechten zuzulegen. General Pinochet persönlich bezichtigte ihn deshalb bereits des „Verrates an der gemeinsamen Sache“. Eine Acción Pinochetista Unitaria hat deshalb auch nicht etwa Lavín, sondern Bolívar die Unterstützung zugesagt.
Namentlich die auf Bolívar entfallenden Stimmen werden somit Aufschluß darüber geben, wie gewillt die konservativere PDC-Klientel um die sogenannten colorines ist, dem Aufruf ihrer Parteiführung Folge zu leisten und für den Kandidaten der Concertación zu stimmen. Sollte es am Ende zu einer Stichwahl zwischen Lagos und Lavín kommen, wäre Bolívars in der ersten Runde erzielter Stimmenanteil in seiner Gänze der Rechten zuzuschlagen, profiliert sich doch der vormalige Christdemokrat in seinem Wahlkampf dadurch, den gemeinsamen Kandidaten von RN und UDI rechts überholen zu wollen.
Lavín will deshalb einen an den „wirklichen Problemen“ seiner Landsleute orientierten Wahlkampf führen. Dazu hat er eine landesweite Umfrage unter 1,8 Millionen Chilenen zu deren wichtigsten Sorgen und Ängsten in Auftrag gegeben. Deren Ergebnisse — weniger Kriminalität, mehr Arbeit, mehr Gesundheit – sollen unter dem Motto Viva el cambio nicht nur sein Regierungsprogramm bestimmen, sondern zugleich eine „strategische Allianz“ mit der Wählerschaft begründen. Unabhängig davon will Lavín, daß auch das unter der parlamentarischen Rechten äußerst strittige Thema der Verfassungsreform Teil seiner Kampagne wird. Noch ist freilich nicht absehbar, wie etwa die Forderung nach einer Abschaffung der ernannten Senatoren programmatisch Eingang in das rechte Wahlbündnis Alianza Por Chile finden könnte. Dazu müßte die UDI zugunsten der mehrheitlich reformbereiten RN klein beigeben. Den kräftigeren Rückenwind haben jedoch seit Ende 1997 die Ultrarechten; sie gingen aus den letzten Parlamentswahlen klar gestärkt hervor; gerade der liberalere Flügel innerhalb von RN wurde hingegen für seine Öffnung hin zur Concertación vom Wähler zuletzt abgestraft. Will man den jüngsten Meinungsumfragen Glauben schenken, scheint das Buhlen von rechts um die Gunst der christdemokratischen Wählerklientel dieses Mal erfolgversprechender zu sein. Hiernach steht der Sozialist in der Wählergunst – mit im besten Fall 44Prozent – zwar noch vorne, der Abstand zu seinem größten Rivalen wird indessen kleiner.

Neue Slogans für Lagos

Mehr als auf den Überzeugungskünsten des eher farblos wirkenden Lavín dürfte die abnehmende Zustimmung für Lagos auf den stetig sinkenden Stern der Administration Frei zurückzuführen sein. Die sich radikal verschlechternde Wirtschaftslage hat zusammen mit den innen- wie außenpolitischen Querelen um den Fall Pinochet die Regierung Frei in ihrem letzten Amtsjahr gleichermaßen unter Beschuß von links wie von rechts gebracht. Dazu kam dieser Tage der Verdacht auf, das Regierungsbündnis betreibe mittels millionenschwerer Beraterverträge eine Art verdeckte Wahlkampfhilfe für seinen Kandidaten. Allein der ehemalige Regierungssprecher José Joaquín Brunner (PPD) und der vormalige Präsidialamtschef Genaro Arriagada (PDC) sollen zusammen mehr als sieben Millionen Pesos eingestrichen haben.
Derlei Patzer machen den Wahlkampf für Ricardo Lagos nicht gerade einfacher. De facto vollführt auch er einen Eiertanz, wenn er sich einerseits – auf der Suche nach Distanz vom dogmatischen Sozialismus traditioneller Prägung und der Betonung seiner Nähe zur europäischen Sozialdemokratie – als „dritter Präsident der Concertación“ klar zur Wirtschafts- und Sozialpolitik der seit fast zehn Jahren regierenden Parteienallianz bekennt, andererseits aber durchblicken läßt, daß Chile fortan nicht mehr nur mit „equidad“, sondern mit „igualdad“ (frei übersetzt: nicht nur mit der behaupteten Chancengleichheit aller, sondern mit echtem gesellschaftlichen Ausgleich) wachsen soll. Nach offizieller Lesart soll diese rhetorische Wendung in seinem neuen Wahlslogan den im Vergleich zu den Regierungen Aylwin und Frei stärkeren Kompromiß betonen, sich der gesellschaftlichen Schieflage endlich anzunehmen und die Wohltaten des Wirtschaftswachstums gerechter verteilen zu wollen. Freilich ist bislang ein Rätsel geblieben, wie eine solche Sozialpolitik bei einem von der rechten Opposition dominierten Senat und Wirtschaftsprognosen, die eine Rezession mit zuletzt fast 3% Negativwachstum und eine Arbeitslosenquote von 11% vorhersagen, in die Praxis umgesetzt werden könnte. Tatsächlich dürfte der politische wie wirtschaftliche Handlungsspielraum eines Präsidenten Lagos nicht nur enger als derjenige seiner Vorgänger werden, sondern überhaupt wird das Thema der Regierbarkeit neue Schärfe erhalten. Schließlich gründete die politische Stabilität der 90er Jahre trotz der nach wie vor zutiefst polarisierten Gesellschaft maßgeblich auf den Wirtschaftserfolgen des Landes.

Zeit für neue Rezepte

An diesem Tag können die UruguayerInnen die Kandidaten der einzelnen Parteien für die Präsidentschaftswahlen am 31. Oktober 1999 bestimmen. Darüber hinaus werden die National- und Regionalversammlungen der Parteien gewählt. Das Verfahren ist neu: Nach diesen sogenannten internas, den Vorwahlen, gibt es nur einen Kandidaten jeder Partei für die Präsidentschaftswahl. Im Gegensatz zur Wahl im Oktober gibt es zwar keine Wahlpflicht, aber viele Menschen im Land wissen das gar nicht. Vermutet wird, daß die Beteiligung hoch sein wird, sicher wird sie über 50 Prozent liegen. „Die Uruguayer gehen gerne wählen“, so die einhellige Meinung im Land. Es gibt aber auch über 20.000 ErstwählerInnen, die es versäumt haben, sich registrieren zu lassen. Ein Anzeichen für die abnehmende Wahlleidenschaft der Jugend.
Nach einem heftigen Disput zwischen den Parteien wurde 1996 die Verfassungsreform angenommen (ein Teil des Linksbündnisses Frente Amplio unterstützte ein Volksbegehren gegen das neue Wahlrecht, dieses scheiterte aber unter anderem an der Zerstrittenheit der Linken). Das neue Verfahren eröffnet zwei Möglichkeiten, zum Kandidaten einer Partei für die Nationalwahlen gewählt zu werden. Entweder direkt durch die Vorwahlen – wenn mehr als 50 Prozent der WählerInnen für einen Kandidaten einer Partei stimmen – oder indirekt durch die Nationalversammlung der einzelnen Parteien, wenn keiner der Kandidaten eine absolute Mehrheit erreicht.
Weiterhin werden in den Regionalversammlungen die Kandidaten für die Provinzregierungen gewählt. Diese Wahl wird im Mai 2000 stattfinden. Auch das ist neu. Bisher waren National- und Regionalwahlen immer zeitgleich. An das komplizierte Wahlsystem hatten sich die Uruguayos nach 1984 gewöhnt. Weil mehrere Kandidaten innerhalb einer Partei auch bei der Nationalwahl miteinander konkurrierten, konnte auch ein Kandidat mit deutlich weniger als 20 Prozent zum Präsidenten gewählt werden, da letztlich alle Stimmen der verschiedenen Kandidaten einer Partei addiert wurden. So geschehen 1994, als Julio María Sanguinetti nach seiner ersten Präsidentschaft von 1985 bis 1990 wieder ins Amt gewählt wurde. Der alleinige Kandidat des Linksbündnisses Encuentro Progresista (Progressives Treffen, EP), Tabaré Vázquez, Bürgermeister von Montevideo von 1990 bis 1995, erhielt damals zwar die meisten Stimmen, allerdings fehlten knapp zwei Prozent zur Mehrheit.

Erstmals keine Einigkeit im Encuentro Progresista

Von den vier Parteienbündnissen, die momentan im Parlament vertreten sind, kann nur eines jetzt schon ganz sicher sein, wer ihr Kandidat für die Nationalwahlen sein wird: Der liberale Nuevo Espacio mit seinem Vorsitzenden Rafael Michelini. Mehr oder weniger scheint aber auch bei der Partido Nacional (Nationale Partei), den “Blancos“ das Rennen gelaufen zu sein: Dem ehemaligen Präsidenten Luis Alberto Lacalle werden hier die besten Chancen eingeräumt. Nur bei den „Colorados“ steht es noch unentschieden. Obwohl das Pendel immer mehr zugunsten von Luis Hierro, Senator vom rechten Rand der Partei, ausschlägt, werden auch dem Politveteran Jorge Battle gute Chancen eingeräumt.
Beim Encuentro Progresista ist man sich relativ sicher: Tabaré wird gewinnen. Erstmals gab es aber kein Einverständnis über den Kandidaten der Linken. Dem Präsidenten der Frente Amplio, dem international renommierten Onkologen Dr. Tabaré Vázquez, steht der Senator Danilo Astori, Finanzexperte des Bündnisses, als Konkurrent gegenüber, und in den letzten Wochen vor der Wahl haben sich die Auseinandersetzungen verschärft. Vor allem geht es um die Strategie für die Nationalwahlen. Astori hält den ehemaligen Bürgermeister von Montevideo in einer wahrscheinlichen Stichwahl beim zweiten Wahlgang im November nicht für koalitions- und mehrheitsfähig, im Gegensatz zu sich selbst.
Dieser Gefahr, nicht gegen einen gemeinsamen Kandidaten der traditionellen Parteien bestehen zu können, ist sich auch Vázquez bewußt. Befürchtet wird, daß das Linksbündnis mit Tabaré Vázquez die erste Runde der Wahlen im Oktober deutlich gewinnen wird, die Stichwahl im November allerdings verlieren könnte. Für viele der WählerInnen, die der EP braucht, um zu einer eigenen Mehrheit zu kommen, vertritt der Arzt zu „linke“ Positionen. Bei einigen Mitgliedsparteien im Bündnis, vor allem bei den Kommunisten wird das allerdings genau anders gesehen. Im Team von Vázquez hat genau aus dieser Befürchtung heraus schon die Suche nach möglichen Koalitionspartnern begonnen. An erster Stelle wird dabei der Chef des Nuevo Espacio, Rafael Michelini genannt. Aber auch die internen Probleme im Frente Amplio, hervorgerufen duch die Spaltung des Movimiento de Participación Popular (Bewegung der Volksbeteiligung, MPP), bereiten dem Team von Vázquez große Sorgen. Ganz davon abgesehen, daß für eine großflächige Kampagne kein Geld zur Verfügung stand, auch wenn in der letzten Woche des Wahlkampfes noch ein Kredit von 50.000 US-Dollar aufgenommen wurde. Aber auch die bisherige Stärke des Linksbündnisses, die militancia, das starke politische Engagement vieler Parteimitglieder und SympathisantInnen, ist zurückgegangen.

Die Themen des Wahlkampfes: Korruption und das Desaster in der Agrarpolitik

Eines der großen Themen im Wahlkampf war die Bekämpfung der Korruption. Da fast alle der traditionellen Politiker von Korruptionsvorwürfen betroffen waren, versuchte jeder sich selbst reinzuwaschen und dem anderen an den Karren zu fahren. Innerhalb der Parteien wurde dabei mit harten Bandagen gefochten. So bekämpften sich innerhalb der Colorados vor allem Luis Alberto Lacalle, Präsident der Republik von 1989 bis 1994 und der Senator und ehemalige Innenminister Juan Andrés Ramírez. Während Ramírez nichts vorgeworfen werden konnte, stand besonders unter der Regierungszeit von Lacalle die Korruption in voller Blüte. Erst vor kurzem wurde ein ehemaliger Mitarbeiter des Ex-Präsidenten verurteilt und mußte hinter Gitter.
Das Hauptthema des Wahlkampfes war aber die Agrarpolitik und die Frage der Wiederbelebung der Produktivität in der Landwirtschaft. Die Finanzkrise in Brasilien hat im letzten Jahr zu einem bösen Erwachen geführt. Kleinbauern und Viehzüchter konnten ihre Produkte nicht mehr verkaufen, die wenigen großen Fabriken im Land mußten massiv Leute entlassen. Zwischen Realität und Paranoia, die Wahrheit liegt wohl in der Mitte: Gesichert ist, daß circa die Hälfte der Exporte Uruguays wegen der Abwertung des brasilianischen Reals in den Häfen des Landes liegenblieb.
Viele hatten diese Krise erwartet. Die Linke beschuldigte die traditionellen Regierungsparteien Blancos und Colorados (seit der Unabhängigkeit im Jahre 1820 wechseln sich diese Parteien in der Regierung ab, mit Ausnahme der Zeit der Militärdiktatur von 1972 bis 1985), die notwendigen Modernisierungen verschlafen, und sich viel zu sehr vom übermächtigen Nachbarn Brasilien abhängig gemacht zu haben. Die Traditionellen wiederum geben dem trägen, aufgeblähten Staatsapparat die Schuld und wollen nach dem argentinischen Vorbild möglichst viele staatliche Sektoren privatisieren. Falls die Blancos oder die Colorados die Nationalwahlen im Herbst gewinnen, scheint es auch in Uruguay soweit zu sein: Der Staat soll auf seine Rolle als Ordnungsmacht reduziert werden. Justiz und Polizei sollen staatliche Aufgaben bleiben, der Rest wird neo-liberalisiert. Der Anschluß an den Mercosur soll gefunden werden.
Ein Zeichen für einen möglichen Wandel in der Gesellschaft wurde am 13. April sichtbar: Mehrere zehntausend Kleinbauern aus dem ganzen Land versammelten sich in Montevideo. Nie zuvor in den letzten 50 Jahren gab es eine so machtvolle Demonstration der Bauern, Viehzüchter, Milchproduzenten et cetera aus dem interior, wie in Uruguay alles außerhalb von Montevideo und der Küstenregion genannt wird. Das erstaunliche an diesem Tag war aber neben der enormen Beteiligung auch die Tatsache, daß die Demonstranten bei Mariano Arana, dem von der Frente Amplio gestellten Bürgermeister der Hauptstadt, anklopften und eine Petition überreichen wollten.
Die letzten Wahlen im Jahr 1994 verlor Tabaré Vászquez auch deshalb, weil das Linksbündnis im Interior nahezu kaum Stimmen gewinnen konnte. Die große Mehrheit der Menschen auf dem Land lebt unterhalb der Armutsgrenze, hat nie etwas anderes gelernt als Landwirtschaft und Viehzucht, Gaucho-Traditionen werden kultiviert, die Menschen lieben den campo. Zu dieser Lebensweise gibt es nur eine Alternative: In die Hauptstadt zu ziehen und dort in den Marginalsiedlungen am Stadtrand unterzukommen.
Tradition ist das Eine. Aber viele der LandbewohnerInnen sind politisch mehr als konservativ, man könnte auch sagen, reaktionär. Für die meisten gab es nie eine andere Alternative als die Wahl zwischen Blancos und Colorados. Die meisten werden als „Kinder“ von Blancos oder Colorados geboren und die Frente Amplio sind immer noch die „Kommunisten“, vor denen man die Kinder wegsperren muß. Die in Europa immer noch vorherrschende Vorstellung von Uruguay als die „Schweiz Südamerikas“ bezieht sich wohl lediglich auf Montevideo und auf die mondänen Badeorte an der Küste wie Punta del Este.
Die Mehrheit auf dem Land bilden aber die Kleinbauern und Viehzüchter. Und diese haben die letzten Wahlen entschieden. Obwohl sie ihre Petition nicht an Mariano Arana übergaben, zogen sie doch an der intendencia, dem Bürgermeisteramt in Montevideo, vorbei und grüßten den Bürgermeister. Für viele EinwohnerInnen Montevideos ein Grund zum Staunen, für manche in den traditionellen Parteien eine eindeutige Warnung. Folgerichtig verspricht der Encuentro Progresista und hauptsächlich ihr Kandidat Tabaré Vázquez Unterstützung für die Kleinbauern, so zum Beispiel eine Steuerbefreiung. Die große Frage ist also, ob
diese Bevölkerungsgruppe schon so weit ist, die Angst vor den „Kommunisten“ in der Stadt zu verlieren, weil sie die Hoffnung in die traditionellen Parteien verloren haben.

Lebensmittelpakete als Wahlgeschenke

Aber auch die Konservativen schlafen nicht. Sie haben die Gefahr erkannt. Obwohl sie an ihrer Agrarpolitik allein aus ideologischen Gründen und um ihr Klientel nicht gegen sich aufzubringen, nicht viel ändern werden, ist doch zu befürchten, daß sie bis Oktober versuchen werden, mit spektakulären Aktionen gerade die Leute vom Land weiter an sich zu binden. Das Geld dafür ist sowohl bei den Blancos als auch bei den Colorados vorhanden. Einen Eindruck von den Methoden gab es jetzt schon im Vorwahlkampf. So ließ Luis Hierro, aussichtsreicher Kandidat der Colorados, in einigen Randvierteln von Montevideo Pakete mit Reis, Mehl und Nudeln verteilen, inclusive Werbezetteln für seine Bewerbung. Für die BewohnerInnen, von denen die meisten einen Politiker der traditionellen Parteien nur aus dem Fernsehen kennen, eine überraschende und überaus willkommene Wohltat. Jorge Battle, der interne Konkurrent von Hierro setzt mit seinen Methoden eher auf die Wähler der Mittelschicht. Er bietet den Wahlberechtigten mit Wohnsitz in Buenos Aires für den Wahlsonntag einen kostenlosen Transfer von der argentinischen Hauptstadt nach Montevideo und zurück an.
Die Ausgaben der traditionellen Parteien, hauptsächlich für Werbung im Fernsehen, sind enorm. Geschätzt wird, daß allein die Colorados für ca. zwölf Tage Wahlkampf täglich über 125.000 US-Dollar ausgegeben haben, die Blancos gut die Hälfte der Summe. Der EP kann da mit geschätzten 4.500 US-Dollar täglich nicht einmal annähernd mithalten. Deutlich wird das in der Präsenz im auch in Uruguay allgegenwärtigen Fernsehen. Über 65 Prozent der Sendezeit waren von den Colorados gebucht, 32 Prozent von den Blancos, die restlichen 3 Prozent vom EP.

Frustration in Uruguay — Chance für die Linke?

Eines ist deutlich: Nie seit Wiedereinführung der Demokratie nach 1985 war die Stimmung im Land so schlecht. Das macht auch die Bedeutung der Vorwahlen aus: Die Nationalwahlen im Oktober werden simuliert, es sollen Denkzettel verteilt werden, es soll klar gemacht werden, wie hochgekocht die Frustration im Lande ist. Und oft wenn die Stimmung verzweifelt ist, werden extreme Lösungen gesucht. Und gerade das ist in Uruguay auch eine Chance für das Linksbündnis. Wird es so sein, daß die Menschen, auch die konservative Mehrheit im Land, sich eine Verbesserung durch eine Linksregierung vorstellen kann? Die Kandidaten der traditionellen Parteien haben nicht viel neues zu bieten, die alten Rezepte scheinen ausgedient zu haben.

Die Gewalt rückt ins Zentrum

Es ist Mittagszeit im Zentrum von Buenos Aires. Ohrenbetäubender Lärm dringt durch die Straßenschluchten der argentinischen Metropole. Die spätsommerliche Hitze treibt den in ihre Mittagspause strömenden Menschen den Schweiß auf die Stirn. Taxis haben die breiten Avenidas zur Rennstrecke auserkoren. An der Kreuzung langweilt sich ein dunkelblau gekleideter Polizist, die Mütze tief ins Gesicht gezogen. Schlagstock, Handschellen, Pistole, eine Unmenge von Taschen am Gürtel.
Marta Palma Echeverría hat gerade die Tür ihrer kleinen Bar in der Avenida Corrientes aufgesperrt. Schon seit Jahren führt sie gemeinsam mit vier anderen die Kneipe, eine Mischung aus Café und Restaurant. Bis der Koch kommt, möchte sie die Stühle von den Tischen gestellt haben, die Kasse überprüfen, einige Dinge vorbereiten. Wenige Minuten später erscheint Carolina, die nachmittags die wenigen Gäste bedient. Der größte Teil der Kundschaft kommt erst gegen Abend, wenn die porteños, wie die Bewohner der argentinischen Hauptstadt genannt werden, die zahlreichen Theater und Kinos auf dem Broadway von Buenos Aires aufsuchen und in das gegenüberliegende Kulturzentrum La Plaza, ins benachbarte Teatro Astral oder ins unweit entfernt liegende Teatro General San Martín gehen.

Überfall mit Angstschweiß

Beide Frauen stehen gerade an der Theke, als plötzlich zwei Jungen durch die Glastür in die Kneipe stürmen. Die beiden 15- bis 16jährigen fackeln nicht lange, einer von ihnen zieht eine Pistole unter seinem T-Shirt hervor, hält sie an Carolinas Stirn, schreit, Marta solle alles Geld herausrücken, das in der Kasse ist. Die Wirtin öffnet die Kasse, doch der andere der beiden, etwas kleiner, stößt sie beiseite, zieht die wenigen Geldscheine aus den Fächern. Er sagt nichts, über sein Gesicht rinnen Schweißperlen. Er hat Angst. Der andere brüllt, schubst Carolina weg, wartet auf seinen Kumpanen, der über die Theke springt. Beide rennen nach draußen. In wenigen Augenblicken ist alles vorbei, wie ein Film in Zeitraffer, und unversehens sind die zwei Halbwüchsigen in der Menge verschwunden.
Marta und Carolina haben Glück gehabt. Nicht immer kommen die Opfer der Überfälle, die in Buenos Aires in letzter Zeit stetig zugenommen haben, ungeschoren davon. Die zumeist jugendlichen Täter sind nicht nur fast immer bewaffnet, sie sind oft nervös oder stehen unter Drogen. Und viel schlimmer: Sie haben nichts zu verlieren. Die chorros, wie in Lateinamerika die Diebe genannt werden, kommen aus den Vorstädten, dort, wo in den villas miserias die Armut grassiert, viele Menschen arbeitslos sind und die Kinder keine Perspektive haben. Ihre Eltern können ihnen keine anbieten. Viele Frauen sind alleinerziehend, da sich der Mann aus dem Staub gemacht hat, weil er die Familie nicht ernähren kann. Oft kommen sie aus der Provinz, aus dem Nordwesten, aus Tucumán, Santiago del Estero, Salta oder San Salvador de Jujuy, wo die Arbeitslosigkeit noch höher liegt als in der Bundeshauptstadt und in der Provinz Buenos Aires. Oder sie sind Immigranten aus den noch ärmeren Nachbarländern Bolivien oder Paraguay, oder solche, die den weiten Weg aus Kolumbien oder Peru an den Río de la Plata gemacht haben, um sich am Stadtrand der 15-Millionen-Megalopolis niederzulassen, zwischen streunenden Hunden und Wellblechsiedlungen.
Die brasilianische Wirtschaftskrise hat Argentinien, das mit dem großen Nachbarn im Norden über den Mercosur, den gemeinsamen Markt, verbunden ist, schwer getroffen. Die Arbeitslosigkeit erlebte einen neuen Schub. Offiziell soll sie bei 14 Prozent liegen, in Wirklichkeit sind eher doppelt so viele Menschen ohne feste Arbeit. Und wer einen Job hat, bekommt wenig, 300 oder 500 Pesos im Monat – Peso und Dollar stehen immer noch im Verhältnis 1:1. In einer Stadt wie Buenos Aires, wo die Preise auf europäischem Niveau liegen, ist dies zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig. „Feste Arbeit ist rar, dagegen blüht der informelle Sektor. Die Leute schlagen sich mit Gelegenheitsjobs oder als Straßenhändler durch“, sagt Natalia, die Jura an der Universität Buenos Aires studiert hat und jetzt Ledergürtel und -taschen im Centenario-Park vekauft. Davon kann sie einigermaßen leben, für große Sprünge reicht es nicht. Eine kleine Wohnung im Viertel Villa Crespo, Miete 300 Pesos ohne Nebenkosten, ein Fernseher auf Raten, Futter für die zwei Katzen, einmal Ausgehen im Monat, mehr nicht.
„Früher war die Stadt relativ sicher“, erzählt Natalia. Aber die Armut ist immer schlimmer geworden.“ Nicht nur die Unterschicht ist davon betroffen, mehr und mehr Leute aus der einst für südamerikanische Verhältnisse breiten Mittelschicht fallen durch das soziale Sieb und leben in Armut und Unsicherheit. „Unsere Politiker sind schuld“, sagt Natalias Freundin Graciela, die Räucherstäbchen verkauft. „Die belügen uns nur. Präsident Menem hat das Land in die Hände der Mafia gegeben, die staatlichen Unternehmen an das Ausland verscherbelt.“ Die neoliberale Wirtschaftspolitik von Carlos Menem und seiner Wirtschaftsminister Domingo Cavallo und Roque Fernández war erfolgreich – für die Reichen. Für die Armen und die Mittelschicht hieß das: Rückgang des Realeinkommens, Arbeitslosigkeit, steigende Kriminalität.

Argentinien lateinamerikanisiert sich

„Argentinien hat sich lateinamerikanisiert. Der Mittelstand verschwindet. War Buenos Aires einst eine der sichersten Millionenstädte Lateinamerikas, war die Straßenkriminalität eine Angelegenheit der kleinen Taschendiebe und Trickbetrüger, so sind die Räuber heute schwer bewaffnet“, weiß der Rechtsanwalt Ricardo Rosental. „Dazu kommt die ansteigende Drogenkriminalität.“
Cristian, der aus der nordöstlichen Provinz Missiones stammt, hat eine Arbeit als Kellner gefunden: „In der Provinz gab es keine Arbeit. Meine fünf Brüder und ich lungerten nur herum oder drehten krumme Dinger, kleine Diebstähle oder Drogendeals. Wir waren richtige kleine chorros. „Eduardo Duhalde ist oberster Chef der Provinzpolizei und gleichzeitig einer der wichtigsten Leute im Drogenhandel“, sagt Cristian. Er meint den Gouverneur der Provinz Buenos Aires, der sich für die Präsidentschaftswahlen am 24. Oktober bewirbt. Bis dahin muß Duhalde noch die internen Wahlen der peronistischen Regierungspartei, der Partido Justicialista (PJ), überstehen und gegen Menems Favoriten Ramón Ortega antreten – auch der Ex-Formel-1-Fahrer Carlos Reutemann war zeitweise im Gespräch. Und Menem setzt alle Hebel in Bewegung, um durch einen Beschluß des obersten Gerichts zum dritten Mal antreten zu dürfen. Dann kann sich der Kandidat der PJ erst mit dem Gegenkandidaten messen, dem Bürgermeister von Buenos Aires, Fernando De la Rua, von der eher sozialdemokratisch orientierten Unión Cívica Radical, der ältesten Partei Argentiniens. De la Rua setzte sich in den Vorwahlen des Oppositionsbündnisses Alianza gegen Graciela Fernández Meijide von der Bürgerrechtsbewegung FREPASO durch, Mutter eines während der Militärdiktatur Verschwundenen.

Kein Vertrauen in Politik und Polizei

Natalia, Graciela, Marta, Carolina, Ricardo und Cristian: Sie alle sind für Meijide oder De la Rua. Duhalde schenken sie kein Vertrauen. „Er gibt sich jetzt sozial, eröffnet Schulen und zeigt sich bei jeder Gelegenheit. Aber er ist ein Wolf im Schafspelz“, sagt Natalia. Graciela pflichtet ihr bei: „Die Provinzpolizei ist eine der größten Verbrecherbanden des Landes.“ Die Polizei der Provinz Buenos Aires ist berüchtigt für ihre Korruption und für ihre Skandale: Die Polizei war verwickelt in die Attentate auf die israelische Botschaft 1992 und auf das jüdische Kulturzentrum 1994 mit über hundert Toten, wenn nicht gar selbst Täter und Auftraggeber.
„Wie können wir der Polizei vertrauen, wenn sie selbst kriminell oder zumindest unfähig ist“, mein Natalia. Die Polizei ist zudem hilflos gegen die geballte Explosion der Kriminalität. Eine Hilflosigkeit, die sich in Schießwut ausdrück: Täglich liest man, daß einer der chorros, der Diebe, erschossen worden ist von einem Polizeibeamten. Und das löst Gegengewalt aus: Einem Autofahrer wurde in den Kopf geschossen, als er an einer Kreuzung hielt und sich weigerte, seine Armbanduhr einer Gruppe von Jugendlichen zu geben; dem Gast in einem Café wurde eine tödliche Kugel verpaßt, als er bei einem Überfall selbst zur Waffe greifen wollte.
Nach einer Untersuchung des argentinischen Justizministeriums sind 40 Prozent der Einwohner von Buenos Aires im vergangenen Jahr Opfer von Einbrüchen oder Überfällen geworden. Folge sind Ohnmacht und Resignation. Die Wut vieler Menschen richtet sich nicht nur auf die Regierenden, sondern auf die noch Schwächeren: Die Ausländerfeindlichkeit gegenüber den Einwanderern aus den Nachbarstaaten hat zugenommen – was die Regierung gerne aufgreift. Sie legte kürzlich ein neues Gesetz gegen illegale Immigranten vor. Und die Polizei macht Jagd auf die Illegalisierten. Kriterien sind: dunkle Haut, schwarze Haare und indianisches Aussehen. Die politische Opposition im Parlament hüllt sich in Schweigen. Und Menem sammelte mit seiner harten Linie Pluspunkte im Kampf um eine Verfassungsreform, die vor allem ein Ziel hat: ihm eine erneute Kandidatur zu ermöglichen.
Derweil befassen sich die Medien ausführlich mit dem Thema Kriminalität. Andrea Rodríguez von der neuen kritischen Wochenzeitschrift veintiuno (einundzwanzig), die von dem von Página 12 kommenden Jorge Lanata gegründet wurde, sprach mit dem ehemaligen Chef der New Yorker Polizei, William Bratton, der am Río de la Plata zu Gast war. Sowohl Menem als auch De la Rua liebäugeln mit dem New Yorker Modell der „Nulltoleranz“, das in Nordamerikas Big Apple mitverantwortlich für den Rückgang der Kriminalität war – eine Politik, deren Kehrseite auch eine weit ausufernde polizeiliche Brutalität war.
Bratton antwortete auf die Frage der Übertragbarkeit der „Nulltoleranz“ auf Buenos Aires mit dem Hinweis, daß seine Vorgehensweise nicht umzusetzen sei: „Die Kriminalität sinkt nicht, solange es Korruption bei der Polizei gibt. In New York gibt es keine Gratis-Pizza als Schutzgeld für Polizisten.“ Die Löhne und Gehälter der Polizisten müßten angemessen sein. Bratton vergaß zu sagen, daß der Rückgang der Kriminalität in New York auch am wirtschaftlichen Wiederaufschwung und der verbesserten Arbeitsmarktsituation lag, eine Perspektive, die für argentinische Verhältnisse momentan utopisch scheint.
Marta steht noch unter dem Schock des Überfalls. Zwei Polizisten, die mit heulende Sirene angekommen waren, nehmen desinteressiert die Personalien auf und registrieren den Tathergang. Eine Chance auf Aufklärung besteht nicht. Marta zittert. Nur langsam schöpft sie wieder Kraft, um weiterzuarbeiten. Die ersten Gäste kommen. Sie sagt: „Wir müssen weitermachen. In unserem Land gibt es so viele arme Menschen, denen es an Geld, Bildung und an einer guten Regierung fehlt. Hoffentlich wird es irgendwann mal anders. Am schlimmsten ist die fehlende Aussicht auf Verbesserung.“

Die Bevölkerung schließt sich ein

Ricardo, der Rechtsanwalt, hat den Eingang zu seiner Dachterrasse im Stadtviertel Palermo Viejo mit einem Gitter versehen. Er meint: „Jeder muß damit rechnen, daß er überfallen wird. Wir schließen uns allmählich ein in unseren Wohnungen, leben in einem goldenen Käfig, wie es in brasilianischen Städten schon lange üblich ist. Buenos Aires ist dabei, Rio als gefährlichste Stadt im Mercosur zu überholen.“ Selbstkritisch fügt Ricardo hinzu: „Wir glaubten immer, wir seien eine europäische Exklave auf einem anderen Kontinent. Nun steht Lateinamerika mit all einen Problemen vor der Tür: Willkommen, Lateinamerika.“

Das Gespenst Bucarams

Wenn Noboa Präsident wird, müssen wir gleich noch einen neuen Übergangspräsidenten wählen!“ Diese Aussage bringt das Horrorszenario vieler EcuadorianerInnen auf den Punkt. Die Angst ist groß, das Land könnte auch nach der Stichwahl am 12. Juli nicht zur Ruhe kommen. Die tiefe politische Krise der letzten Jahre könnte in die nächste Runde gehen. Andererseits haben bei Wahlpflicht rund 30 Prozent der WählerInnen eben diesem Noboa Ende Mai ihre Stimme gegeben – ein Ausdruck dafür, daß das Vertrauen der Bevölkerung in die politischen Institutionen des Landes einen neuen Tiefpunkt erreicht hat.
Noboa tritt als erfolgreicher und patriotischer Geschäftsmann im Namen des Poder de los Pobres auf, der „Macht der Armen“. Doch nicht nur hierin liegen Parallelen zu seinem politischen Ziehvater Bucaram, der sich aus seinem Exil in Panama immer wieder lautstark zu Gunsten Noboas in den Wahlkampf eingeschaltet hat. Mit der gleichen Sturheit wie der Ex-Präsident verweigerte er sich konkreten inhaltlichen Aussagen, Interviews und Fernsehdebatten. Und dennoch hat Noboa als der reichste Mann des Landes handfeste Argumente: Im Zentrum seiner ausschließlich auf die Küstenregion des Landes zugeschnittenen Kampagne stand sein Versprechen, den Wiederaufbau der durch das Klimaphänomen El Niño völlig verwüsteten Gebiete voranzutreiben. Er finanzierte mobile Krankenstationen, verschenkte Medikamente und Grundnahrungsmittel.
Nicht einmal eineinhalb Jahre ist es her, daß über zwei Millionen EcuadorianerInnen in landesweiten Demonstrationen die Absetzung des damaligen Präsidenten Bucaram von der populistischen Partido Roldosista Ecuatoriano (PRE) gefordert und bekommen haben: Am 7. Februar 1997 wurde er wegen „geistiger Unfähigkeit“ durch den Kongreß seines Amtes enthoben (vgl. LN 273). Nachträglich wurde diese juristisch äußerst umstrittene Entscheidung ebenso per Volksabstimmung legitimiert wie die Ernennung von Fabián Alarcón, dem damaligen Parlamentspräsidenten und ehemaligen Bucaram-Verbündeten, zum Übergangspräsiden-ten bis zu vorgezogenen Neuwahlen.

„Aladrón“ – zurück zur „Normalität“

Alarcóns Regierungsstil war von Anfang an dadurch geprägt, daß seine Präsidentschaft nicht auf einem überzeugenden Programm, sondern ausschließlich auf der öffentlichen Ablehnung Bucarams gründete. Im Parlament hing er von anderen ab: Seine Fraktion verfügte lediglich über zwei Abgeordnete. Schon im Moment seines Amtsantritts verpaßte Alarcón die Gelegenheit, Enthusiasmus und Entschlossenheit der Februar-Demonstrationen für seine Regierungsarbeit zu nutzen. Nachdem die von ihm angestrebte Verlängerung seines Mandates bis zum Jahre 2000 per Mehrheitsbeschluß des Parlaments vom Tisch war, beschränkte er sich darauf, unpopuläre Entscheidungen aufzuschieben und für die Dauer seiner eineinhalbjährigen Amtszeit zwischen den Fronten zu manövrieren. Wer geglaubt hatte, mit dem Ende Bucarams werde sich eine neue politische Kultur etablieren, wurde enttäuscht. Zwar ging die Korruption unter Alarcón auf ein „normales“ Ausmaß zurück, doch auch er hatte bald seinen Spitznamen weg: „Aladrón“ nach dem spanischen ladrón: Dieb, Räuber.
Die größeren Parteien erteilten jeglicher Kooperation mit der Regierung Alarcón früher oder später eine Absage und bereiteten sich sorgfältig auf den Wahlkampf vor. Gleichzeitig bestand jedoch kein Interesse daran, Alarcón vorzeitig abzusägen, das Ergebnis wäre schließlich nur eine Übergangsregierung zur Ablösung einer Übergangsregierung gewesen. So waren Belanglosigkeit und Übergangscharakter der beste Schutz für die Regierung Alarcón.
Für die ecuadorianische Wirtschaft war Alarcóns Verzögerungstaktik nicht unbedingt hilfreich. Krisenstimmung herrscht vor, denn sowohl der Grenzkonflikt mit dem Nachbarstaat Peru Anfang 1995 und das Durcheinander der Amtszeit Bucarams haben Spuren hinterlassen. Dazu kommen zwei aktuelle Probleme: zum einen die Folgen des Klimaphänomens El Niño, zum anderen der Verfall des Rohölpreises auf dem Weltmarkt.

Verschärfte Bedingungen: El Niño und sinkende Ölpreise

El Niño hat in der Küstenregion des Landes immense Sturm- und Überschwemmungsschäden verursacht, bei denen über 200 Menschen ums Leben kamen. Rund 26.000 Menschen haben ihre Hütten und geringen Besitztümer in den gewaltigen Wassermassen verloren und leben derzeit in provisorischen Aufnahmelagern oder sind in die Städte migriert. Trinkwasserknappheit sowie schlechte Hygienebedingungen tragen zur Gefahr von Epidemien bei: Denguefieber, Malaria, auch einige Cholerafälle sind bereits aufgetreten. Die Verkehrsinfrastruktur ist weitgehend zusammengebrochen: Zahlreiche Brücken sind eingestürzt, Straßen sind verwüstet. Das Ausmaß der Schäden ist bislang nur zu erahnen.
Der Ölpreis auf dem Weltmarkt ist seit November letzten Jahres von 16 US-Dollar auf 9 US-Dollar pro Barrel gesunken. Auf der Basis durchschnittlicher Exporterlöse der neunziger Jahre bedeutet jeder Dollar weniger pro Barrel für Ecuador einen Verlust von etwa 7,5 Millionen US-Dollar im Monat. Im Vergleich zu den achtziger Jahren hat die Abhängigkeit des Staatshaushaltes vom Erdölexport zwar abgenommen, nach wie vor aber nimmt der Erdölsektor mit 35,7 Prozent der Staatseinnnahmen eine entscheidende Rolle ein.

Alarcóns Erbe ist wenig verlockend

Vor diesem Hintergrund mußten die Konjunkturprognosen deutlich korrigiert werden. So erwarten Experten für dieses Jahr nur noch eine Wachstumsrate von 1,5 Prozent gegenüber prognostizierten 2,5 Prozent. Im Vorjahr konnte noch ein Wirtschaftswachstum vom 3,4 Prozent verzeichnet werden. Das Haushaltsdefizit von 6,9 Prozent des Bruttosozialproduktes, das Bucaram hinterlassen hatte, konnte nicht abgebaut werden, sondern nähert sich kontinuierlich der 8-Prozent-Marke.
Eine Inflationsrate von 25 Prozent hatte die Regierung für 1998 angesteuert, aber von diesem Wert spricht niemand mehr. Selbst Prognosen von 35-38 Prozent erweisen sich angesichts der Konjunkturdaten als sehr optimistisch.

Die Asamblea Nacional – Trumpfkarte der Regierung

Lange blieb der Übergangsregierung ein politischer Trumpf: Sie hatte versprochen, die von der indigenen Dachorganisation CONAIE seit Beginn der neunziger Jahre und später auch anderen Vertretern unterschiedlicher sozialer Bewegungen und den Gewerkschaften geforderten Versammlung zur Verfassungsreform einzuberufen – eine Art Aushängeschild für Alarcóns Zugeständnisse und für seine Dialogbereitschaft.
Erste Zweifel regten sich schnell: die amtlichen Formulierungen bezüglich des rechtlichen Status der Asamblea Nacional und somit ihrer Kompetenzen gegenüber Legislative und Exekutive ließen Hintertüren offen. Vorschläge der Versammlung zur Überarbeitung der Verfassung erfolgen somit „unter Vorbehalt“ (vgl. LN 279/280). Aus Protest veranstaltete die CONAIE gemeinsam mit der Koordinierungsstelle sozialer Bewegungen ab dem 12. Oktober vergangenen Jahres eine eigene Versammlung, eine Asamblea Popular, in der sie ihre Forderungen u.a. nach der Festschreibung Ecuadors als „plurinationalen Staat“, die Stärkung indigener Rechte und Institutionalisierung von Partizipationsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft formulierten.

Mühsame Einigung

Nach einer langwierigen Debatte erzielten Parlamentsabgeordnete und VertreterInnen aus Wirtschaft und sozialen Bewegungen eine Einigung: Die Versammlung sollte ihre Arbeit am 20. Dezember 1997 für die Dauer von 60 Tagen aufnehmen und Vorschläge zur Reform der Verfassung erarbeiten. Gemäß der Ergebnisse der Volksabstimmung erfolgte die Wahl der KandidatInnen direkt, wovon sich die VertreterInnen unterschiedlicher sozialer Bewegungen eine größere Chance versprachen als von Wahlen nach Listen. Leider verkehrte sich diese Hoffnung in das Gegenteil, da das System die etablierten Parteien und bekannten Persönlichkeiten begünstigte. Ursprünglich Ausdruck des Protestes weiter Teile der Bevölkerung und Vision einer Alternative, mutierte die Versammlung zu einem Forum mit vergleichbaren Konstellationen wie im Parlament, auch wenn immerhin nicht nur BerufspolitikerInnen, sondern auch andere Berufsgruppen vertreten waren.

Konservative Allianz gibt die Richtung vor

Im Vordergrund der Diskussionen standen formale Aspekte wie Anzahl der VertreterInnen, Abstimmungsmodalitäten usw.. Wie unterschiedlich indes die politischen Vorstellungen waren, wurde spätestens mit Beginn der Arbeit der Asamblea deutlich. Während die sozialen Bewegungen auf neue Partizipationsmöglichkeiten und die Stärkung ihrer Vertretung gehofft hatten, sahen viele der auf Machterhalt bedachten ParteienvertreterInnen in ihr allenfalls ein Instrument zur Stärkung der Exekutive. Die Allianz zwischen dem neoliberalen PSC und der christdemokratischen Democracia Popular (DP), mit 20 und 10 VertreterInnen von 70 Sitzen die beiden stärksten Fraktionen, gab die Richtung vor. Das Mitte-Links-Spektrum mußte seine Prioritäten zurückschrauben. Ex-Präsident Osvaldo Hurtado (DP) wurde zum Vorsitzenden der Versammlung gewählt und setzte sich für seine Vision der besseren Regierbarkeit ein, das heißt Reformen vor allem innerhalb der parlamentarischen Strukturen. Nach Ablauf des Mandats am 30. April beschlossen die VertreterInnen eigenständig die Verlängerung ihres Mandats bis zum 5. Juni, woraufhin Alarcón ihnen seine Unterstützung endgültig entzog.

Rückendeckung für Mahuad

Die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen am 12. Juli entscheidet somit auch über das Schicksal der erarbeiteten Vorschläge zur Verfassungsreform. Was Noboa aus diesen Vorschlägen machen würde, ist völlig ungewiß. Neben Noboas Nähe zu Bucaram liegt hier der Grund dafür, daß die Verlierer der ersten Runde, Ex-Präsident Rodrigo Borja von der sozialdemokratischen Izquierda Democrática (ID) und der bekannte Fernsehjournalist Freddy Ehlers mit seinen Movimiento Ciudadanos Nuevo País den christdemokratischen Gegenkandidaten Mahuad unterstützen.
„Auch wenn zwischen seinen ideologischen Ansichten und Prioritäten für das Regierungsprogramm und unseren Positionen gewaltige Unterschiede sind, Mahuad ist jedenfalls kein Instrument des Bucaram-Populismus“, verkündete Borja in einem Interview Anfang Juni. León Febres-Cordero, Ex-Präsident, Bürgermeister von Guayaquil und Oberhaupt der neoliberal-autoritären PSC hingegen hat sich die Unterstützung Noboas vorbehalten, ebenso wie auch einzelne Vertreter des Amazonas-Flügels der indigenen Partei Pachakutik noch mit dem populistischen Kandidaten in Verhandlungen stehen.
Ehlers, der sich bei den Wahlen 1996 als politischer Neuling und Hoffnungsträger breiter Teile des gemäßigten linken WählerInnenpotentials etablieren konnte, aber in der ersten Runde ausschied, kam diesmal nur auf knapp 13 Prozent und liegt damit noch hinter Borja, der knapp 15 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Ehlers gelang es nicht, die zersplitterte Linke hinter sich zu bringen und verlor, nachdem Mahuad (DP) und später Borja (ID) in den Wahlkampf eingestiegen waren, beständig an Boden.

Jaime Nebot – die „neue“ PSC?

Vor allem aber brachte Jaime Nebots Verzicht auf eine Kandidatur für den autoritär-neoliberalen Partido Social Cristiano (PSC) die Wahlprognosen gründlich durcheinander. Die PSC ist nicht nur traditionell die stärkste Fraktion im Kongreß, Nebot wurde auch sowohl 1992 und 1996 in der ersten Runde stimmenstärkster Kandidat. In der letzten Wahl bildete sich im Mitte-Links-Spektrum eine breite „Stop-Nebot-Front“, die Abdalá Bucaram als dem vermeintlich kleineren Übel zum Sieg verhalf.
Parteiinterne Streitigkeiten um Nebots Kooperationskurs gegenüber dem christdemokratischen Bündnispartner DP in der Asamblea Nacional führten dazu, daß die in Guayaquil beheimatete PSC letztendlich tatsächlich keinen eigenen Kandidaten stellte und damit der Bucaram-Marionette Noboa das Feld – das heißt die WählerInnenstimmen der Küste – überließ. Ecuador ist von regionalen Rivalitäten außerordentlich stark geprägt, so daß die geographische Heimat eines Kandidaten nicht selten bedeutender ist als seine politische Heimat. Um die Stimmen des Hochlands bemühten sich hingegen fünf KandidatInnen des Mitte-Links-Spektrums.

Mahuad als „Mann der Mitte der Welt“

Profitiert hat von Nebots Rückzug vor allem Jamil Mahuad, Bürgermeister von Quito und Kandidat der christdemokratischen DP. Er konnte sich als „Mann der Mitte“ profilieren und Nebots verwaistes WählerInnenpotential im Hochland mit dessen Unterstützung zum Teil für sich gewinnen. Mit 36,66 Prozent der Stimmen ging Mahuad als eindeutiger Sieger aus der ersten Runde hervor. Im andinen Hochland erfreut sich der Rechtswissenschaftler und Verwaltungswirt großer Beliebtheit. 1996 wurde er in seinem Amt als Bürgermeister von Quito bestätigt und hatte während der Demonstrationen und dem Sturz Bucarams im Februar 1997 eine entscheidende Vermittlerrolle zwischen Kongreß, Streitkräften und dem Botschafter der USA inne.
Sein Programm unterscheidet sich kaum von dem der anderen und läßt sich im wesentlichen auf die Modeworte Privatisierung, Flexibilisierung, Liberalisierung und Dezentralisierung reduzieren. In seinem Wahlkampfspot spazierte Mahuad um Ecuadors bekanntes Äquatordenkmal Mitad del Mundo (Mitte der Welt) mit einem Fuß auf der Nord- und dem anderen auf der Südhalbkugel – eben ein „Mann der Mitte“. Mahuad baut nun auf die Stimmen derer links von der Mitte, die Noboas Wahl in jedem Fall verhindern wollen.
Die Krise des politischen Systems Ecuadors geht weiter, die Parteien sind weit entfernt von der Gesellschaft und weitgehende Partizipationsmöglichkeiten, wie sie von sozialen Bewegungen ge-fordert werden, sind noch nicht in Sicht. Bucaram stellt zwar die Karikatur eines Politikertyps dar, ist aber in der ecuadorianischen „Partidocracia“ alles andere als ein Einzelfall. Das Vertrauen der WählerInnen in die politischen Institutionen des Landes ist so grundlegend erschüttert, daß die immer kurzfristigere Orientierung – „Der Staat kann mir sowieso nicht helfen, Noboa schenkt mir wenigstens Reis.“ – fatalerweise Sinn macht. Angesichts dieser verfahrenen Situation sind die von der Asamblea Nacional erarbeiteten Reformvorschläge trotz Bedenken grundsätzlicher Art ein Anlaß zur Hoffnung auf einen Minimalkonsens, der die Wahl des Bucaram-Freundes Noboas verhindern und den Staat über unterschiedliche politische Ansichten hinweg zumindest wieder manövrierfähig machen könnte.

“Mi loco vuelve”

Bucaram jedenfalls freut sich auf sein Comeback nach dem möglichen Amtsantritt Noboas im August. Seine Partei, der PRE, arbeitet bereits an einem Aufkleber zu seiner Begrüßung mit der Aufschrift „Mi loco vuelve“ – Mein Verrückter ist wieder da.

Die etwas andere Geschichte der Guerillas in Kolumbien

Anfang März bewiesen die kolumbianischen Aufständischen wieder einmal Stärke. Ihnen gelang es nicht nur, trotz einer noch nie dagewesenen Militarisierung, die Parlamentswahlen in vielen Regionen zu sabotieren, die FARC fügten der Armee im Süden auch noch die bisher schwerste Niederlage in der kolumbianischen Geschichte zu. Eine ganze 120-köpfige Eliteeinheit von Berufssoldaten wurde im Caquetá aufgerieben. Die Reaktionen von Regierung und Armeespitze waren dementsprechend nervös. Mehrere tausend Soldaten wurden zusätzlich in die Region verlegt, die von der Regierung offensichtlich nicht einmal mehr mit Hilfe von Großoperationen unter Kontrolle zu bringen ist.

Die Wurzeln der bewaffneten Bewegung

Schon über die Entstehung der FARC und der ELN kursieren oft falsche Vorstellungen. Im Gegensatz zu den meisten in den 60er Jahren gegründeten bewaffneten Gruppen bauten die beiden Organisationen nicht vorrangig auf dem nach 1959 von Kuba ausgehenden Fokismus, sondern auf der 200jährigen Geschichte von Bauernaufständen auf, die seit 1792 Kolumbien in regelmäßigen Abständen erschütterten. Wer García Márquez’ „100 Jahre Einsamkeit“ gelesen hat, weiß von den zahllosen Bemühungen des Generals Aureliano Buendía, der sich 17 Mal erhob und immer wieder scheiterte. Diese Aufstände werden, wie auch der Bürgerkrieg 1948, oft als liberal-konservative Konflikte interpretiert. Die kritische Sozialforschung hat sich dagegen immer verwehrt: So wie auch Aureliano Buendía (eine trotz „magischer“ Verfremdung recht reale Person) kämpften die Aufständischen des 19. und 20. Jahrhunderts zwar unter dem Banner der liberalen Partei, aber sie waren keine Parteigänger.
Ihre Rebellion richtete sich vielmehr allgemein gegen die oligarchische Land- und Machtkonzentration. Die Tatsache, daß ihr Widerstand fast immer bewaffnet war, hatte damit zu tun, daß der soziale und politische Protest von der Oberschicht eigentlich immer mit Waffengewalt beantwortet wurde. Obwohl es seit der Unabhängigkeit nur zwei Militärputsche in Kolumbien gab, wurde die Opposition immer in die Illegalität gedrängt.

Die Geschichte der blutigen Massaker

Der erste große Einschnitt im 20. Jahrhundert war das Massaker in den Bananenplantagen 1928 (auch in „Hundert Jahre Einsamkeit“ nachzulesen). Die gesamten 20er Jahre waren von einer Aufbruchsstimmung geprägt, wobei sich die Opposition – neu entstandene Gewerkschaften, Indígena-Gruppen, Frauenbewegung und SozialistInnen – unter dem Dach des Partido Socialista Revolucionario versammelte. Eine interessante Organisation, denn die PSR nahm als „Bewegungspartei“ viel von dem vorweg, was Jahrzehnte später, zum Beispiel in den Diskussionen um die brasilianische PT, wieder eine Rolle spielen sollte.
1928 erreichte die Bewegung ihren Höhepunkt. Die Streiks griffen wie ein Flächenbrand um sich, und auch auf den Plantagen der United Fruit Company bei Ciénaga an der Karibikküste kam es zum Aufstand. In der Nacht zum 6.Dezember massakrierte die Armee 2000 auf dem Bahnhof friedlich versammelte streikende Familien: Die Toten wurden einfach ins Meer geworfen, die überlebenden Anführer der Bewegung im ganzen Land zu langen Haftstrafen verurteilt. Damit endete die erste sozialrevolutionäre Bewegung des 20. Jahrhunderts.
1948 kam es zum zweiten blutigen Höhepunkt. Am 9. April ließ die konservative Oligarchie den linkspopulistischen Sozialreformer Jorge Eliécer Gaitán, der als Kandidat der Liberalen beste Chancen besaß, neuer Präsident zu werden, in Bogotá ermorden. Die Hauptstadt erhob sich, und im ganzen Land bewaffnete sich die Opposition. Der darauffolgende Bürgerkrieg von 1948-53, der als Violencia in die Geschichte einging, mündete in ein Gemetzel unter der Zivilbevölkerung und kostete rund 250.000 Menschen das Leben. Das Ende des Krieges ist charakteristisch für die Bewältigung sozialer Konflikte in Kolumbien: Die Parteiführungen von Liberalen und Konservativen handelten eine liberale Teilhabe an der Macht aus, die Anführer der bewaffneten Gruppen wurden nach ihrer Demobilisierung einfach ermordet. Somit wurde auch in den 50er Jahren die Erkenntnis bestätigt, daß man mit der kolumbianischen Oberschicht nicht verhandeln kann.
Eine Reihe der in der Violencia entstandenen Bauerngruppen, vor allem solche, die politisch von der KP beeinflußt worden waren, verweigerten sich jedoch nach 1953 der Demobilisierung. Diese Gruppen strebten nicht nach einer Machtübernahme, sie waren Selbstschutzmechanismen der ländlichen Bevölkerung und Ausdruck bäuerlicher Selbstverwaltung.
Auf diese Weise bestanden Anfang der 60er Jahre mehrere Repúblicas Independientes, die ihre Autonomie gegenüber dem Zentralstaat durchsetzten . Die wichtigste von ihnen, die im Zentrum des Landes gelegene „Republik von Marquetalia“, wurde 1964 von der Armee brutal zerschlagen, worauf sich verschiedene Selbstverteidigungsgruppen zu den Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) zusammenschlossen. Die FARC waren damit alles andere als eine revolutionäre Kadertruppe, im Prinzip agierte sie bis 1990 eher defensiv als militärischer Arm der KP.
Etwas anders gelagert ist der Fall des Ejército de Liberación Nacional (ELN), das ebenfalls 1964 entstand. Obwohl die Organisation von in Kuba ausgebildeten Studenten gegründet wurde, hat auch sie in vieler Hinsicht ihre Wurzeln in den Bauernrevolten der Violencia. Viele combatientes der ersten Generation waren Veteranen der liberalen Guerilla von 1948-53 oder nahe Verwandte von diesen. Wenn die ELN trotz schwerer Niederlagen 34 Jahre überlebte, liegt das zum einen an der hohen moralischen Integrität ihrer comandantes – des Bauern Nicolás Bautista und des spanischen Pfarrers Manuel Pérez –, zum anderen aber an der Tatsache, daß sie, wie die FARC, an einen historischen Widerstand anknüpfte, dessen Radikalität sich aus der sozialen Wirklichkeit ableitete.

Verhandlungsprozesse und schmutziger Krieg

In den 70er Jahren erlebte die kolumbianische Linke eine gewaltige Ausdifferenzierung. Im Verlauf dieses Jahrzehnts bildeten sich 18 maoistische Gruppierungen (darunter viele mit bewaffnetem Arm), mehrere trotzkistische Strömungen und sieben größere Guerillas heraus. Ansonsten aber tat sich relativ wenig. Erst der linksnationalistischen M-19, die sich 1973 in Abgrenzung zu den leninistischen Gruppen gegründet hatte, gelang es mit mehreren spektakulären Guerillaaktionen, in den Städten eine neue Phase einzuläuten. 1979 schien die Guerilla auf einmal wieder eine reale Bedrohung für den Staatsapparat zu werden. Präsident Turbay Ayala versuchte die Entwicklung mit Repression aufzuhalten, aber Anti-Terrorgesetze und systematische Folter brachten keine positiven Ergebnisse – im Gegenteil, vor allem die M-19 wuchs weiterhin.
Daraufhin kam es zu einer dramatischen Wende. Der neue Präsident Belisario Betancur (1982-86) erließ eine Generalamnestie und fädelte Friedensverhandlungen ein, die 1984 in einen Waffenstillstand mit FARC, M-19 und EPL (dem Ejército Popular de Liberación) mündeten; die ELN verweigerte sich damals den Gesprächen. Aber erneut wiederholte sich die Geschichte: Die legalisierten UntergrundkämpferInnen wurden zur Zielscheibe des schmutzigen Krieges. Ab 1983 entstanden unter der Schirmherrschaft der Armee im ganzen Land mehr als 150 paramilitärische Gruppen, die die nun offen auftretende Opposition regelrecht ausmerzte. Dörfer wurden überfallen, Gewerkschafter erschossen, zahlreiche Massaker mit bis zu 50 Toten verübt. Der Waffenstillstand zerbrach 1985, der schmutzige Krieg aber ging weiter.
Allein die sozialistische Wahlkoalition UP verlor 2000 AktivistInnen. Insgesamt kalkuliert man, daß bis zu 20.000 Menschen (Bauern, Gewerkschafter, Straßenkinder etc.) jährlich (!) Opfer von „sozialen Säuberungen“ und Paramilitarismus sind. Das ist weitaus mehr als in Argentinien unter der Militärdiktatur.
Dennoch kam es wenig später erneut zu sogenannten Friedensverhandlungen. Der Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten und interne Krisen hatten die Linke schwer getroffen. Die M-19 war zu einer kleinen, nur noch 300 KämpferInnen zählenden Gruppe zusammengeschrumpft, und die sich am albanischen Sozialismus orientierende (sic!) EPL verfiel in tiefe Selbstzweifel. Die Folge war die bedingungslose Demobilisierung der beiden Organisationen 1990-92. Die höheren Kader integrierten sich in den Staatsapparat, die combatientes mußten sich alleine durchschlagen, zu sozialen Veränderungen kam es nicht. Letztendlich zahlte sich das Abkommen jedoch nicht einmal für alle Guerilla-Führer aus. Der Präsidentschaftskandidat der demobilisierten M-19, Carlos Pizarro, wurde erschossen, die M-19 verwandelte sich in eine kleine politische Partei ohne linke Ansprüche.

Modernisierungsprozeß und neue Konflikte

Es blieben also nur FARC und ELN (sowie eine kleine Abspaltung des EPL) übrig, die von der Krise der Linken auf sehr widersprüchliche Weise getroffen wurden. Zum einen erfuhren sie politisch zweifellos eine Schwächung, denn die Regierung Gaviria nutzte die Demobilisierung von M-19 und EPL zu einer Modernisierung des Systems. Mit der Verfassunggebenden Versammlung 1990/91 schien sie die seit langem schwelende politische Krise endlich überwinden zu können.
Noch fataler jedoch als diese Verfassungsreform war für FARC und ELN der Zerfall der legalen Opposition. Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus und der sandinistischen Wahlniederlage machte sich Orientierungslosigkeit und Skepsis breit; zudem hatte der schmutzige Krieg die Linke völlig ausgeblutet. So lösten sich die politischen Massenorganisationen UP, A Luchar und Frente Popular auf, die Gewerkschaften verloren an Bedeutung, die Koordination der StadtteilbewohnerInnen CNMC und der BäuerInnen-Verband ANUC waren nicht mehr in der Lage, die Bevölkerung zu mobilisieren.
Damit erschien die Guerilla auf einmal als rein militärisches Projekt – eine verständlicherweise wenig überzeugende Option. Interessanterweise gingen die politischen Probleme von FARC und ELN mit einem beachtlichen personellen und militärischen Wachstum einher. Im Land existiert heute die absurde Situation, daß politisierte Jugendliche eher in die Berge gehen, als einer Gewerkschaft beizutreten – das Risiko ermordet zu werden, ist in der Guerilla geringer. So zählen die beiden Organisationen heute zusammen über 150 Fronten oder Frontprojekte und sind nach Regierungsangaben in fast 600 der 1000 Munizipien präsent. In einem allerdings gering bevölkerten Drittel des Landes üben sie die Funktion einer klandestinen Gegen-Administration aus. Sie sind in der Lage, das Land wochenlang mit ihren Aktionen lahmzulegen und sind in den unmittelbaren Vororten Bogotás und Medellín aktiv.

Selbsterhaltung, Friedensprozeß oder Revolution?

Es klingt unzeitgemäß, aber FARC und ELN streben einen politischen Umsturz an – und dies in gewisser Weise sogar kompromißloser als früher. Seit der strategischen Wende der FARC 1991/92, die bis dahin mehr oder weniger als Instrument der KP agierte und auf eine Verhandlungslösung abzielte, operiert die Guerilla immer offensiver. Daß es dazu kam, hat mit zwei Ereignissen zu tun: Zum einen starb 1991 der comandante Jacobo Arenas, der als der Mann der KP in den FARC galt (an altersbedingten Herzproblemen – auch eine „macondianische“ Biographie); zum anderen jedoch beging die Regierung Gaviria den idiotischen Fehler, ausgerechnet während einer Dialogrunde in Mexiko das mehr oder weniger offizielle Hauptquartier der FARC in La Uribe/ Meta anzugreifen. Die großangelegte Operation war wie ein Tritt in den Ameisenhaufen. Die FARC-comandantes teilten sich in dezentrale Gruppen auf und verlegten die in La Uribe konzentrierten Fronten in die Nähe der Hauptstadt. Damit begann das strategische Projekt „Einkreisung Bogotás“. Seit 1992 ist es keine Seltenheit mehr, daß die FARC 20 bis 30 Kilometer vor der Hauptstadt gelegene Städte besetzt.
Ganz offensichtlich schenkt die FARC den Wahl- und Verhandlungsstrategien keine Bedeutung für eine Konfliktlösung mehr. Das Bündnis mit der KP und UP ist aufgekündigt; Verhandlungen mit der Regierung wollen die FARC wie auch die ELN nur noch über punktuelle Fragen (wie die Nationalisierung der Bodenschätze), aber nicht mehr über eine generelle Demobilisierung führen. Außerdem arbeitet die FARC am Aufbau einer klandestinen Massenbewegung. Das Movimiento Político Clandestino Bolivariano soll dazu beitragen, den sozialen Protest der Bevölkerung auf die Straße zu bringen, ohne sich mit wahltaktischen Fragen (wie im Fall der UP) selbst zu behindern.
Insofern ist in Kolumbien eine Situation eingetreten, die in ihrer Brisanz nur mit der Mexikos zu vergleichen ist. Die Guerillaorganisationen, die an einem Sozialismus mit Poder Popular festhalten, die neoliberale Wirtschaftspolitik sabotieren und die Erdöl- und Kohle-Multis aus dem Land werfen wollen, befinden sich in einer paradoxen Situation. Zum einen wissen sie, daß der kolumbianische Konflikt keine militärische Lösung zuläßt; zum anderen ist ihnen aber auch klar, daß die staatliche Repression der politischen und sozialen Opposition keinerlei Spielräume bietet. Der Paramilitarismus breitet sich rasant aus. Es gibt kaum noch Gegenden, in der die parastaatlichen Terrorgruppen nicht aktiv wären. In einem Drittel des Landes, darunter die strategisch und ökonomisch wichtigen Regionen Urabá (Bananenexport, Kanaloption) und Magdalena Medio (Erdöl, Viehzucht) üben sie gemeinsam mit der Armee eine brutale Kontrolle aus. Bereits 1,8 Millionen KolumbianerInnen sind vor ihnen und dem Krieg in die Städte geflohen. Was droht, ist ein Bürgerkrieg von den Ausmaßen der Violencia.
In diesem Zusammenhang ist das Interesse der Guerilla zu sehen, über konkrete Regelungen mit der Regierung zu verhandeln. Es geht nicht um eine Demobiliserung, sondern um punktuelle Vereinbarungen: Einhaltung der Genfer Menschenrechtskonventionen, Schutz der Zivilbevölkerung und der legalen Opposition, Demobilisierung der Paramilitärs, Nationalisierung der Bodenschätze, Stop der Privatisierungen und Wiedereinführung von Arbeits- und Kündigungsschutzgesetzen.

Der schlechte Ruf der Guerilla

Politsch sind ELN und FARC durchaus auf der Höhe der Zeit – zumindest nicht weniger als die Linke anderswo auf der Welt. Sie suchen durchaus, wenn auch manchmal etwas unbeholfen, die Kommunikation mit dem Rest der Gesellschaft, fördern Selbstverwaltungsstrukturen und begreifen anders als die superrevolutionäre Linke der 70er Jahre die Notwendigkeit sofortiger Reformen. Wenn sie dennoch einen so schlechten Ruf haben („Narcoguerilla“, „stalinistisch“, „kriminell“ etc.), hat das wenig mit eigenen Fehlern zu tun. Natürlich gibt es in Kolumbien (wie in der FMLN und FSLN) Militarismus und Autoritarismus von links. Das ist anzugreifen, aber bei einer Militarisierung des Konflikts, wie er von der kolumbianischen Oberschicht in den letzten 50 Jahren betrieben wurde, nicht besonders verwunderlich. Mit den Organisationsführungen und -positionen hat das auf jeden Fall wenig zu tun. In der ELN forciert man schon seit 15 Jahren die innerorganisatorische Demokratie, die für eine Armee (mit Ausnahme der EZLN) wohl ziemlich einzigartig sein dürfte.
Viel wesentlicher für das schlechte Bild ist die permanente Desinformationskampagne in den Medien: Seit 1985 gibt es praktisch kein Massaker mehr, das nicht zunächst den Aufständischen in die Schuhe geschoben wird, und wenn, wie beim Überfall auf Segovia, dem Mord an zehn Justizbeamten in La Rochela oder dem Massaker an den Bananenarbeitern in Urabá, zehn Jahre später die Beteiligung von hochrangigen Militärs wie dem General Farouk Yanine Díaz nachgewiesen wird, dann interessiert das natürlich niemanden mehr.
Ein weiteres Mittel ist die Strategie, die Aufständischen in den internationalen Medien als „kriminelle Narco-Guerilla“ zu stigmatisieren. Dabei werden vor allem Entführungen und Verbindungen zum Drogenhandel aufgeführt. Ein genauerer Blick macht jedoch auch dieses Argument zunichte: Was die Entführungen von ausländischen Technikern und Großgrundbesitzern angeht, bewegen sich diese auf der gleichen Ebene wie Haftstrafen für Steuerbetrüger in einem bürgerlichen Rechtsstaat, denn die Guerilla übt in vielen Regionen de facto Regierungsfunktionen aus, und treibt daher Steuern ein. Man muß begreifen, daß es sich bei der kolumbianischen Guerilla nicht um eine privat agierende Minitruppe, sondern um eine aufständische Gegenautorität handelt. Wer sich über diese Entführungen empört, darf über staatliche Gefängnisse nicht schweigen.
Und auch hinsichtlich ihrer Drogenpolitik hat sich die Guerilla nicht viel vorzuwerfen: die ELN lehnt den Coca-Anbau völlig ab und hat in Bolívar dieses Jahr ein ehrgeiziges Projekt der Substitution bis zum Jahre 2003 begonnen. Die FARC hingegen setzen die Abnahmepreise fest und kassieren von den Einkäufern Steuern. Das hat zwar die Beziehungen mit der ELN bis an den Rand eines offenen Bruchs belastet, aber den Bauern im Süden des Landes ein Mindesteinkommen garantiert. Verglichen mit der Verwicklung der Samper-Administration in die Geschäfte des Cali-Kartells ist diese Politik sowieso nur ein lächerliches Vergehen. Es ist im übrigen ganz erhellend zu wissen, daß der Begriff der „Narco-Guerilla“ in den 80ern vom damaligen US-Botschafter Lewis Tambs kreiert wurde, dem wenig später selbst Verwicklungen mit dem Drogenhandel nachgesagt wurden.
So gesehen ist das Image der kolumbianischen Aufstandsbewegung eindeutig erneuerungsbedürftig. Während die kolumbianische Oberschicht seit nun 16 Jahren ungestraft die Landbevölkerung abschlachten läßt, schreiben sich JournalistInnen, die außer den 4-Sterne-Hotels von Bogotá und Cartagena nicht viel von Kolumbien gesehen haben, die Finger über das lukrative Geschäft der Narco-Guerilla wund. So wie es in den 80ern falsch war, FSLN und FMLN unkritisch abzufeiern, ist es heute unmöglich, sich eine Emanzipation Kolumbiens ohne die Guerilla vorzustellen. Man muß nicht gleich in ehrfurchtsvolle Bewunderung verfallen, um die aufständische Bewegung politisch ernstnehmen zu können. Und in diesem Punkt scheint, um mit einer kleinen Gehässigkeit zu schließen, Geheimdienstminister Schmidbauer (aus was für Motiven auch immer) weiter zu sein als so manche/r Lateinamerika-Bewegte.

Für eine Handvoll Eede mehr…

Am 6.März 1980 marschierte eine Abteilung Soldaten des 6. Militärdistrikts aus der Stadt Sonsonate im Westen El Salvadors in der Kaffeeplantage „Las Lajas“ der Frau Blanca Langeneger de Bendix ein. Die TeilpächterInnen und LandarbeiterInnen erschraken und verstanden die Welt nicht mehr, als der Hauptmann sagte, das Land gehöre jetzt ihnen. Als er sie in eine Liste der Neu-EigentümerInnen aufnehmen wollte, zögerten sie, ihre Namen und Adressen zu nennen. Schließlich ließen sich 75 von ihnen eintragen. Die Agrarreform war gekommen – und zwar von oben.
Am 5. Oktober 1996 hieß es in einem Rundschreiben der FMLN zu den damals laufenden vertraulichen Verhandlungen mit der US-Entwicklungsagentur USAID über die Streichung der aus dem Landübertragungsprogramm der Friedensverträge erwachsenen Landkaufschulden: „…für den Fall, daß wir eine Einigung über die Schuldentilgung erzielen, werden Aktivitäten organisiert, um den Sieg in diesem Kampf zu feiern.“ So kam es dann zu einer großen Erleichterung für die ehemaligen FMLN-KämpferInnen und -SympathisantInnen – wieder von oben.

Von der Agrarreform zu den Friedensverträgen von 1992

Was war in der Zwischenzeit geschehen? Die Agrarreform von 1980 kam zu spät. Als sie unter der Regierung einer zivil-militärischen Junta, die im Oktober 1979 den Präsidenten-General Humberto Romero gestürzt hatte, erlassen wurde, hatte der Bürgerkrieg bereits begonnen. Dabei ging sie in puncto Umverteilung ursprünglich viel weiter als die von Kennedys „Allianz für den Fortschritt“ inspirierten Agrarreförmchen der 60er und 70er Jahre: die Höchstgrenze für privates Bodeneigentum wurde auf 100 Hektar festgelegt. Aller privater Landbesitz, der darüber hinaus ging, sollte in zwei Phasen (zunächst alle Flächen über 500 Hektar, dann jene zwischen 100 und 500 Hektar) enteignet werden – allerdings gegen Entschädigung. Dazu kam es jedoch nicht. Die Großgrundbesitzer und Agrarkapitalisten formierten sich in der rechtsextremen ARENA-Partei, welche 1982 die Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung gewann, besagte Höchstgrenze auf 245 Hektar anhob und die Phase II der Agrarreform stoppte. Die FMLN wurde im Oktober 1980 aus der Taufe gehoben und versuchte im Januar 1981 ihre erste Großoffensive.
Während aus der Kaffeeplantage der Frau Langeneger de Bendix im Westen des Landes, der weitgehend unter Regierungskontrolle blieb, nach und nach eine stattliche Kooperative wurde (von der heutzutage der in der Bundesrepublik alternativ vertriebene „La Cortadora“-Kaffee kommt), wurden zum Beispiel aus den Ländereien der Familien Baldochi und Dueñas in der Küstenebene des Departements Usulután im Osten El Salvadors Konfliktgebiete, von der FMLN kontrollierte Zonen, wie es damals hieß. Auch dort gab es von oben gegründete Kooperativen, diese hatten jedoch keine Chance. Die Funktionäre des staatlichen Agrarreforminstitutes ISTA lösten die Verwalter der Latifundisten ab. Mit so unsinnigen Entscheidungen wie der Aufnahme von Krediten für die Bezahlung der Löhne schufen sie in über 15 Jahren einen Schuldenberg, auf dem die entsprechenden Genossenschaften noch heute sitzen.
Die FMLN sah in der Agrarreform eine Maßnahme der Aufstandsbekämpfung, zumal sich inzwischen die Reagan-Regierung nicht nur militärisch, sondern auch politisch eingeschaltet hatte und im Bündnis mit den salvadorianischen Christdemokraten versuchte, die landhungrigen Bauern und Bäuerinnen für sich zu gewinnen. Also sabotierte die FMLN die neuen Kooperativen genauso wie die Ländereien der Großgrundbesitzer, brannte die Baumwollfelder nieder, zerstörte Maschinen und Lagerhäuser und requirierte das Vieh, sofern es nicht in die Hände der Armee fiel.
Maria Eugenia, Mitglied der Kooperative Nancuchiname, erinnert sich mit Schrecken an diese Zeit. Sie war auch dabei, als Ende der 80er Jahre die Kader des Genossenschaftsverbandes, der sich inzwischen von der Christdemokratie ab- und mehr oder weniger heimlich der FMLN zugewandt hatte, und die Guerilleros und Guerilleras kamen, um über die Rücksiedlung von Flüchtlingen aus Panamá und Nicaragua zu verhandeln. Dabei ging es um neue KämpferInnen für die große Offensive vom November 1989, aber auch um Landnahme. Friedensverhandlungen zeichneten sich ab und somit auch die Frage, wieviel und welches Land am Ende für die zu demobilisierenden FMLN-KämpferInnen und die soziale Basis in den Konfliktgebieten herausspringen würde. So bekamen Maria Eugenia und ihre GenossInnen neue NachbarInnen, ehemalige Kriegsflüchtlinge, die ein Stück der alten Hacienda Nancuchiname erhielten. In diesem Falle ging das gut. In anderen Fällen setzte die FMLN den Agrarreform-Kooperativen einfach ihre Demobilisierten vor die Nase, und es kam zu Konflikten.

Das Landübertragungs-Programm von 1992

Der Regierung konnte das nur recht sein. Seit 1989 in Händen der ARENA-Partei und auf striktem Strukturanpassungs-Kurs, setzte sie mehr auf Finanzdienstleistungen und Maquiladoras als auf die nationale Landwirtschaft. Der Flügel der Partei, den der damalige Präsident Cristiani vertritt, war zwar auch in der Land-, vor allem in der Kaffeewirtschaft reich geworden, hatte aber schon längst auch in der verarbeitenden Industrie, im Handel, im Bauwesen und im Finanzsektor investiert – und sich bei der Reprivatisierung der Banken 1990 die besten Stücke auf Kosten der Staatskasse abgegriffen, Cristiani selbst zum Beispiel die Banco Cuscatlán, Baldochi die Banco Agrícola Comercial.
Aus dieser Warte konnte sich die ARENA-Regierung gegen Ende der fast zweijährigen Friedensverhandlungen auch auf eine Diskussion der Landfrage einlassen. Deren Ergebnis: das Agrarkapitel der Friedensverträge von 1992, dessen Herzstück, das Landüberschreibungs-Programm (Programa de Transferencias de Tierras, PTT) im Oktober des selben Jahres vereinbart wurde. Als Grundlage dafür diente ein von der FMLN vorgelegtes Inventar aller Grundstücke, auf die sie für ihre Ex-KämpferInnen und die sympathisierende Zivilbevölkerung, die in den ehemaligen Konfliktgebieten von den Alt-Eigentümern verlassenes Land besetzt hielt, Anspruch erhob. Nach mehrfachen Abstrichen einigte man sich schließlich auf ein Programm für maximal 47.500 Personen (darunter auch die demobilisierten Soldaten), die insgesamt 160.000 Hektar Land bekommen sollten. Verteilt werden sollten mit diesem Programm Flächen im Staatseigentum und Privatland, das freiwillig zum Verkauf angeboten wurde.
Als besonders praktisch für die Regierung, die selbstverständlich das PTT möglichst herunterspielen wollte, erwies sich dabei, daß auf Ländereien, die im Rahmen der Agrarreform enteignet worden waren, wegen des Krieges vielfach überhaupt keine Kooperativen entstanden waren oder diese – wie zum Beispiel im Konfliktgebiet an der Küste von Usulután – nur einen kleinen Teil der ihnen zugewiesenen Flächen bewirtschafteten. Das auf diese Weise nicht genutzte Land gehörte dem Agrarreforminstitut ISTA und konnte jetzt noch einmal verteilt werden. So kam es, daß Maria Eugenia sich klar als Begünstigte der Agrarreform versteht und weiß, daß die aus der damaligen Übergabe erwachsenen Schulden für den Landkauf und für Produktionskredite immer noch nicht erlassen sind, weil der derzeitige Präsident im vergangenen November sein Veto gegen ein entsprechendes Gesetz eingelegt hat (vgl. LN 282). In den neuen Nachbargemeinden von Nancuchiname aber, wo die aus Panamá und Nicaragua zurückgekehrten Flüchtlinge und vormalige interne Kriegsvertriebene leben, wissen die Leute zum Teil bis heute nicht, ob sie nun als Agrarreform-TeilnehmerInnen gelten oder als Begünstigte des PTT.
Eine dieser Nachbarinnen ist Ana, ehemalige FMLN-Kämpferin und heute Volkslehrerin in der Gemeinde „Neue Hoffnung“, in der Maria Eugenias Sohn in die Schule geht. Ana ist aus dem Norden von Morazán umgesiedelt, einer ehemaligen Hochburg der FMLN. Sie wurde als Ex-Kämpferin registriert und von daher sollte ihr Fall eigentlich eindeutig sein – nur daß sie eben heute auf Agrarreformland lebt. Im Norden von Morazán hatte sie gleich nach der Demobilisierung zusammen mit GenossInnen verlassenes Land, das ordnungsgemäß im Inventar der FMLN verzeichnet war und auch als PTT-Land anerkannt wurde, besetzt und eine Genossenschaft gegründet.
Dann kam ihr aber das Kleingedruckte in den Friedensverträgen in die Quere. Obwohl die Regierung bei den Verhandlungen bereit war, über Landtransfers zu reden, bestand sie doch auf einem Kotau vor dem heiligen Privateigentum: Alt-Eigentümern von besetztem Land oder Grundstücken, welche die FMLN für ihre Leute beanspruchte, wurde es freigestellt, ihr Land für das PTT zu verkaufen oder nicht. Die einen nutzten dies, um die Bodenpreise in die Höhe zu treiben; die anderen, um das ganze PTT zu sabotieren, und in den ehemaligen Konfliktgebieten Unfrieden zu stiften. Zur letztgenannten Gruppe gehörten die streitbaren Umañas, nicht übermäßig große, aber besonders eingefleischte Kaffeebarone. Sie organisierten sich in einem obskuren Verband der Alt-Eigentümer (übrigens nicht unähnlich den Junkern, die seit 1989 gegen jenes Kapitel im Einigungsvertrag Sturm laufen, das die sowjetische Agrarreform in der DDR von einer Revision ausnimmt) und bestanden auf Rückgabe ihrer Kaffeeplantagen. Mit den Bestimmungen der Friedensverträge im Rücken und in tätlichen Auseinandersetzungen mit den Mitgliedern der neuen Kooperative setzten sie ihren Anspruch schließlich durch. Deshalb wanderte Ana nach Usulután ab, in die Gemeinde „Neue Hoffnung“. Ihre große Hoffnung auf ein eigenes Stück Land hat sich aber noch nicht erfüllt.

Das PROSEGUIR-Programm

Das PTT schleppte sich über vier Jahre hin. Am Ende standen seine rund 35.000 NutznießerInnen (einschließlich der Ex-Soldaten) ohne rechtlich gültige Landtitel, mit einem Haufen Schulden und der trüben Aussicht da, auf den maximal drei Hektar Land, die sie vielleicht einmal ihr Eigen nennen würden, wie bereits ihre Eltern und Großeltern mehr schlecht als recht Subistenzlandwirtschaft zu betreiben. Das Schuldenproblem ist inzwischen gelöst. Per Gesetz wurden Mitte 1996 70 Prozent der Schulden erlassen. Im Dezember 1996 übernahm die US-amerikanische Entwicklungsbehörde USAID die Bezahlung der restlichen 30 Prozent – für die FMLN der eingangs erwähnte Anlaß zum Feiern. Beide Maßnahmen wurden mit Bedingungen verknüpft, welche die individuelle Nutzung der PTT-Parzellen nahelegen und eine gemeinsame Nutzung – in welcher Form auch immer – diskriminieren.
Zusätzlich zur Verankerung des Freiwilligkeitsprinzipes zu Gunsten der Alt-Eigentümer in den Friedensverträgen, der Zusammenstreichung des ursprünglichen Land-Inventars der FMLN und dem Manöver, Agrarreformland zweimal zu verteilen, kam den gekränkten Junkern und Verfechtern einer neoliberalen Bodenpolitik im Verlauf des PTT ein weiterer Umstand gelegen: Weil viele Alt-Eigentümer keine rechtlich einwandfreien Landtitel hatten und die Grundbücher hinten und vorne nicht stimmten, kam man überein, zusammenhängende Ländereien en bloque an ganze Gruppen von Begünstigten zu verteilen, und zwar unter der Rechtsform des proindiviso: jede begünstigte Person erhält danach eine bestimmte Menge Land, ohne daß die Lage und Form ihrer Parzellen innerhalb des Gesamtgrundstückes definiert wird. Unabhängig davon, ob die Leute in einer Gemeinde oder Kooperative gerne zusammenarbeiten oder lieber alleine vor sich hin ackern, gefiel ihnen diese Regelung nicht. Sie bescherte ihnen weder einen hieb- und stichfesten Landtitel, den man veräußern oder vererben kann und auf den man Kredite bekommt, noch die lang ersehnte Freude an der eigenen Scholle. Deshalb waren die allermeisten PTT-Begünstigten einverstanden, als ihnen ab Mitte 1997 MitarbeiterInnen des PROSEGUIR-Programmes erklärten, sie sollten das überschriebene Land parzellieren – aber leider müßten sie die dabei anfallenden Vermessungskosten selber zahlen.
PROSEGUIR wurde als Bedingung für die Schuldentilgung durch USAID konzipiert. Eigentlich sieht es vor, daß die Rechtsform des proindiviso von definitiven Rechtsformen abgelöst und zu diesem Zwecke in jeder Gemeinde und in jeder Kooperative diskutiert und beschlossen wird, wie das gesamte zur Verfügung stehende Land aufgeteilt wird in Wohngrundstücke, Flächen für die Gemeinschaftseinrichtungen, individuelle landwirtschaftliche Parzellen und/oder gemeinsam zu bewirtschaftendes Land. Eigentlich entstehen für die Vermessung nur Gebühren von maximal 15 US-Doller pro Familie und nicht Kosten von über 100 US-Dollar, wie sie die Vermessungsingenieure verlangen, denn die Vermessung ist in dem PROSEGUIR-Programm inbegriffen. Soweit es um zweitverteiltes Agrarreformland geht, ist das Agrarreforminstitut ISTA eigentlich verpflichtet, definitive Landtitel ohne Hypothek auszustellen, denn USAID hat die restlichen Landkaufschulden für alle PTT-Begünstigten getilgt.
Ana zum Beispiel weiß das alles nicht, denn ISTA, Regierung und Weltbank haben kein Interesse, es ihr zu erklären, und die FMLN feiert lieber erfolgreiche, vertrauliche Verhandlungen als kontinuierlich zu informieren. Ana hat das zusätzliche Pech, in den Reihen des ERP (Revolutionäres Volksheer) gekämpft zu haben, das von dem Ex-Kommandanten Joaquín Villalobos von der FMLN getrennt, dann in „Demokratische Partei“ (PD) umbenannt und schließlich in die politische Bedeutungslosigkeit manövriert worden ist. Hinterlassen hat die PD gleichwohl ein paar Nichtregierungsorganisationen (NRO), die sich ihren Anteil am PROSEGUIR-Programm gesichert haben und in ehemaligen ERP-Einflußgebieten zu Parzellierung und Vermessung ermuntern.
Für die Regierung ist PROSEGUIR ein Instrument mehr, um die FMLN-nahen PTT-Begünstigten zu vereinzeln und auf einem wirtschaftlich und sozial perspektivlosem Subsistenzniveau zu halten, und um Streit über die Landaufteilung in die Gemeinden zu tragen und damit die Neigung zum Verkauf der mühsam erkämpften Parzellen zu fördern. Für die Weltbank bedeutet das PROSEGUIR, die Land-Umverteilerei endlich abzuschließen und einen Schritt weiterzukommen auf dem Weg zu einem freien Bodenmarkt. Für die Akteure des freien Bodenmarktes, jene die Geld haben, um Land zu kaufen, Viehhalter, Grundstücksspekulanten, an Investitionen in Freien Produktionszonen und Tourismusprojekten Interessierte eröffnet das PROSEGUIR die Möglichkeit, an interessante Grundstücke heranzukommen. Denn die Parzellierung und die in El Salvador unter Landarmen übliche Realteilung, bei der ein Landstück unter allen ErbInnen aufgeteilt wird, haben jetzt schon dazu geführt, daß PTT-Grundstücke verkauft werden, weil sie zum Überleben zu klein und die Versuchung, über Nacht einen Batzen Geld zu bekommen, zu groß sind.
Für die FMLN schließlich ist das PROSEGUIR ein weiterer Erfolg. Sie hat viele ihrer Mitglieder und SympathisantInnen mit Land versorgt, sie hat für den Teil-Schuldenerlaß von 1996 gekämpft, sie hat mit USAID verhandelt, und ihr nahestehende NRO betreuen jetzt das PROSEGUIR-Programm mit der Perspektive, daß „ihre“ PTT-Begünstigten durch eine intelligente Aufteilung und Nutzung des eroberten Landes eines Tages doch aus dem ländlichen Massenelend herauskommen.
Mehr lag vielleicht nicht drin. Bei der Abfassung der Friedensverträge hat sich die FMLN jedenfalls damit begnügt, förmlich aber folgenlos festzustellen, daß sie nicht mit dem neoliberalen Rahmen für den Friedensprozeß einverstanden ist. Das Prinzip des unter allen Umständen freiwillig zu erfolgenden Landverkaufes im Agrarkapitel der Friedensverträge hat sie hingenommen. Der „Marsch für Land und Frieden“ im Dezember 1994, bei dem Teile ihrer Basis eine – durchaus verfassungskonforme – Enteignung von verkaufsunwilligen Alt-Eigentümern im öffentlichen Interesse und zu sozialem Nutzen forderten, kam ihr nicht gelegen. Die Landbesetzungen im Oktober 1995, mit denen Organisationen von Landlosen die Übergabe von Flächen über der verfassungsmäßigen Höchstgrenze von 245 ha privaten Landeigentums forderten, auch nicht.
Mit dem Frieden ist die Vorherrschaft des Privateigentums an Produktionsmitteln nach El Salvador zurückgekehrt. „Enteignung“, selbst mit Entschädigung, ist ein tabuisiertes Wort geworden, obwohl es seit 1983 in der Verfassung steht, die damals wohlgemerkt unter der Federführung des ARENA-Gründers und international bekannten Mörders Roberto D’Aubuisson erarbeitet wurde.
Aber das muß ja nicht so bleiben. Zu den Aktionsschwerpunkten der „Demokratischen Bauernallianz“ zählt auch eine Verfassungsreform, mit der die Höchstgrenze für privates Landeigentum wieder auf 100 Hektar gesetzt werden soll, wie es im ursprünglichen Agrarreformgesetz von 1980 vorgesehen war. Ana und Maria Eugenia jedenfalls haben nichts dagegen, wenn die steckengebliebene Agrarreform wieder auf die Tagesordnung kommt, zusammen mit der Schuldenstreichung auch für die Agrarreformkooperativen und Nachfolgeprogrammen zum PTT und zum PROSEGUIR, die eventuell aus Parzellenwirtschaften solide Genossenschaften machen.

„Und deshalb machen wir unsere eigene Versammlung…“

LN: Die CONAIE setzt sich seit vielen Jahren für die verfassungsrechtliche Anerkennung Ecuadors als plurinationalen Staat ein. Während des großen Indígena-Aufstandes 1990 von der Rechten als erster Schritt zum Untergang des Staates als Schreckgespenst an die Wand gemalt, ist der Begriff des Estado Plurinacional heute in aller Munde und unter potentiellen Präsidentschaftskandidaten quer durch die Parteien ein beliebtes Mittel, die große Wählerschaft der indigenen Bevölkerung auf sich aufmerksam zu machen. Inwiefern hat sich die Rezeption des Konzeptes „plurinationaler Staat“ in den letzten Jahren verändert?
Yumbai: Enorm. Seit den 80er Jahren fordert die CONAIE eine Versammlung zur Verfassungsreform (Asamblea Nacional Constituyente), um Veränderungen durchzusetzen, die etwas mehr mit der konkreten Realität zu tun haben, in der wir leben. In Ecuador gibt es die unterschiedlichsten Nationalitäten. Wir betrachten Nationalität als besonderes Recht eines jeden indigenen Volkes auf ihre Territorien und ihre Sprache. Aber nicht mit dem Ziel, uns vom Staat abzuspalten. Andererseits reicht es nicht, das Wort Plurinationalität in die Verfassung aufzunehmen, wir brauchen weitreichende gesellschaftliche Reformen.
LN: In den letzten Monaten ist in der Öffentlichkeit intensiv über formale Aspekte der Asamblea diskutiert worden, während inhaltliche Fragestellungen leider im Hintergrund blieben. Welche Erfolge verspricht sich die CONAIE von der durch die Regierung für Dezember angesetzte Versammlung?
Yumbai: Wir haben immer eine Asamblea Nacional Constituyente gefordert, eine verfassungsgebende, nicht verfassungsverändernde Versammlung. Das und nichts anderes war der Kompromiß nach dem Rausschmiß Bucarams. Aber die Regierung und die wirtschaftlich Mächtigen haben kein wirkliches Interesse an einer Reform. Deshalb heißt die Asamblea jetzt nicht mehr Constituyente – so wie in der Volksabstimmung bestätigt – sondern nur noch Asamblea Nacional, was den Weg frei macht für zahlreiche Manipulationen.
Unsere Vorstellung dieser Versammlung ist, daß alle Sektoren der Gesellschaft sich versammeln und Absprachen über die wichtigsten Themen treffen: Zum Beispiel ein neues ökonomisches Modell, denn der Neoliberalismus hat hier nichts gebracht; oder Stichworte wie Dezentralisierung und Plurinationalität. In Ecuador gab es bereits 18 Verfassungsreformen, ohne daß sich etwas verändert hat. Da muß einfach ein ganz neuer Ansatz her. Die Politiker wollen wieder nur an der Oberfläche kratzen. Und deshalb machen wir jetzt unsere eigene Versammlung. Wir planen eine Asamblea Nacional Constituyente für den 12. Oktober mit der Mehrheit der Organisationen und repräsentativen Sektoren – wie eine große Minga: die gemeinsame Arbeit für die Gemeinschaft. Wir werden das ganze Land mobilisieren und am 12. Oktober symbolisch die Haupstadt Quito besetzen.
LN: Versteht Ihr Eure Versammlung als ein Vorbereitungsgremium oder eine Parallelveranstaltung?
Yumbai: Weder noch. Wenn wir es schaffen, die Unterstützung aller Sektoren zu bekommen, wer soll sich dann unseren Beschlüssen entgegensetzen und verhindern, daß sie in die Verfassung miteinfließen? Die Rechte glaubt doch, sie könnte in diesem Land tun und lassen, was sie will. Wenn wir tatsächlich breite Unterstützung bekommen – warum entheben wir dann nicht den Kongreß seiner Funktion und schicken die Abgeordneten nach Hause? Das Vertrauen in die Politiker ist sowieso ein für alle Mal verbraucht.
LN: Die Partei Pachakutik-Nuevo País ist aus der CONAIE hervorgegangen und hat mit den Wahlen im vergangenen Jahr Einzug in den Kongreß erhalten. Wie steht die CONAIE heute zu Pachakutik?
Guzmán: Man muß einfach deutlich unterscheiden zwischen der Bewegung und der Partei. Die CONAIE ist eine Massenbewegung, und da hat Pachakutik wenig zu sagen. Für die arme Bevölkerung ist sie keine wirkliche Alternative.
LN: Ex-Präsident Abdalá Bucaram hatte der indigenen Bevölkerung Ecuadors im Wahlkampf ein eigenes Ministerium versprochen, und Rafael Pandam, dem Vorsitzenden der Amazonasvertretung, den Ministerposten – und eine stattliche Summe Geld, wie sich später herausstellte. Im Gegenzug unterstützte dieser Bucarám in der Stichwahl gegen Jaime Nebot im Juli 1996, was zu einer tiefen Krise zwischen den regionalen Organisationen der CONAIE aus dem Amazonastiefland und der Sierra führte. Wie steht die CONAIE heute dazu?
Guzmán: Die ganzen Aktivitäten der Regierung Bucaram waren nichts als Schein, und auch das Ministerio Etnico-Cultural nur ein hohles Versprechen. Wir sind mit so einem Alibi-Ministerium grundsätzlich nicht einverstanden, und es ist schlimm, daß einige der Compañeros sich für so etwas hergeben.
LN: Im nächsten Jahr wird es vorgezogene Neuwahlen geben. Wen wird die CONAIE unterstützen? Was ist mit dem Journalisten und unabhängigen Kandidaten Freddy Ehlers, den die CONAIE bei den letzten Wahlen unterstützt hat?
Guzmán: Ich bin der Meinung, daß die sozialchristliche PSC und wir gegeneinander ins Rennen gehen. Die PSC hat einen ganz anderen Rückhalt in der Wirtschaft, und deshalb andere Möglichkeiten. Aber wir repräsentieren die Massen. Freddy Ehlers hat einige gute Ideen, aber ist noch lange kein Vertreter der indigenen Bevölkerung. Obwohl er beispielsweise für Plurinationalität eintritt, ist er gegen ein Moratorium für die Auslandsschuld und den Schutz der strategischen Bereiche der Wirtschaft. Er ist einverstanden, mit uns an die Macht zu kommen, sonst nichts.

KASTEN

Für Landreform und gegen Diskriminierung

Die CONAIE (Confederación de Nacionalidades Indígenas del Ecuador) wurde 1986 gegründet und versteht sich als Interessenvertretung der indigenen Gruppen Ecuadors. Sie umschließt die drei regionalen Unterorganisationen ECUARUNARI (gegründet 1972 und weiterhin größte Organisation des andinen Hochlandes), die CONFENAIE für die indigenen Gruppen des Amazonasgebietes und die COINCCE für die Küstenregion, welche seit kurzem auch die Interessen der afro-ecuadorianischen Bevölkerung vertritt. In den 60er und 70er Jahren lag das Hauptaugenmerk der Bewegung auf dem Kampf um Landrechte. Ab Ende der 70er Jahre veränderte sich parallel zu der Organisationsstruktur auch das Wirkungsfeld der Organe, die sich von nun an auch offensiv gegen Diskriminierung und für den Erhalt der indigenen Sprachen und Kultur einsetzten. Als übergreifende politische Organisation konnte die CONAIE eine kollektive Identität der indigenen Gruppen Ecuadors formulieren und etablieren. Als wichtiger Durchbruch wird der Verhandlungserfolg mit der sozialdemokratischen Regierung Borja von 1988 gewertet, der die Durchsetzung eines bilingualen Erziehungsprogrammes brachte.

KASTEN

Landesweite Straßenblockade als bewährte Form des Protestes

Im Juni 1990 folgten zehntausende dem Aufruf der CONAIE zu einem ersten landesweiten Indígena-Aufstand gegen drastische Preiserhöhungen im Zuge wirtschaftlicher Anpassung: Mehrere Tage lang waren die Hauptverkehrsachsen des Landes blockiert und der Verkehr flächendeckend lahmgelegt. Auch wenn die Regierung anfänglich versuchte, die Bedeutung der Zuvorkommnisse herunterzuspielen und der CONAIE subversives, fremdgelenktes Verhalten und Verrat am Staat vorwarf, mußte sie letztendlich die Bedeutung der indigenen Bewegung und der CONAIE zur Kenntnis nehmen. Seitdem hat die Indígena-Bewegung immer wieder in landesweiten Straßenblockaden ihre Stärke und Beharrlichkeit demonstriert, zuletzt am 11. und 12. August diesen Jahres, um gegen die Verschleppungstatik des Interimspräsidenten Alarcón im Hinblick auf die vereinbarte Asamblea Nacional zu protestieren.

Nach dem großen Schwindel

In seiner nur sechs Monate dauernden Amtszeit hatte der Präsident Abdalá Bucaram – “el loco” – des populistischen Partido Roldosista Ecuatoriano PRE alle Rekorde gebrochen: Keiner vor ihm hatte derart dreist in die eigene Tasche gewirtschaftet und seinen Clan in die Schlüsselpositionen des Landes gehievt. Keiner hatte so selbstherrlich regiert und dabei über den kurzen Publikumserfolg hinaus so wenig an längerfristigen Konzepten eingebracht. Keiner hatte so unverhohlen die Presse- und Meinungsfreiheit in Frage gestellt und so inkohärente, aber entgegen allen Wahlversprechen drastische wirtschaftliche Maßnahmen durchgesetzt.
Und so reichte ein halbes Jahr, um auch die Teile der Bevölkerung gegen sich aufzubringen, die in Bucaram in der Stichwahl Anfang Juli 1996 im Gegensatz zu dem Kandidaten des konservativen Partido Social Cristiano PSC, Jaime Nebot, das kleinere Übel gesehen hatten. Sie hatten damals seinen Wahlsieg mit 54 Prozent der Stimmen möglich gemacht – trotz der ihm von den Medien bescheinigten Irrationalität und “Verhaltensauffälligkeit”. “O nos salvamos o nos hundimos”: Entweder wir retten uns, oder wir gehen unter. Alles oder nichts.

Nichts als Ablabla

Aber Bucaram ließ seine Versprechen platzen wie Seifenblasen: von einer Milderung der neoliberalen Anpassung keine Spur, paternalistische und inszenierte Almosen statt struktureller Hilfe, Großaufträge gingen außer Landes, keinerlei Investitionssicherheit, und das versprochene Ministerio Étnico kränkelte ebenfalls vor sich hin. Als Inbegriff des Neureichen von der Küste, der sich gegen die alteingesessenen Eliten aufbäumt und seinen Platz beansprucht, konnte er mit seinem discurso vulgar und seinem machistischem Gehabe eine Zeit lang von seiner Planlosigkeit ablenken. Mit unerschütterlichem Selbstbewußtsein schaffte es Bucaram, gegen ihn gerichtete Kritik und Attakken in Stärken umzudeuten, sein selbstgebasteltes Image als loco machte ihn geradezu immun: nicht-endenwollende kitsch-triefende Auftritte als Sänger, Fußballspieler oder “Freund der Armen”, mit denen er um die Gunst der breiten Massen warb. Die staunende ecuadorianische Mittel- und Oberschicht sah darin den letzten Rest an nationaler Würde dahinschwinden. Abdalá, róbate el país, ¡pero no cantes! steht in großen Lettern auf einer Häuserwand in der Neustadt von Quito: Plündere ruhig das Land, aber sing bitte nicht!
Präsident Abdalá Bucaram wurde am 5. Februar wegen “geistiger Unfähigkeit” seines Amtes enthoben. Erst unmittelbar vor seinem politischen Ende dämmerte es ihm, daß seine Show zu Ende war, daß er die Massen nicht länger hinter sich, sondern gegen sich hatte, daß Gewerkschaften nicht mit kleinen Häppchen zufriedenzustellen sind und die Indígena-Bewegung nicht mit schnöden Versprechungen. Bucaram hatte sich selbst in einem atemberaubenden Schwindel in die absolute politische Isolation manövriert, “einsamer als die Charaktere von García Márquez” und unfähig, die Tatsachen um sich herum richtig zu deuten. Bereits seit Anfang Januar wurde im Kongreß eigentlich nur noch darüber diskutiert, wie man Abdalá am besten loswerden könnte. Daß ausgerechnet Parlamentspräsident Fabian Alarcón, der nur mittels eines Paktes mit Abdalá in den Kongreß und in sein Amt gelangt war, dessen Amtsenthebung vorantrieb und schließlich zum Interimspräsidenten ernannt wurde, lindert die Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verfahrens nicht gerade. Dennoch wurde die Entscheidung des Kongresses im Nachhinein bestätigt: Am 25. Mai befürworteten in einer Volksabstimmung rund 76 Prozent der Bevölkerung die Amtsenthebung Bucarams. Für die Ernennung Alarcóns als Übergangspräsidenten stimmten aber gleichzeitig nur 68 Prozent.

Fürs Fotoalbum mit weißer Weste

Alarcón ist seit jeher das Fähnlein im Winde, stets auf Allianzen zum eigenen Vorteil bedacht. Nun selbst im höchsten Amt, scheut er klare Entscheidungen und ist als Interimspräsident abhängig vom Kongreß beziehungsweise vom den Kongreß dominierenden PSC. Innenpolitisch ist sehr wenig passiert seit dem Rausschmiß Bucarams. Alarcón hält sich bedeckt und setzt auf Schadensbegrenzung, so weit das Erbe Bucarams dies erlaubt. Viele Bestimmungen der Regierung Bucaram wurden ausser Kraft gesetzt, wie zum Beispiel der drastische Wegfall von Subventionen zum Beginn des Jahres, in anderen Fällen wurde bei bereits unterzeichneten Verträgen nachverhandelt.
Zwar wurde eine Antikorruptionskommission ins Leben gerufen, und immerhin schloß der Kongreß siebzehn Abgeordnete wegen dringenden Korruptionsverdachts aus den eigenen Reihen aus. Aber es ist nicht schwer, Korruption mit Bucaram gleichzusetzen und selbst die Hände in Unschuld zu waschen. Auch bei seinem ersten Staatsbesuch in Paraguay zu Gesprächen über einen möglichen Beitritt Ecuadors in den Mercosur und das Protokoll von Rio de Janeiro war Alarcón ganz der Saubermann: eifrig bemüht, seinen rechtmäßigen Status zu unterstreichen und das Image Ecuadors zu kitten. Und was machen da schon die eine oder andere Anklage wegen Mißbrauchs öffentlicher Gelder im eigenen Lande…

Asamblea Light

Auch auf die zentrale Forderung der Massendemonstrationen vom 5. Februar war Alarcón vordergründig eingegangen: Die Einberufung eines Organs zur Überarbeitung der Verfassung war beschlossene Sache und durch die Volksabstimmung Ende Mai für dieses Jahr bestätigt. Doch dann ging die Diskussion um den Namen des Organs los: Asamblea Constituyente oder Asamblea Nacional? Dahinter verbirgt sich der Status der juristischen Kompetenz gegenüber Kongreß und Interimspräsidenten, und letztendlich wurde mit der Namensgebung Asamblea Nacional aus der Asamblea Constituyente eine Asamblea Light. In Ecuador ist es unter Velasco Ibarra bereits einmal dazu gekommen, daß eine verfassungsgebende Versammlung kurzerhand das Parlament aufgelöst hat, und da gingen die Abgeordneten doch lieber auf Nummer sicher.
Aber das war erst der Anfang. Während die sozialen Bewegungen auf eine schnelle Durchführung drängten, schienen die etablierten Parteien überhaupt keine Eile zu haben: lieber warten bis nach den Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr, um den schönen Wahlkampf nicht zu beeinträchtigen, und wer weiß, vielleicht ist die Zusammensetzung dann ja auch eine ganz andere… Entgegen der durch die Volksabstimmung bestätigten Fristen wurde im Kongreß ein Termin für Ende nächsten Jahres festgesetzt.

Entscheidungshilfen für Alarcón

An dieser Stelle war nun Alarcón gefragt, der gegen die Vorlage des Kongresses Veto einlegen und den mehrheitlich festgelegten Ablauf der Dinge hätte durchsetzen können. Mit einem landesweiten Streik am 11. und 12. August tat die CONAIE, die nationale Konföderation der Indígenas, ihren Unmut über die Verschleppungstaktiken kund und versuchte so, Alarcón, welcher sich hinter dem Meinungsbild im Kongreß versteckte, zu einem Veto zu zwingen. Letztendlich bedurfte es jedoch eines radikalen Sinneswandels von Jaime Nebot. Der Kopf des konservativen PSC setzte sich – auch zum Erstaunen seiner eigenen Parteikollegen – auf einmal vehement für die sofortige Durchführung der Nationalversammlung ein, um so Alarcón zu einer eindeutigen Stellungnahme, “dem Veto”, zu bewegen.
Nach einem weiteren vorläufigen Termin ist die Asamblea Nacional – derzeit – auf den 20. Dezember angesetzt, mit einer strikten Befristung auf drei Monate. Sie verfügt über weite Befugnisse zur Verfassungsreform, und die von ihr beschlossenen Änderungen werden direkt – ohne weitere Einflußmöglichkeiten seitens des Interimspräsidenten oder des Kongresses – übernommen. Die Mitglieder der Versammlung werden Mitte November gewählt, und da sie auch über die Zukunft des Kongresses und das präsidiale System befinden kann, hat der erbitterte Kampf um diese Ämter nun begonnen. Die Versammlung soll sich aus 70 Vertretern der Provinzen und 20 nationalen Vertretern zusammensetzen. Die von dem neomarxistischen Movimiento Popular Democrático MDP vorgeschlagene gemischte Personen- und Listenwahl soll die im Kongreß vorherrschenden Parteistrukturen aufbrechen und die Vertretung von Minderheiten gewährleisten. Als Wahlmodus innerhalb der Asamblea wurde die sogenannte autoregulación beschlossen, was bedeutet, daß das Organ selbst entscheidet, in welchen Fällen es mit einer einfachen oder mit einer zwei Drittelmehrheit beschlußfähig ist. Im schlimmsten Fall also langwierige Abstimm-Marathons über den Modus einer Abstimmung.

Was denn, Inhalte?

Dann ist ja jetzt alles in Ordnung: Die Versammlung hat einen Namen, ein Datum und einen Wahlmodus, die notwendige Gesetzesänderung zur Wahl der Abgeordneten ist auch schon fast auf dem Weg, aber halt – was war noch gleich mit den Inhalten? Fast drei Monate hat sich die Diskussion um technische Angelegenheiten hingezogen, und wenn die Erarbeitung von inhaltlich – programmatischen Vorlagen auch nur annähernd so vor sich hinkriecht, sind die drei Monate der Asamblea um, bevor es zur ersten Abstimmung gekommen ist. Lange Zeit hatte nur die Indígena-Organisation CONAIE ein regelmäßiges Forum, in denen mögliche Tagesordnungspunkte der Nationalversammlung und Stellungnahmen diskutiert werden. Außerdem hat die CONAIE im Rahmen der Koordinierung sozialer Bewegungen zusammen mit den Gewerkschaften für Oktober ein eigenes Vorbereitungsgremium angekündigt. Auch die anderen Parteien fangen jetzt langsam an, schon mal Schlagworte zu verbreiten. Die Vorstellungen reichen von leichten Korrekturen bis zu einer radikalen Überarbeitung der Verfassung, zum Beispiel im Hinblick auf das Präsidialsystem. Die öffentliche Debatte um die Agenda der Asamblea aber ist im Gerangel um die technischen Daten vollkommen zu kurz gekommen.
Dabei steht die Verfassungsreform seit langem auf der Tagesordnung und ist besonders im Präsidentschaftswahlkampf vergangenen Jahres durch den von Indígenas und Gewerkschaften unterstützten Kandidaten Freddy Ehlers zu einem zentralen Thema geworden. Ehlers’ Hauptforderungen waren zum einen die Anerkennung Ecuadors als plurinationaler Staat und zum anderen die sogenannte “Unberührbarkeit” der als strategisch erachteten Sektoren wie Erdöl, Telekommunikation und Elektrizität. Die Debatte um den plurinationalen Staat, die 1990 während des ersten landesweiten Indígena-Streiks noch mit separatistischen Tendenzen und der Auflösung des ecuadorianischen Nationalstaates in einen Topf geworfen wurde, hat in den vergangenen Jahren breiten Rückhalt – auch in Teilen der nicht-indigenen Bevölkerung – bekommen. Eine Änderung der Verfassung in diesem Sinne würde für Ecuador einen riesigen Schritt in Richtung Anerkennung von Minderheiten und politische Partizipation bedeuten. Eine starke Dezentralisierung der Entscheidungskompetenzen sowie der Privatisierungsprozeß und im besonderen die Sozialversicherung werden wahrscheinlich weitere Hauptthemen der Asamblea Nacional sein.

Dieselben Kulissen

Nach Meinung des Soziologen Hernán Ibarra vom Centro Andino de Acción Popular CAAP wird sich in der Asamblea die Zersplitterung der politischen Parteien widerspiegeln, die auch den Kongreß immer wieder manövrierunfähig macht. (Ecuador verfügt über siebzehn Parteien bei rund fünf Millionen WählerInnen.) Damit bleibt das grundsätzliche Problem bestehen: Wie kann durch die Veränderung der Konstitution eine Veränderung der Politik erreicht werden? Zwar können größere Spielräume für Staatsbürgerrechte festgeschrieben werden, ohne politische Bereitschaft sind diese jedoch nutzlos.
Es scheint, als ob das politische System Ecuadors zu verhakt und starr ist, um sich selbst zu reformieren. Die landesweite Indígenabewegung – seit den Wahlen 1996 mit der aus ihr hervorgegangenen Partei Pachakutik-Nuevo País erstmals im Parlament vertreten – bleibt die dynamische Ausnahme im Polit-Establishment. Ihre Errungenschaften in den letzten Jahren sind zweifellos wichtige Impulse auch für andere Gruppierungen, selbst wenn es im Hinblick auf Pachakutik starke Meinungsverschiedenheiten gibt.
Die Zivilgesellschaft hat sich im Februar als mächtiger Akteur gezeigt, der nicht länger bereit ist, Clownereien auf seine Kosten durchgehen zu lassen. Mit dem Rausschmiß Bucarams ist der Showmaster außer Landes, bei genauerem Hinsehen erweisen sich die Kulissen jedoch als dieselben. Armut weiter Teile der Bevölkerung, Korruption in unvorstellbaren Ausmaßen und Politiker, die in ihrem alltäglichen Klein-Klein untereinander jegliche Beschäftigung mit zukunftsweisenden Projekten für das Land aus den Augen verloren haben – diese Gründe, die Abdalás Wahlsieg als Akt der Verzweiflung möglich gemacht haben, sind nach wie vor präsent. Abdalá hat Korruption, populistisches Gehabe und die “Unregierbarkeit” des Landes auf die Spitze getrieben, erfunden hat er sie jedoch nicht.
Die großen Hoffnungen auf bahnbrechende Veränderungen und ein “Neues Land” nach der Verfassungsreform sind durch den langatmigen und schwerfälligen Prozeß der Umsetzung stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Schon jetzt werden die ersten Unkenrufe laut: der Post-Asamblea-Frust kommt bestimmt. Also vom Post-Bucaramato in die Post-Asamblea-Analyse? Wann endlich kommt der Wechsel in vorwärtsgerichtete Visionen, wann der Spielraum für die im Land vorhandenen Gesellschaftsentwürfe?

Zapatistas in der Hauptstadt

Vom 8.-12.10. fand der Congreso Nacional Indígena (CNI) im Zentrum von Mexiko-Stadt statt. VertreterInnen von über dreißig der 56 indigenen Völker Mexikos kamen zusammen, um Mißstände anzuprangern und einen Katalog von Forderungen für eine “neue, würdige Verfassung” zu formulieren. “Mexiko niemals mehr ohne uns!”, hieß das Motto. Die Eröffnungsveranstaltung lief eher verhalten und ohne Überraschungen ab. Forderungen nach mehr Autonomie und Demokratie wurden wiederholt. Die aktuelle Situation der indigenen Völker wurde allerdings zunächst wenig konkret diskutiert. Dies lag nach dem Bekunden einiger Delegierter vor allem an der Tatsache, daß sich unter den Teilnehmern auch einige Kaziken befanden, die für ihre Dienstbarkeit gegenüber der PRI auf der einen und ihre Grausamkeit gegenüber der Bevölkerung oppositioneller indigener Dörfer andererseits bekannt sind.

Schlappe für die Staatspartei

Das Augenmerk der Medien hatte der CNI allerdings hauptsächlich deshalb erregt, weil im Vorfeld des Kongresses hitzig darüber diskutiert wurde, ob es den Rebellen des EZLN gestattet werden solle, eine Delegation zum CNI nach Mexiko-Stadt zu senden. RegierungsvertreterInnen wurden nicht müde zu betonen, daß das Gesetz über den Dialog Reisen von Mitgliedern des EZLN außerhalb Chiapas verbiete. Sie kündigten die sofortige Verhaftung einer zapatistischen Delegation auf dem Weg in die Hauptstadt an. Doch schließlich ging es doch. Die Forderung der Zapatistas nach einer Möglichkeit zur Teilnahme am CNI, der von der EZLN selbst mitinitiiert worden war, wurde von breiten Teilen der Bevölkerung unterstützt. Die PRI mußte schließlich widerwillig nachgeben. Anders als von vielen erwartet, war es dann aber nicht der Subcomandante Marcos oder ein anderer der bekannteren Zapatista-Führer, der in die größte Stadt der Welt aufbrach, sondern die Comandante Ramona, eine Tzotzil, die zuletzt in der ersten Runde der Friedensverhandlungen in San Cristóbal 1994 in der Öffentlichkeit erschienen war. Eine schwere, unheilbare Krankheit hatte sie in den letzten beiden Jahren daran gehindert, an den weiteren Verhandlungen teilzunehmen; nun jedoch hatte sich die Comandante dafür entschieden, vor ihrem Tode noch einmal im Namen der EZLN mit anderen Indigenas zusammenzutreffen.
Die Ankündigung, daß die EZLN tatsächlich eine Delegierte zum CNI schicken würde, war noch nicht verhallt, da wurden die Stellungnahmen der Kongreßteilnehmer bereits konkreter und weniger verhalten. Offenbar flöste diese Schlappe für die PRI den Delegierten der einzelnen Völker Mut ein und so kam es am Freitag und Samstag doch noch zu deutlichen Anklagen und Forderungen, die zuvor in verschiedenen, thematischen Kommissionen erarbeitet worden waren.
Am Freitag, Comandante Ramona nahm an diesem Tag lediglich beobachtend am Kongreß teil, äußerten sich die Delegierten ganz offen zur Existenz von Todesschwadronen, der wachsenden Militarisierung, die durch Raubbau entstehenden Umweltschäden und anderen Problemen, mit denen die indigenen Gemeinden des Landes zu kämpfen haben. Dem wurde die Forderung nach Schaffung eines wirklichen Rechtsstaates, der die Praxis des Verschwindenlassens, die Vergewaltigungen, den Amtsmißbrauch und die Folter durch die örtlichen Polizeitruppen verfolgen müsse, entgegengestellt. Wie deckungsgleich die Forderungen des CNI mit jenen der EZLN sind, machte ein Aufruf der CNI-Delegierten deutlich. Ausdrücklich schlugen sie die Annahme der von der EZLN im Dialog von San Andrés Larráinzar aufgestellten Demokratisierungsforderungen vor.
Als eine besonders wichtige Forderung für das Überleben der indigenen Völker wurde die Rückkehr zur ursprünglichen Form des Artikels 27 der Verfassung erhoben. Dieser Artikel, einer der Grundpfeiler der mexikanischen Verfassung von 1917, schützte das kommunale Eigentum an Land, über das viele indigene Dörfer verfügen. Salinas hob 1992 in einer Verfassungsreform diesen Schutz vor einer Privatisierung des Ackerlandes auf, und erklärte andererseits die Agrarreform für vollendet, obwohl noch Hunderttausende von landlosen campesinos auf den Wartelisten für Landzuteilungen stehen. Eine jüngst herausgegebene Studie des Nationalen Instituts für Ernährung (INN) verleiht der Forderung nach angemessener Landzuteilung Nachdruck. “Die Landkarte der Mangelernährung in Mexiko stimmt haargenau mit den von Indígenas besiedelten Zonen überein”, so Kirsten A. de Appendini vom Colegio de México. Mit einer gerechten Landverteilung allein könne das Problem zwar nicht beseitigt, zumindest aber entschärft werden.

“Legitimes Recht auf Rebellion”

Thematisiert wurde das Recht auf Rebellion, das sich die indigenen Völker angesichts der “schlechten Regierung” vorbehalten. Zwar seien die indigenen Völker keine Separatisten, sondern von ganzem Herzen Mexikaner. Doch solange dies von der anderen Seite ignoriert werde, und die indigenen Gemeinden weiterhin in einem Zustand der Fremdbestimmung, Rechtlosigkeit und Militarisierung lebten, würden die indigenen Völker ihrerseits nicht auf das Recht verzichten, eine Veränderung der Regierungsform – notfalls mit Gewalt – anzustreben. Die Regierung müsse sich darauf einrichten, daß Mexiko am Tor des neuen “Stadiums der sechsten Sonne” (alte indigene Zeitrechnung) stünde und sich der Lauf der Geschichte zu ändern beginne.
Am Ende des Kongresses stand am Freitagabend eine Resolution, in der die Comandante Ramona sich für die Wiederaufnahme der (von der EZLN am 2. August, aufgrund zunehmender Repression durch die Bundesarmee ausgesetzten) Friedensgespräche und einen breiten nationalen Dialog aussprach, sowie für ein Abschlußkommuniqué der versammelten Delegierten.
Das Kommuniqué bekräftigt den Wunsch auf ein “harmonisches Mexiko, in dem alle ihren würdigen Platz finden” und weist darauf hin, daß es sich dazu als notwendig erweisen wird, der Welt zu zeigen, daß es sich bei den Indígenas um eine Vielfalt von Völkern handele. Nur so könne erreicht werden, daß der mexikanische Staat das Recht der demokratischen Selbstbestimmung jedes einzelnen dieser Völker in einer pluralistischen Gesellschaft akzeptiere.
Das Dokument schließt mit einer Anklage der neoliberalen Politik. Da eine solche Politik darauf abziele, die ganze Welt in einen großen Markt zu verwandeln, sei die Beseitigung der widerstehenden Kulturen programmiert.

“Niemals mehr ohne uns”

Am vergangenen Samstag ergriff dann die EZLN-Delegierte Comandante Ramona das Wort bei einer Großkundgebung auf dem Zócalo, der Hauptstadt. Vor einigen tausend Sympathisanten verkündete Ramona ihre Botschaft. Nach einigen Grußworten in spanischer Sprache fuhr die Comandante in ihrer eigenen Sprache, Tzotzil, fort. Und es war mehr die Tatsache, daß zum ersten Mal vor dem Regierungspalast der Diskurs der Opposition seinen Ausdruck in Tzotzil fand, als die Botschaft an sich. Bischof Samuel Ruiz äußerte sich von seiner Diözese in Chiapas aus sehr zuversichtlich, was die Anwesenheit der Comandante Ramona auf dem Zócalo anging: “Endlich haben die Indígenas eine Plattform, von der aus sie Gehör finden”.
Comandante Ramona, die zeitweilig gestützt werden mußte, sprach sich in ihrer kurzen Rede im Namen der EZLN für die Fortsetzung des Dialogs aus. Die EZLN sei bereit, sich an einem großen nationalen Dialog zu beteiligen und appellierte an die Anwesenden, den “Zapatisten auf dem Weg dorthin so zu helfen, wie ihr auf dem Weg in die Hauptstadt geholfen worden” sei. Nie wieder solle es ein Mexiko ohne die indigenen Völker geben. Nach ihrer kurzen Ansprache und noch bevor die Veranstaltung zuende war, begab sich Comandante Ramona, die nach offiziellen Angaben schwer nierenkrank ist, zur Behandlung und weiteren Beobachtung ihrer Erkrankung in eine Klinik.
Mittlerweile haben EZLN und die parlamentarische Vermittlungskommission COCOPA im chiapanekischen Dorf La Realidad ein weiteres Treffen anberaumt, auf dem über eine Fortsetzung der Friedensgespräche verhandelt werden soll. Nach Angaben der EZLN könnte an diesen Gesprächen auch der Sub, der sich in den letzten Wochen nur wenig in der Öffentlichkeit gezeigt hatte, teilnehmen.

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