Wirtschaftsreformen in Kuba – Konturen einer Debatte

Der Vizedirektor des Zentrums für Ame­rikastudien in Havanna, Julio Carranza Valdés, nimmt mit seinem einführenden Beitrag vom November 1992 eine Be­standsaufnahme der Krise der kubani­schen Wirtschaft vor. Den Beginn der Krise datiert er auf Mitte der achtziger Jahre. Das Zusammenspiel von externen und internen Faktoren ließ die kubanische Wirtschaft in einen Abwärtsstrudel gera­ten, der bis dato noch nicht gebremst wer­den konnte.
Eine Verschlechterung der Wirtschaftsbe­ziehungen zum Westen, mit dem Kuba trotz der Einbindung in den Rat für gegen­seitige Wirtschaftshilfe (RGW) in den siebziger Jahren noch ca. 40 Prozent sei­nes Außenhandels abwickelte, stand dabei am Beginn dieser Entwicklung. Die Ver­schärfung der Blockade seitens der USA ist in diesem Zusammenhang nur eine von mehreren Ursachen. Besondere Erwäh­nung verdient dabei das von den USA verhängte Importverbot für mit kubani­schem Nickel hergestellte Produkte, be­sitzt Kuba doch ca. 37 Prozent der welt­weiten Nickelreserven. Auch der Fall der Ölpreise ab 1985 traf Kuba hart, denn mit dem Reexport von überschüssigem so­wjetischen Erdöl erzielte das Land in den Jahren 1983-85 40 Prozent seiner Deviseneinnahmen. Beim wichtigsten Exportpodukt Zucker waren aufgrund un­günstiger klimatischer Verhältnisse eben­falls beträchtliche Produktionsrückgänge zu verzeichnen. Diese externen Faktoren fanden in einer sinkenden internen wirt­schaftlichen Effizienz ihre unheilvolle Er­gänzung, die der Autor auf das von den sozialistischen Bruderländern übernom­mene Modell des extensiven Wachstums zurückführt.
Importabhängige Wirtschaft
Dieses Modell erfordert ein hohes Import­niveau, trieb entsprechend die Auslands­verschuldung in die Höhe und in Verbin­dung mit der 1982 ausbrechenden Ver­schuldungskrise Kuba in die Zahlungs­krise. Die Neuverhandlung der Schulden scheiterte, Konsequenz war die Einstel­lung des Schuldendienstes seitens Kuba und der Kreditvergabe seitens der Gläubi­ger. Die weitere Verlagerung der Han­delsbeziehungen in Richtung Ostblock war damit durch die Devisenknappheit vorgezeichnet und wurde 1986 von Regie­rungsseite auch offiziell proklamiert. 1987 wickelte Kuba bereits 88,5 Prozent seines Handels mit sozialistischen Staaten ab, allein 70 Prozent mit der UdSSR.
Die starke Ausrichtung auf die sozialisti­schen Länder wurde durch die nicht absehbare Entwicklung in der UdSSR und den restlichen RGW-Staaten zum Schlag ins Kontor. Kuba verlor dadurch “nicht nur einen günstigen Handelsraum, son­dern eine umfassende wirtschaftliche Ein­bindung.” Die von 8,139 Mrd. USD im Jahre 1989 auf 2,2 Mrd. USD im Jahre 1992 gesunkene Importkapazität be­schreibt das Ausmaß dieser Entwicklung.
Neuorientierung der Wirtschaftsstrategie
Die erforderliche Neuorientierung hat nach Carranza Valdés drei Aufgaben zu bewältigen: Eine Anpassung der Wirt­schaft an die neuen Bedingungen und die Eingliederung in den Weltmarkt auf neuen Grundlagen sowie eine effizienzsteigernde Reorganisierung der Wirtschaft.
Der Rückgang der Importkapazität ließ die Importe von ca. 8 Mrd. US Dollar im Jahre 1989 auf ca. 4 Mrd. US Dollar im Jahre 1991 sinken. Angesichts der im­portabhängigen Wirtschaftsstruktur war ein Einbruch der Produktion unvermeid­lich. Der kleinere Kuchen wiederum macht Einschränkungen auf der Vertei­lungsebene unumgänglich. Die soziale Versorgung ist davon ebenso betroffen wie der private Konsum und die staatli­chen Investitionen.
Eine Steigerung der Importkapazität kann angesichts der existierenden Kreditsperre nur über eine Ausweitung der Devisen­einnahmen erfolgen. Nichttraditionelle Exporte im Bereich der Pharmaindustrie und von medizinischer Ausrüstung auf mikroelektronischer Basis sowie der Aus­bau des Tourismussektors gelten als Hoff­nungsträger im Rahmen dieser Strategie. Dennoch macht Carranza deutlich, daß Kuba auch bei einer günstigen Entwick­lung zumindest mittelfristig mit einge­schränkten Importmöglichkeiten leben muß. So hält er zusätzlich eine Neuver­handlung der Auslandsverschuldung und Effizienzsteigerungen im Bereich der Produktion und des Handels für “überlebensnotwendig”.
Ausländisches Kapital
als Notlösung
Das in Kuba vorhandene Potential an in­dustrieller Infrastruktur mitsamt hochqua­lifizierten Arbeitskräften kann wegen Ka­pitalmangels, veralteter Technologie und fehlenden internationalen Absatzmärkten bisher nicht ausgeschöpft werden. Trotz der eingeräumten Risiken, die Carranza vor allem im Aufkommen einer dualen Struktur eines dynamischen, effizienten Sektors auf ausländischer Kapitalbasis ei­nerseits und eines hinterherhinkenden in­ländischen Sektors andererseits sieht, gibt es keine Alternative zur Öffnung gegen­über dem ausländischen Kapital. Als Knackpunkt für die Verbindung der Aus­landsinvestitionen mit dem internen Sek­tor und für eine integrale Wirtschafts­reform insgesamt sieht er denn auch die “Neuordnung der Wirtschaft unter einem neuen System der Wirtschaftslenkung”. Wie dieses System aussehen könnte, ver­mag der Autor allerdings nicht zu konkre­tisieren.
Über dieses neue System der Wirt­schaftslenkung schweigt sich auch Fidel Castro in seiner Rede zur Legalisierung des US-Dollars zum vierzigsten Jahrestag des Revolutionsbeginns am 26. Juli 1993 aus. Er beschreibt all die widrigen Ereig­nisse, mit denen Kuba seit 1989 konfron­tiert wurde, insbesondere den Verfall des sozialistischen Lagers, und ihre Auswir­kungen in bemerkenswerter Offenheit. Of­fen bleibt aber auch, mit welcher Strategie damit umgegangen werden soll. Die ku­banische Politik sei, so Castro, Sachzwän­gen ausgeliefert. An erster Stelle steht da­bei die Notwendigkeit, die Devisenein­nahmen massiv zu steigern. Oberstes Ziel sei es, “das Vaterland, die Revolution und die Errun­genschaften des Sozialismus zu retten.” Die Reformmaßnahmen stehen je­doch nicht in einem problem­über­grei­fen­den Gesamtkonzept. Ein solches ist schlicht nicht existent. Ob angesichts der Extrem­situation, in der sich Kuba befin­det, ein langfristiges Konzept im Moment imple­mentiert werden könnte, steht indes­sen auf einem anderen Blatt. Wie die Sonderperi­ode in Friedenszeiten jedoch ein Ende fin­den soll, ohne daß ein Ge­samtkonzept in­klusive eines neuen Sy­stems zur Wirt­schaftslenkung entwickelt wird, darauf bleibt auch Castro die Ant­wort schuldig.
“Sommer der Reform”
Die Freigabe des Dollars leitete einen “Sommer der Reform” ein, der im Mittel­punkt des Beitrags des renommierten Kuba-Kenners Carmelo Mesa-Lago von der Universität Pittsburgh steht. Neben der Legalisierung des Devisenbesitzes wurde selbständige Arbeit auf eigene Rechnung grundsätzlich erlaubt. Dazu berechtigt sind Staatsangestellte in ihrer Freizeit, ar­beitslos gewordene ArbeiterInnen aus Staatsbetrieben sowie RentnerInnen, Be­hinderte und Hausfrauen. Nicht nur der Personenkreis, sondern auch die Tätig­keiten sind eingeschränkt. Der Dienstlei­stungsbereich überwiegt bei den 117 zu selbständiger Arbeit zugelassenen Beru­fen. Mesa-Lago sieht darin eine Legalisie­rung von Tätigkeiten, die ohnehin aus­geübt wurden und werden, ob nun mit oder ohne Billigung des Staates. Bei einer geschätzten Zahl von inzwischen 1,5 bis 2 Millionen mit oder ohne Registrierung auf eigene Rechnung arbeitenden Personen scheint eine Überwachung kaum durch­führbar. So bleibt für viele die Versu­chung groß, sich nicht registrieren zu las­sen. Zum einen büßen Arbeitslose bei Re­gistrierung einen Teil ihrer staatlichen Zuwendungen ein, zum anderen könnte eine Registrierung bei einer veränderten Politik die Enteignung nach sich ziehen.
Mit einer seit September 1993 diskutierten Landwirtschaftsreform werden drei Ziele verfolgt: Die obligatorische Ef­fi­zienz­stei­ge­rung, eine Schaffung von Arbeitsanrei­zen, um mit geringstmögli­chem Ressour­ceneinsatz einen Produkti­onszuwachs zu erzielen sowie die Selbst­finanzierung und Selbstversorgung der landwirtschaftlichen Produktionseinhei­ten. Die Reform soll zwei Ebenen betref­fen. Zum einen geht es um die Umwand­lung der staatlichen Be­triebe in Genossen­schaften. Diese bleiben dabei unter Kontrolle des Staates und müssen ihre Über­schüsse zu staatlich be­stimmten Konditio­nen an denselbigen veräußern. Die zweite Ebene betrifft bis­her ungenutzte Kleinflä­chen. Sie können künftig an RentnerInnen oder “Personen, die aus gerechtfertigten Gründen nicht in der Lage sind, in der Landwirtschaft zu arbeiten” zum Zwecke der Selbstversor­gung vergeben werden. Wer unter die zweite Kategorie fällt, ist nicht klar, Mesa-Lago vermutet Staatsan­gestellte im Nichtagrarsektor.
Der Versuch der kubanischen Führung, mit marktorientierten Veränderungen die Errungenschaften des Sozialismus zu ret­ten, ohne die Marktwirtschaft einführen zu wollen, hält Mesa-Lago indessen für zum Scheitern verurteilt. Er begründet dies mit dem fortgesetzten Verfall der kubanischen Wirtschaft trotz bisher eingeführter Re­formmaßnahmen und mit ihren negativen Folgen für die Regie­rung, beispielsweise der wachsenden Un­gleichheit in der Be­völkerung und der zu­nehmendem Bedeu­tung des informellen Sektors. An der Marktwirtschaft führt laut Mesa-Lago kein Weg vorbei – nur ob der Übergang weiterhin friedlich oder gewalt­sam bis hin zum Bürgerkrieg verläuft, hält er für of­fen.
Joint-Ventures
als Hoffnungsträger
Joint-Ventures wird im Rahmen der aktu­ellen wirtschaftspolitischen Maßnahmen ein großer Stellenwert eingeräumt. Zwei AutorInnen beschäftigen sich mit dieser Thematik, so zunächst Robert Lessmann von der Universtät Wien. Aufgrund der Unklarheit, welche Kooperationsformen unter den Begriff Joint-Venture gefaßt werden, bezieht er sich vorwiegend auf Unternehmen mit ausländischer Kapital­beteiligung, die sogenannten empresas mixtas. Diese Mischunternehmen führen ihre Transaktionen ausschließlich in frei konvertierbarer Währung durch. Da somit auch die Ausgaben in frei konvertierbarer Währung anfallen, macht eine Produktion für den Binnenmarkt wenig Sinn. So pro­duzieren die meisten denn auch für den Exportsektor oder für den Dollarsektor des Binnenmarktes. Steuerrechtliche und ar­beitsrechtliche Sonderkonditionen räumen den Mischunternehmen nach Lessmann selbst im internationalen Vergleich her­vorragende Bedingungen ein. Die meisten Joint-Ventures befinden sich im hand­werklichen und kleinindustriellen Bereich. Von größerer Bedeutung sind jedoch die Joint-Ventures im Bereich der Grundstoff­industrie und des Tourismus. Bei ersterer sind Joint-Ventures vor allem bei der Su­che nach Erdölvorkommen und der Mo­dernisierung der Nickelindustrie gefragt. Auch ist angedacht, im Tausch gegen Rohöl Mexiko und Kolumbien die Nut­zung von überschüssigen Raffineriekapa­zitäten in Kuba anzubieten. Am erfolg­reichsten und dynamischsten verlief die Entwicklung bisher im Tourismussektor. 20 Joint-Ventures trugen dazu bei, dßaß der Tou­rismussektor zur zweitgrößten Devisen­quelle heranwuchs. Da die Joint-Ventures erst in den neunziger Jahren ver­stärkt auftauchten, hält der Autor eine Er­folgsprognose für verfrüht, sieht in ihnen aber einen potentiell wichtigen Beitrag zur Dynamisierung der Volkswirtschaft.
Gesellschaftliche Auswirkungen von Joint-Ventures
Die sozialen Folgen der Joint-Ventures thematisiert Gillian Gunndie (Professorin an der Georgetown-University) anhand mehrerer Fallstudien und Interviews. Die Interviews mit kubanischen Parteiführern, einschließlich Fidel Castros, machen deutlich, daß die kubanische Führung sich der Problematik der Folgen steigender Auslandsinvestitionen bewußt ist. Den­noch gibt es laut Castro “keine andere Wahl, als (…) die Verbindung mit jenen ausländischen Unternehmen zu suchen, die Kapital, Technologie und Märkte an­bieten können.” Die Konsequenzen blei­ben laut Castro spekulativ.
Die Fallstudien spielen mit der Ausnahme der “Curaçao Drydock Company” (CDM)-Werft in Havanna im Tourismusbereich. Positiven Effekten wie steigenden Devi­seneinnahmen und der Schaffung von Ar­beitsplätzen stehen eine Aushöhlung des kubanischen Gleichheitsethos durch das Entstehen einer neuen ArbeiterInnenelite und das Aufkommen von nationalistischen Ressentiments wegen des Zugangsverbots zu Joint-Venture Hotels gegenüber. Das zum September 1992 gezogenen Fazit der Autorin fällt knapp positiv aus: “Untergraben ausländische Investitionen das kubanische System? Noch nicht.”
Kubas Transition
Die Öffnung und Reform (apertura) der kubanischen Wirtschaft analysieren Pedro Monreal und Manuel Rúa del Llano, Mit­arbeiter des Zentrums für Amerikastudien in Havanna. Die institutionellen Verände­rungen in Kuba stehen im Zentrum ihrer Überlegungen. Diese Veränderungen könnten aus sich heraus den derzeitigen Dualismus im kubanischen Wirtschafts­system mit dem “System der Wirtschafts­lenkung und Planung” einerseits und der Marktorientierung im Außenhandel, beim Tourismus und hinsichtlich der Auslands­investitionen andererseits, überwinden.
Zwei Variablen weisen sie eine Schlüssel­rolle zu. Neben Wachstum und Export­diversifizierung wird der Erschließung neuer, externer Finanzierungsquellen Prio­rität eingeräumt. Die institutionellen Transformationen innerhalb der Wirt­schaftsreform verlaufen zweigleisig. Unter die organisatorischen Transformationen fallen Veränderungen in der Form und der Funktionsweise der Wirtschaftsakteure sowie Änderungen in der staatlichen Struktur. Damit ist die Gründung von Ak­tiengesellschaften ebenso gemeint, wie der Aufbau einer Infrastruktur für Handel und Finanzgewerbe, Preisreformen oder der wachsende Einfluß von Nicht-Regie­rungs-Organisationen. Die normativen Transformationen umfassen die Verände­rungen in der Gesetzgebung und in den administrativen Normen. Die Verfas­sungsreform vom Juli 1992 und zahlreiche Gesetzesdekrete, Resolutionen und ergän­zende Regelungen sind Beispiele hierfür. Mit der erwähnten Verfassungsreform se­hen die Autoren den Beginn einer neuen Phase bei den normativen Transformatio­nen, denn erstmals wurde die Öffnung über den Exportsektor hinaus auf den Binnensektor ausgeweitet. Neue Konzepte in den Bereichen des Eigentums und sei­ner Übertragung und bei der Rolle des Staates in der Wirtschaftsplanung und -ausführung sind beispielgebend. Die Le­galisierung des Devisenbesitzes ein Jahr später stellt einen weiteren Schritt dar. Aus den bisherigen Erfahrungen mit der apertura ziehen sie überraschend optimi­stische Schlußfolgerungen. Die Notwen­digkeit einer umfassenden Wirtschafts­reform bleibt unbestritten, aber durch die apertura seien günstigere politische Vor­aussetzungen für diese geschaffen wor­den: “Zum einen das notwendige Ver­trauen der politischen Entscheidungsträger in ihre Fähigkeit, einen Prozeß institutio­neller Reformen durchführen und unter Kontrolle halten zu können – und zum an­deren die Idee, daß die Konzentration der politischen Macht einhergehen kann mit marktorientierten Wirtschaftsreformen.”
Dieser Optimismus fehlt bei den kulturel­len Einschüben indes völlig. Das Gedicht eines anonymen Autors, Liedtexte der beiden populären Sänger Carlos Varela und Pedro Luis Ferrer haben ebenfalls die ökonomische Situation zum Thema. Drastisch werden darin die Auswirkungen der Krise auf die soziale und moralische Substanz der Gesellschaft geschildert. Sie sind auch nicht als Auflockerung gedacht, sondern sollen als Beispiele ge­sellschaftliche Gegenreaktionen anschau­lich machen. Der letzte Song “Hay mucha gente huyendo” (Es gibt viele Leute, die fliehen) von Pedro Luis Ferrer verleiht dem Band zusätzliche Aktualität. Eine Aktualität, die mit einem bis Mai 1994 reichenden Informationsstand für ein Buch ohnehin schon bemerkenswert ist.

Ein Stolpern auf dem Weg zur neuen Verfassung

Im “Pakt von Olivos” (Vorort der Haupt­stadt, Wohnsitz des Präsidenten) hatten Menem und Alfonsín im November ver­gangenen Jahres nach wochenlangen Aus­einandersetzungen ihre Zusammenarbeit bei der Verfassungsreform besiegelt (vgl. LN 235). Gemeinsam haben Menems PJ mit 37 Prozent und Alfonsíns UCR mit 20 Prozent jetzt zwar die Mehrheit in der Verfassunggebenden Versammlung; da die Wahlbeteiligung aber trotz Wahl­pflicht bei nur 70 Prozent lag und fünf Prozent der Stimmen ungültig waren, ha­ben sich insgesamt nur etwa 40 Prozent der ArgentinierInnen für das Reformpro­jekt plus Wiederwahl ausgesprochen. Die Frente Grande hat es aber geschafft, sich mit insgesamt 12 Prozent als ernstzuneh­mende Konkurrenz zu etablieren. Die rechtsradikale MODIN unter Aldo Rico, die sich ebenfalls gegen Menems Reform ausspricht, erreichte landesweit fast neun Prozent, ein ähnliches Ergebnis wie bei den Parlamentswahlen im Oktober.

Die Hauptstadt wählte links

Ihren größten Erfolg hatte das Mitte-Links-Bündnis Frente Grande in der Bundeshauptstadt, wo sie mit 37,5 Prozent sowohl die PJ (24,4%) als auch die UCR (15,2%) weit abgeschlagen hinter sich ließ. Unter dem Spitzenkandidaten Carlos “Chacho” Alvarez hat sie hier ihren Stimmenanteil im Vergleich zum Oktober fast verdreifacht. Aber auch in eini­gen Provinzen war sie sehr erfolgreich: In der bevölkerungsreichsten Provinz Bue­nos Aires konnte der Filmregisseur Fer­nando “Pino” Solanas dem Ex-Präsidenten Raúl Alfonsín persönlich den zweiten Platz hinter dem amtierenden Gouverneur und Vizepräsidenten Eduardo Duhalde (PJ) streitig machen. Und in Neuquén ge­lang es dem Bischof Jaime de Nevares, dessen Kandidatur als Kirchenmann in­nerhalb der Frente sehr umstritten war, die traditionelle Vormachtstellung der Pro­vinzpartei Movimiento Popular Neuquino zu durchbrechen. Auch in einigen anderen Provinzen wie Entre Ríos, Santa Fe und Río Negro erreichte die FG gute Ergeb­nisse.
Von Anfang an hatte die Frente Grande sich vehement gegen Menems Projekt der Verfassungsreform plus Wiederwahl ein­gesetzt, im vergangenen Jahr hatten die FG und einige Teile der UCR zeitweilig sogar eine gemeinsame Kampagne des NO überlegt. Die Kehrtwendung Al­fonsíns weg von seiner vorher vehement vertretenen Ablehnung der Reform hin zur Unterstützung des menemistischen Re­formprojekts führte deshalb zu heftigen Konflikten innerhalb der UCR. Schon vor den letzten Wahlen hatte es kaum inhaltli­che Differenzen zwischen PeronistInnen und Radikalen gegeben, nach dem Ab­schluß des “Paktes” war die Trennlinie zwischen Regierung und Opposition gänzlich verwischt. Die FG hat deshalb viele Stimmen unzufriedener ehemaliger AnhängerInnen der UCR erhalten, die selbst mit knapp 20 Prozent noch 10 Pro­zent weniger als bei den Parlamentswah­len erhielt.
Aber auch ehemalige WählerInnen der Pe­ronistischen Partei gaben diesmal der Frente Grande ihre Stimme. Die PJ siegte zwar mit 37 Prozent der Stimmen, das sind jedoch fünf Prozent weniger als beim letzten Mal.
Menem sah auch nach der Abstimmung keinen Grund zur Selbstkritik und lehnte es ab, die jüngsten Korruptionsfälle als Erklärung für das schwache Abschneiden der PeronistInnen in der Hauptstadt und für den Er­folg der FG zu akzeptieren. Bis zum Ende hatten die PeronistInnen, vor allem auf Betreiben Menems, beispielsweise an Matilde Me­néndez auf dem zweiten Listenplatz fest­gehalten, obwohl sie als Chefin der staat­lichen Rentenversicherung PAMI wegen Bestechlichkeit angeklagt ist.

Protestwahlen in den Provinzen

Vor allem in den armen Provinzen des Nordwestens, in Jujuy und Salta zum Bei­spiel, gingen die jeweils nicht regierenden Parteien gestärkt aus der Abstimmung hervor. Überraschend war das vor allem in Tucumán, wo die PJ unter dem amtieren­den Gouverneur Ramón “Palito” Ortega gegen die Fuerza Republicana von Gene­ral Antonio Bussi verlor, der zur Zeit der letzten Militärdiktatur für Menschen­rechtsverletzungen verantwortlich war. Ortega wurde bisher als aussichtsreicher Kandidat für die Vizepräsidentschaft 1995 gehandelt, für die internen Ausscheidun­gen wird er zukünftig aber nur wenig Rückhalt haben.
Besonders erstaunlich war das Ergebnis in Santiago del Estero, wo soziale Unruhen und Demonstrationen gegen die peronisti­sche Provinzregierung Ende vergangenen Jahres darin gegipfelt hatten, daß Regie­rungsgebäude, Parlament und Justizpalast in Brand gesetzt wurden. Die daraufhin von Buenos Aires aus eingesetzte Übergangsregierung wurde finanziell sehr gut ausgestattet, um schnellstmöglich die Konflikte zu befrie­den. Trotz der Proteste im Dezember ge­wann die PJ hier unangefochten mit über 52 Prozent, allerdings wurden acht Pro­zent der Stimmzettel leer abgegeben. Eine Erklärung für den Erfolg der PJ könnte sein, daß sich die Proteste im Dezember auf die beiden großen Städte Santiago und La Banda beschränkt hatten.

Ein politischer Klimawechsel

Nach ihrem Überraschungserfolg im Ok­tober vergangenen Jahres, wo die Frente Grande auf Anhieb knapp 11 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte, ist es ihr nun offenbar gelungen, das argentini­sche Zweiparteiensystem zumindest vor­läufig aus den Angeln zu heben. Zukünf­tig wird die nationale Parteienlandschaft also von vier Parteien bestimmt werden, denn auch die rechte MODIN hat es er­reicht, sich zu etablieren.
Doch bisher klaffen im Projekt der Frente Grande noch ganz erhebliche Lücken. Weder ist sie in allen Provinzen vertreten, noch hat sie als Partei eine wirkliche Ba­sis, ist bisher vielmehr Sammelbecken op­positioneller, vor allem linker WählerIn­nen gewesen und hat versucht, möglichst viele Gruppen zu integrieren. Das wird auch darin deutlich, daß ihre interne Struktur immer noch Thema heftiger Dis­kussionen ist, die sich vor allem um die Forderung nach offenen internen Wahlen drehen.
Auch für die Wirtschaftspolitik hat sie bisher kein Oppositionsprogramm vorgelegt, sondern sich auf sehr allgemeine Kritik am Neoliberalismus einerseits und an den sozialen Folgen der Maßnahmen Cavallos an­dererseits beschränkt. Doch ihr Erfolg läßt hoffen, daß mit der bloßen Verknüpfung von “Währungsstabilität” und “Menem” in Zukunft nicht mehr ganz so leicht Wahlen zu gewinnen sein werden.

Die Verfassungsänderungen

Möglichst schnell soll nun also die neue Verfassung verabschiedet werden, deren zentrale Teile schon damals zwischen Al­fonsín und Menem ausgehandelt worden waren: die Möglichkeit zur einmaligen Wiederwahl des Präsidenten, dessen Amtszeit aber verkürzt wird, und der in Zukunft auch nicht mehr katholisch sein muß. Zukünftig werden drei Senatoren für jede Provinz gewählt, zwei für die Mehr­heitspartei, einer für die Opposition, auch ihre Amtszeit soll verkürzt werden. Neu­geschaffen wird die Position eines “Kabinettschefs”, der vom Präsidenten er­nannt wird, aber vom Parlament abgesetzt werden kann und den Kontakt zwischen Regierung und Parlament erleichtern soll. Außerdem wird es zukünftig einen “Justizrat” geben, der für die Finanzen der Justiz verantwortlich ist und für die Er­nennung und Absetzung aller Richter, außer denen des Obersten Gerichtshofs, sorgt.
Verschiedene andere Punkte sind zwi­schen den Parteien noch umstritten wie zum Beispiel die Aufnahme plebiszitärer Elemente in die Verfassung, so auch eine Stärkung des Föderalismus und größere kommunale Freiheit. Außerdem besteht noch Uneinigkeit über verschiedene Ein­zelelemente, wie zum Beispiel Garantien für die kulturelle Identität der indigenen Völker, für Menschenrechte und die Gleichberechtigung von Frauen.
Der größte Streitpunkt ist aber immer noch die Besetzung des bisher absolut re­gierungstreuen Obersten Gerichtshofs. Die Ablösung von mindestens drei Richtern war im November eine Grundbedingung der UCR. Doch bisher sind erst zwei Stellen umbesetzt, und die ver­bleibenden Richter sitzen fest auf ihren Stühlen. Die PJ steht jetzt unter starkem Druck, den Forderungen des “Paktes von Olivos” nachzukommen, zumal sie in der Versammlung auf die Stimmen der UCR angewiesen ist.
Durch eine Änderung, die bisher von allen Parteien begrüßt wurde, soll der Haupt­stadt Buenos Aires mehr Autonomie als quasi eigene Provinz zugestanden werden. Ihr Bürgermeister soll demnach in Zu­kunft nicht mehr vom Präsidenten ernannt, sondern von der Bevölkerung gewählt werden. Nach den Ergebnissen der Ab­stimmung stellt sich jetzt die Frage, ob die PJ versuchen wird, diese Absprache rück­gängig zu machen. Denn eine Bürgermei­sterwahl im kommenden Jahr wird der Frente Grande die Möglichkeit eines weiteren Erfolges bieten.

Kasten:

Kommentar

Eine Wahl gegen die Überheblichkeit

Dies waren einige der Fragen um 18.01 Uhr, als die Schlacht der Interpretationen begann: Hat die Frente Grande durch die Stimmen der Intellektuellen gewonnen? Ist das der Beginn eines sozialistischen Vaterlandes? Sind das die Stimmen der Snobs? Ist das eine Abstimmung gegen die Korruption? Soll ich zurück aufs Land ziehen?
Es ist dasselbe Problem wie immer: Einige mögliche Antworten erzeugen nur immer neue Fragen, in dieser Reihenfolge: Den Berechnungen zufolge, wenn in Bue­nos Aires eine solche Anzahl Intellektu­eller wohnte, stünden wir einem neuen, übervölkerten Athen gegenüber. Die Theorie, die das Progressive mit dem Intellektuellen verknüpft, wertet es gleichzeitig ab und ist so Teil eines Schlüsselelements in der Analyse dieser Wahl: der Überheblichkeit. Die Überheb­lichkeit, die den Menem-Alfonsín-Pakt gebar (eine selbstmörderische Überheb­lichkeit im Falle des radikalen Ex-Präsi­denten), die Arroganz, die Matilde Me­néndez noch auf der Treppe zum Justiz­palast zeigte, als die Regierung schon da­bei war, die Wahlplakate mit ihrem Foto dem Reißwolf zu übergeben, die Über­heblichkeit, die das Zurschaustellen von Reichtum und Macht ungestraft davon­kommen läßt und zu der gefährlichen Naivität führt, an eine Zukunft zu denken, dabei aber den Tag vor dem Abend zu loben. Viel­leicht wurde gegen diese Überheblichkeit gestimmt.
– “Die Gesellschaft versteht mich nicht”- sagte Alfonsín, und vergaß, daß die Auf­gabe für ihn als Politiker umgekehrt ge­stellt ist: Er muß die Gesellschaft verste­hen.
– “Das sind Marxisten”- zeigte Menem mit dem Finger, gefährlich arglos wie eine Ausgabe von Reader’s Digest.
– “Mein Erfolg ist mir sicher”- prophezeite Duhalde ganz ruhig und reiste zwei Wo­chen vor der Abstimmung nach Indien. In Indien hätte nicht mal Gandhi zwei Tage vor der Unabhängigkeit versichert, daß er über die Engländer siegen würde. Ja, Du­halde hat gewonnen. Aber war er diesen Montag Morgen genauso ruhig, wie noch am Samstagabend?
Der “Menemistische Sektor für die Mittel­schicht”, also Amadeo, Corach, Toma, etc. hat seine Hausaufgaben wie ein folgsamer Grundschüler erledigt: Zielstre­big, um nur möglichst schnell fertigzu­werden, die Wiederwahl zu überstehen und dann ruhig weiter an die Zukunft ihrer Kinder zu denken (der eigenen natürlich, doch nicht Eurer). Der Durchschnitt der Radikalen war nicht weniger überzeugend oder zynisch: Jesús Rodriguez war noch trauriger als damals, als er während der Hyperinflation Wirtschaftsminister wurde. Um es anders auszudrücken: Niemand glaubte, was er tat, oder in Wirklichkeit handelten alle aus Motiven, die sie noch viel weniger zugeben können.
Ist das der Anfang vom Ende des Men­emismus? Weit gefehlt. Vielleicht ein Warnschuß, ein Zeichen der Aufmerk­samkeit auf all’ die Skandale. In den letz­ten Umfragen kletterte die Zustimmung für Menem auf 39 Prozent. Das zu verges­sen wäre genauso bescheuert, wie auf einem Wahlkampffoto zusammen mit der PAMI-Chefin abgebildet zu sein.
Von heute Morgen an hat die Frente Grande ein Problem. Es ist kein neues Problem, sondern das ewige Problem de­rer, die anfangen, Macht auf sich zu ver­einen. Es sind eigentlich einige Fragen: Werden sie großzügig genug sein? Wer­den sie ein Programm für das ganze Land entwickeln können? Werden sie den Übergang von der Theorie zur Praxis be­wältigen? Sind sie sich dessen bewußt, daß das erst der Anfang und nicht etwa das Ende ist? Werden sie an die Kinder denken (an Eure, nicht nur an die eige­nen)? Werden sie diese instabile, abrupte, argentinische Leidenschaft in eine dau­ernde und tiefgreifende Liebe verwandeln können? Werden sie die Spaltung der Spaltung vermeiden können? Werden sie die Situation in Argentinien richtig einschätzen?
Hoffentlich kriegen sie das hin.

Jorge Lanata (Página/12)
Übersetzung: Silke Steinhilber

Was lange gärt…

Mit der zeitgleich zum Inkrafttreten der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA erprobten Strategie “Bomben gegen BäuerInnen” verabschiedet sich die regierende Elite Mexikos ganz offiziell von einem politischen System, das der peruanische Schriftsteller und neoliberale Gesinnungsgenosse Mario Vargas Llosa noch vor kurzem als die “perfekteste Diktatur Lateinamerikas” bezeichnet hatte. Während andere autoritäre Regimes des Kontinents auf Repression durch Militär setzten und dennoch niemals die Kontinuität und Stabilität Mexikos erreichten, beruht das mexikanische Modell des “korporativen Staates” auf der Integration aller gesellschaftlichen Gruppen und politischen Richtungen unter dem Dach einer einzigen, Staat und Nation umfassenden Partei: der Partei der institutionalisierten Revolution (PRI). Diesem nach den Revolutionswirren in den dreißiger Jahren vom heute mythischen Präsidenten Lázaro Cárdenas konzipierten Modell gelingt es, mittels hierarchisch der Parteispitze untergeordneter Zwangszusammenschlüsse von IndustriearbeiterInnen-, Angestellten- und Campesino/a-“Gewerkschaften” über Jahrzehnte hinweg die politische und wirtschaftliche Kontrolle ganz Mexikos zu gewährleisten. Notwendige Kurskorrekturen werden durch sorgfältig inszenierte “Brüche” im Übergang von einer als Präsidialdiktatur auf Zeit angelegten Sechsjahresregierung zur nächsten vollzogen, so daß Kontinuität und Wandel sich die Waage halten. Gegenüber Dissidenten wendet das Regime eine Doppelstrategie an: Einerseits die Vereinnahmung und Absorption abweichender Meinung und andererseits die gezielte Repression gegenüber einzelnen.
Schon seit dem Massaker in Tlatelolco an der StudentInnenbewegung von 1968 ist das “korporative Staatsmodell” Mexikos gescheitert, da die Politik der Vereinnahmung und Integration gegenüber einer ganzen Generation mißlungen ist. Die vermeintliche Identität von Staatspartei und Nation zerbrach. Im Rahmen der neuen sozialen Bewegungen gründen BäuerInnen, IndustriearbeiterInnen, LehrerInnen und andere Berufsgruppen seit Beginn der siebziger Jahre unabhängige Organisationen, die oft neben ihren eigenen “ständischen” Interessen gesamtgesellschaftliche Veränderungen erzwingen wollen. Vor allem als mit Ende der siebziger und Beginn der achtziger Jahre breit angelegte Allianzen und Koordinationen der verschiedenen unabhängigen Gruppen entstehen, verschärft das Regime seine Strategie: Neben staatliche Vereinnahmung und/oder Repression tritt die gezielte Unterwanderung und Spaltung unabhängiger Organisationen; dies geschieht zum einen durch paramilitärisch agierende Gruppen wie Antorcha Campesina (“Bauernfackel”), eine im Auftrag und in enger Abstimmung mit der Führungsclique der PRI-Campesino/a-Organisation wirkende Kadertruppe, die oppositionelle Campesino-Organisationen entweder unterwandert und anschließend entpolitisiert oder aber, falls dies nicht möglich ist, die AnführerInnen dieser Organisationen ermordet.
Die zweite Variante der Spaltungsstrategie erfolgt durch die selektive und an (partei)politische Kompromisse gebundene Vergabe staatlicher Mittel der Landwirtschafts- oder Regionalförderung. Und schließlich werden die Methoden der Wahlfälschung “modernisiert”: Zu klassischen Formen des Betruges bei der Stimmabgabe und -auszählung kommt das computergestützte “Rasieren” von EinwohnerInnen- und WählerInnenlisten sowie das Fälschen von Wahlausweisen (in einigen Orten Mexikos wählen mehr Tote als Lebende!).

Das Ende der PRI-Macht

1988 markiert das offizielle Ende des PRI-Monopols: Als sich Mexiko Anfang der achtziger Jahre nach fallenden Rohölpreisen außenwirtschaftlich verschuldet und somit seine wirtschaftspolitische Souveränität zum großen Teil an Weltbank und IWF abtreten muß, etabliert sich eine Gruppe neoliberaler, USA-höriger Technokraten und Banker an der Macht, die die Umsetzung der von den Gläubigern erzwungenen Strukturanpassungsprogramme garantiert. Die VerliererInnen dieser auf Rückzug des Staates aus der Wirtschaft, Liberalisierung und Privatisierung um jeden Preis begründeten Politik bilden bei den 1988 stattfindenen Präsidentschaftswahlen ein breites Oppositionsbündnis, das sich um den Sohn des “Gründervaters” Lázaro Cárdenas, Cuauhtémoc Cárdenas, formiert. Diese Partei, die sich heute “Partei der Demokratischen Revolution” (PRD) nennt, gewinnt die Wahlen – das gibt (fast) jeder Regierungspolitiker hinter vorgehaltener Hand zu. Dennoch erzwingt die PRI auch diesmal eine offenkundige Wahlfälschung, und zwar mit Hilfe eines plötzlichen Stromausfalls bei der Stimmenauszählung per Computer, durch die US-amerikanische Anerkennung des PRI-Kandidaten und Harvard-Zöglings Salinas de Gortari und durch massive, demonstrative Präsenz des Militärs in den Hochburgen der Opposition.
In der Regierungszeit des für viele MexikanerInnen weiterhin illegitimen Präsidenten Salinas offenbart sich der Grundwiderspruch, an dem das System scheitert: Eine neoliberale Politik der Privatisierung des kommunalen Landbesitzes, der Öffnung der Märkte für nordamerikanische Billigimporte und des Abbaus von Preisgarantien und anderen Fördermaßnahmen richtet sich gegen die existentiellen Interessen der Campesinos/as; um sich dennoch an der Macht zu halten, muß die herrschende Elite – entgegen ihren ideologischen Prinzipien – die alten, korporativen Zwangsstrukturen der Vereinnahmung, Repression und/oder Wahlfälschung zumindest auf dem Lande erhalten und stärken. Dies ist allerdings unmöglich, wenn sich der in Mexiko traditionell starke Staats- und Parteiapparat, wie im neoliberalen Dogma vorgesehen, zurückziehen soll.

Umerziehung der Armee

Als Garant für die Kontrolle der Bevölkerung bleibt einzig und allein das Militär. Diese Institution ist jedoch, anders als im restlichen Lateinamerika, nicht für Aufstandsbekämpfungsmaßnahmen gegen die eigene Bevölkerung ausgebildet. Schon 1988, als das Militär zur “Rückeroberung” von Rathäusern verwendet wurde, die die oppositionelle PRD nach der offenkundigen Wahlfälschung besetzt hatte, gab es in den Reihen der mit ihrem “Ahnherrn” Lázaro Cárdenas sympathisierenden Generäle Protest gegen den “innenpolitischen” Einsatz der mexikanischen Armee. Um langfristig die Loyalität des Militärs gegenüber der PRI-Spitze zu sichern, wurde der Widerstand dieser kritischen Generäle von Salinas gebrochen, indem die Armee schrittweise gezwungen wurde, an Maßnahmen zur Bekämpfung von Marihuanapflanzern und “Drogenkartellen”, zur Verfolgung guatemaltekischer Flüchtlinge und “illegaler Einwanderer” und schließlich zur Repression unabhängiger Campesino/a-Organisationen teilzunehmen. Diese Strategie wird seit Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre erprobt, und zwar primär im südlichsten und konfliktreichsten Bundesstaat Mexikos.

“Todo Chiapas es México” – warum Chiapas?

Chiapas ist kein Ausnahmefall, wie die mexikanische Regierung glauben machen möchte, sondern spiegelt die sozioökonomischen, ethnischen und politischen Probleme der restlichen zentral- und südmexikanischen Bundesstaaten bloß in verschärfter Form wider und nimmt deren zukünftige Konflikte vorweg. Der Unterschied besteht nur darin, daß in Chiapas früher als im übrigen Land die korporative Politik der Vereinnahmung und Kontrolle der Landbevölkerung durch die lokalen PRI-Institutionen gescheitert ist. Dies liegt hauptsächlich daran, daß hier eine Landreform nach der Revolution nie stattgefunden hat. Zum einen beschränkte sich die Revolution von 1910-17 in Chiapas auf einen lokalen Bürgerkrieg zwischen den Eliten der beiden größten Städte, Tuxtla Gutiérrez und San Cristóbal de Las Casas, in deren Verlauf vor allem die Tzotzil der umliegenden Dorfgemeinden gegeneinander ausgespielt wurden (in Chiapas leben 13 verschiedene indianische Völker und im letzten Zensus von 1990 bezeichneten sich ca. 28% der Bevölkerung Chiapas’ als “indianisch-sprachig”. Und zum anderen gelang es nach 1917 einem Zusammenschluß der regionalen Oligarchie aus Viehzüchtern, Kaffeeplantagenbesitzern (meist deutscher Abstammung) und städtischer Oberschicht, die Betreiber der Landreform zurückzuschlagen.
Nur im damals wirtschaftlich noch uninteressanten zentralen Hochland der Altos de Chiapas wurde Ejido-Land – den Bauern zur Nutzung übertragenes Staatsland – verteilt. In den wirtschaftlich attraktiveren Kaffee- und Zuckerrohrplantagen des Südens und Südostens sowie in den vieh- und holzwirtschaftlich interessanten Waldgebieten des nördlichen und nordöstlichen Tieflands dagegen bleiben die Besitzverhältnisse unangetastet oder juristisch jahrzehntelang umstritten – mehr als 25% aller zur Zeit anhängigen Landkonflikte Mexikos betreffen Chiapas. Der Bundesstaat ist bis heute geprägt von landlosen Bauernfamilien, die in die Städte oder in den Tropenwald der Selva Lacandona abwandern, sowie durch Tagelöhner, die durch Schuldknechtschaft an die Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen gebunden sind.

Alte Konflikte

Diese Situation extremer Marginalisierung der größtenteils indianischen Landbevölkerung, die einhergeht mit einem auch für mexikanische Verhältnisse extremen Rassismus der städtischen Mittel- und Oberschicht von Tuxtla und San Cristóbal, hat ihren Ursprung in der Agrarstruktur des 19. Jahrhunderts, als die indianischen Dorfgemeinden im Zuge wirtschaftsliberaler Gesetze ihren kommunalen Landbesitz verloren. Das politische Programm des Zapatismo, die Rückerstattung von Kommunalland und die Selbstverwaltung der Dorfgemeinde, ist also weiterhin – und nicht nur in Chiapas – unerfüllt geblieben. Ausschlaggebend für das Entstehen einer “neozapatistischen” Bewegung in Chiapas ist jedoch zusätzlich, daß gerade hier die vorrevolutionären Verhältnisse mit der neoliberalen Politik der gegenwärtigen mexikanischen Regierung zusammentreffen: Mit der Privatisierung des Bodenbesitzes im Zuge der Reform des Verfassungsartikels 27, also des Rückgrats der Landreform, mit der Öffnung der Agrarmärkte sowie dem Abbau staatlicher Kredit- und Vermarktungshilfen führt Salinas im wesentlichen die Agrarpolitik des USA-hörigen und 1910 in der Revolution gestürzten Diktators Porfirio Díaz fort. Somit kann der bewaffnete Kampf der EZLN in Chiapas gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Campesinos/as und Indígenas der Beginn einer auch andere Regionen Mexikos umfassenden Bewegung sein.
Die Wahl der direkten militärischen Konfrontation mag in der in Chiapas besonders ausgeprägten politischen Polarisierung begründet sein: Im übrigen Mexiko ermöglichte nach der Landreform von Lázaro Cárdenas das Ejido und besonders deren Leitung als unterste Stufe innerhalb der PRI-eigenen Bauernorganisation eine sowohl politische als auch ökonomische Integration der Bevölkerung in den gesamtmexikanischen Staats- und Parteiapparat. Dagegen mußte die PRI in Chiapas auf die vorrevolutionären Koalitionen zwischen der im Bundesstaat herrschenden Oligarchie und lokalen Kaziken, den Dorfeliten, Zwischenhändlern und Monopolisten, zurückgreifen.
Da es in vielen Gemeinden keine PRI-beherrschten integrativen Organisationsstrukturen gibt, sind interne Konflikte nur lösbar, indem der Kazike seine wirtschaftliche und politische Macht gegen die oppositionelle Gruppe einsetzt. Dies ist in Gemeinden wie San Juan Chamula oder Zinacantan geschehen, wo die lokale PRI-Elite nach offenkundigen Wahlfälschungen bei Kommunalwahlen unter religiösen Vorwänden – dem Eindringen radikalprotestantischer Sekten – seit Mitte der siebziger Jahre alle Dissidenten aus ihrem Ort zu vertreiben sucht. In den Fällen, wo diese Strategie nicht gelingt, werden paramilitärische Einheiten, die guardias blancas (“weiße Wächter”), von den Großgrundbesitzern angefordert. Die im Laufe der siebziger Jahre entstandenen unabhängigen Campesino-Organisationen und ihre AnführerInnen stellen die vorrangigen Zielscheiben dieser Privatarmeen dar, die oft mit der bundesstaatlichen policía judicial, der “politischen Polizei”, eng zusammenarbeiten.
Chiapas ist Hauptempfänger von Geldleistungen im Rahmen des “Nationalen Solidaritätsprogrammes” PRONASOL, das direkt nach den Wahlen von Salinas eingeführt wurde, um die Verlierer der neoliberalen Wirtschaftspolitik – also die Oppositionswähler von 1988 – mit Hilfe punktueller Maßnahmen zur “Notlinderung” zurückzugewinnen. Indem PRONASOL-Mittel nur an eigens dafür einzurichtende und größtenteils PRI-dominierte “Solidaritätskomitees” vor Ort vergeben werden, versucht das Regime, unabhängige Organisationen und lokale Initiativen erneut an sich zu binden. Doch da PRONASOL nur oberflächlich momentane Hilfen vergibt, ohne die existierenden Besitz- und Wirtschaftsstrukturen anzutasten, mißlingt im Falle Chiapas dieses Anliegen trotz der beträchtlichen Mittel, die aufgewendet wurden. Die PRI kann nicht gegen die eigenen Regionaloligarchien vorgehen, ohne ihre letzten Stützpunkte auf dem Lande aufzugeben.

Die neue Grenze

Diese oligarchischen Strukturen werden allerdings zunehmend problematisch, da Chiapas im Zuge der wirtschaftlichen Integration Mexikos in den nordamerikanischen Markt geostrategische Bedeutung erlangt hat: Zum einen sind die USA daran interessiert, die bisher relativ “durchlässige” Südgrenze der NAFTA-Zone zu schließen, kurzfristig, um die “illegale Einwanderung” von Zentralamerika Richtung USA zu bremsen, und langfristig, um somit die Mauer der “Ersten Welt” vom Río Grande nach Süden zu verschieben. Und zum anderen birgt Chiapas ein noch nahezu unerschlossenes wirtschaftliches Potential, nicht nur, was Tropenholz, Artenpatentierung und Staudämme in der Selva Lacandona betrifft, sondern vor allem hinsichtlich umfangreicher in diesem Gebiet gefundener Erdölreserven; deren Förderung ist zur Zeit noch blockiert, da die transnationalen Ölkonzerne darauf warten, daß Salinas die letzte Errungenschaft der mexikanischen Revolution preisgibt und das staatliche Erdölmonopol PEMEX zum Verkauf anbietet. Die regionale Viehzüchtervereinigung beabsichtigt außerdem, zur Belieferung des NAFTA-Marktes inmitten der Selva Lacandona eine großflächige Rinderfarm inklusive Fleischverarbeitungsbetrieb zu errichten, nur daß dafür noch 300.000 ha. Land benötigt werden, die sich (noch) im Besitz indianischer Campesinos/as befinden.
Vor diesem globalpolitischen und -ökonomischen Hintergrund muß die Militarisierung der Landkonflikte in Chiapas gesehen werden. Mit dem innenpolitischen Einsatz der Armee versucht die PRI, den direkten Zugang zu den strategisch wichtigen Ressourcen und Regionen des Landes wiederherzustellen, der gerade an der guatemaltekischen Grenze verloren zu gehen drohte. Gleichzeitig gelingt es Salinas, durch den Kampf gegen “Guerrilla, Drogenhandel und illegale ImmigrantInnen” das Militär (partei-)politisch zu kompromittieren und so auf einen eventuell im Sommer 1994 nach den Präsidentschaftswahlen und -wahlfälschungen nötigen großflächigen Einsatz gegen die parlamentarische Opposition vorzubereiten.
Daß der Einsatz des Militärs wohl kalkuliert und lange vorbereitet wurde, zeigt die Vorgeschichte des Januar-Aufstands des EZLN. Seit 1991 und verstärkt seit März 1993 fordern die Viehzüchter- und Großgrundbesitzervereinigungen von der Zentralregierung Armeeverbände zum Kampf gegen “Subversive” an, die eine Guerrilla im Regenwald aufbauen würden, gegen die ihre eigenen Repressionsapparate machtlos sind. Als im Mai 1993 eine Armee-Einheit auf ein Kommando des EZLN stößt, werden zum ersten Mal willkürlich nahe gelegene Dörfer bombardiert und einzelne BewohnerInnen verhaftet und gefoltert. Die Regierung versucht, die gesamte Operation geheimzuhalten und schnell abzubrechen, da gleichzeitig in den USA heftig über NAFTA debattiert wird; das knappe Abstimmungsergebnis im US-Kongreß zeigt, daß eine großangelegte Militäraktion schon im Sommer NAFTA wegen der voraussehbaren Reaktion der nordamerikanischen Öffentlichkeit hätte scheitern lassen. Erst mit dem Inkrafttreten von NAFTA 1994, das von vielen als “Kriegserklärung” an das indianische und bäuerliche Mexiko gewertet wird, bricht tatsächlich Krieg aus: ein Krieg zwischen dem Mexiko der USA-orientierten Modernisierer aus Mexiko-Stadt und dem agrarischen, dem “tiefen Mexiko” (Bonfil Batalla), dessen Zivilisation seit 500 Jahren negiert wird.

Campesino/a- und Indígena-Bewegungen in Chiapas

Ungefähr 10.000 Tzotzil, Tzeltal, Tojolabal und Chol – viele von ihnen symbolisch bewaffnet mit Pfeil und Bogen – zogen am 12. Oktober 1992 nach San Cristóbal und stürzten die Statue von Diego de Mazariegos zu Boden, mit dessen Invasion des Hochlands 1527 die Kolonisation Chiapas’ begonnen hatte. Diese und ähnliche Protestmärsche auch in anderen ethnischen Regionen Mexikos weisen auf eine fast 500jährige Kontinuität nicht nur der Invasion, des Landraubs und der Erniedrigung, sondern auch des indianischen Widerstandes – eines Widerstandes, der im Alltagsleben, in der Familie verwurzelt ist, der immer von der Dorfgemeinde ausgeht und deren sichtbarster Ausdruck die sogenannten Aufstände sind. Die Geschichte Chiapas’ ist die Geschichte von Revolten, deren Niederschlagung sowie deren Reorganisation: 1693 setzen die Zoque von Tuxtla ihren spanierhörigen Kazike ab, woraufhin spanische Truppen ein Massaker anrichten; im Jahre 1712 rebellieren, angespornt von einer indianischen Jungfrau Maria, 32 Tzotzil- und Tzeltal-Dörfer – zum großen Teil dieselben wie jetzt 1994! – gegen immer höhere Tributforderungen der Kirche und der Nachkommen der Conquistadores, bis im Gegenzug ganze Dörfer vernichtet werden; zwischen 1869 und 1870 belagern die Tzotzil unter Führung von Pedro Díaz Cuscat San Cristóbal, um ihr Kommunalland gegen die Privatisierungsreformen zu verteidigen – niedergeschlagen wird diese Rebellion vom damaligen Gouverneur, einem Uronkel des vom EZLN entführten Ex-Gouverneurs Absalón Castellanos Domínguez!
Die Kontinuität des indianischen Widerstandes nicht nur in Chiapas, sondern ganz Mexikos nährt sich aus der Verteidigung der politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Autonomie der Dorfgemeinde als der einzigen eigenen Organisationsform, die nicht durch die europäische Invasion und Kolonisation zerstört wurde. Ausgehend von dieser gemeinsamen Aktionsbasis verändern sich die Motive der indianischen Bewegungen entsprechend den Phasen der “Modernisierungspolitik” der Kolonisatoren:
1. Da die Spanier ihr Regime zunächst nicht auf Landbesitz gründen, sondern – neben der Missionierung – auf Kontrolle der indianischen Arbeitskraft und ihrer Früchte, richtet sich der lokale Widerstand gegen Tributzahlungen. Wie heute kämpfen die Dorfgemeinden innerhalb des kolonialen Rechtssystems (Petitionen an den König, gerichtliche Klagen etc.); doch wenn der Druck zu stark wird, entziehen sie sich dem System, in Chiapas meist durch Flucht in die noch nicht kolonisierte Selva – genauso wie 1994!
2. Als Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts die criollos, die Nachkommen der spanischen Eroberer, von der Abschöpfung von Tributen übergehen zur direkten Aneignung nicht nur entvölkerter Gebiete, sondern auch des Kommunallandes der Dorfgemeinden und so die haciendas, fincas und andere Formen des Großgrundbesitzes entstehen, konzentriert sich der indianische Widerstand auf die Rückgewinnung der Souveränität über Land. Die Enteignungswelle spitzt sich bis zum Ausbruch der Revolution 1910 zu, an der die indianischen Dorfgemeinden Südmexikos unter Zapatas Banner Tierra y Libertad teilnehmen. In den Regionen, wo eine Landreform tatsächlich erfolgt und den Gemeinden ihre Besitztümer rückerstattet werden, ruhen dementsprechend die indianischen Bewegungen zwischen den vierziger und siebziger Jahren dieses Jahrhunderts; doch in Chiapas geht der juristische und politische Kampf um die Anerkennung und Wiedererlangung ihres Landes – als Kommunalland oder als Ejido – bis heute weiter.
3. Auch in den Gebieten, wo eine Landreform tatsächlich durchgeführt wurde, verlieren die indianischen Gemeinden im Zuge der “Grünen Revolution”, der Mechanisierung, Kapitalisierung und Marktintegration der vormals regional subsistenten Landwirtschaft ihre wirtschaftliche Autonomie; sie werden abhängig von externen, staatlichen oder privaten Technologieanbietern, Zwischenhändlern und Kreditgebern. Daher bildet sich seit Ende der siebziger Jahre eine neue Campesino/a- und Indígena-Bewegung, die sich zusätzlich zur weiterhin akuten Rückeroberung von Land der Wiederherstellung der eigenen Kontrolle über den Produktionsprozeß im Rahmen kapitalistischer Marktstrukturen widmet; es entstehen neue, auch regionale und ansatzweise sogar nationale Organisationsformen wie Zusammenschlüsse verschiedener Ejidos zur gemeinsamen Produktvermarktung, Kreditvereine und Produktionskooperativen.
4. Und schließlich zeichnet sich seit Mitte bis Ende der achtziger Jahre eine neue Widerstandsfront ab, die bestrebt ist, die agroindustrielle Ausbeutung der Naturressourcen indianischer Regionen und der dadurch bewirkten Zerstörung der Lebensgrundlagen sowie die Patentierung des “genetischen Reservoirs” durch Pharma- und Chemiekonzerne zu bekämpfen. Es entstehen neue Organisationen zur Wiederaneignung und Verbreitung traditioneller, ökologisch angepaßterer Anbauformen. Um das weitere Vordringen agroindustrieller Konzerne zu verhindern und um sich nach Salinas’ Verfassungsreform gegen die Umsetzung der Privatisierung des Landbesitzes zu wehren, reicht die lokale Ebene des Widerstands nicht mehr aus. Daher bilden sich in vielen ethnischen Regionen Organisationen, die die Wiedergewinnung der politischen und wirtschaftlichen Kontrolle nicht nur über Kommunalland, sondern über ein ganzes Territorium samt seiner energetischen Ressourcen zum Ziel haben.
Auch wenn die Subjekte dieser Bewegungen historisch immer Indígena-Organisationen (einzelne Dörfer, ganze indianische Völker oder multiethnische Zusammenschlüsse) waren, entstehen seit den siebziger Jahren ähnliche Bewegungen unter mestizischen Campesinos. Da die Problematik meist identisch ist und so gut wie alle auf dem Land lebenden Indígenas kleinbäuerlich wirtschaften, sind die Hauptforderungen auch identisch; der Unterschied besteht nur darin, daß ethnisch geprägte Organisationen ihre Autonomieansprüche z.B. auf Land integral verstehen und somit in ihre Gesamtkultur eingebunden wissen wollen, während die meisten mestizisch geprägten Campesino-Gruppen die juristischen und ökonomischen Aspekte des kollektiven Landbesitzes betonen.
Die skizzierten Phasen der Campesino/a- und Indígena-Bewegungen sind in Chiapas wegen des Zusammentreffens vor-revolutionärer und neoliberaler Modernisierungsbestrebungen zeitgleich vorhanden: Auf den Kaffee- und Zuckerrohrplantagen kämpfen ganze Dorfgemeinden weiterhin um die Kontrolle der eigenen Arbeitskraft, da hier Schuldknechtschaft, Bezahlung in Naturalien im Finca-eigenen Monopol-Laden sowie teilweise sogar das jus primae noctis (das Vorrecht des Plantagenbesitzers auf den ersten Sexualverkehr der Töchter seiner Arbeiter) fortbestehen. Einer Protestbewegung in Simojovel, Chiapa de Corzo und El Naranjal gelang es 1977, die Besitzer einer Kaffee-Finca zu verteiben und diese als Ejido-Kooperative eigenständig weiterzuführen; bis heute kämpfen sie um die juristische Anerkennung ihres kollektiven Landbesitzes.

Der Indígena-Kongreß 1974

Ebenso wie in diesem Falle die Rückgewinnung der Kontrolle der eigenen Arbeitskraft in eine Bewegung zur Landverteilung mündet, entstehen in Chiapas Anfang der siebziger Jahre Organisationen, die die Versprechungen der Landreform einklagen und gleichzeitig eigenständige Vermarktungskanäle und Kreditvereine zu bilden beginnen. Von zentraler Bedeutung für den Übergang von lokal isolierten Initiativen hin zu regionalen und multiethnischen Organisationsformen war der Erste Indígena-Kongreß, der 1974 in San Cristóbal stattfand. Der Gouverneur des Bundesstaates dachte ihn als propagandistische Schauvorstellung zum 500jährigen Gedenken an die Geburt des ersten Bischofs von Chiapas, Bartolomé de Las Casas. Mangels offizieller Kontakte zur Basis wurde die Vorbereitung des Kongresses der Diözese von San Cristóbal anvertraut.
Der schon seit 1960 in der Region wirkende Bischof Samuel Ruíz bot zusammen mit seinen in den Dörfern aktiven KatechetInnen von 1972 bis 1974 sowohl den PRI-nahen als auch unabhängigen Gruppen Kurse über Landrecht, Produktionstechniken, Kreditquellen und mexikanische Geschichte an. Dank dieser intensiven Vorbereitung und der im Verlauf des Kongresses gewonnenen Erkenntnis, daß die Probleme der teilnehmenden Tzeltal, Tzotzil, Tojolabal und Chol im wesentlichen identisch sind, entstanden schon 1975 die ersten Uniones de Ejidos, unabhängig von der PRI-Bauernorganisation agierende regionale Zusammenschlüsse verschiedener lokaler Ejidos. Ihr primäres Ziel bestand in der juristischen Anerkennung bestehender sowie in der Schaffung neuer Ejidos; dies führte schon bald zu Konflikten mit Viehzüchtern, Plantagenbesitzern und Holzhändlern sowie mit lokalen Kaziken, die mit ihnen kollaborieren.

Netzwerke

Es kommt zum Einsatz offizieller oder paramilitärischer Repressionsmittel – wie schon in den Jahrhunderten zuvor werden ganze Dörfer, 1979 Vololchan und 1983 Simojovel und Bochil, massakriert.
Zur politischen Vertretung der eigenen Interessen werden mit Hilfe von KatechetInnen, die in verschiedenen Dörfern kirchliche Basisgemeinden aufbauen, erste Dachverbände für ganz Chiapas gegründet. Während sich die 1982 von Tzotzil aus Venustiano Carranza gebildete OCEZ (Organización Campesina Emiliano Zapata) vorrangig der juristischen Beratung und politischen Mobilisierung bei Landkonflikten widmet, forciert die 1980 geschaffene und 180 Dorfgemeinden umfassende Unión de Uniones de Ejidos y Grupos Campesinos Solidarios de Chiapas besonders den Kampf um die Kontrolle des Produktions- und Vermarktungsprozesses:
– Zum einen existiert seit 1982 mit der Unión de Crédito Pajal Ya’ Kactic eine parteiunabhängige Organisation, die aus verschiedenen Quellen (heute u.a. auch PRONASOL-Mitteln) zinsgünstige Kredite beschafft und sie an ihre Mitgliedsgruppen weiterleitet.
– Und andererseits versucht die Unión de Uniones, alternative Vermarktungskanäle für ihre KaffeeproduzentInnen zu öffnen.
Im Verlauf der achtziger Jahre integrieren sich die größten regionalen Zusammenschlüsse in lockere Koordinationen, die ganz Mexiko umfassen, wie die auf politische Interessenvertretung der Campesinos spezialisierte CIOAC (Central Independiente de Obreros Agrícolas y Campesinos) und das Netzwerk zur Kaffeevermarktung CNOC (Coordinadora Nacional de Organizaciones Cafetaleras).
Wie schon in der spanischen Kolonialzeit konzentrieren sich die Widerstandsformen auf die Ausschöpfung aller möglichen legalen Mittel: Petitionen, Gerichtsverfahren durch alle Instanzen, Demonstrationen und Protestmärsche – wie der im März 1992 in Palenque begonnene und von Chol, Tzotzil, Tzeltal, Tojolabal und Zoque aus ganz Chiapas mitgetragene Marsch der Xi’ Nich’ Wen Mich’, der “sehr erbosten Ameisen”, auf Mexiko-Stadt, um jahrelang anhängige Landtitel-Vergaben, die Freilassung indianischer Strafgefangener und die Absetzung korrupter Regionalpolitiker zu erreichen.

Bewaffneter Widerstand

Doch in den Gemeinden vor allem in der Selva, wo nach Erschöpfung aller Regierungsinstanzen die Konflikte ungelöst bleiben und nur durch Repression zu unterdrücken versucht werden, bildet sich – wie schon in den fünf Jahrhunderten zuvor – bewaffneter Widerstand. Seit 1974 kommt es vor allem in Ocosingo immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Guerrilla-Einheiten der “Bewaffneten Armee zur Nationalen Befreiung” FALN (Fuerzas Armadas de Liberación Nacional) und paramilitärischen Gruppen der Vieh- und Holzhändler sowie den nachrückenden militärischen Verbänden.
Das EZLN geht vermutlich Anfang der achtziger Jahre aus der FALN hervor; damals zieht sich deren ideologische Führungsgruppe, vor allem Überlebende der 68er Studentenbewegung und der 1974 im Bundesstaat Guerrero zerschlagenen Guerrilla, aus der Selva zurück und bekleidet heute Leitungsfunktionen in der PRI-Campesino/a-Organisation sowie in diversen Ministerien. Das neue EZLN verschafft sich durch Überfälle und die Entführung reicher Viehzüchter, Plantagenbesitzer und Zwischenhändler (seit 1988 allein 2.000!) eine breite finanzielle Basis zur Bewaffnung großer Bevölkerungsteile. Dies entspricht der neuen Strategie der jetzt einheimischen Anführer: Statt einen langatmigen und eher defensiven Guerrillakrieg verstreuter Kommandos zu führen, wie es das Konzept der Guerra Popular Prolongada der abgezogenen Kader vorsah, werden militärische Einheiten gebildet, die dank ihrer Unterstützung durch die umliegenden Dorfgemeinden eine frontale Auseinandersetzung mit den Regierungstruppen wagen können, wie das Vorgehen des EZLN seit dem 1. Januar 1994 zeigt. Eine derartige Taktik wäre – dies geben die heute etablierten Ex-Guerrilleros/as verblüfft zu – in der ländlichen Guerrilla der siebziger Jahre undenkbar gewesen.

Was lange gärt…

Mit der zeitgleich zum Inkrafttreten der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA erprobten Strategie “Bomben gegen BäuerInnen” verabschiedet sich die regierende Elite Mexikos ganz offiziell von einem politischen System, das der peruanische Schriftsteller und neoliberale Gesinnungsgenosse Mario Vargas Llosa noch vor kurzem als die “perfekteste Diktatur Lateinamerikas” bezeichnet hatte. Während andere autoritäre Regimes des Kontinents auf Repression durch Militär setzten und dennoch niemals die Kontinuität und Stabilität Mexikos erreichten, beruht das mexikanische Modell des “korporativen Staates” auf der Integration aller gesellschaftlichen Gruppen und politischen Richtungen unter dem Dach einer einzigen, Staat und Nation umfassenden Partei: der Partei der institutionalisierten Revolution (PRI). Diesem nach den Revolutionswirren in den dreißiger Jahren vom heute mythischen Präsidenten Lázaro Cárdenas konzipierten Modell gelingt es, mittels hierarchisch der Parteispitze untergeordneter Zwangszusammenschlüsse von IndustriearbeiterInnen-, Angestellten- und Campesino/a-“Gewerkschaften” über Jahrzehnte hinweg die politische und wirtschaftliche Kontrolle ganz Mexikos zu gewährleisten. Notwendige Kurskorrekturen werden durch sorgfältig inszenierte “Brüche” im Übergang von einer als Präsidialdiktatur auf Zeit angelegten Sechsjahresregierung zur nächsten vollzogen, so daß Kontinuität und Wandel sich die Waage halten. Gegenüber Dissidenten wendet das Regime eine Doppelstrategie an: Einerseits die Vereinnahmung und Absorption abweichender Meinung und andererseits die gezielte Repression gegenüber einzelnen.
Schon seit dem Massaker in Tlatelolco an der StudentInnenbewegung von 1968 ist das “korporative Staatsmodell” Mexikos gescheitert, da die Politik der Vereinnahmung und Integration gegenüber einer ganzen Generation mißlungen ist. Die vermeintliche Identität von Staatspartei und Nation zerbrach. Im Rahmen der neuen sozialen Bewegungen gründen BäuerInnen, IndustriearbeiterInnen, LehrerInnen und andere Berufsgruppen seit Beginn der siebziger Jahre unabhängige Organisationen, die oft neben ihren eigenen “ständischen” Interessen gesamtgesellschaftliche Veränderungen erzwingen wollen. Vor allem als mit Ende der siebziger und Beginn der achtziger Jahre breit angelegte Allianzen und Koordinationen der verschiedenen unabhängigen Gruppen entstehen, verschärft das Regime seine Strategie: Neben staatliche Vereinnahmung und/oder Repression tritt die gezielte Unterwanderung und Spaltung unabhängiger Organisationen; dies geschieht zum einen durch paramilitärisch agierende Gruppen wie Antorcha Campesina (“Bauernfackel”), eine im Auftrag und in enger Abstimmung mit der Führungsclique der PRI-Campesino/a-Organisation wirkende Kadertruppe, die oppositionelle Campesino-Organisationen entweder unterwandert und anschließend entpolitisiert oder aber, falls dies nicht möglich ist, die AnführerInnen dieser Organisationen ermordet.
Die zweite Variante der Spaltungsstrategie erfolgt durch die selektive und an (partei)politische Kompromisse gebundene Vergabe staatlicher Mittel der Landwirtschafts- oder Regionalförderung. Und schließlich werden die Methoden der Wahlfälschung “modernisiert”: Zu klassischen Formen des Betruges bei der Stimmabgabe und -auszählung kommt das computergestützte “Rasieren” von EinwohnerInnen- und WählerInnenlisten sowie das Fälschen von Wahlausweisen (in einigen Orten Mexikos wählen mehr Tote als Lebende!).

Das Ende der PRI-Macht

1988 markiert das offizielle Ende des PRI-Monopols: Als sich Mexiko Anfang der achtziger Jahre nach fallenden Rohölpreisen außenwirtschaftlich verschuldet und somit seine wirtschaftspolitische Souveränität zum großen Teil an Weltbank und IWF abtreten muß, etabliert sich eine Gruppe neoliberaler, USA-höriger Technokraten und Banker an der Macht, die die Umsetzung der von den Gläubigern erzwungenen Strukturanpassungsprogramme garantiert. Die VerliererInnen dieser auf Rückzug des Staates aus der Wirtschaft, Liberalisierung und Privatisierung um jeden Preis begründeten Politik bilden bei den 1988 stattfindenen Präsidentschaftswahlen ein breites Oppositionsbündnis, das sich um den Sohn des “Gründervaters” Lázaro Cárdenas, Cuauhtémoc Cárdenas, formiert. Diese Partei, die sich heute “Partei der Demokratischen Revolution” (PRD) nennt, gewinnt die Wahlen – das gibt (fast) jeder Regierungspolitiker hinter vorgehaltener Hand zu. Dennoch erzwingt die PRI auch diesmal eine offenkundige Wahlfälschung, und zwar mit Hilfe eines plötzlichen Stromausfalls bei der Stimmenauszählung per Computer, durch die US-amerikanische Anerkennung des PRI-Kandidaten und Harvard-Zöglings Salinas de Gortari und durch massive, demonstrative Präsenz des Militärs in den Hochburgen der Opposition.
In der Regierungszeit des für viele MexikanerInnen weiterhin illegitimen Präsidenten Salinas offenbart sich der Grundwiderspruch, an dem das System scheitert: Eine neoliberale Politik der Privatisierung des kommunalen Landbesitzes, der Öffnung der Märkte für nordamerikanische Billigimporte und des Abbaus von Preisgarantien und anderen Fördermaßnahmen richtet sich gegen die existentiellen Interessen der Campesinos/as; um sich dennoch an der Macht zu halten, muß die herrschende Elite – entgegen ihren ideologischen Prinzipien – die alten, korporativen Zwangsstrukturen der Vereinnahmung, Repression und/oder Wahlfälschung zumindest auf dem Lande erhalten und stärken. Dies ist allerdings unmöglich, wenn sich der in Mexiko traditionell starke Staats- und Parteiapparat, wie im neoliberalen Dogma vorgesehen, zurückziehen soll.

Umerziehung der Armee

Als Garant für die Kontrolle der Bevölkerung bleibt einzig und allein das Militär. Diese Institution ist jedoch, anders als im restlichen Lateinamerika, nicht für Aufstandsbekämpfungsmaßnahmen gegen die eigene Bevölkerung ausgebildet. Schon 1988, als das Militär zur “Rückeroberung” von Rathäusern verwendet wurde, die die oppositionelle PRD nach der offenkundigen Wahlfälschung besetzt hatte, gab es in den Reihen der mit ihrem “Ahnherrn” Lázaro Cárdenas sympathisierenden Generäle Protest gegen den “innenpolitischen” Einsatz der mexikanischen Armee. Um langfristig die Loyalität des Militärs gegenüber der PRI-Spitze zu sichern, wurde der Widerstand dieser kritischen Generäle von Salinas gebrochen, indem die Armee schrittweise gezwungen wurde, an Maßnahmen zur Bekämpfung von Marihuanapflanzern und “Drogenkartellen”, zur Verfolgung guatemaltekischer Flüchtlinge und “illegaler Einwanderer” und schließlich zur Repression unabhängiger Campesino/a-Organisationen teilzunehmen. Diese Strategie wird seit Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre erprobt, und zwar primär im südlichsten und konfliktreichsten Bundesstaat Mexikos.

“Todo Chiapas es México” – warum Chiapas?

Chiapas ist kein Ausnahmefall, wie die mexikanische Regierung glauben machen möchte, sondern spiegelt die sozioökonomischen, ethnischen und politischen Probleme der restlichen zentral- und südmexikanischen Bundesstaaten bloß in verschärfter Form wider und nimmt deren zukünftige Konflikte vorweg. Der Unterschied besteht nur darin, daß in Chiapas früher als im übrigen Land die korporative Politik der Vereinnahmung und Kontrolle der Landbevölkerung durch die lokalen PRI-Institutionen gescheitert ist. Dies liegt hauptsächlich daran, daß hier eine Landreform nach der Revolution nie stattgefunden hat. Zum einen beschränkte sich die Revolution von 1910-17 in Chiapas auf einen lokalen Bürgerkrieg zwischen den Eliten der beiden größten Städte, Tuxtla Gutiérrez und San Cristóbal de Las Casas, in deren Verlauf vor allem die Tzotzil der umliegenden Dorfgemeinden gegeneinander ausgespielt wurden (in Chiapas leben 13 verschiedene indianische Völker und im letzten Zensus von 1990 bezeichneten sich ca. 28% der Bevölkerung Chiapas’ als “indianisch-sprachig”. Und zum anderen gelang es nach 1917 einem Zusammenschluß der regionalen Oligarchie aus Viehzüchtern, Kaffeeplantagenbesitzern (meist deutscher Abstammung) und städtischer Oberschicht, die Betreiber der Landreform zurückzuschlagen.
Nur im damals wirtschaftlich noch uninteressanten zentralen Hochland der Altos de Chiapas wurde Ejido-Land – den Bauern zur Nutzung übertragenes Staatsland – verteilt. In den wirtschaftlich attraktiveren Kaffee- und Zuckerrohrplantagen des Südens und Südostens sowie in den vieh- und holzwirtschaftlich interessanten Waldgebieten des nördlichen und nordöstlichen Tieflands dagegen bleiben die Besitzverhältnisse unangetastet oder juristisch jahrzehntelang umstritten – mehr als 25% aller zur Zeit anhängigen Landkonflikte Mexikos betreffen Chiapas. Der Bundesstaat ist bis heute geprägt von landlosen Bauernfamilien, die in die Städte oder in den Tropenwald der Selva Lacandona abwandern, sowie durch Tagelöhner, die durch Schuldknechtschaft an die Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen gebunden sind.

Alte Konflikte

Diese Situation extremer Marginalisierung der größtenteils indianischen Landbevölkerung, die einhergeht mit einem auch für mexikanische Verhältnisse extremen Rassismus der städtischen Mittel- und Oberschicht von Tuxtla und San Cristóbal, hat ihren Ursprung in der Agrarstruktur des 19. Jahrhunderts, als die indianischen Dorfgemeinden im Zuge wirtschaftsliberaler Gesetze ihren kommunalen Landbesitz verloren. Das politische Programm des Zapatismo, die Rückerstattung von Kommunalland und die Selbstverwaltung der Dorfgemeinde, ist also weiterhin – und nicht nur in Chiapas – unerfüllt geblieben. Ausschlaggebend für das Entstehen einer “neozapatistischen” Bewegung in Chiapas ist jedoch zusätzlich, daß gerade hier die vorrevolutionären Verhältnisse mit der neoliberalen Politik der gegenwärtigen mexikanischen Regierung zusammentreffen: Mit der Privatisierung des Bodenbesitzes im Zuge der Reform des Verfassungsartikels 27, also des Rückgrats der Landreform, mit der Öffnung der Agrarmärkte sowie dem Abbau staatlicher Kredit- und Vermarktungshilfen führt Salinas im wesentlichen die Agrarpolitik des USA-hörigen und 1910 in der Revolution gestürzten Diktators Porfirio Díaz fort. Somit kann der bewaffnete Kampf der EZLN in Chiapas gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Campesinos/as und Indígenas der Beginn einer auch andere Regionen Mexikos umfassenden Bewegung sein.
Die Wahl der direkten militärischen Konfrontation mag in der in Chiapas besonders ausgeprägten politischen Polarisierung begründet sein: Im übrigen Mexiko ermöglichte nach der Landreform von Lázaro Cárdenas das Ejido und besonders deren Leitung als unterste Stufe innerhalb der PRI-eigenen Bauernorganisation eine sowohl politische als auch ökonomische Integration der Bevölkerung in den gesamtmexikanischen Staats- und Parteiapparat. Dagegen mußte die PRI in Chiapas auf die vorrevolutionären Koalitionen zwischen der im Bundesstaat herrschenden Oligarchie und lokalen Kaziken, den Dorfeliten, Zwischenhändlern und Monopolisten, zurückgreifen.
Da es in vielen Gemeinden keine PRI-beherrschten integrativen Organisationsstrukturen gibt, sind interne Konflikte nur lösbar, indem der Kazike seine wirtschaftliche und politische Macht gegen die oppositionelle Gruppe einsetzt. Dies ist in Gemeinden wie San Juan Chamula oder Zinacantan geschehen, wo die lokale PRI-Elite nach offenkundigen Wahlfälschungen bei Kommunalwahlen unter religiösen Vorwänden – dem Eindringen radikalprotestantischer Sekten – seit Mitte der siebziger Jahre alle Dissidenten aus ihrem Ort zu vertreiben sucht. In den Fällen, wo diese Strategie nicht gelingt, werden paramilitärische Einheiten, die guardias blancas (“weiße Wächter”), von den Großgrundbesitzern angefordert. Die im Laufe der siebziger Jahre entstandenen unabhängigen Campesino-Organisationen und ihre AnführerInnen stellen die vorrangigen Zielscheiben dieser Privatarmeen dar, die oft mit der bundesstaatlichen policía judicial, der “politischen Polizei”, eng zusammenarbeiten.
Chiapas ist Hauptempfänger von Geldleistungen im Rahmen des “Nationalen Solidaritätsprogrammes” PRONASOL, das direkt nach den Wahlen von Salinas eingeführt wurde, um die Verlierer der neoliberalen Wirtschaftspolitik – also die Oppositionswähler von 1988 – mit Hilfe punktueller Maßnahmen zur “Notlinderung” zurückzugewinnen. Indem PRONASOL-Mittel nur an eigens dafür einzurichtende und größtenteils PRI-dominierte “Solidaritätskomitees” vor Ort vergeben werden, versucht das Regime, unabhängige Organisationen und lokale Initiativen erneut an sich zu binden. Doch da PRONASOL nur oberflächlich momentane Hilfen vergibt, ohne die existierenden Besitz- und Wirtschaftsstrukturen anzutasten, mißlingt im Falle Chiapas dieses Anliegen trotz der beträchtlichen Mittel, die aufgewendet wurden. Die PRI kann nicht gegen die eigenen Regionaloligarchien vorgehen, ohne ihre letzten Stützpunkte auf dem Lande aufzugeben.

Die neue Grenze

Diese oligarchischen Strukturen werden allerdings zunehmend problematisch, da Chiapas im Zuge der wirtschaftlichen Integration Mexikos in den nordamerikanischen Markt geostrategische Bedeutung erlangt hat: Zum einen sind die USA daran interessiert, die bisher relativ “durchlässige” Südgrenze der NAFTA-Zone zu schließen, kurzfristig, um die “illegale Einwanderung” von Zentralamerika Richtung USA zu bremsen, und langfristig, um somit die Mauer der “Ersten Welt” vom Río Grande nach Süden zu verschieben. Und zum anderen birgt Chiapas ein noch nahezu unerschlossenes wirtschaftliches Potential, nicht nur, was Tropenholz, Artenpatentierung und Staudämme in der Selva Lacandona betrifft, sondern vor allem hinsichtlich umfangreicher in diesem Gebiet gefundener Erdölreserven; deren Förderung ist zur Zeit noch blockiert, da die transnationalen Ölkonzerne darauf warten, daß Salinas die letzte Errungenschaft der mexikanischen Revolution preisgibt und das staatliche Erdölmonopol PEMEX zum Verkauf anbietet. Die regionale Viehzüchtervereinigung beabsichtigt außerdem, zur Belieferung des NAFTA-Marktes inmitten der Selva Lacandona eine großflächige Rinderfarm inklusive Fleischverarbeitungsbetrieb zu errichten, nur daß dafür noch 300.000 ha. Land benötigt werden, die sich (noch) im Besitz indianischer Campesinos/as befinden.
Vor diesem globalpolitischen und -ökonomischen Hintergrund muß die Militarisierung der Landkonflikte in Chiapas gesehen werden. Mit dem innenpolitischen Einsatz der Armee versucht die PRI, den direkten Zugang zu den strategisch wichtigen Ressourcen und Regionen des Landes wiederherzustellen, der gerade an der guatemaltekischen Grenze verloren zu gehen drohte. Gleichzeitig gelingt es Salinas, durch den Kampf gegen “Guerrilla, Drogenhandel und illegale ImmigrantInnen” das Militär (partei-)politisch zu kompromittieren und so auf einen eventuell im Sommer 1994 nach den Präsidentschaftswahlen und -wahlfälschungen nötigen großflächigen Einsatz gegen die parlamentarische Opposition vorzubereiten.
Daß der Einsatz des Militärs wohl kalkuliert und lange vorbereitet wurde, zeigt die Vorgeschichte des Januar-Aufstands des EZLN. Seit 1991 und verstärkt seit März 1993 fordern die Viehzüchter- und Großgrundbesitzervereinigungen von der Zentralregierung Armeeverbände zum Kampf gegen “Subversive” an, die eine Guerrilla im Regenwald aufbauen würden, gegen die ihre eigenen Repressionsapparate machtlos sind. Als im Mai 1993 eine Armee-Einheit auf ein Kommando des EZLN stößt, werden zum ersten Mal willkürlich nahe gelegene Dörfer bombardiert und einzelne BewohnerInnen verhaftet und gefoltert. Die Regierung versucht, die gesamte Operation geheimzuhalten und schnell abzubrechen, da gleichzeitig in den USA heftig über NAFTA debattiert wird; das knappe Abstimmungsergebnis im US-Kongreß zeigt, daß eine großangelegte Militäraktion schon im Sommer NAFTA wegen der voraussehbaren Reaktion der nordamerikanischen Öffentlichkeit hätte scheitern lassen. Erst mit dem Inkrafttreten von NAFTA 1994, das von vielen als “Kriegserklärung” an das indianische und bäuerliche Mexiko gewertet wird, bricht tatsächlich Krieg aus: ein Krieg zwischen dem Mexiko der USA-orientierten Modernisierer aus Mexiko-Stadt und dem agrarischen, dem “tiefen Mexiko” (Bonfil Batalla), dessen Zivilisation seit 500 Jahren negiert wird.

Campesino/a- und Indígena-Bewegungen in Chiapas

Ungefähr 10.000 Tzotzil, Tzeltal, Tojolabal und Chol – viele von ihnen symbolisch bewaffnet mit Pfeil und Bogen – zogen am 12. Oktober 1992 nach San Cristóbal und stürzten die Statue von Diego de Mazariegos zu Boden, mit dessen Invasion des Hochlands 1527 die Kolonisation Chiapas’ begonnen hatte. Diese und ähnliche Protestmärsche auch in anderen ethnischen Regionen Mexikos weisen auf eine fast 500jährige Kontinuität nicht nur der Invasion, des Landraubs und der Erniedrigung, sondern auch des indianischen Widerstandes – eines Widerstandes, der im Alltagsleben, in der Familie verwurzelt ist, der immer von der Dorfgemeinde ausgeht und deren sichtbarster Ausdruck die sogenannten Aufstände sind. Die Geschichte Chiapas’ ist die Geschichte von Revolten, deren Niederschlagung sowie deren Reorganisation: 1693 setzen die Zoque von Tuxtla ihren spanierhörigen Kazike ab, woraufhin spanische Truppen ein Massaker anrichten; im Jahre 1712 rebellieren, angespornt von einer indianischen Jungfrau Maria, 32 Tzotzil- und Tzeltal-Dörfer – zum großen Teil dieselben wie jetzt 1994! – gegen immer höhere Tributforderungen der Kirche und der Nachkommen der Conquistadores, bis im Gegenzug ganze Dörfer vernichtet werden; zwischen 1869 und 1870 belagern die Tzotzil unter Führung von Pedro Díaz Cuscat San Cristóbal, um ihr Kommunalland gegen die Privatisierungsreformen zu verteidigen – niedergeschlagen wird diese Rebellion vom damaligen Gouverneur, einem Uronkel des vom EZLN entführten Ex-Gouverneurs Absalón Castellanos Domínguez!
Die Kontinuität des indianischen Widerstandes nicht nur in Chiapas, sondern ganz Mexikos nährt sich aus der Verteidigung der politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Autonomie der Dorfgemeinde als der einzigen eigenen Organisationsform, die nicht durch die europäische Invasion und Kolonisation zerstört wurde. Ausgehend von dieser gemeinsamen Aktionsbasis verändern sich die Motive der indianischen Bewegungen entsprechend den Phasen der “Modernisierungspolitik” der Kolonisatoren:
1. Da die Spanier ihr Regime zunächst nicht auf Landbesitz gründen, sondern – neben der Missionierung – auf Kontrolle der indianischen Arbeitskraft und ihrer Früchte, richtet sich der lokale Widerstand gegen Tributzahlungen. Wie heute kämpfen die Dorfgemeinden innerhalb des kolonialen Rechtssystems (Petitionen an den König, gerichtliche Klagen etc.); doch wenn der Druck zu stark wird, entziehen sie sich dem System, in Chiapas meist durch Flucht in die noch nicht kolonisierte Selva – genauso wie 1994!
2. Als Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts die criollos, die Nachkommen der spanischen Eroberer, von der Abschöpfung von Tributen übergehen zur direkten Aneignung nicht nur entvölkerter Gebiete, sondern auch des Kommunallandes der Dorfgemeinden und so die haciendas, fincas und andere Formen des Großgrundbesitzes entstehen, konzentriert sich der indianische Widerstand auf die Rückgewinnung der Souveränität über Land. Die Enteignungswelle spitzt sich bis zum Ausbruch der Revolution 1910 zu, an der die indianischen Dorfgemeinden Südmexikos unter Zapatas Banner Tierra y Libertad teilnehmen. In den Regionen, wo eine Landreform tatsächlich erfolgt und den Gemeinden ihre Besitztümer rückerstattet werden, ruhen dementsprechend die indianischen Bewegungen zwischen den vierziger und siebziger Jahren dieses Jahrhunderts; doch in Chiapas geht der juristische und politische Kampf um die Anerkennung und Wiedererlangung ihres Landes – als Kommunalland oder als Ejido – bis heute weiter.
3. Auch in den Gebieten, wo eine Landreform tatsächlich durchgeführt wurde, verlieren die indianischen Gemeinden im Zuge der “Grünen Revolution”, der Mechanisierung, Kapitalisierung und Marktintegration der vormals regional subsistenten Landwirtschaft ihre wirtschaftliche Autonomie; sie werden abhängig von externen, staatlichen oder privaten Technologieanbietern, Zwischenhändlern und Kreditgebern. Daher bildet sich seit Ende der siebziger Jahre eine neue Campesino/a- und Indígena-Bewegung, die sich zusätzlich zur weiterhin akuten Rückeroberung von Land der Wiederherstellung der eigenen Kontrolle über den Produktionsprozeß im Rahmen kapitalistischer Marktstrukturen widmet; es entstehen neue, auch regionale und ansatzweise sogar nationale Organisationsformen wie Zusammenschlüsse verschiedener Ejidos zur gemeinsamen Produktvermarktung, Kreditvereine und Produktionskooperativen.
4. Und schließlich zeichnet sich seit Mitte bis Ende der achtziger Jahre eine neue Widerstandsfront ab, die bestrebt ist, die agroindustrielle Ausbeutung der Naturressourcen indianischer Regionen und der dadurch bewirkten Zerstörung der Lebensgrundlagen sowie die Patentierung des “genetischen Reservoirs” durch Pharma- und Chemiekonzerne zu bekämpfen. Es entstehen neue Organisationen zur Wiederaneignung und Verbreitung traditioneller, ökologisch angepaßterer Anbauformen. Um das weitere Vordringen agroindustrieller Konzerne zu verhindern und um sich nach Salinas’ Verfassungsreform gegen die Umsetzung der Privatisierung des Landbesitzes zu wehren, reicht die lokale Ebene des Widerstands nicht mehr aus. Daher bilden sich in vielen ethnischen Regionen Organisationen, die die Wiedergewinnung der politischen und wirtschaftlichen Kontrolle nicht nur über Kommunalland, sondern über ein ganzes Territorium samt seiner energetischen Ressourcen zum Ziel haben.
Auch wenn die Subjekte dieser Bewegungen historisch immer Indígena-Organisationen (einzelne Dörfer, ganze indianische Völker oder multiethnische Zusammenschlüsse) waren, entstehen seit den siebziger Jahren ähnliche Bewegungen unter mestizischen Campesinos. Da die Problematik meist identisch ist und so gut wie alle auf dem Land lebenden Indígenas kleinbäuerlich wirtschaften, sind die Hauptforderungen auch identisch; der Unterschied besteht nur darin, daß ethnisch geprägte Organisationen ihre Autonomieansprüche z.B. auf Land integral verstehen und somit in ihre Gesamtkultur eingebunden wissen wollen, während die meisten mestizisch geprägten Campesino-Gruppen die juristischen und ökonomischen Aspekte des kollektiven Landbesitzes betonen.
Die skizzierten Phasen der Campesino/a- und Indígena-Bewegungen sind in Chiapas wegen des Zusammentreffens vor-revolutionärer und neoliberaler Modernisierungsbestrebungen zeitgleich vorhanden: Auf den Kaffee- und Zuckerrohrplantagen kämpfen ganze Dorfgemeinden weiterhin um die Kontrolle der eigenen Arbeitskraft, da hier Schuldknechtschaft, Bezahlung in Naturalien im Finca-eigenen Monopol-Laden sowie teilweise sogar das jus primae noctis (das Vorrecht des Plantagenbesitzers auf den ersten Sexualverkehr der Töchter seiner Arbeiter) fortbestehen. Einer Protestbewegung in Simojovel, Chiapa de Corzo und El Naranjal gelang es 1977, die Besitzer einer Kaffee-Finca zu verteiben und diese als Ejido-Kooperative eigenständig weiterzuführen; bis heute kämpfen sie um die juristische Anerkennung ihres kollektiven Landbesitzes.

Der Indígena-Kongreß 1974

Ebenso wie in diesem Falle die Rückgewinnung der Kontrolle der eigenen Arbeitskraft in eine Bewegung zur Landverteilung mündet, entstehen in Chiapas Anfang der siebziger Jahre Organisationen, die die Versprechungen der Landreform einklagen und gleichzeitig eigenständige Vermarktungskanäle und Kreditvereine zu bilden beginnen. Von zentraler Bedeutung für den Übergang von lokal isolierten Initiativen hin zu regionalen und multiethnischen Organisationsformen war der Erste Indígena-Kongreß, der 1974 in San Cristóbal stattfand. Der Gouverneur des Bundesstaates dachte ihn als propagandistische Schauvorstellung zum 500jährigen Gedenken an die Geburt des ersten Bischofs von Chiapas, Bartolomé de Las Casas. Mangels offizieller Kontakte zur Basis wurde die Vorbereitung des Kongresses der Diözese von San Cristóbal anvertraut.
Der schon seit 1960 in der Region wirkende Bischof Samuel Ruíz bot zusammen mit seinen in den Dörfern aktiven KatechetInnen von 1972 bis 1974 sowohl den PRI-nahen als auch unabhängigen Gruppen Kurse über Landrecht, Produktionstechniken, Kreditquellen und mexikanische Geschichte an. Dank dieser intensiven Vorbereitung und der im Verlauf des Kongresses gewonnenen Erkenntnis, daß die Probleme der teilnehmenden Tzeltal, Tzotzil, Tojolabal und Chol im wesentlichen identisch sind, entstanden schon 1975 die ersten Uniones de Ejidos, unabhängig von der PRI-Bauernorganisation agierende regionale Zusammenschlüsse verschiedener lokaler Ejidos. Ihr primäres Ziel bestand in der juristischen Anerkennung bestehender sowie in der Schaffung neuer Ejidos; dies führte schon bald zu Konflikten mit Viehzüchtern, Plantagenbesitzern und Holzhändlern sowie mit lokalen Kaziken, die mit ihnen kollaborieren.

Netzwerke

Es kommt zum Einsatz offizieller oder paramilitärischer Repressionsmittel – wie schon in den Jahrhunderten zuvor werden ganze Dörfer, 1979 Vololchan und 1983 Simojovel und Bochil, massakriert.
Zur politischen Vertretung der eigenen Interessen werden mit Hilfe von KatechetInnen, die in verschiedenen Dörfern kirchliche Basisgemeinden aufbauen, erste Dachverbände für ganz Chiapas gegründet. Während sich die 1982 von Tzotzil aus Venustiano Carranza gebildete OCEZ (Organización Campesina Emiliano Zapata) vorrangig der juristischen Beratung und politischen Mobilisierung bei Landkonflikten widmet, forciert die 1980 geschaffene und 180 Dorfgemeinden umfassende Unión de Uniones de Ejidos y Grupos Campesinos Solidarios de Chiapas besonders den Kampf um die Kontrolle des Produktions- und Vermarktungsprozesses:
– Zum einen existiert seit 1982 mit der Unión de Crédito Pajal Ya’ Kactic eine parteiunabhängige Organisation, die aus verschiedenen Quellen (heute u.a. auch PRONASOL-Mitteln) zinsgünstige Kredite beschafft und sie an ihre Mitgliedsgruppen weiterleitet.
– Und andererseits versucht die Unión de Uniones, alternative Vermarktungskanäle für ihre KaffeeproduzentInnen zu öffnen.
Im Verlauf der achtziger Jahre integrieren sich die größten regionalen Zusammenschlüsse in lockere Koordinationen, die ganz Mexiko umfassen, wie die auf politische Interessenvertretung der Campesinos spezialisierte CIOAC (Central Independiente de Obreros Agrícolas y Campesinos) und das Netzwerk zur Kaffeevermarktung CNOC (Coordinadora Nacional de Organizaciones Cafetaleras).
Wie schon in der spanischen Kolonialzeit konzentrieren sich die Widerstandsformen auf die Ausschöpfung aller möglichen legalen Mittel: Petitionen, Gerichtsverfahren durch alle Instanzen, Demonstrationen und Protestmärsche – wie der im März 1992 in Palenque begonnene und von Chol, Tzotzil, Tzeltal, Tojolabal und Zoque aus ganz Chiapas mitgetragene Marsch der Xi’ Nich’ Wen Mich’, der “sehr erbosten Ameisen”, auf Mexiko-Stadt, um jahrelang anhängige Landtitel-Vergaben, die Freilassung indianischer Strafgefangener und die Absetzung korrupter Regionalpolitiker zu erreichen.

Bewaffneter Widerstand

Doch in den Gemeinden vor allem in der Selva, wo nach Erschöpfung aller Regierungsinstanzen die Konflikte ungelöst bleiben und nur durch Repression zu unterdrücken versucht werden, bildet sich – wie schon in den fünf Jahrhunderten zuvor – bewaffneter Widerstand. Seit 1974 kommt es vor allem in Ocosingo immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Guerrilla-Einheiten der “Bewaffneten Armee zur Nationalen Befreiung” FALN (Fuerzas Armadas de Liberación Nacional) und paramilitärischen Gruppen der Vieh- und Holzhändler sowie den nachrückenden militärischen Verbänden.
Das EZLN geht vermutlich Anfang der achtziger Jahre aus der FALN hervor; damals zieht sich deren ideologische Führungsgruppe, vor allem Überlebende der 68er Studentenbewegung und der 1974 im Bundesstaat Guerrero zerschlagenen Guerrilla, aus der Selva zurück und bekleidet heute Leitungsfunktionen in der PRI-Campesino/a-Organisation sowie in diversen Ministerien. Das neue EZLN verschafft sich durch Überfälle und die Entführung reicher Viehzüchter, Plantagenbesitzer und Zwischenhändler (seit 1988 allein 2.000!) eine breite finanzielle Basis zur Bewaffnung großer Bevölkerungsteile. Dies entspricht der neuen Strategie der jetzt einheimischen Anführer: Statt einen langatmigen und eher defensiven Guerrillakrieg verstreuter Kommandos zu führen, wie es das Konzept der Guerra Popular Prolongada der abgezogenen Kader vorsah, werden militärische Einheiten gebildet, die dank ihrer Unterstützung durch die umliegenden Dorfgemeinden eine frontale Auseinandersetzung mit den Regierungstruppen wagen können, wie das Vorgehen des EZLN seit dem 1. Januar 1994 zeigt. Eine derartige Taktik wäre – dies geben die heute etablierten Ex-Guerrilleros/as verblüfft zu – in der ländlichen Guerrilla der siebziger Jahre undenkbar gewesen.

Entflammte Proteste

In den Wochen und Monaten davor war es bereits in verschiedenen Provinzen des Nordwestens zu Demonstrationen gegen geplante Entlassungen im öffentlichen Sektor gekommen. Die Proteste richteten sich außerdem gegen die niedrigen Löhne und Renten und die monetaristischen Roßkuren der Regierung. Die Provinzregierungen stecken in der Klemme; sie können ihre Ausgaben nur mit Krediten und Vorschüssen der Zentralregierung decken. Diese verlangt aber Kostensenkungen durch Rationalisierung.
Am 9. Dezember hatten die Gewerkschaften der Staatsangestellten und DozentInnen in La Rioja gegen die geplante Entlassung von mehr als 6.000 Angestellten aus dem öffentlichen Dienst demonstriert. In La Rioja, wo Menem früher Gouverneur war, ist 90 Prozent der aktiven Bevölkerung im öffentlichen Dienst beschäftigt. Insgesamt sind das 54.000 Personen, davon 33.000 ohne klare Funktion. In La Rioja warfen die DemonstrantInnen Knallfrösche und Kanonenschläge, worauf die Polizei Tränengas einsetzte. Als sich die Demonstration auflöste, wurden ein Behördenfahrzeug und die Tür des Regierungsgebäudes in Brand gesteckt. Das Haus von Carlos Menem wurde mit Steinen beworfen, das seines Bruders, dem Senatsvorsitzenden Eduardo Menem, mit Beschimpfungen besprüht. Die argentinische Tageszeitung Pagina/12 titelte am 10. Dezember: “La Rioja brodelt”.

La Rioja brodelt –
Santiago brennt

In Santiago del Estero hatte bereits am 10. Dezember eine friedliche Demonstration stattgefunden, deren Forderungen – Zahlung der ausstehenden Gehälter, Rücknahme der angekündigten Entlassungen, Bekämpfung der Korruption – unerfüllt geblieben waren. Die Gewerkschaft der Staatsangestellten ATE (Asociación de Trabajadores del Estado), die dem oppositionellen Gewerkschaftsdachverband CTA (Congreso de Trabajadores Argentinos) angehört, rief für den 16. Dezember erneut zu einem Protestmarsch auf. Bereits am Mittag hatte die Provinzpolizei bereits ihre gesamte Munition an Tränengas und Gummikugeln verbraucht. Ab Mittag begann dann die heiße Phase der Demonstration: Neben den Regierungs- und Justizgebäuden wurden auch die Villa des Ex-Gouverneurs Iturre und die Privathäuser von weiteren 15 Abgeordneten der regierenden peronistischen Partei (PJ), der oppositionellen Radikalen Partei (UCR) und hoher Justizbeamter geplündert und angezündet. José Zavalía, der Caudillo der UCR in Santiago del Estero und einer der ersten seiner Partei, die Menems Pläne einer Verfassungsreform unterstützen, konnte nur mit der Pistole in der Hand die Plünderung seines Eigenheims verhindern.

Die Korrupten sichern sich ihre Einkommen

Das erste Mal seit Jahren nimmt die internationale Presse eine Demonstration gegen die Marginalisierung von Bevölkerungsgruppen und die sich ausbreitende Misere in Argentinien zur Kenntnis. Der Protest brach aus, nachdem die Provinzregierung ihren Angestellten noch Mitte Dezember die Löhne und Gehälter von Oktober schuldete. Zudem kündigte sie eine große Zahl von Entlassungen auf der untersten Gehaltsebene an, die im “Pacto Fiscal” mit der Zentralregierung vereinbart waren. Auf dieser Ebene liegen die Gehälter bei ungefähr 200 Pesos und stellen angesichts fehlender Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft eher eine versteckte Arbeitslosenversicherung dar. Die unvergleichlich höhere Besoldung der höchsten politischen Ämter sollte dagegen unangetastet bleiben. Ein Richter des Berufungsgerichtes der Provinz verdient im Monat 14.000 Pesos – in einem Bundesgericht allerdings “nur” 3.500 Pesos. Das Versprechen des Gouverneurs Fernando Lobo (PJ), diesem Mißstand zu begegnen und als erste Maßnahme sein eigenes Gehalt von 8.000 Pesos zu senken, hatte er mit seinem Amtsantritt vergessen. Lobo trat nach einer tiefen politisch-institutionellen Krise Ende Oktober als Vizegouverneur die Nachfolge des ebenfalls peronistischen Carlos Mujica an. Die Zentralregierung erklärte sich damals bereit, durch Vorabzahlung zukünftiger Steuereinnahmen der Provinzregierung aus der Liquiditätskrise zu helfen. Bedingung war allerdings, daß die Provinz ihre Ausgaben reduziere. Nach knapp zwei Monaten warteten die Provinzangestellten allerdings immer noch auf ihre Gehälter. Als einzige Rationalisierungsmaßnahme drohte einer Vielzahl von ihnen die Entlassung. Das sah ein Gesetz vor das die PeronistInnen gemeinsam Teilen der UCR verabschiedet hatten, “um die Regierbarkeit zu garantieren” und die Intervention der Provinz durch die Zentralregierung zu verhindern.

Santiago del Estero im Abseits

Santiago del Estero ist heute eine der ärmsten Provinzen Argentiniens und ohne wirtschaftliche Perspektiven. Das war nicht immer so: Die gleichnamige Hauptstadt kann mit Stolz von sich behaupten, die erste von den spanischen Eroberern 1553 gegründete Stadt des heutigen Argentiniens zu sein. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verfügte sie auch über eine für damalige Verhältnisse weit entwikkelte Textilproduktion. Der örtliche Baumwollanbau versorgte die Küstenprovinzen und Buenos Aires. Die eigenständige Entwicklung der Manufakturen wurde, wie in vielen der Andenprovinzen, mit der Durchsetzung des Agroexportmodells ab 1880 und des damit verbundenen Imports von industriell gefertigten Textilien aus England unterbunden.
Seit der Kolonialzeit waren die einst für die Provinz typischen Quebrachowälder zum Großteil abgeholzt worden und die ehemalig waldige Provinz verwandelte sich auf großen Flächen in eine Wüste. Das heiße und trockene Klima trug zur Versalzung der Böden bei: Landbau und vor allem Viehzucht, Angelpunkte des wirtschaftlichen Entwicklungsmodells um die Jahrhundertwende, konnten sich in Santiago nicht gewinnbringend entwickeln. So gab es auch keine Grundlage für eine nachfolgende industrielle Entwicklung. Viele Santiageñas/os wanderten in die Städte des Litoral Buenos Aires, Rosario und La Plata ab. Die ländliche Selbstversorgung ging weitgehend verloren. Heute liegt das Bevölkerungswachstum unter dem argentinischen Durchschnitt; aufgrund der schlechten Gesundheitsversorgung sterben 15 von 1.000 Kindern. Auch das Erziehungswesen der Provinz ist miserabel. Wegen der Lehrerstreiks für Gehaltszahlungen fanden im vergangenen Schuljahr nur 52 Unterrichtstage statt. Die niedrigen Weltmarktpreise der Hauptprodukte der Provinz (Baumwolle, Quebracho-Holz, Wein und Oliven) vermindern die wirtschaftliche Aktivität zusätzlich und führen damit zum Verlust der ohnehin vorwiegend saisonabhängigen Arbeitsplätze in der Landwirtschaft. So überrascht es nicht, daß die Mehrzahl der aktiven Bevölkerung von einer Beschäftigung im öffentlichen Dienst als einziger Möglichkeit eines regelmäßigen Einkommens abhängig ist. Die politische Macht in Santiago del Estero basiert zu einem großen Teil auf Klientelismus, der Stimmen gegen Posten im öffentlichen Dienst tauscht und der Vergabe von öffentlichen Aufträgen an Firmen der Politiker, beispielsweise im Straßenbau.
Diese Pfründewirtschaft wurde am 16. Dezember vor den Augen der Kameras aufgedeckt: Die DemonstrantInnen brachen in die Villen der Politiker und hohen Beamten ein, schleppten Kisten von schottischem Whisky, Champagner und feinsten Weinen ab, probierten italienische Maßanzüge und “erwarben” zum ersten Mal importierte Audio- und Videogeräte.

Erfolgreicher Protest?

Die BundespolitikerInnen reagierten im allgemeinen verständnisvoll auf die kritische soziale Situation in Santiago del Estero und erkannten die Forderungen der DemonstrantInnen an. Allein Menem und Cavallo zeigten Reaktionen, wie sie für die Zeiten der Militärdiktatur typisch waren: Provokateure aus anderen Provinzen oder sogar aus dem Ausland sollten für die Ausschreitungen verantwortlich sein. So versuche angeblich Sendero Luminoso, in Nordargentinien Fuß zu fassen. Die Geheimdienste konnten derartiges aber nicht bestätigen. Presse und OppositionspolitikerInnen vertraten allerdings die Auffassung, der Aufstand sei eine Konsequenz der Anpassungspolitik, so daß Cavallo seine Argumentation schließlich änderte: Schuld am “estallido social” sei die Korruption der LokalpolitikerInnen, die aus persönlichem Interesse die Strukturreformen zu vermeiden trachteten und damit eine Verbesserung der Situation aufhielten.
Die Hauptsorge des Innenministers, Carlos Ruckauf, war das Versagen der Provinzpolizei bei der Aufstandsbekämpfung: Bis zum Tag der Demonstration vom 16. Dezember war nicht einmal klar, ob die Provinzpolizei überhaupt den Befehlen des Gouverneurs folgen würde, da die Provinzregierung auch der Polizei die Gehälter der letzten zwei Monate schuldete. Ruckauf schickte deshalb am Nachmittag des 16. Dezember Grenzschutztruppen zur Unterstützung nach Santiago del Estero. Als Konsequenz dieser Erfahrungen beschäftigt sich das Kabinett derzeit mit der Bildung “schneller Eingreiftruppen” zur Bekämpfung von Aufständen. Nach der staatlichen Intervention hat sich die Situation in Santiago del Estero vorübergehend etwas beruhigt. Juan Schiaretti, ein enger Vertrauter Cavallos erhielt aus dem Staatsetat einen Vorschuß und begann bereits 48 Stunden nach Beginn des Aufstands, die ausstehenden Gehälter zu bezahlen. Da ein Großteil der Akten in Flammen aufgegangen war erhielten alle Angestellten eine feste Summe von 500 Pesos, die RentnerInnen bekamen 300 Pesos. Außerdem wurden Strafverfahren wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder gegen den Ex-Gouverneur Carlos Mujica und weitere hohe Beamte der Provinzregierung eingeleitet. Das Anpassungsgesetz wurde vorerst ausgesetzt, und die Gehälter der obersten Provinzbeamten sollen auf das Niveau der des Bundesstaates gekürzt werden. Trotzdem gingen am 16. Januar über 2.000 Santiageñas/os auf die Straße, um den “Siestazo”, die zwei freien Tage zu feiern und ihre Forderungen zu wiederholen.

Santiago war nur der Anfang

Aufgrund der kritischen wirtschaftlichen Situation vieler nordargentinischer Provinzen könnte es sein, daß die Geschehnisse in Santiago del Estero nur einen vorläufigen Höhepunkt sozialer Aufstände darstellen. Auch im Chaco, in Tucumán, Salta, Catamarca und Jujuy kam es schon zu Protestdemonstrationen gegen die “Anpassungspolitik”. Und der Abschluß der GATT-Verhandlungen hat die Chancen der Provinzen eher noch verschlechtert.
Auch wenn derzeit ausländische Investitionen nach Argentinien fließen, offenbaren sich mit den Ereignissen in Santiago del Estero erneut die Widersprüche des neoliberalen Modells, die Horacio Verbitsky am 26. Dezember in Pagina/12 folgendermaßen beschreibt:
“Sind auch die Brände gelöscht, die Trümmer weggeräumt und die Asche weggekehrt, bleiben doch die grundlegenden Probleme bestehen, denen sich die Regierung Menem gegenübersieht. Die Korruption, die jetzt von allen in Santiago verurteilt wird, ist keine Anomalie, sondern eine Regierungsmethode, und das gilt nicht nur für diese eine Provinz, sondern für das ganze Land. Die mit der politischen Macht verbundenen überzogenen Gehälter und illegalen Geschäfte sind keine Schönheitsfehler des neoliberalen Modells, sondern eine Grundbedingung seiner Existenz. Die Stimmen im Kongreß oder in den Gemeinderäten, die Anwesenheit und sogar die Abwesenheit in den Sitzungen, alles hat einen Tarif, den die Schatzmeister der Regierung zahlen, ohne mit der Wimper zu zucken. Das erklärt so manchen plötzlichen Meinungsumschwung, wie er notwendig war, um einige äußerst umstrittene Gesetze wie die Privatisierung des Rentensystems zu verabschieden. (…) Die Korruption ist der Preis, den man den leitenden Parteipolitikern zahlen muß, damit sie ihren Überzeugungen, für die sie und ihre Partei gewählt wurden, abschwören und genau das Gegenteil tun. Wenn der “Bruder Eduardo” (Eduardo Menem) und die anderen Abgeordneten von ihrer Arbeit leben müßten, hätten sie Blei in den Armen und würden kaum ihre Hand heben, um ihre Stimme zugunsten der Übereinkünfte der Regierung mit den “Grupos Económicos” abzugeben. Die Korruptionsbekämpfung ist an sich gesund, denn sie dient tendenziell dazu, die Gesellschaft mit ihren Repräsentanten zu versöhnen. Aber das neoliberale Modell erlaubt dies bloß in einem sehr begrenzten und effektheischenden Rahmen, denn eine tiefgehende Bekämpfung dieses Übels würde die Grundlagen des Modells selbst in Frage stellen.”

Es bleibt nur eine Alternative: Lula

ALAI: Wieder wird Brasi­lien von Korruptionsge­schichten erschüttert, diesmal sind Parlamenta­rier darin ver­wickelt. Wo­hin kann all dies füh­ren?
L.E. Greenhalgh: Die Lage im Land ist sehr ernst, wir sind in einer Sackgasse. Die Korruption hat mit der Absetzung von Collor nicht aufgehört, sondern ist noch schlimmer geworden, nachdem nun auch Parlamentarier und Richter in Verdacht gekommen sind.
Das Land ist gelähmt, und alle Blicke sind nur auf die Korruptionsskandale gerichtet. Die Regierung regiert schon nicht mehr, die Streitkräfte tun so, als sei nichts, das Parlament verabschiedet keine Gesetze, seit es die Überarbeitung der Verfassung unterbrochen hat, die Justiz erfüllt ihre Funktion nicht mehr, und das Volk ist empört. Das alles hat eine politische Si­tuation geschaffen, die den Zeitplan für die Verfassungsreform durcheinanderge­bracht hat. Es gibt möglicherweise vorge­zogene Wahlen, und man kann auch Putschpläne nicht mehr ganz ausschlies­sen.

Präsident Itamar Franco persönlich hat geklagt, auf ihn werde Druck aus­geübt, einen Staatsstreich nach Fujimori-Art durch­zuführen. Wie wahrscheinlich er­scheint Ihnen eine solche Entwick­lung?
Hätte Itamar die politische Macht, hätte er bereits den Kongress geschlossen und einen Staatsstreich wie Fujimori gemacht, aber er hat keine Macht. Er wurde Präsi­dent, weil Collor abgesetzt wurde, er­nannte Männer mit guten Absichten zu Ministern, aber die Regierung bewegt nichts, diese Leute treten auf, reden viel, aber sie tun nichts. Zum Beispiel der Fi­nanzminister ist ein angesehener Mann, der sich hier verausgabt, denn das brasi­lianische Volk möchte, daß die Inflation von monatlich 40 Prozent gestoppt wird, aber das schafft er nicht. Hätte er die In­flation eingedämmt, wäre die Regierung Itamars aus dem Skandal im Parlament gestärkt hervorgegangen, aber da er es nicht konnte, haben sie keine politische Kraft und können keinen Putsch à la Fu­jimori wagen.
Meiner Ansicht nach gibt es in Brasilien nur eine Alternative: die von Lula, die im Aufbau eines demokratischen Gemeinwe­sens besteht, mit dem Wirtschaft und Po­litik gesunden können. Es wird keine linke Regierung, keine sozialistisch-revolutio­näre, aber es wird eine revolutionäre Re­gierung in Bezug auf die Lage, in der Bra­silien sich befindet. Eine Regierung, die die Agrarreform im Griff hat, den Reich­sten Steuern auferlegen kann, die Straflo­sigkeit beendet, Ausbildung und Gesund­heitsversorgung verbessert und ein wenig die Inflation kontrollieren kann. Wenn das alles in Brasilien geschieht, können wir schon von einer Revolution sprechen: Für Brasilien gibt es keine an­dere Möglich­keit, es gibt nur eine, und das ist Lula.

Seit einiger Zeit scheint es, als ob in einigen Staaten separatistische Be­wegungen an Bedeutung gewinnen…
Meiner Meinung nach ist diese Welle von separatistischen Bewegungen in der Welt eine der Folgen des Endes des Kalten Krieges. Die Erde war lange in zwei Lager gespalten mit dem Ost-West-Konflikt. Aber nachdem diese Polarisierung ver­schwunden ist, verlagern sich die Ge­wichte auf die Regionen, und nun sehen wir die separatistischen Bewegungen mitten in Europa aufkommen und ebenso in Südamerika, in Brasilien, in Argenti­nien, in Chile. Ich glaube, daß das Ende der Bipolarität der Welt die regionale Bi­polarität hervorgebracht hat.
Darüber hinaus gibt es in Brasilien wirt­schaftliche Bedingungen, die die separati­stischen Bewegungen besonders im Süden des Landes fördern, denn die brasiliani­sche Wirtschaft spielt sich größtenteils im Süden ab. Und da entsteht ein Gefühl, daß der Süden dafür arbeitet, die Last des gan­zen Landes zu tragen und daß das nicht gerecht ist; sie denken, daß sie weiter entwickelt sein könnten, wenn es nicht die große Asymmetrie zwischen dem Norden und besonders dem Nordwesten und dem Süden gäbe.
Die Situation verschärft sich, denn die Regierung kann nicht damit umgehen. Sie möchte das Gesetz über die Nationale Si­cherheit umarbeiten, um es auf die Führer der Separatistenbewegungen anwenden zu können. Wenn sie dieses Gesetz anwen­den können, kann die Regierung solche Gruppen politisch verfolgen. Die Regie­rung von Itamar ist eine dumme Regie­rung. Ich glaube, wenn Brasilien seine “finanzielle Gesundheit” verbessert, dann werden diese Bewegungen wieder an Be­deutung verlieren.
So unglaublich es klingt, aber Lula ist eine der ganz wenigen Personen, die die mora­lische Autorität besitzen, das Land zu einen auf der Basis einer Zukunftspla­nung, und damit wird er die nationale Einheit fördern.

In Bezug auf Amazonien hört man, daß es einen Plan geben soll, die bra­silianische Armee zurück­zuziehen, um eine interna­tionale Kontrolle dieser Re­gion einzurich­ten. Wie steht die PT dazu?
Ein Hauptpunkt in den Gesprächen der PT mit den Militärs wird Amazonien sein und besonders das Projekt Calha Norte [Calha Norte war ursprünglich ein militärisches Projekt zur Sicherung der Grenze Amazo­niens; s. LN 180.], nicht, um etwas mit den Militärs auszuhandeln, sondern um einen Dialog über ihre mögliche Rolle in einer demokratischen, an den Interessen des Volkes orientierten Regierung zu be­ginnen.
Die PT und die Militärs haben seit jeher sehr verschiedene Grundauffassungen. Die PT wurde während der Militärregie­rung verfolgt. Im Demokratisierungspro­zeß haben die Militärs nie das Gespräch mit der PT gesucht. Jetzt wollen die Mili­tärs mit der PT sprechen, denn es besteht eine reale Möglichkeit, daß wir die Regie­rung stellen. Die Militärs erkennen an, daß die PT die einzige Partei mit einem Pro­gramm ist, das einen Ausweg für Brasilien aufzeigt. Deshalb versuchen beide Seiten, sich gegenseitig ernstzunehmen.
Außerdem reden wir mit den Militärs, um zu wissen, was ihre Vorstellungen und Schwerpunkte sind. Ihr erster Schwer­punkt, so sagen sie, ist die Professionali­sierung der Armee, die nie stattgefunden hat, da die Regierungen dafür keinen Etat hatten. Sie sagen, daß jedenfalls theore­tisch die Streitkräfte umso weiter von der Politik entfernt sind, je professionalisierter sie sind.
Ihre zweite Aufgabe ist die Verteidigung des nationalen Territoriums und der Gren­zen. Die Doktrin der Nationalen Sicher­heit, die einen äußeren und einen natürli­chen inneren Feind voraussetzt, ist über­holt. Deshalb sind die Militärs anderer Meinung wie Brizola, der möchte, daß die Militärs den Drogenhandel bekämpfen. Nach Ansicht der Militärs ist das Sache der Polizei, der Militärpolizei und der Mi­lizen, und nicht der Armee. Sie wollen keine Außenstelle des Pentagons oder des US-Heeres sein.
Außerdem ist ihnen die Notwendigkeit bewußt, das nationale Territorium in Amazonien zu erhalten. In diesem Sinne wollen sie das Projekt Calha Norte disku­tieren. Die Gespräche laufen gut, wir re­spektieren uns gegenseitig, wir reden frei, klar und ohne Angst, damit sie wissen, was wir von ihnen erwarten, und sie von uns.
Vom Standpunkt der nationalistischen In­teressen Brasiliens aus werden wir das Projekt Calha Norte unterstützen, soweit es die Erhaltung Amazoniens beinhaltet, jedoch mit einigen Einschränkungen.

Welche sind die Einschrän­kungen? Was zum Beispiel sagen Sie zu der Kon­trolle der Bevölkerung, die die­ser Plan enthält?
Unsere Einwände betreffen die sozialen Auswirkungen. Wir haben uns schon aus­gesprochen gegen ACISO (Acción Civica Social), mit deren Hilfe ganze Gemein­schaften unterdrückt und kontrolliert wur­den. Wir wollen die Verteidigung der Grenzen, die Verteidigung der territorialen Integrität Amazoniens als Teil Brasiliens.

Heißt das, Sie würden die Freizü­gigkeit der indigenen Bevölkerung re­spektieren, denn es gibt ja Völker wie die Ya­nomami, deren Gebiet bis nach Venezuela reicht…
Das Territorium der Indígenas gehört ih­nen, in dieser Hinsicht ist die Staatsgrenze eine Fiktion. Eine Regierung Lula würde die Grenzen im indigenen Territorium nicht festlegen, im Interesse der Einheit der indigenen Nation. Es entsteht auch ein Dialog zwischen den Indígenas und den Militärs, denn die Militärs beklagen sich, daß sie keinen Zugang zur Staatsgrenze haben, die zu schützen ihre Aufgabe ist, weil sie auf Stammesterritorium liegt. Wir ermöglichen Verhandlungen, ziehen auch CIMI und CNBB hinzu und das Justizmi­nisterium, damit die Militärs das Gebiet nicht besetzen, sondern das Gebiet nur betreten und durchqueren im Interesse der Verteidigung, ohne die Lebensweise und die Bräuche der Indígenas zu stören.

Sprechen wir von den an­stehenden Wahlen. Wie ste­hen Sie diesem Pro­zeß des Bündnisses gegenüber?
Es gibt eine Meinungsverschiedenheit in­nerhalb der PT darüber, ob das Bündnis die PSDB (Partido Social Democrático de Brasil) miteinbeziehen soll oder nicht: 40 Prozent unserer Partei ist der Meinung, daß die PSDB nicht Teil des Bündnisses sein darf. 60 Prozent dagegen meint, daß das Bündnis auch die PSDB umfassen sollte und einige Teile der PMDB. Das ist die offizielle Position unserer Partei.
Das Problem ist, daß die PSDB “eine schwierige Liebe” ist. Sie erklären sich, zeigen Ihre Absichten, möchten mit ihr reden, verhandeln und sie bei der Hand nehmen, und die PSDB will nicht, ist Jungfrau und Puritanerin und sträubt sich. Also wäre es sehr kompliziert, müßte Lula als potentieller Wahlsieger weiterhin die PSDB umwerben, die sich ihrerseits nicht entscheidet. Die Haltung der PT ist fol­gende: Wir bleiben weiterhin mit der PSDB im Bündnis, wenn es jedoch nicht hält, ist das nicht die Schuld der PT son­dern der PSDB.
Die PSDB hat keine Massenbasis aber sie hat Führungskräfte. Die PT hat eine Mas­senbasis, jedoch nur wenige Kader; also könnten wir uns zusammentun, was einen Machtwechsel in Brasilien garantieren würde. Mit Lula an der Spitze und einem der PSDB als Stellvertreter können wir im ersten Wahlgang diese Wahlen gewinnen, aber die PSDB macht alles kompliziert.

Worauf ist es zurückzufüh­ren, daß sich die Glaub­würdigkeit nun im Bereich der Zivilgesellschaft be­findet?
Es ist in Brasilien nichts Neues, daß die Zivilgesellschaft glaubwürdig ist, das war schon immer so. In der Zeit der Militär­diktatur gab es zwei politische Parteien, die eine war Instrument der Diktatur und hieß ARENA, die andere, die MDB, war in der Oppositon, d.h. die Diktatur ließ sie Opposition sein.
Wir sagten im Scherz, der Unterschied zwischen den beiden Parteien bestehe darin, daß die ARENA “Ja, mein Herr” und die MDB nur “Ja” sage. Aber wer das Land aus der Diktatur herausholte, das war das Volk, die Zivilgesellschaft, die StudentInnen, die Menschenrechtsorgani­sationen, etc..
Der erste große Kampf, der gegen die Diktatur geführt wurde, war der Kampf für die Amnestie. Und der wurde nicht von den Parteien ausgelöst, sondern von Persönlichkeiten und von der organisier­ten Zivilgesellschaft. Danach, mit Einset­zen der Amnestie, betreten die politischen Parteien die Szenerie und fangen dort wieder an, wo sie vor dem Militärregime aufgehört hatten. Die einzige Neuerschei­nung ist die PT.
Nachdem sich die Parteien rekonstruiert hatten, waren Direktwahlen für die Prä­sidentschaft notwendig. Wer macht die Wahlkampagne für die Direktwahlen? Die Parteien und die Zivilgesellschaft. Danach kommt die verfassungsgebende Ver­sammlung, die Parteien wählten ihre Ab­geordneten, aber es war die Zivilgesell­schaft, die die Anträge für die Verfassung einreichte. Anschließend fand die Kampa­gne gegen Collor statt. Wer die Kampagne zu seiner Entlassung veranlaßte, war die Zivilgesellschaft. Und erst danach stiegen die Parteien mit ein.
Also hat die Zivilgesellschaft in Brasilien eine herausragende Position. Heutzutage, da sich das Land in einem Zustand der Auflösung befindet ist die Kampagne ge­gen den Hunger das einzige, was sich be­wegt. Sie wird zwar von der Regierung unterstützt, aber von der Zivilgesellschaft getragen. Diese Kampagne, die von Be­tinho angeführt wird, bezieht den Bürger und die Bürgerin als politisches Wesen mit ein. Sie ist die einzige zur Zeit ernst­zunehmende Bewegung in Brasilien.
Es gibt Komitees gegen den Hunger in Stadtvierteln, Gemeinden und Regionen. In einer gemeinsamen Organisation wäre dies die größte Volksmacht, die es in un­serem Land je gegeben hat. Betinho ist ein guter Drahtzieher für die Kampagne, aber ein schlechter Organisator. Wenn er ein guter Organisator wäre, würde er als Er­gebnis der Kampage gegen den Hunger die größte Volksmacht in Brasilien auf­bauen.
Aber außerdem existieren noch andere Komitees, für Ethik, StaatsbürgerInnen, BürgerInnenrechte … wir arbeiten am Konzept des Staatsbürgers und der Staats­bürgerin. Gegen Ende der Diktatur in Bra­silien setzten wir uns für Menschenrechte ein. Aber die Charta der Vereinten Natio­nen spricht nur von individuellen Men­schenrechten. Wir müssen damit begin­nen, die kollektiven, kommunalen und Gruppenmenschenrechte einzufordern, wie zum Beispiel das Recht auf Wohnung, auf Erziehung und Gesundheit. Bald wer­den wir erreichen, daß diese Rechte in der Bundesverfassung verankert sind. Dann muß die Bevölkerung die Verfassung in die Hand nehmen und sagen: Wir sind brasilianische StaatsbürgerInnen, und hier haben wir unsere Rechte. Dieses ist der beste Abwehrmechnanismus gegen einen Putschversuch und die beste Garantie für den Demokratisierungsprozeß.

Stabiles Zweiparteieneinerlei

Die Notwendigkeit einer Reform der gel­tenden Verfassung von 1853 ist in allen politischen Lagern unumstritten. Während ihrer Regierungszeit unter­nahm auch die heutige Oppositions­partei UCR Anstren­gungen, eine Ver­fassungsänderung durch­zusetzen, die damals Alfonsíns zweite Kandi­datur ermöglichen sollte. Sie schei­terte je­doch kläglich. Zwei der wich­tigsten Forderungen der UCR, damals wie heute, waren die Einführung des Po­stens eines Premier­ministers oder “Koordi­nierungs­ministers” sowie die Si­cherung der Unab­hängigkeit der Ju­stiz. Gerade diese letzte Forderung ist umso be­deutender, da Präsi­dent Me­nem 1990 den Obersten Gerichts­hof kurzerhand von 5 auf 9 Richter erwei­terte und gleich­zeitig eine vorläu­fige “Nachrücksperre” ver­hängte. So sind die Mehrheitsverhältnisse heute ein­deutig zu­gunsten Menems verscho­ben, da nur noch drei Richter aus der Zeit vor seinem Amts­antritt stammen.
Vor allem das linke Oppositionsbünd­nis Frente Grande aus peronistischen Dis-sidentInnen, Kommu­nistInnen und anderen Grup­pen hat aber viel weiter­gehende Forde­rungen erhoben. Allein schon die Art, wie die Verfassungsän­derung ohne jeden par­tizipativen Dis­kussionsprozeß durchge­peitscht werden sollte, spiegelt ihrer Mei­nung nach das dahintersteckende autori­täre Gesell­schaftsmodell wider. Ihre kon­kreten Forderungen beziehen sich zum Bei­spiel auf eine Neustrukturierung des Militärs und Diskussionen über die Rolle der Kirche. Auch die rassisti­schen Inhalte der Verfassung, wie die katholische Mis­sionierung der Indí­genas, bleiben von der menemistischen Reform unberührt. Ganz zu schweigen von der fast monarchisti­schen Macht­fülle des Präsidenten.

Wiederwahl um jeden Preis

Denn mit seiner Reform zielte Carlos Menem ja ganz und gar nicht auf eine Be­schränkung seiner Machtfülle. Statt­dessen konzentrierte er sich ganz darauf, seine Wiederwahl bei den Prä­sidentschaftswah­len 1995 zu ermögli­chen. Bisher gestattete die Verfassung nämlich keine zweite Kan­didatur in direkter Folge.
Alle Diskussionen und Konflikte um die Reform drehten sich also um die Frage ei­ner zweiten Präsidentschaft.

“Fast alles ist Verhandlungsmasse”

Durch den Kauf der notwendigen Stim­men hatten die MenemistInnen ein Votum des Senats für die Reform erhalten. Sie waren dafür auch bereit die Anzahl der Änderungsvorschläge von 88 auf 25 zu reduzieren.
Menem erhoffte sich ein eindeutiges “Ja” zur Reform beim Plebiszit, das auf Ende November angesetzt war. Das sollte die Zustimmung im Parlament ermöglichen. Gleichzeitig signalisierte er der UCR aber ständig, ihre Zustim­mung sei auf dem Wege von Ver­handlungen zu erreichen.
Denn die Position der Radikalen Partei war ein keineswegs eindeutiges “Jein”. Die Gouverneure der Provinzen Rio Ne­gro und Chubut, Carlos Massaccesi und Carlos Maestro hatten schon ihre Zustim­mung erklärt, Angelóz in Cór­doba hatte auf Abstimmungsfreiheit plädiert. Die restlichen Funktionäre forderten entweder eine klare Kampa­gne für das “No” oder den Boykott des Plebiszits. Dem Na­tionalkommitee der UCR blieb deshalb nichts anderes übrig, als die Entschei­dung den einzelnen Provinz­vertreterIn­nen zu überlassen. Ex-Präsident Al­fonsín hatte während der gan­zen Dis­kussion auf seiner Ablehnung der Re­form plus Wiederwahl beharrt. Die Ausein­andersetzung zwischen ihm und Menem wurde in höchst polemischer Weise geführt. “Alfonsín ist ein unfä­higer Politiker, ich streite mich nicht mit Ver­sagern”, war von Menems Seite zu hören. Alfonsín hielt kräftig dage­gen: “Menem ist ein Verräter der De­mokratie und Weg­bereiter des Elends”.
Mehr oder weniger geheim fanden je­doch währenddessen Verhandlungen zwischen VertreterInnen von PJ und UCR statt. Der vorläufige Abschluß ist das Abkommen zwischen Menem und Al­fonsín, das beide umarmt der Öffent­lichkeit präsentierten. Die Zustimmung der UCR-Basis sollte allerdings noch auf dem Parteitag Anfang Dezember eingeholt werden.
Im Text des Abkommens ist kaum zu er­kennen, wo die MenemistInnen Zu­geständnisse an die Radikale Partei ma­chen mußten. Einzig deren Forde­rung nach einem Premierminister taucht wieder auf. Alle anderen Re­formvorschläge wa­ren sowieso fast all­gemeiner Konsens, und doch hat Al­fonsín die Kröte der Wieder­wahl Menems geschluckt.
Die Bedingung, die hinter den Kulis­sen dafür ausgehandelt wurde, war der Rück­tritt des Präsidenten des Obersten Ge­richtshofs Antonio Boggiano und zwei weiteren menemistischen Rich­tern. Prompt forderten kurz darauf Wirt­schaftsminister Cavallo und Ju­stizminister Maiorano die Richter zum “patriotischen Akt” des Rücktritts auf. Die Richter wei­gerten sich jedoch hartnäckig, ihr Amt niederzulegen. “Das Abkommen bewirkte ein erstes Wunder: es gibt endlich einen unab­hängigen und eigenständigen Ge-richts­hof”, bemerkte daraufhin der Kolum­nist Joaquín Morales Sola in der Zeit­schrift Noticias. Um dem Ultimatum der Radikalen gerecht zu werden, zeigte die Regierung dann aber zu­nehmende Be­reitschaft, ein Korrupti­onsverfahren gegen das Oberste Ge­richt einzuleiten. Die ein­mal erreichte Absprache mit der UCR sollte um kei­nen Preis gefährdet werden.

Chancen für die Frente Grande?

Während hinter ihrem Rücken die Kom­promiß-Verhandlungen liefen, versuchten andere VetreterInnen der UCR, die Mög­lichkeiten für eine ge­meinsame “Nein”-Kampagne aller op­positionellen Gruppen herauszufinden.
Jetzt hat die Frente Grande die Chance, sich im Gegensatz zur wan­kelmütigen UCR zu profilieren, und ihr Bündnis lan­desweit bekannt und wähl­bar zu machen. Denn nach ihrem guten Wahlergebnis in Buenos Aires und dem Gewinn von drei Abgeord­netensitzen ist dies der nächste Schritt, den sich die national noch relativ un­bedeutende Oppositionsbewegung vor­genommen hat. Mit dem bekannten Film­regisseur Fernando “Pino” Solanas scheint ihr Präsidentschaftskandidat für 1995 schon festzustehen. Und der mit knapp 14 Prozent in Buenos Aires wiedergewählte Abgeordnete Carlos “Chacho” Alvarez hat sogar gute Chancen, bei den ersten Bür­germei­sterwahlen ganz vorne dabeizu­sein.
Die Radikalen haben einmal mehr be­wiesen, daß “zweitstärkste Partei” nicht gleichbedeutend ist mit “Oppositions­partei”. Umso wichtiger erscheint also, ob es der Frente Grande gelingt, sich als linke Alterna­tive zum Zweiparteienei­nerlei zu eta­blieren.

Kasten:

Die im Abkommen zwischen PJ und UCR geplante Verfassungsreform
1. Reduzierung der Legislaturperioden von Präsident und Vizepräsident auf vier Jahre (früher sechs), Schaffung der Möglichkeit einer einmaligen Wiederwahl. Die Bedingung, der argentinische Präsident müsse katholisch sein, wird aufgehoben.
2. Direktwahl von Präsident und Vizepräsident in zwei Wahlgängen.
3. Schaffung des Postens eines “Kabinettchefs” oder “Koordinationsministers” als Ver­bindungsglied zwischen dem Präsidenten und dem Kongreß. Er wird vom Präsidenten er­nannt.
4. Die Exekutive kann keine Dekrete mit legislativem Charakter mehr erlassen, die das Straf-, Steuer- und Wahlrecht betreffen. Nur in Ausnahmefällen kann das Dekret in Über­einkunft mit den Ministern beschlossen werden.
5. In der Debatte über einen Gesetzentwurf können die legislativen Kammern nur noch dreimal (bisher fünfmal) intervenieren.
6. Direktwahl von drei Senatoren für jede Provinz, zwei stellt die Mehrheitspartei, einen die Opposition, und Reduzierung ihrer Mandatsdauer. (Bisher wurden zwei Senatoren für jede Provinz für die Dauer von neun Jahren gewählt.)
7. Direktwahl des Bürgermeisters der Hauptstadt, der bisher vom Präsidenten ernannt wurde. Buenos Aires erhält eine verfassungsrechtlich garantierte Autonomie.

Korruptionsskandale ohne Ende

Das Brasilia der sieben Zwerge

Alles begann damit, daß die Polizei im Oktober einen Mann mit dem gut brasilianischen Namen José Carlos dos Santos unter dem Verdacht verhaftete, er habe seine Frau umgebracht, mit Kokain gedealt und Falschgeld unter die Leute gebracht. Nur, der Mann war nicht irgendwer. Der Ökonom José Carlos hatte es in der Bürokratie Brasilias bis zum Assesor des Haushaltsausschusses gebracht, er war bis 1992 einer der entscheidenden Drahtzieher bei der Erstellung des brasilianischen Staatshaushaltes. Seit einem Jahr ist seine Frau verschwunden, er steht unter Mordverdacht. In seiner Wohnung fanden Polizei und der Untersuchungsauschuß drei Millionen US-Dollar, teilweise gefälscht, sowie Videos und Utensilien, die zeigten, daß die Wohnung von José Carlos für Sexorgien – unter Beteiligung von Abgeordneten – diente. Aber diese üble Räuberpistole, die einem billigen Film entliehen scheint, war nur der Auftakt zu einer noch unüberschaubareren Korruptionsaffaire. Im Gefängnis beschloß José Castro auszupacken. Er nannte Namen und Details, wie über Jahre hinweg der Staatshaushalt von einer Gruppe von Abgeordneten manipuliert worden war. Die Gruppe war schon vor diesen Aussagen als die Hintermänner des Haushaltsausschusses identifiziert worden, und die Presse hatte sie als die “sieben Zwerge” bezeichnet. Zunächst hielten viele die Beschuldigungen José Carlos für den Versuch eines in die Enge getriebenen Übeltäters, Dreck in den Ventilator zu schmeißen. Aber immerhin wurde ein parlamentarischer Untersuchungssausschuß (CPI) eingerichtet und der Erste der vernommen wurde, war Joao Alves. Als dieser dann von Gott und Lotto erzählte, war allen klar: die Beschuldigungen von José Carlos haben Hand und Fuß, die Beweise gegen Joao Alves gelten inzwischen als hinreichend, um sein Mandat zu kassieren.

Der Staatshaushalt als Selbstbedienungsladen

Wie aber funktionierte die Haushaltsmafia? Entscheidendes Instrument ist eine Besonderheit des brasilianischen Haushaltrechtes: Einzelne Abgeordnete können Änderungsvorschläge beziehungsweise Ergänzungen (bis zu 50 “emendas”) einreichen. Diese beziehen sich in der Regel auf ein konkretes Projekt: die Straße in der Gemeinde X oder der Kindergarten in der Gemeinde Y. Nur gingen diese Gelder dann in vielen Fällen in Projekte, die viel teurer angesetzt waren als die realen Kosten, oder in Tarnorganisationen, die von Freunden oder Verwandten der Abgeordneten geleitet wurden. Nach Ermittlungen des Untersuchungsausschusses und der Presse sind von 150 Millionen DM, die in den letzten drei Jahren vom Sozialministerium als zusätzliche Mittel bewilligt worden waren, 130 Milionen (etwa 90 Prozent also) zur Finanzierung von Wahlkampagnen mißbraucht worden – oder sie flossen direkt in die Taschen der Abgeordneten und deren Verwandte.
Die Skandale im Einzelnen sind eigentlich keine Neuigkeit, der Mißbrauch von Staatsgeldern für private Zwecke wird immer wieder von Opposition und Presse angeklagt. Neu sind Ausmaß und Systematik dieser Haushaltsmafia. Nur ein Beispiel: einer der “sieben Zwerge” ist Feres Nader, der Tycoon einer Provinzstadt im Staate Rio de Janeiro. Ihm gehören fünf Fernsehsender und mehrere private Schulen und Fachschulen. Sein Jahresumsatz belief sich 1990 auf 2,7 Milliarden (!) US-Dollar, eifrig unterstützt durch Zuwendungen aus dem Staasthaushalt. Joao Alves veranstalte in Bahia ein Ausgabenfestival, um seine Wiederwahl als Abgeordneter zu garantieren. Ohne Nachweise über die Verwendung bringen zu müssen, erhielten Bürgermeister etwa 4 Milionen US-Dollar für das Versprechen, ihm Stimmen zu garantieren (alle Angaben nach Jornal do Brasil vom 31.10.93). Die Enthüllungen des Ausschusses sind auch ein Lehrstück in praktizierter Demokratie in Brasilien.

Linke und Militärs profitieren von der Krise

Jeden Tag werden nun durch Fernsehen und Presse alle Vorurteile gegen die politische Kaste in Brasilia bestätigt. Natürlich erinnert dies alles an den Skandal, der Collor letztes Jahr zu Fall brachte. Aber damals erhofften viele BrasilianerInnen von der Aufdeckung des Skandals, daß dies den Weg für eine neue Ethik in der Politik freimachen könnte. Jetzt werden eher pessimistische Verallgemeinerungen und Politikverdrossenheit verstärkt. In jüngsten Umfragen wächst die Zahl derer, die nicht wählen wollen, gewaltig. Aber der Skandal hat auch konkrete politische Auswirkungen.
Zunächst ist das Projekt der Verfassungsreform, die jetzt anlaufen soll (vgl.LN 233) gefährdet. Die eh schon umstrittene Legitimität des Parlaments für ein solches Werk ist mehr als angeschlagen. Die Verfassungsreform ist das große Anliegen des Mitte-Rechts Blockes, um das geltende Gesetzeswerk von nationalistischen Überbleibseln zu bereinigen und damit den Weg für den Marktliberalismus zu ebnen. Geschwächt durch den Skandal wird also genau dieser Block, und damit auch die Kräfte, die die Regierung Itamar Franco stützen. Ein Jahr vor neuen Präsidenschaftswahlen scheint die Regierung nun kaum den politischen Spielraum zu haben, um noch offensiv zu agieren.
Die vom Wirtschaftsminister Fernando Henrique Cardoso eingeforderte Steuerreform als Voraussetzung für ein Stabilisierungsprogramm ist in weite Ferne gerückt. Brasilien geht damit in einer unstabilen Situation in das Superwahljahr 1994. Gestärkt wird natürlich bisher die Linke, deren Abgeordnete nicht in den Skandal verwickelt sind. In Umfragen führt der Präsidentschaftskandidat der PT (Arbeiterpartei), Lula da Silva, mit so großem Abstand, daß einige “PTistas” schon von einem Wahlsieg im ersten Durchgang träumen. Aber kurioserweise gibt es auch einen anderen Gewinner. Der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses heißt Jarbas Passarinho. Dies ist eine tragische Ironie. Passarinho gehört zu den typischen Überlebenskünstlern der brasilianischen Politik. Schon Collor diente er zu dessen Endzeiten als Minister und zu Hochzeiten der Militärdikatatur war er für das Justizressort verantwortlich. Er war es, der das berüchtigte Dekret AI-5 unterschrieb, das die harte Phase der Diktatur einleitete und durch das Mandate von Abgeordneten kassiert werden konnten. Heute posiert Passarinho von neuem als Kreuzritter gegen die Korruption – und schon steigt seine Popularität in den Wahlumfragen, obwohl er erklärt, kein Kandidat zu sein. Aber er ist zumindest wieder eine Schlüsselfigur im politischen Establishment. In den Augen vieler BrasilianerInnen ist die Verbindung zum Militärregime kein Makel mehr. Die Diskreditierung der bürgerlichen Demokratie durch die Korruptionsskandale führt zu einer gewissen nachträglichen Relegitimierung der Miltärdiktatur nach neunjähriger ernüchternder Erfahrung mit zivilen Regierungen. In ein solches Bild passt auch die Diskussion über den Einsatz des Militärs zur Bekämpfung der Drogenbanden in Rio. Nach Umfragen, denen allerdings nicht immer zu trauen ist, befürwortet die Mehrheit der BewohnerInnen Rios einen solchen Einsatz. Die Streitkräfte feiern ein come-back als Ordnungsmacht. Es ist absurd: eine Aufdeckung von Korruption erweckt mehr Befürchtungen als Hoffnungen. Von der Aufbruchstimmung und dem Optimismus, der die Amtsenthebung Collors begleitete, ist zur Zeit – im brasilianischen Frühling – wenig zu spüren.

Menem – ein neuer Perón?

Durch das Votum gestärkt ging Menem in der Woche nach der Wahl in den Senat und bekam dort durch den offensichtlichen Kauf von Senatoren eine Zweidrittel-Mehrheit für seine Verfassungsreform. Für den 21. November hat der Präsident nun eine Volksbefragung angesetzt. Er erhofft sich die Unterstützung der Bevölkerung, die dann die Zustimmung der Abgeordneten erzwingen soll.

Repressalien und Skandale vor der Wahl

In der Zeit des Wahlkampfs verschärfte sich die innenpolitische Situation. KritikerInnen, Oppositionelle und regierungskritische JournalistInnen wurden reihenweise eingeschüchtert, zusammengeschlagen oder mit dem Tode bedroht. Angst und Schrecken herrschten in den Wochen vor den Wahlen in einem Maße, das an Zustände während der letzten peronistischen Regierung in Argentinien 1974-76 erinnerte.
Nach nur wenigen Monaten im Amt trat Innenminister Gustavo Béliz zurück. Nach eigenen Aussagen war er frustriert über die Diskussion der Verfassungsreform in der Regierung. Offenbar gebe es dort eine Mehrheit, die die umstrittene Reform mit allen Mitteln durchsetzen wolle. Er aber könne sich nicht mit Einschüchterungsmaßnahmen und dem Kauf von Abgeordneten einverstanden erklären. Leider habe er erst jetzt erkannt, worin die eigentliche Aufgabe eines Innenminister in dieser Zeit besteht: die Wiederwahl Menems auf Gedeih und Verderb durchzusetzen, koste es was es wolle. Präsident Menem, der vom Schritt seines Ministers offensichtlich überrascht und sehr enttäuscht war, ersetzte diesen innerhalb von wenigen Stunden durch Carlos Ruckauf. Dieser zeigte sich in den letzten Wochen durchaus Willens, die in ihn gesetzten Hoffnungen zu erfüllen.
Ein Skandal im Verfassungsgericht bewies außerdem die Abhängigkeit der Justiz vom Menemismus. Ein Urteil gegen einzelne Maßnahmen der Wirtschaftsreform verschwand spurlos aus den Akten. Auf die heftige Kritik reagierte Menem mit einem Angebot an die UCR, das Gericht kurzerhand aufzulösen und es gemeinsam mit den Radikalen neu zu besetzen.

Die politische Auseinandersetzung

Um politische Inhalte wurde zwischen den großen Parteien kaum gestritten. Die Programme der PeronistInnen, Radikalen und Liberalen (UCeDe) unterschieden sich nur in den Details.
Derzeit markiert die UCR den Unterschied zu den PeronistInnen lediglich durch die Forderung nach einer sozialeren und weniger brutalen Privatisierung. Die generelle Linie – Dollar-Bindung des argentinischen Peso, Privatisierung aller Staatsbetriebe, Heruntersetzung der Lohnnebenkosten durch Abbau von Sozialleistungen – war kaum Gegenstand der Auseinandersetzung.
Erstmals landesweit angetreten war die Rechtspartei MODIN (Movimiento por la Dignidad e Independencia), die vom ehemaligen Carapintada-Putschisten Aldo Rico geführt wird. Sie hat eine ultra-nationalistische Programmatik, und wurde mit ihren sieben Abgeordneten im Bundesparlament dritte politische Kraft im Lande. lhr charismatischer Führer will 1995 persönlich als Präsidentschaftskandidat gegen Menem (oder Duhalde) antreten. Seine Forderungen sind: Nationalisierung aller Industrien, Abschottung gegen Arbeitsimmigration, Direktwahl des Präsidenten, aller Gouverneure und Bürgermeister und eine harte Hand bei Grenzstreitigkeiten mit Chile.

Alle Macht dem Präsidenten

Eigentlicher Brennpunkt der innenpolitischen Auseinandersetzung der letzten Monate ist die Machtfülle von Menem und seinem Team. Vielen im Land flößt eine mögliche Wiederwahl Menems Angst ein. Er hat Ambitionen, die Kultfigur des Juan Domingo Perón aus dem Gedächtnis des Volkes zu löschen und sich selbst als den größten argentinischen Präsidenten an seinen Platz zu stellen.
Heute schon kontrolliert Menem praktisch Legislative, Exekutive und Jurisdiktion. Die Gewerkschaften wurden von ihm als politischer Faktor ausgeschaltet, die Wirtschaft steht aufgrund seiner Reformen hinter ihm, und selbst die Militärs sind in Argentinien kein ernstzunehmendes Potential mehr. Zusätzlich stehen große Teile der Medien unter seinem Einfluß, und kritische Berichterstatter werden bestraft, etwa durch Entzug staatlicher Anzeigen.

Das Wahlergebnis

Die Wahlbeteiligung am 3. Oktober lag bei 76,1 Prozent, bei bestehender Wahlpflicht. Dies stellt einen neuen Tiefpunkt seit Wiedereinführung der Demokratie 1983 dar. 3,7 Prozent der WählerInnen gaben einen weißen Stimmzettel ab.
Die PeronistInnen (PJ) konnten 42,3 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen und siegten in 16 der 23 Provinzen. An die Radikale Bürgerunion (UCR) gingen Córdoba, Santiago del Estero, Rio Negro und Catamarca. Überwältigend war der Sieg der Menemisten in der größten und wichtigsten Provinz des Landes, Buenos Aires. Der ehemalige Vizepräsident Argentiniens, Eduardo Duhalde (und heutige Gouverneur dieser Provinz) errang mit seinem Spitzenkandidaten, dem Fraktionsvositzenden der Peronisten im Landesparlament, fast die Hälfte aller Stimmen, zwanzig Prozentpunkte mehr als die Radikalen unter Federico Storani. Ein Sieg, der keineswegs in dieser Höhe erwartet worden war. Duhalde qualifizierte sich damit als politischer Kronprinz Menems, für den Fall, daß dieser die Verfassungsreform nicht durchsetzen könnte. Obwohl enger politischer Freund und Gefährte Menems, zeigte Duhalde bei der Aufstellung der Wahllisten Unabhängigkeit, indem er exponierte Menemisten nicht aufstellte. Auch sein Spitzenkandidat, Alberto Pierri, ist nicht gerade als Menem-Freund bekannt.
In der nach Buenos Aires zweitwichtigsten Provinz Córdoba siegte der dortige Gouverneur Eduardo César Angeloz. Dabei besiegte der seit 1983 regierende Angeloz den Peronisten Juan Schiaretti, der von Wirtschaftsminister Cavallo selbst protegiert wurde. Das eher konservative und traditionelle Córdoba jedoch blieb dem charismatischen Angeloz treu. Jetzt ist Angeloz nahezu sicherer Präsidentschaftskandidat seiner Partei für 1995, wo er wahrscheinlich zum zweiten Mal nach 1989 gegen Menem antreten wird.
Möglich wurde die herausragende Position Angeloz’ in der UCR durch die Wahlniederlagen seiner innerparteilichen GegnerInnen. In der Bundeshauptstadt verlor die Schriftstellerin Martha Mercander, Kandidatin seines stärksten Gegenspielers, des Senatoren Fernando de la Rúa . Die große Überraschung der Wahl war der knappe Sieg des ehemaligen Verteidigungsministers und engen Vertrauten Menems, Erman González. In keiner der unzähligen Umfragen vor der Wahl war ein derartiges Ergebnis prognostiziert worden.
Allgemein erwartet worden war ein Stimmenzuwachs für die Rechtspartei MODIN. Aldo Rico persönlich war Spitzenkandidat in der Provinz Buenos Aires und erreichte dort knapp 11 Prozent und vier Abgeordnetensitze. Dieselbe Zahl von Abgeordenten erreichte der Zusammenschluß linker Parteien und Gruppierungen, die Frente Grande, was als sehr gutes Ergebnis zu werten ist.

Jetzt läuft die Kampagne zur Wiederwahl

Die Wahl hat Präsident Menem gestärkt und der Verfassungsänderung ein gutes Stück nähergebracht Es ist ihm gelungen, das Volk glauben zu machen, daß wirtschaftliche Stabilität mit seiner Person verknüpft sei.
Die erste Oppositionskraft, die UCR, ist deutlich geschwächt. Sie hat es nicht vermocht, eine politische Alternative zu Menem präsentieren. Ihr wahrscheinlicher Präsidentschaftskandidat, Córdobas Gouverneur Angeloz, hat 1995 nur dann Chancen, wenn sich die Partei nicht weiterhin in Flügelkämpfen verstrickt. Die liberale UCD unter dem ehemaligen Wirtschaftsminister Alvaro Alsogaray hat ihre politische Bedeutung auf nationaler Ebene verloren und wurde durch den rechtsnationalen MODIN unter Aldo Rico als dritte Kraft ersetzt. Aber auch der MODIN hat sein maximales Wählerpotential (bis 12 Prozent) wahrscheinlich bereits erreicht. Große Veränderungen sind auch bei den Linksparteien Frente Grande und Unidad Socialista nicht zu erwarten.
Das nächste wichtige Datum ist nun der 21. November 1993, Tag der Volksbefragung, deren Ausgang nicht klar vorhersehbar ist. Derzeit läuft eine der größten und teuersten Kampagnen in der argentinischen Geschichte. Es geht darum, ob sich Menem durch eine Wiederwahl unvergeßlich in die Geschichte des Landes “einmeißeln” kann.

Verfassungsreform: Die Rechten in der Offensive

Mit Tumulten, Protesten und juristischen Verwirrungen begannen in Brasilia die Beratungen über eine grundlegende Revision der erst 1988 verabschiedeten Verfassung. Damals war die neue “Magna Carta” als ein großer Schritt zur Demokratisierung Brasiliens nach der Militärdiktatur gefeiert worden. Die progressiven und nationalistischen Kräfte in der Verfassungsgebenden Versammlung konnten wichtige Punkte einbringen. Das relativ progressive Design der Verfassung war auch einer großen Mobilisierung der sozialen Bewegungen zu verdanken, die eigene Vorschläge einbrachten. Internationale Beobachter sahen hingegen oftmals in der Verfassung ein wirres Machwerk, das zudem zu sehr ins Detail gehende Bestimmungen (z.B. Festlegung der Arbeitszeiten) und völlig irreale Festschreibungen (maximale Höhe für Zinsen) enthält. Inzwischen ist diese kritische Bewertung der Verfassung zur herrschenden Meinung in der brasilianischen Parteienszene geworden: Die gerade erst verabschiedete Verfassung wurde vom Mitte-Rechts-Spektrum als Haupthindernis für wirtschaftliche Stabilisierung und “Modernisierung” abgestempelt.
Gegen die geplante Verfassungsrevision haben die linken Parteien und Gewerkschaften vergeblich mobilisiert. Sie bezeichneten das Reformvorhaben als kalten Putsch und sprechen dem Kongress jegliche Legitimation dafür ab. Aber der Versuch, durch eine große Massenmobilisierung die Reform zu verhindern, kann als gescheitert gelten. Die “Contras” – wie die Gegner der Verfassungsreform in Brasilien bezeichnet wurden – blieben in der Minderheit. Die Bahn scheint also frei zu sein, so lauten die Befürchtungen, für einen Revanchismus, der ein Teil der Errungenschaften der Verfassung von 1988 hinwegfegt.
Was aber sind nun die wichtigsten Punkte, die in der Revision anvisiert werden? Folgende Ansätze haben sich in den Vordiskussionen herauskristallisiert:
– Das Staatsmonopol in den Sektoren Erdöl, Telekommunikation und Energie soll fallen. Dies würde auch den Weg für Privatisierungen in diesen Bereichen öffnen.
– Jegliche Diskriminierung ausländischen Kapitals soll wegfallen. Nach der jetzigen Verfassung haben brasilianische Firmen mit nationalem Kapital Vorrechte – etwa bei der Vergabe staatlicher Kredite.
– Die Ausbeutung der Bodenschätze ist bis jetzt tabu für ausländische Firmen. Auch diese Beschränkung soll aufgegeben oder zumindest gelockert werden.
– Zwei soziale Fragen stehen zur Disposition: Die Unkündbarkeit im öffentichen Dienst und die Rentenregelung, die den Bezug einer Rente nach 30 (Frauen) beziehungsweise 35 (Männer) Arbeitsjahren garantiert.
Diese in der Öffentlichkeit heftigst diskutierten Punkte zeigen deutlich die Tendenz: die brasilianische Verfassung soll an den marktliberalen Mainstream angepaßt und von den nationalistischen Überresten befreit werden.
Ein weiterer Kernpunkt ist eine Reform des Steuersystems. Der Wirtschaftsminister Fernando Henrique Cardoso wirft sein ganzes Gewicht in diese Frage, weil diese Reform nach seiner Meinung die Voraussetzung für eine Stabilisierung der Staatsfinanzen ist und damit auch für die Inflationsbekämpfung. Hier ist allerdings die große Frage, ob für ein Stabilitäts- und Anpassungsprogramm Zeit bis zum Ende der Verfassungsreform ist: Im September stieg die Inflation auf 38 % pro Monat an. Cardoso will daher die Steuerreform vorziehen, um Ende des Jahres einen großen Stabilisierungsplan zu lancieren.
Zwar zeigt die brasilianische Wirtschaft – bei einer so hohen Inflation eigentlich kaum zu fassen – Erholungszeichen, die Produktion wird in diesem Jahr nach zwei Jahren Rezession wieder wachsen, aber für die Mehrheit der Bevölkerung verstärkt der rasante Preisanstieg nur das soziale Elend. Wohl auch deshalb ist das Interesse an der Verfassungsreform relativ gering – und damit auch das Interesse an der Mobilisierung gegen sie. Zu sehr erscheint alles als ein abgehobenes Schauspiel, als Selbstlauf der politischen Klasse. Die Zweifel an der Legitimität dieses Kongresses, die Verfassung zu ändern, dürften von der Mehrheit der Bevölkerung geteilt werden. Oder, wie es ein Kolumnist formulierte: Das Image der Politiker konkurriert nur noch mit dem der Polizei in Rio. Wie um solche Vorurteile zu bestätigen, platzte im Vorfeld der Verfassungsdiskussion ein neuer Bestechungsskandal: mehrere Abgeordnete haben gegen Bezahlungen die Partei gewechselt, um einer Minipartei das Quorum (15 Abgeordnete) zu verschaffen, das Voraussetzung ist, um einen Präsidentschaftskandidaten zu lancieren. Daß eine solche Politikerbande das Land auf den Weg der allseits beschworenen “Modernisierung” zu führen vermag, darf allerdings bezweifelt werden. Dennoch ist alles mehr als ein Sturm im Wasserglas. Die Verfassungsreform dient dazu, einen marktliberalen Block zu strukturieren und den Weg frei zu machen, die letzten Reste des nationalistisch beeinflußten brasilianischen Entwicklungsmodells zu beseitigen. Allerdings wird der Durchmarsch in moderne Zeiten nicht ganz einfach sein, auch die Rechte ist etwa in der Frage des Erdölmonopols durchaus nicht einer Meinung. Die Verfassungsreform ist wohl auch als ein Versuch zu werten, vor einem drohenden Wahlsieg des Kandidaten der Linken, Lula, bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr Fakten zu schaffen.

Berichtigung:
In der LN 231/232 Seite 2 und 71 ist uns leider ein Fehler unterlaufen. Jorge Barros arbeitet am CEAP, dem Centro de Articulaçao de Populaçoes Marginalizadas. Das CEAP ist eine Menschenrechtsorganisation, die sich gegen die Gewalt an Kindern und Jugendlichen, Frauen und der marginalisierten schwarzen Bevölkerung einsetzt.
Jorge Barros arbeitet nicht am CAPM und bei keiner Straßenkinderhilfsorganisation. – SORRY.

Schachern um den “Sicheren Weg”

Mecanismo ist der Begriff, der die politische Diskussion innerhalb Chiles in den letzten Wochen beherrschte. Die Christdemokratische Partei (DC) und die Sozialistische Partei (PS), die beiden wichtigsten Parteien in der concertación genannten Regierungskoalition, hatten sich Ende März auf einen Modus zur Kür eines Einheitskandidaten für das Präsidentenamt geeinigt. Dabei hatte die DC lange Zeit darauf beharrt, die Kandidatur ihres Favoriten Eduardo Frei Ruiz-Tagle stehe nicht zur Disposition. Sollten die SozialistInnen tatsächlich darauf bestehen, den früheren Erziehungsminister Ricardo Lagos im Dezember als Präsidentschaftskandidaten zu präsentieren, wäre das gleichbedeutend mit dem Verzicht auf eine Einheitsliste für die Parlamentswahlen, so verlautete aus der DC-Parteizentrale. Im Bewußtsein, innerhalb der Regierungskoalition aufgrund der Dominanz der ChristdemokratInnen an Profil verloren zu haben, konnten die SozialistInnen diesem Gedanken wenig abgewinnen. Es wäre nur zu offensichtlich geworden, daß die PS den WählerInnen keine inhaltliche Alternative anzubieten hat. Um Lagos jedoch die Möglichkeit zu geben, sein Gesicht zu wahren, stellte die PS die Idee des mecanismo zur Diskussion: ein Wahlkonvent nach nordamerikanischem Beipiel sollte Anfang Juni den Einheitskandidaten der concertación bestimmen. Die DC zierte sich lange, wollte sie doch die Kandidatur Freis ohne jedes Risiko durchsetzen. El camino seguro, der sichere Weg, wurde von den christdemokratischen WahlkampfstrategInnen so lange als Losung gegen den Konvent propagiert, bis es gelungen war, Bedingungen auszuhandeln, die Lagos nicht den Hauch einer Chance ließen: 40 Prozent der Delegierten des Konvents sollten von den Koalitionsparteien in Abhängigkeit von den Ergebnissen bei den Kommunalwahlen des vergangenen Jahres bestimmt werden. Mit 29 Prozent der Stimmen hatte die DC damals um 11 Prozent besser abgeschnitten als ihre Lagos unterstützenden Bündnispartnerinnen PS und PPD (Partei für die Demokratie). Je 30 Prozent der Konventssitze wurden mit Parteimitgliedern sowie mit sympathisierenden “Unabhängigen” besetzt. Die Anzahl von Unterschriften, die die einzelnen Parteien im Vorfeld für ihren Kandidaten sammelten, entschied dabei über die Stärke ihrer Konventsfraktionen. Sowohl der Vorsprung der DC bei den Kommunalwahlen als auch die im Vergleich zur Sozialistischen Partei schlagkräftigere Organisationsstruktur des Parteiapparates, die ausschlaggebend für die Mobilisierung zum Sammeln der Unterschriften war, ließen keinen Zweifel daran aufkommen, wer die Vorwahlen gewinnen würde: Frei, und zwar auf dem sicheren Weg. Mit über 60 Prozent der Stimmen wies der Christdemokrat denn auch seinen Kontrahenten deutlich in die Schranken.

Machtkalküle bei einer überflüssigen Wahl

Mangels ernstzunehmender Gegenkandidaten steht damit bereits sechs Monate vor den eigentlichen Wahlen der Nachfolger des chilenischen Staatspräsidenten, Patricio Aylwin, fest. Das Kalkül der DC, sich auf die Farce eines Wahlkonvents einzulassen, richtete sich denn auch eher auf die Zeit nach den Wahlen. Um das neoliberale Regierungsprogramm weiterhin umsetzen zu können, bedarf es der Aufrechterhaltung der concertación. Nur durch die Einbindung der PS und der PPD in die Regierungsarbeit kann der auf breiten Konsens zielende Kurs auch in der nächsten Legislaturperiode fortgesetzt werden, indem die linke Opposition klein gehalten wird. Um weiterhin an der Macht beteiligt zu sein, sind die SozialistInnen zu allem bereit – sogar dazu, neoliberale Wirtschaftspolitik mitzuverantworten. Darüber hinaus verkündete Ricardo Lagos immer wieder, zwischen seiner Partei und den ChristdemokratInnen gebe es keine entscheidenden inhaltlichen Unterschiede. Zur Wahl standen bei den koalitionsinternen Vorausscheidungen also nicht Programme sondern Personen. Abgesehen von seiner Parteizugehörigkeit hatte Frei in dieser Beziehung mit seiner Familiengeschichte im Rücken eindeutig mehr zu bieten: Sein Vater, Eduardo Frei, war zwischen 1964 und 1970 der Staatspräsident Chiles.
Es klingt paradox, aber Lagos versprach sich von seiner vorhersehbaren Niederlage politische Vorteile. Allein die Tatsache, daß sich die DC auf Vorwahlen einließ, gibt ihm die Chance, zumindest in personeller Hinsicht ein eigenständiges Profil innerhalb der concertación unter Beweis zu stellen und damit auf das immer vernehmlicher werdende Murren an der Parteibasis zu reagieren. Darüber hinaus wurde durch diesen Erfolg die Position Lagos` gegenüber parteiinternen Widersachern gestärkt, die wie Enrique Correa bereits offiziell angekündigt haben, ihn als Parteivorsitzenden ablösen zu wollen. Außerdem hoffen die AnhängerInnen Lagos`, so sehr an politischer Statur gewonnen zu haben, daß es endlich möglich ist, sich mit der sozialdemokratischen “Partei für die Demokratie” (PPD), die ebenfalls Mitglied der concertación ist, zusammenzuschließen.

Das linke Lager auf Konsenssuche

Das Bekenntnis führender PS-Mitglieder, zur Christdemokratie bestünden nur wenige inhaltliche Unterschiede, macht deutlich, daß sich die Sozialistische Partei aus dem Kreis der linken Parteien verabschiedet hat. Der Verlust sozialistischen Profils an der Seite einer die concertación dominierenden DC hat dazu geführt, daß sich die parteiinterne Opposition immer lauter zu Wort meldet. Der Gewerkschaftsflügel hat bereits angekündigt, keinesfalls hinter der Kandidatur Freis zu stehen. Die Parteilinke der SozialistInnen nähert sich inzwischen der progressiven Opposition zur Regierung an, indem sie immer mehr Gemeinsamkeiten mit Teilen der ArbeiterInnenpartei (PT) entdeckt. Im Widerspruch zur offiziellen Parteilinie treten diese PTistas offen für die Stärkung der “Bewegung für eine neue Linke” (Nueva Izquierda) ein. Die Nueva Izquierda ist ein Bündnis zwischen der PHV (Grüne Humanistische Allianz) und diversen sozialen Bewegungen. Erst im März dieses Jahres hatte sich die PHV aus Protest gegen die neoliberale Regierungspolitik aus der concertación zurückgezogen. Sie präsentiert mit Cristián Reitze einen eigenen Präsidentschaftskandidaten, der besonders unter den Jugendlichen der armen Stadtviertel sehr populär ist. Reitze ist beflissen, sich von der Kommunistischen Partei abzugrenzen, indem er sowohl die klassischen links-rechts-Kategorien als auch den Begriff des Klassenkampfes ablehnt. Für ihn steht der Widerstand gegen den internationalen Kapitalismus im Vordergrund, unter dem die UnternehmerInnen angeblich ebenso leiden wie die chilenischen ArbeiterInnen. Reitze möchte die PHV zur Fürsprecherin gesellschaftlicher Minderheiten machen. Die Ankündigung, Reitzes Präsidentschaftskandidatur sei unter keinen Umständen verhandelbar, erschwert allerdings die Suche nach BündnispartnerInnen.
Das linke Parteienbündnis MIDA, in dem die arg geschrumpfte Kommunistische Partei sehr starken Einfluß ausübt, ist sowohl aufgrund seiner organisatorischen Stärke als auch im Hinblick auf seine Wahlaussichten erheblich einflußreicher als die PHV und wird sich das Recht, einen eigenen Kandidaten aufzustellen, kaum streitig machen lassen. Dabei ist der MIDA-Kandidat, Eugenio Pizarro, an Groteskheit kaum zu überbieten. Es spricht Bände über den Zustand der kommunistischen Partei, daß sie einen katholischen Geistlichen, der sich offen gegen Ehescheidung, Abtreibung, Verhütung und vorehelichen Geschlechtsverkehr ausspricht, zum Kandidaten macht. Die Vorstellungen Pizarros zur Wirtschaftspolitik sind so aberwitzig, daß Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Kandidatur angebracht sind: Bei Respektierung des Privateigentums will der Priester Schlüsselindustrien verstaatlichen und die gesamte Volkswirtschaft der Kontrolle des Staates unterwerfen. Die chilenischen UnternehmerInnen sollen durch eine breit angelegte Kampagne für ein nationales Bewußtsein von einem Regierungsprogramm überzeugt werden, das in erster Linie über Steuererhöhungen für Reiche finanziert werden soll.
Der dritte Kandidat der Linken ist der Ökologe Manfred Max Neef, der von der ArbeiterInnenpartei und der Partei der “Linken ChristInnen” (IC) unterstützt wird. Obwohl die IC Teil der concertación ist, verweigert sie Frei die Gefolgschaft und versucht, sich als Sammelbecken für jene zu empfehlen, die dabei sind, sich enttäuscht von der Regierungskoalition abzuwenden.
Trotz der Bemühungen auf Seiten der Linksbündnisse, wenigstens für die Parlamentswahlen mit einer Einheitsliste aufzutreten, erscheint es momentan möglich, daß sich die chilenische Linke den Luxus leistet, ihre geringen Kräfte mit drei chancenlosen Präsidentschaftskandidaten zu verschwenden. Dies könnte die Aussichten der Linken erheblich schmälern und der Führung der Sozialistischen Partei eine große Sorge nehmen: Stimmen nach links abzugeben, von der parteiinternen Opposition unter Druck gesetzt zu werden und schließlich innerhalb der concertación gegenüber der Christdemokratischen Partei an Boden zu verlieren.

Die Rechte: Vier profilierungssüchtige Kandidaten

Auch die Rechte hat es noch immer nicht vermocht, sich auf einen einzigen Kandidaten zu einigen. Dabei können sich weder José Piñera, ehemaliger Arbeitsminister unter Pinochet und parteiunabhängiger Kandidat, noch der UDI-Kandidat (Union für die Verteidigung der Unabhängigkeit) Jovino Novoa, der ebenfalls Mitglied der Militärregierung war, ernsthaft eine Chance ausrechnen. Dasselbe gilt für den Unternehmer Manuel Filiú, der für die RN (Nationale Erneuerung) kandidiert. Die schillerndste Persönlichkeit unter den Kandidaten der Ultra-Rechten ist zweifelsohne Franciso Javier Errázurriz, alias Fra-Fra. Der steinreiche Unternehmer, der die UCC (Union Mitte Mitte) gründete, ist der Prototyp der chilenischen Politik, indem er keinen Hehl daraus macht, sich an den Meistbietenden verkaufen zu wollen. So ist Fra-Fra grundsätzlich zum Eintritt in die Regierung bereit, würde aber durchaus auch als Kandidat der gesamten Rechten auftreten, um diese vor dem Abgrund zu retten. Meinungsumfragen zufolge steht der wendige Unternehmer für rund ein Zehntel der WählerInnenstimmen. Angesichts der persönlichen Feindschaften und ausgeprägter Profilisierungssüchte der führenden Köpfe der extremen Rechten ist es jedoch unwahrscheinlich, daß es zur Aufstellung eines Einheitskandidaten kommen wird.

Wozu die Rechte wählen – ihr Programm wird bereits umgesetzt

Auch bei den Parlamentswahlen steht die extreme Rechte vor einem Desaster. Ihre Vorstellungen auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik ähneln dem Programm der concertación so sehr, daß es keinen Grund zum Regierungswechsel gibt. Die Erinnerung an Korruption, Machtmißbrauch und Folter unter der Diktatur sind nach wie vor so gegenwärtig, daß auch die Sperrminorität, über die die Rechte augenblicklich im Parlament verfügt, wackelt. Sie stellt heute ein Drittel der Abgeordneten beider Kammern des Parlaments und kann so jede zwei Drittel aller Stimmen benötigende Verfassungsreform, die von der Regierung ins Auge gefaßt wird, zum Scheitern bringen. Immer wieder haben führende VertreterInnen der concertación ihren KritikerInnen entgegen gehalten, daß der Regierung die Hände gebunden seien.
Sollte die Rechte ihre Sperrminorität tatsächlich verlieren, dann hätte die concertación diese Ausrede nicht länger und müßte endlich Farbe bekennen. Vielleicht würde dies dann auch zu einer Situation führen, in der die politische Auseinandersetzung an die Stelle des lauen Konsensbestrebens tritt, das momentan die chilenische Politik bestimmt. Der Wahlkampf wird mit seinem Kandidatenallerlei darauf einen allenfalls faden Vorgeschmack geben – zumal klar ist, was letztlich das Ergebnis jeder Mahlzeit ist.

Rechenkünstler

Kein Vertrauen in salvadorenische Wahlen

Noch etwas anderes prognostizierte die UCA: eine große Zahl der Wahlberechtigten werde nicht zur Wahl gehen. Über 40 % von ihnen war überzeugt, daß es einen Wahlbetrug geben würde. Die Realität gab ihnen recht. Die ersten Trendrechnungen am Abend des 10. März ließen unerwartete 16-17 % für die Convergencia erahnen. Die CD wäre damit eindeutig drittstärkste Partei des Landes geworden. Danach ließ man sich über eine Woche Zeit, bis die ersten offiziellen Endergebnisse aus einzelnen Provinzen veröffentlicht wurden. Der Trend war nicht zu verkennen. Der zentrale Wahlausschuß der lediglich mit Vertetern von ARENA, PDC (Christdemokraten) und der PCN (Regierungsparte der 70er Jahre) besetzt war, hatte offenbar beschlossen, daß die PCN dritte Kraft auf Parteienebene bleiben soll. Am 22. März wurden dann die endgültigen Ergebnisse veröffentlicht. ARENA “beschmutzte” sich nicht mit einer absoluten Mehrheit, sie erhielt 39 Sitze in dem auf 84 Mandate erweiterten Parlament. Danach besetzen die PDC in Zukunft 26, die aussichtlose PCN 9, die Convergencia 8, die UDN einen und die rechte PDC-Abspaltung MAC ebenfalls einen Sitz. Damit war die Convergencia plötzlich nur noch die viertstärkste politische Kraft. Diese Mandatsverteilung ist ein echtes Kunststück, da gleichzeitig anerkannt wurde, daß die Convergencia 12 % und die PCN nur 9 % der Stimmen bekamen. Nach dem herrschenden Wahlgesetz nämlich werden 64 Sitze pro Provinzparlament (Departamentos) ermittelt. Je nach EinwohnerInnenzahl wiederum stehen den Departamentos eine bestimmte Anzahl von Mandaten im nationalen Parlament zu. Daß die Convergencia eben in den “falschen” Provinzen drittstärkste Kraft wurde und weniger Sitze als die PCN erhielt, kommentierte der ARENA-Gründer Roberto d’Abuisson folgendermaßen: “Die Convergencia hat eben Pech gehabt.” Gleichzeitig stieß er heftige Drohungen gegen den Chef der Convergencia, Rubén Zamora, aus. Die Drohungen erinnerten fatal an jene, die den Morden an Erzbischof Romero 1980 und den Jesuiten 1989 vorausgingen…
Wahlen in El Salvador sind weit davon entfernt, Bestandteil eines demokratischen Prozesses zu sein, auch wenn die ARENA-Prominenz nicht müde wird, dies immer wieder zu beteuern. In den 80er Jahren hat es etliche Urnengänge gegeben, alle in der Logik der Aufstandsbekämpfung. Die Tatsache, daß auch diesmal 55 % der Wahlberechtigten den Urnen ferngeblieben sind, verdeutlicht die Folgen dieser Politik. Inwieweit die Opposition dieses Potential für sich gewinnen und mobilisieren kann, wird sich bis 1994 zeigen, wenn ein neuer Präsident gewählt werden soll.

Die Endergebnisse (22. März 1991)

Partei % Mandate

ARENA 44,3 39
PDC 28,0 26
PCN 9,0 9

Convergencia
Democrática (CD) 12,0 8
MAC 3,0 1
UDN 2,7 1

Die FMLN: Leidige Wahlen und eine neue Dynamik

Man hat sie unter den derzeitigen Bedingungen nicht gewollt, aber die Verhandlungsdynamik und die Tatsache, daß die Convergencia ihre Teilnahme zugesagt hatte, hatten der FMLN das erste Mal verboten, die Wahlen zu boykottieren.
Lange mußte die Frente diskutieren, bis die Poitionen definiert waren: Keine Empfehlung für eine der Oppositionsparteien, keine Wahl in den kontrollierten Zonen (nur in den Provinzhauptstädten), und kurz vorher verfügte die FMLN eine dreitägige Waffenpause. Die Armee nutzte dies aus, um in großangelegten Operationen bestimmte Regionen für eine begrenzte Zeit einzunehmen, damit dort die Wahlen durchgeführt werden konnten. Gleichzeitig jedoch wurden auch Fälle bekannt, bei denen das Militär u.a. in Chalatenango und Morazán Personen behinderte ihre Stimmen abzugeben.
Neben dem Streik der Beschäftigten des Finanzministeriums gewannen die Verhandlungen zwischen der FMLN und der Regierung in der Öffentlichkeit alsbald wieder großes Gewicht. Zunächst wurde jedoch ein Plan bekannt, der vor den Wahlen angeblich von ARENA, PDC und der Convergencia (UDN nicht) unterstützt wurde. Der Vorschlag läuft auf eine Säuberung des Militärs, ihre Unterstellung unter eine zivile Kontrolle und das Ende der Straffreiheit hinaus. Allerdings sollen diesem Vorschlag zur Folge Offiziere in die entsprechenden Komissionen deligiert werden. DIe PDC äußerte sich nicht dazu und Rubén Zamora dementierte sichtlich verärgert: “Da ist jemand dabei, eine ganz häßliche Geschichte zu konstruieren.”

Frieden noch in diesem Jahr?

Anlässlich der San José VII Tagung in Managua präsentierte die FMLN ihren neuen Vorschlag: Gleichzeitige Behandlung der wichtigsten Themen des Verhandlungsprozesses – Armee, Verfassungsreform und Waffenstillstand (!). So soll unter der aktiven Mitarbeit der Parteien und Organisationen bis Ende Mai ein Waffenstillstand vereinbart werden. Die Reaktionen von Seiten der ARENA und der Militärs auf diesen tatsächlich neuen Vorschlag, der nicht ohne Risiken für die FMLN ist, waren unterschiedlich. Allzu großer Optimismus verbietet sich jedoch. Nach wenigen Tagen sprach der Generalstab ein Machtwort: Die Demobilisierung der Guerilla – so Inocente Montano, Tandona-Oberst und Vize-Verteidigungsminister – sei unabdingbare Voraussetzung für die Vereinbarung eines Waffenstillstandes.

Die politische Strategie der FMLN – Die demokratische Revolution

Am 24. September veröffentlichte die Comandancia General der FMLN eine Pro­klamation an die Nation mit dem Titel “Die demokratische Revolution”. In einem Minimalprogramm werden die politischen Grundlinien aktualisiert und in die nationale Debatte eingebreacht. Es richtet sich an die “Nation”, nicht an die mit der FMLN in Verhandlung stehende Regierung. Es skizziert den Weg einer “demokratisch nationalen Revolution” zur Wiedererlangung der nationalen Sou­veränität und zur Schaffung eines dauerhaften Friedens in El Salvador.

Zum 10. Jahrestag der FMLN – Veränderte Positionen

Nach den Konzepten der FMLN über die “revolutionär-demokratische Regie­rung” von 1980 und über die “Regierung mit breiter Partizipation” von 1983 ist das jüngste Programm der FMLN das weitreichendste und umfassendste. Neben bereits in früheren Dokumenten publizierten Grundlinien lassen sich revidierte Positionen feststellen:
– Statt der Verteidigung der einen Partei als Motor des revolutionären Prozesses propagiert die FMLN nun den politischen und ideologischen Pluralismus
– Von der Vorstellung des Staatseigentums als maximalem Ausdruck des gesell­schaftlichen Eigentums ist die FMLN abgegangen und plädiert dafür, das gesell­schaftliche Eigentum direkt unter Arbeiterkontrolle zu stellen. Zudem ist neben kollektiven und assoziativen Eigentumsformen auch Privateigentum vorgesehen.
– Neu ist die Bereitschaft der Befreiungsbewegung in einen permanenten Kon­zertationsprozeß mit allen gesellschaftlichen Gruppen und Sektoren zu treten.
– Zum ersten Mal taucht programmatisch die Forderung auf, die ungleiche Posi­tion der Frau in der Gesellschaft zu ändern.

Die demokratische Revolution

Die “national-demokratische Revolution” beinhaltet vier wesentliche Verände­rungen der salvadorenischen Bevölkerung, so die FMLN: 1) Die erste und zugleich grundlegende für den weiteren Entwicklungsweg sei die Beendigung der Militarisierung der Gesellschaft. Das Thema, aufgrund dessen die Verhand­lungen mit der Regierung immer wieder zum Stillstand kamen. 2) Darauf auf­bauend fordert die FMLN eine neue gesellschaftlich-ökonomische Ordnung, die nationale Demokratisierung und die Wiedererlangung der nationalen Souverä­nität.
3) Um die militarisierten Strukturen der Gesellschaft zu demokratisieren sei zunächst die totale Abschaffung der Streitkräfte notwendig, so die Forderung der Befreiungsbewegung. Die dadurch freiwerdenden Finanzmittel sollten in Erzie­hungs- und Gesundheitsprojekte investiert werden. Zur Sicherung der internen Ordnung ist die Schaffung von “Kräften der öffentlichen Sicherheit” vorgesehen, die vom Parlament kontrolliert und von zivilen Kräften geleitet werden. 4) Die Todesschwadronen der Streitkräfte und der privaten Unternehmer sollen aufge­löst und alle für Repression, politische Verfolgung und Morde Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden.

Die neue gesellschaftlich-ökonomische Ordnung

Sieben Maßnahmen sind vorgesehen, um die wirtschaftliche Macht der Oligar­chie zu brechen. Durch eine tiefgreifende Agrarreform soll der Boden im Agrarsektor zugunsten der kleinen und mittleren Bauern umverteilt werden. Vorgesehen sind Kooperativen sowie kleine und mittlere private Eigentumsfor­men. Achse des neuen Wirtschaftssystems soll die Entwicklung eines “wirtschaftlichen Pols” der Bevölkerung (polo economico popular) sein. Gemeint ist die Entwicklung und Verstärkung von Kooperativen und selbstverwalteten kollektiven Eigentumsformen in allen produktiven Sektoren. Der größte Bereich der Ökonomie soll direkt in die Hände von ländlichen und städtischen Arbeiter­Innen gelangen und ihnen so die Partizipation an wirtschaftlichen Entscheidung­en garantieren.
Ebenso soll eine Reform des städtischen Eigentums zugunsten der marginali­sierten Bevölkerung erfolgen. Der Staat soll für alle sozialen Belange der Gesell­schaft, wie Ernährung, Gesundheit, Erziehung und Kultur, zuständig sein. Durch eine permanente nationale Konzertation, an der UnternehmerInnen, ArbeiterIn­nen und der Staat teilnehmen, sollen Löhne, Preise, Arbeitsplätze und Kredite festgelegt werden.
Den Frauen wird durch eine neue Gesetzgebung eine den Männern gleichge­stellte gesellschaftliche Position formaljuristisch garantiert. Festgeschrieben werden gleichzeitig ihre Partizipation in allen gesellschaftlichen Bereichen, bes­sere Arbeitsbedingungen, Schwangerschafts- und Mutterschutz.

Nationale Demokratisierung

Das demokratische System basiert nach Vorstellung der FMLN grundlegend auf der Anerkennung der individuellen Freiheit und dem Respekt der Menschen­würde. Angestrebt wird repräsentatives, partizipatives und pluralistisches politisches System, in dem dem Parlament eine starke Position zugesprochen wird. Neben einer unabhängigen Justiz, dem Schutz der Menschenrechte sowie Meinungs- und Medienfreiheit werden in Minimaldefinitionen ein neues Wahl­gesetz und eine neue Verfassung gefordert.

Nationale Souveränität – Unabhängige Außenpolitk

Das vierte und letzte vorläufige Ziel einer zukünftigen Gesellschaftsordnung um­faßt Grundsätze und Maßnahmen zur internationalen und Außenpolitik. Zu den USA sollen Beziehungen des gegenseitigen Respekts aufgebaut werden, wenn diese die nationale Souveränität und Selbstbestimmung El Salvadors anerkennen. Außenpolitisches Ziel ist der Kampf für eine neue Weltwirtschaftsordnung, in der die Interessen Zentral- und Südamerikas und der gesamten “Dritten Welt” verteidigt werden. Ausgangspunkt der Außenpolitk sind die Neutralität bezüg­lich internationaler Militärpakte, die Kooperation im internationalen Kampf ge­gen den Drogenhandel sowie die Beilegung der Grenzprobleme mit Honduras. El Salvador sollte nach Willen der FMLN in die Gruppe der mit Kuba politisch und ökonomisch zusammenarbeitenden Staaten eintreten.

Keine Absage an den Sozialismus

Die FMLN präsentiert ihre strategischen Grundlinien zu einem Zeitpunkt, an dem in El Salvador eine nationale Debatte über die Zukunft des Landes in einem bisher nicht bekannten Maße geführt wird. Parteien, Kirche, Gewerkschaften und das “Komitee für die nationale Verteidigung” (CPDN), in dem seit 1988 über achtzig gesellschaftliche Organisationen zusammengeschlossen sind, diskutieren die zentralen Themen, die Gegenstand der Verhandlungen sind: Beendigung des Militarismus, Wahlgesetzreform, Verfassungsreform. Die Ergebnisse der Diskus­sion werden regelmäßig in die Verhandlungen getragen. Die Dynamik der poli­tischen Mobilisierung übt auf die Regierung Cristiani erheblichen Druck aus. Insofern soll die Proklamation der FMLN ein Beitrag zum Prozeß des “nationalen Konsenses” sein.
Rebeca Palacio, Comandante der FMLN, zum Charakter der Proklamation: “Sie ist ein Instrument für die Gegenwart, insofern, als sie den Proze der nationalen Konzertation verstärkt, und ein Instrument für die Zukunft, weil sie ein Wegwei­ser in Richtung einer neuen Regierung sein kann.”
Im elfseitigen Text ist die Rede von Demokratisierung und Pluralismus. Hat die FMLN dem Sozialismus abgesagt?
Rebeca Palacio: “Wir haben unsere ideologischen Grundlagen nicht verändert. Aber wir sind fähig, ein Projekt zu konzipieren, das die Türen für eine gesell­schaftliche Entwicklung öffnet, die die Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigt und der heutigen Realität entspricht…Es ist kein sozialistisches Projekt, aber sicher ein revolutionäres.”
Und Maria Marta Valladores, ebenfalls Comandante der FMLN: “Wir glauben, daß die Lösung für die Probleme des Landes nicht durch die Ideologie derer de­finiert ist, die das Land voranbringen, sondern durch die Fähigkeit, ein lebensfä­higes Projekt vorzuschlagen.”
So verstanden ist die Proklamation der FMLN ein strategisches Papier, das Spiel­räume öffnen soll. Es ist nicht Ausdruck von Verlust an ideologischen Grundsätzen, sondern zeigt Realismus und Pragmatismus.
“In diesem Augenblick ist unsere erste Sorge nicht die, mittels einer Revolution nach kubanischem Muster an die Macht zu kommen. Diese war zur damaligen Zeit richtig. Wir kämpfen dafür, die Demokratie zu errichten und nehmen an den Kämpfen in diesem Sinne Teil”, so FMLN-Comandante Emilio Maria Sandoval.
Zudem ist das FMLN-Programm Teil einer umfassenden Strategie der Befrei­ungsbewegung, zu der die Verhandlungen sowie die internationale Diplomatie gehören und die ohne den bewaffneten Kampf nicht zu denken sind.

Und Cristiani…?

Weniger umfangreich als die Proklamation der FMLN ist dagegen der Vorschlag, den Präsident Cristiani am 1.Oktober vor der Generalversammlung der Verein­ten Nationen der internationalen Öffentlichkeit kundtat. “Wir sind zu einem Waf­fenstillstand bereit”, verkündete er stolz, “vorausgesetzt, die FMLN ist es ebenso.”
So ernsthaft, wie von Cristiani vorgebracht, so einhellig wurde er von den eben­falls nach New York gereisten Parteien El Salvadors abgelehnt. Wen wundert’s.

Ministrabler Ex-Guerillero

Noch vor gut einem halben Jahr war Antonio Navarro Wolff eine der Führungs­persönlichkeiten der Guerilla M-19. Unter der Führung von Carlos Pizarro ging die M-19 den Weg in die politische Legalität und konstitutierte sich als Partei. Der Mord an Pizarro im Mai diesen Jahres vor den Präsidentschaftswahlen schien die Aussichtslosigkeit einer legalen linken politischen Aktivität zu bewei­sen. Trotzdem hat sich in Kolumbiens politischem System durch die Einbezie­hung eines Ex-Guerilleros als Minister in die Regierung etwas geändert. Noch vor kurzer Zeit wäre dieses völlig undenkbar gewesen.
Der neugewählte Präsident Cesar Gaviria steht wie seine Vorgänger vor dem Problem, daß das formal-demokratische System Kolumbiens das Vertrauen der Mehrheit der Bevölkerung verloren hat. Nicht einmal die Hälfte der Wahl­berechtigten geht wählen. Der Staat ist über hochrangige Militärs zu offensicht­lich und zu eng mit der Aktivität der Todesschwadronen und den Interessen der Oberschicht kompromittiert. Gaviria ist Teil des Establishments – die Präsident­schaftskandidatur der dominierenden Liberalen Partei ist ohne viele Kompro­misse mit Lobbyisten und Geldgebern kaum zu erreichen. Aber er scheint erkannt zu haben, daß es mit der Verwaltung der Macht bzw. der Verwaltung des Krieges nicht so weitergehen kann, ohne daß sich die kolumbianische Gesell­schaft noch weiter polarisiert. Die Einbeziehung der M-19 in die Regierung ist im Zusammenhang mit dem Projekt einer Verfassungsreform zu sehen, die das Vertrauen der Bevölkerung in die formal-demokratischen Institutionen wieder­herstellen soll. Am 25.November soll eine 80-köpfige verfassungsreformierende Versammlung gewählt werden. Ihr sind jetzt schon enge Grenzen gesetzt. Ein Themenkatalog ist bereits definiert ebenso wie die Vorgabe, daß die bestehende Verfassung in jedem Fall Grundlage der Reformen sein muß. Für eine wirkliche Verfassungsreform bleibt dort wenig Platz. Außerdem müssen alle Vorschläge vom Obersten Gerichtshof ironischerweise auf ihre Verfassungsmäßigkeit, (gemessen an der Verfassung, die sie gerade reformieren sollen) überprüft wer­den. Eine Vetoinstanz gegen allzu große Selbständigkeit der Versammlung ist also eingebaut.
Ein Blick auf die ersten Personalentscheidungen des neuen Präsidenten zeigt, wie eng offenbar auch seine politischen Spielräume und wie begrenzt sein politischer Wille für Reformen sind. Im Kabinett sitzen neben Navarro Wolff nur Vertre­terInnen der traditionellen Parteien. Das Bündnis der beiden großen Parteien, der Liberalen und Konservativen, hat in Kolumbien eine fatale Tradition. Jahrzehn­telang hatten sie qua Absprache die Macht unter sich aufgeteilt und damit den in der Theorie demokratischen Charakter des Systems so pervertiert, daß das Miß­trauen der KolumbianerInnen nur konsequent ist. Auch an das Militär hat Gavi­ria Konzessionen machen müssen. Zwar gab es ein größeres Stühlerücken in den höchsten Positionen, jedoch kamen außerordentlich zweifelhafte Figuren an die Spitze der Streitkräfte. Der neue Oberbefehlshaber Roca Maichel wurde von ehemaligen Mitgliedern seiner Einheit beschuldigt, der Mafia beim Transport eines Kokainlabors geholfen zu haben. Ein Militärgericht sprach ihn frei. Der nach Dienstalter Zweite, General Farouk Yanine, ist in die Bildung von para­militärischen Gruppen im Tal des Magdalena Medio (nördlich von Bogotá) verwickelt.
Was kann ein einzelner linker Minister in solch erlauchtem Kreise tun? Vom kollektiven Marsch durch die Institutionen ist die kolumbianische Linke weit ent­fernt. Trotzdem ist die Flucht nach vorn der M-19 verständlich. Mit ihrem bewaffneten Kampf war die Guerilla in eine Sackgasse geraten. Die Ernennung eines Ex-Guerilleros zum Minister hat nicht viel mehr als Symbolwert, aber die­ser ist nicht zu unterschätzen. Nicht, daß der bewaffnete Kampf in Kolumbien sich erübrigt hätte, die Gründe für ihn bestehen weiter und können unter bestimmten Bedingungen auch wieder zu einem Weg des jetzt legalen Teils der Linken zurück in den Untergrund führen, sei es zum bewaffneten Kampf oder zu anderen Formen der politischen Arbeit. Die bitteren Erfahrungen der Unión Patriótica und des M-19 selbst mit der Ermordung ihrer KandidatInnen sprechen für sich. Was bleibt, ist die Hoffnung, vielleicht einen winzig kleinen politischen Spielraum für progressive Politik nutzen zu können.

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