// STRASSE UND INSTITUTIONEN

„Si tocan a une, tocan a todes!“ Diese Erkenntnis aus Argentinien ging als Kampfruf durch die feministischen Bewegungen Lateinamerikas und der Welt: „Wenn sie eine* anfassen, fassen sie uns alle an!“ Feministische Bewegungen haben gezeigt, dass Kämpfe auf allen Ebenen stattfinden können – zu Hause, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft und auf der Straße. Und auch vor und in politischen Institutionen. Warum das funktioniert? Weil es um das Alltägliche geht!

Weil es um das Alltägliche geht!

Die Politisierung der eigenen alltäglichen Erfahrungen patriarchaler, rassistischer, queerfeindlicher oder ökonomischer Gewalt ist der Dreh- und Angelpunkt der feministischen Theorie und Praxis in Lateinamerika: Zu verstehen, dass es nicht daran lag, was ich an hatte oder wo ich war, zu begreifen, dass das, was mir passiert, nicht selbst verschuldet oder mein Schicksal ist, sondern eine geteilte Erfahrung. Das feministische Kollektiv Minervas aus Uruguay brachte es so auf den Punkt: „Die Beziehungen zwischen uns neu zu gestalten und Gemeinsamkeiten vor dem Hintergrund wirtschaftlicher, patriarchaler und rassistischer Verhältnisse herzustellen“, das sei das Wesentliche

Wie kraftvoll die Politisierung von Erfahrungen sein kann, zeigen in den vergangenen Jahren – wie kaum andere – die Kämpfe für die Liberalisierung von Abtreibungsgesetzen in zahlreichen Ländern Lateinamerikas. Erst vor wenigen Tagen hat das kolumbianische Verfassungsgericht entschieden, dass eine Schwangerschaft bis zur 24. Woche ohne Einschränkungen abgebrochen werden kann. Wir erinnern uns an die mit grünen Halstüchern gefluteten Straßen Argentiniens Ende 2020, als nach Jahren der feministischen Organisierung das Recht auf sichere und kostenlose Schwangerschaftsabbrüche garantiert wurde. „Das hat klargemacht, wie wichtig ein unermüdlicher Kampf ist, in dem Demonstrationen mit Lobbyarbeit im Parlament verbunden werden“, erklärt Verónica Gago im Interview mit LN. Gleichzeitig argumentiert sie, dass die Verabschiedung von Gesetzen nie das Ende feministischer Kämpfe bedeuten dürfe, sondern lediglich die Form der Kämpfe verändere.

Angewiesen auf politische Mehrheiten, um Forderungen von der Straße gesellschaftliche Realität werden zu lassen, besteht immer die Gefahr, dass soziale Bewegungen vereinnahmt werden und damit an Radikalität, Mobilisierungs- und Analysefähigkeit einbüßen. Wie ein direkter Dialog mit den sozialen Bewegungen aus dem Parlament heraus geführt werden kann, zeigt das feministische Kollektiv JUNTAS Codeputadas aus Brasilien. Bestehend aus fünf Frauen, haben die JUNTAS seit 2018 ein feministisches, partizipatives und transparentes Abgeordnetenmandat im Landesparlament des Bundesstaats Pernambuco. Ihre Erfahrungen zeigen, dass der Einzug in politische Institutionen nur einer von vielen Ansätzen feministischer Kämpfe ist, aber ein entscheidender sein kann.

„Räume zu besetzen – in Parteien, in der Gesetzgebung – in denen wir selbst über unsere Rechte entscheiden können, das gibt uns und unseren Kämpfen Sinn“, sagt Joelma Carla, eine der JUNTAS, im Interview mit LN . Sie hoffen, dass sie mit ihrem Format der Verbindung zwischen Parlament und sozialen Bewegungen andere Frauen inspirieren, „effektive Politik für unsere Anliegen“ zu machen. Denn es geht auch um konkrete Verteilungskämpfe, die in der politischen Arena ausgetragen werden – um Zugang zu öffentlicher Infrastruktur für alle, um eine gerechte und gute Gesundheitsversorgung, um reproduktive Gerechtigkeit oder um bezahlbaren Wohnraum. Errungenschaften, die auf der Straße, in asambleas und letztlich auch in Parlamenten erkämpft werden.

Der Wunsch alles zu verändern, beginnt weder in den Parlamenten, noch endet er dort. Der Wunsch, alles zu verändern, ist ein Prozess, der sich durch alle Fasern unserer Gesellschaft, unserer Körper und Beziehungen erstreckt.

EIN SIEG IM RÜCKEN UND MIT DER BEWEGUNG ALS HORIZONT

Verónica Gago ist Aktivistin, Journalistin und Mitglied im Kollektivverlag Tinta Limón. Gago lehrt als promovierte Sozialwissenschaftlerin an den öffent­lichen Universitäten UBA und UNSAM in Buenos Aires (Foto: Florencia Trincheri)

Mit der Konjunktur des Feminismus in den vergangenen Jahren ist auch wieder ein liberaler Feminismus in Mode gekommen. Die breite Bewegung in Argentinien führt Diskussionen, die über die zur „gläsernen Decke“ hinausgehen und eine Klassenanalyse miteinschließen. Kannst du diesen Charakter der argentinischen Bewegung etwas beschreiben?

Die feministische Bewegung in Argentinien ist eine rebellische Bewegung. Sie hat das Ziel wirklich etwas zu verändern. Sie ist eine Bewegung, die sich gegen Ungerechtigkeit, Missbrauch und Ausbeutung auflehnt. Wir sehen es in den Slogans, die sie hervorgebracht hat, die anti-neoliberale, anti-patriarchale und anti-koloniale Fragen zusammenbringen: „Keine einzige weniger!“, „Wir wollen frei und schuldenfrei leben!“, „Gegen die Prekarität des Lebens!“, „Wir zahlen die Krise nicht mit unseren Körpern und Territorien!“, „Wir Frauen gegen Verschuldung!“, um nur einige zu nennen. In diesen Slogans liegt eine Diagnose davon, woher die Gewalt kommt, die Feminizide und Vergewaltigungen zulässt, strukturellen Rassismus ermöglicht, prekäre Arbeitsbedingungen und institutionelle Gewalt von Sicherheitskräften legitimiert. Anders gesagt, wenn wir über rassistische Gewalt sprechen, wenn wir „Nicht eine weniger ohne Wohnung” fordern, wenn die Auslandsschulden zu einem feministischen Slogan auf der Straße werden, dann machen wir die Materialität dessen deutlich, was man Gewalt nennt. Ihre radikalste Form findet diese Gewalt in Feminiziden, aber sie existiert auch als alltägliche Gewalt, die ein würdevolles und freies Leben verhindert.

Wie ist es gelungen, diese gesellschaftlichen Herausforderungen zu akuten Themenfeldern der feministischen Bewegung zu machen?

Das ist gelungen, indem der Feminismus als politische Bewegung aufgebaut wurde, in der verschiedene Konflikte und Protagonist*innen dieser Konflikte miteinander in Beziehung gesetzt werden. Das erfordert Koordination zwischen Gewerkschaften, Basisorganisationen, Studierenden, Migrant*innenkollektiven, Sexarbeiter*innen, prekär Beschäftigten, Sorgenetzwerken, Organisationen von Kleinbäuer*innen und Arbeiter*innen in der solidarischen und informellen Wirtschaft, Fridays For Future, den Kollektiven von Travestis, trans und nicht-binären Personen, den Kampagnen für das Recht auf Abtreibung und indigenen Frauenorganisationen. Die Tatsache, dass die feministische Bewegung in dieser politischen Zusammensetzung existiert, ermöglicht ihr eine praktische Interpretation der Aktualität, die sozioökonomisch, klassenbezogen und anti-extraktivistisch ist – die mit verschiedenen Sprachen spricht und mit sehr diversen Strategien.

Was ist deine Analyse zu den liberalen Tendenzen, die wir heute an vielen Stellen beobachten?

Natürlich gibt es Versuche, die Bewegung zu vereinnahmen und zu einer Mode zu machen, sie auf Themen zu reduzieren, die „ungefährlich“ für den Neoliberalismus sind. Aber ich glaube, die Mobilisierungsfähigkeit und der Wunsch nach Veränderung sind stärker, denn die feministische Bewegung geht auf eine Reihe sozialer Kämpfe zurück, die sich immer schon gegen den Status quo gestellt haben. Ich sehe den liberalen Feminismus ganz klar als konterrevolutionäre Aktion. Es ist ein Versuch, die Kraft dieser queerfeministischen Transformation, die jetzt seit einigen Jahren schon eine beispiellose Präsenz auf globaler Ebene erreicht hat, zu begrenzen und sie in eine andere Richtung zu lenken. Es ist der Versuch, die Veränderung zu neutralisieren, die sich zeitgleich auf verschiedenen Ebenen vollzieht: in unserer Sensibilität, in der Art und Weise, unsere Körper und unser Begehren zu erleben, in der Fähigkeit, kollektive Forderungen zu stellen und in der Stärkung von Organisations- und Protestformen. Die feministische Bewegung ist eine Praxis des Ungehorsams, der täglichen Auflehnung, die gleichzeitig die Fähigkeit hat, strukturelle Gewalt zu hinterfragen und zu bekämpfen. Diese simultane zweifache Ebene ist es, die als Bedrohung empfunden wird. Das ist der Grund, warum ein Faschist wie Bolsonaro seine Präsidentschaft mit einer Rede gegen die „Gender-Ideologie” beginnt. Oder warum versucht wird, Feminismus auf die Forderung nach Quoten zu reduzieren, ohne die bestehenden Hierarchien anzutasten. Und warum versucht wird, den Feminismus von anderen sozialen Forderungen abzukoppeln, weil es das ist, was wirkliche politische Bündnisse schafft. Es gibt daher viele Versuche, ihn zu spalten und mit dem Neoliberalismus kompatibel zu machen.

Mit der Legalisierung der Abtreibung in Argentinien vor einem Jahr habt ihr ein lang gefordertes Recht erkämpft – ein Riesenerfolg. Die Kampagne war jahrzehntelang Motor der Bewegung und auch identitätsstiftendes und verbindendes Element zwischen den Generationen. Was kommt jetzt, wo der Kampf gewonnen wurde?

Dass wir diesen Sieg errungen haben, ist fundamental. Das hat klargemacht, wie wichtig ein unermüdlicher Kampf ist, in dem Demonstrationen mit Lobbyarbeit im Parlament verbunden werden. Wie wichtig es ist, dabei eine feministische Pädadogik zu betreiben, um überhaupt diskutieren zu können, was Selbstbestimmung schwangerer Körper bedeutet. Das hat eine „grüne Welle“ losgetreten, die über Grenzen hinausging. Es wurde das öffentliche Gesundheitssystem diskutiert, die Sexualerziehung an Schulen, Schwangerschaftsabbrüche von Schuld gelöst und Mutterschaft entromantisiert. Die Diskussion wurde an Orten in Gang gebracht, an denen sie vorher tabuisiert war. Dieser Kampf war von zentraler Bedeutung, weil er sowohl eine sehr konkrete Forderung enthielt, als auch ein Türöffner zu vielen weiteren Problematiken war. Das Recht auf Abtreibung steht außerdem im Mittelpunkt neokonservativer Angriffe nicht nur in unserer Region: das ist so in den USA, bei der neu gewählten Präsidentin des EU-Parlaments und bei den Rückschritten in Polens Gesetzgebung. Mit der Verabschiedung des Gesetzes in Argentinien ist der Kampf noch nicht beendet, er ändert nur seine Form. Jetzt müssen wir uns für die effektive Umsetzung des Gesetzes einsetzen, gegen medizinische und juristische Manöver, die vielerorts den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen blockieren und für die Verbreitung des Gesetzes selbst, da die Informationen nicht überall ankommen. Und obwohl das Gesetz bereits vor einem Jahr verabschiedet wurde, feiern wir es immer noch.

Es stimmt jedoch, dass das verbindende Moment dieser Forderung auf irgendeine Weise ersetzt werden muss. Wir sind gerade dabei, neu darüber nachzudenken, was wir wollen, wohin wir unterwegs sind und wie wir nach zwei Jahren Pandemie wieder Räume für Gespräche und Austausch schaffen können. Wir reden von einer Zeit, in der es viel schwieriger war, sich zu treffen, und in einer Zeit, in der ein „Ende“ der Pandemie mit einer brutalen Wirtschaftskrise einhergeht. Es ist also an uns, mit diesem Sieg im Rücken – aber auch mit dem als Horizont, was die Bewegung bereits erreichen konnte – zu überdenken, wie wir uns den kommenden Herausforderungen stellen können.

Was sind die Themen, die den Feminismus in Argentinien derzeit bewegen?

Im Fall von Argentinien ist die Frage der Schulden als ökonomische Gewalt ein Thema. Im Laufe der Jahre haben wir viel mit dem Slogan „La deuda es con nosotres” (Die Schulden habt ihr bei uns) gearbeitet. Es ist wichtig, dass der Feminismus das Thema Verschuldung wieder aufgreift, denn er hat es auf den Tisch gebracht und dabei öffentliche und private Schulden und Sparmaßnahmen miteinander in Verbindung gebracht. Wir bestehen darauf: ohne ökonomische Unabhängigkeit gibt es keine Möglichkeit, die machistische Gewalt zu stoppen. Dies bezieht sich auf die Auslandsverschuldung seit dem IWF-Kredit 2018 und auch darauf wie die Verschuldung der Haushalte angesichts einer immer schneller zunehmenden Verarmung „obligatorisch” wird. Hier ist für die antineoliberale Dynamik des Feminismus und seine Fähigkeit zur konkreten Intervention wichtig, die soziale Situation neu zu diskutieren, die durch die Verschuldung und die vom IWF auferlegten Bedingungen hervorgebracht wurde: Gas, Strom- und Telefontarife, Lebensmittelpreise und Mieten, die in Folge der erzwungenen Kürzungen der öffentlichen Mittel erhöht wurden. Sie fördern Spekulation und lassen die Bevölkerung in beschleunigtem Tempo verarmen.

Der feministische Streik als Instrument der Bewegung ist in den vergangenen Jahren sehr wichtig gewesen. Jetzt ist es stiller geworden um den Streik als Aktionsform. Warum? Welche Rolle spielt der Streik bei den diesjährigen Mobilisierungen?

Wir beginnen gerade, die Rolle des Streiks und andere Strategien für diesen 8. März zu diskutieren. Ich habe den Eindruck, dass es schwieriger geht, weil die Pandemie die Prekarität beschleunigt hat. Die Care-Arbeit hat zugenommen, die Arbeitszeiten haben sich verlängert und es gibt eine gewisse psychische Erschöpfung, wenn es darum geht, wieder rauszugehen und die Straßen einzunehmen. Es gibt aber ein gemeinsames Bedürfnis danach, dass die feministische Bewegung wieder eine führende Rolle auf der Straße einnimmt. Wir diskutieren hier sehr viel über diese Idee: Wir müssen zurückkehren und sind gleichzeitig nie weg gewesen. Auch in der Pandemie haben wir die Krise entprivatisiert, nur auf andere Art und Weise, aber auf jeden Fall in einem kollektiven Kraftakt. All dies müssen wir berücksichtigen, wenn wir über den Streik in der gegenwärtigen Situation nachdenken wollen. Das ist wichtig, weil, wie wir wissen, hat es der feministische Streik geschafft, die verschiedenen Formen der Arbeit, der Prekarität und der Gewalt in den Fokus zu nehmen.

Mein Eindruck ist, dass sich Streik und Demonstration verbinden werden, an manchen Orten wird die eine Dynamik stärker ausgeprägt sein als die andere, aber klar ist, dass der 8. März ein Kampftag ist, ein Datum, das wir nicht „hergeben“ werden, weil er ein Moment der Begegnung, des Austausches und der Arbeit am Programm der Bewegung ist.

EIN TAG OHNE ARBEITER*INNEN

“Keine ist frei, bis wir es alle sind” Der Frauenkampftag am 8. März in Mexiko-Stadt bezieht sich auch auf die Kämpfe in der Maquila-Industrie // Foto: Nina Ißbrücker

Mit dem Generalstreik in Indien am 8. und 9. Januar 2019 gegen die gewerkschaftsfeindlichen Gesetzespläne der Regierung Modi fand mutmaßlich der größte Streik der Menschheitsgeschichte statt: 200 Millionen Arbeiter*innen sollen sich beteiligt haben. Nur zwei Tage später, ab dem 11. Januar, begannen vorerst „wilde“, nicht von Gewerkschaften koordinierte Streiks in der Maquiladora-Industrie an der Nordgrenze Mexikos. Dass in Maquiladoras, den lateinamerikanischen „Weltmarktfabriken“, gestreikt wird, ist selten. Kaum ist es möglich, dass sich in den grenznahen Montagefabriken die Arbeiter*innen überhaupt organisieren. Matamoros ist neben den Grenzstädten Ciudad Juárez und Tijuana der mexikanische Hauptstandort der Maquiladoras. Über eine Millionen Arbeiter*innen, überdurchschnittlich viele Frauen, schuften in 3.000 solcher Fabriken meist 12 Stunden am Tag. In Matamoros arbeiten etwa 80.000 Menschen in 122 Maquiladoras. Am 11. Januar 2019 haben dort 2.000 Arbeiter*innen auf einer Generalversammlung einen spontanen, nicht-gewerkschaftlichen Streik beschlossen. Gefordert wurde eine 20-prozentige Lohnerhöhung, eine Einmalzahlung von 32.000 Pesos (knapp 1.400 EUR) und die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche. Die sich ausweitende Streikbewegung ist mittlerweile bekannt als Movimiento 20/32, weil sie 20 Prozent Lohnerhöhung sowie 32.000 Pesos Einmalzahlung fordern. Zu den anfangs bestreikten Unternehmen zählen Inteva, STC, Polytech, Kemet, Tyco, Parker, AFX und Autoliv. Die meisten Maquiladoras in Tamaupilas beliefern die US-amerikanische Autoindustrie, vor allem General Motors, Ford und Fiat-Chrysler. Ende Januar war in fast allen US-amerikanischen Montagewerken von Ford und General Motors die Produktion zurückgefahren, weil es durch den Streik zu Lieferengpässen kam. In mindestens einem Werk, bei Ford in Flat Rock im Bundestaat Michigan, wurde die Produktion ganz eingestellt.

Es geht um mehr als einen Tarifstreit

Die prekären Bedingungen in den grenznahen Betrieben waren ein Schlüsselelement in den Neuverhandlungen des Handelsabkommens NAFTA (North American Free Trade Agreement) zwischen Mexiko und der Regierung Trump. Ein festgelegter Teil der Zulieferproduktion muss seit dem neuen Handelsabkommen zwischen den USA, Mexiko und Kanada (USMCA) zu Stundenlöhnen von mindestens 16 US-Dollar erfolgen (siehe LN 533), auch um die Migration in die USA einzudämmen. Am 1. Januar 2019 wurde in Mexiko der Mindestlohn um 16 Prozent angehoben und liegt damit erstmals seit 30 Jahren über der Armutsgrenze.Im US-Grenzgebiet, in dem seit der Einführung von NAFTA im Jahr 1994 die Lebenshaltungskosten weit über dem Landesdurchschnitt liegen, wurde der Mindestlohn verdoppelt. Die Freien Produktionszonen (FPZ), in denen die Maquiladoras liegen, bleiben jedoch ausgenommen. Gleichzeitig wurde für die Maquila-Unternehmen die Umsatzsteuer auf 20 Prozent reduziert und weitere Anreize für Gesundheitsfürsorge, Bildung und Verkehrsausbau geschaffen.
Auslöser der Streikbewegung war die ausbleibende Erhöhung der Löhne in der Maquila-Industrie, „die außerhalb unserer Wettbewerbsmöglichkeiten liegen“, wie der Präsident des Nationalen Rats der Maquila-Industrie (INDEX), Luis Alegre Lang, gegenüber der Tageszeitung Vanguardia sagte. Gleichzeitig geht es um die weitere Zahlung von Zusatzleistungen, die über den Mindestlohn hinausgehen. „Der Grundlohn in den meisten Maquiladoras liegt zwischen 90 und 100 Pesos. Aber die Arbeiter erhalten auch verschiedene Boni – für Produktivität, Anwesenheit, Transport und anderes. Als die Arbeiter eine Verdoppelung des Grundlohns forderten, wie es die Regierung versprochen habe, sagten die Unternehmen, sie würden die Bonuszahlungen streichen und im Ergebnis würden die Löhne nicht erhöht“ erläutert Julia Quiñonez vom Kommitee der Arbeiterinnen in der Grenzregion (Comité Fronterizo de Obreras) gegenüber dem US-Journalisten David Bacon.

Die Streikbewegung weitet sich aus


Die Rolle der Gewerkschaften in dem Streik ist zwiespältig. Ähnlich wie in den USA sind Gewerkschaften in Mexiko einem komplexen Anerkennungsverfahren unterworfen und fungieren dann als Betriebsgewerkschaften – davon gibt es in Mexiko etwa 16.000. Die meisten Gewerkschaften sind nach wie vor in den historisch der ehemaligen Staatspartei PRI nahestehenden korporatistischen Dachverbänden CROM, CROC und CTM organisiert, darüber hinaus gibt es neue unabhängige Gewerkschaften und sogenannte „gelbe“ unternehmerfreundliche Gewerkschaften. Die jeweilige Zugehörigkeit erlaubt oft noch kein Urteil über den Charakter der Einzelgewerkschaft.
Der Streik richtete sich anfangs sogar explizit gegen die Gewerkschaft der Tagelöhner und Industriearbeiter und der Maquiladora-Industrie (SJOIIM, Mitgliedsgewerkschaft der CTM), die Überbezahlung von deren Funktionär*innen, die Höhe der Gewerkschaftsbeiträge und der Korruption beziehungsweise der Position der Gewerkschaft auf Unternehmensseite. Als am 18. Januar die Streikenden zu den Gewerkschaftsbüros mobilisiert hatten, ließ der lokale Vorsitzende des Dachverbands CTM, Juan Villafuerte Morales, diese sogar schließen. Unter Druck geraten, rief die SJOIIM am 24. Januar dennoch offiziell zum Streik auf, versuchte aber gleichzeitig, gemeinsam mit Politiker*innen von Morena und der Regierung, den Streik herunter zu kochen.
Ende Januar wies die mexikanische Regierung die Bundesstaatsregierung von Tamaupilas an, den Streik zu beenden. Mit der Erklärung der inexistencia (Nicht-Existenz) eines Streiks nach mexikanischem Arbeitsrecht gilt dieser als illegal und kann den Entzug der Gewerkschaftsrechte und Entlassungen zur Folge haben. Streikposten waren von diesem Zeitpunkt an mit Marine und bewaffneter Polizei konfrontiert, Gewalt ging auch von privaten Sicherheitsunternehmen aus, etwa bei der Entfernung von Streikposten. Die Unternehmen drohten als Reaktion auf die Streiks mit Massenentlassungen, Betriebsschließungen und Strafanzeigen gegen „Agitatoren“. In den ersten zehn Tagen der „wilden“ Streiks hatten die Fabriken laut der Matamoros Maquila Association 100 Millionen US-Dollar verloren. 1.000 Streikende seien entlassen worden, meldete labournet.de am 25. Februar. INDEX-Präsident Lang betonte auch noch nach den Verhandlungsergebnissen, dass 15 Unternehmen planen würden Tamaupilas in den nächsten sechs bis neun Monaten zu verlassen.

Einige Unternehmen haben die Forderungen vollumfänglich akzeptiert

Die Streiks stellen in verschiedener Hinsicht eine Besonderheit dar: Erstens begannen sie als sogenannte „wilde“ Streiks, also ohne Aufruf einer Gewerkschaft. Das ist auch deswegen entscheidend, weil die Tendenzen zur Selbstorganisation in Form von Räten, unabhängigen Gewerkschaften oder Komitees neue Perspektiven für die mexikanische und die gesamtamerikanische Arbeiterbewegung bieten. Zweitens beziehen sie sich auf die Politik von Staatspräsident López Obrador (oft AMLO genannt) und seine Partei Morena, sind also durchaus als politische Streiks zu betrachten, denn sie fordern die Einhaltung des Gesetzes zum Mindestlohn, es geht also um mehr als um einen klassischen Tarifstreit. Drittens haben sie mehrere Ausweitungen erfahren, sind tendenziell grenzüberschreitend und haben damit, wenn auch teilweise indirekt, Globalisierung, Freihandel und Migration zum Thema. Und viertens war die spontane Bewegung erfolgreich. Die Zahlen schwanken, aber mindestens 40, laut einer AP-Meldung sogar 44, der bestreikten Unternehmen haben die Forderungen der Streikenden nach Lohnerhöhung und Einmalzahlung Anfang Februar 2019 vollumfänglich akzeptiert. Dies ist der wesentlichen Hintergrund für die Ausweitung der Streikwelle. Anfang Februar dieses Jahres begannen Supermärkte und Unternehmen der Textilindustrie in Tamaupilas, sich die gleichen Forderungen auf die schwarz-roten Streik-Fahnen zu schreiben. Am 29. Januar schlossen sich 700 Arbeiter*innen der lokalen Coca Cola-Abfüllanlage ARCA Continental Planta Noreste an, etwa gleichzeitig traten 400 Arbeiter*innen aus drei lokalen Stahlwerken in den Streik sowie Matamoros’ Haupt-Milchlieferant Leche Vaquita und die Müllabfuhr der Stadt. Etwa 90 Kilometer von Matamoros entfernt, in der Grenzstadt Reynosa, begannen Anfang Februar 8.000 Arbeiter*innen in 45 Fabriken einen Streik, auch Angestellte in der Hauptstadt des Bundesstaates Tamaupilas, Ciudad Victoria, drohten mit Ausstand. Landesweit wollten sich Walmart-Angestellte der Bewegung anschließen. Der zuständige Gewerkschaftssektor CROC, der 90.000 dieser Arbeiter*innen organisiert, gab am 20. März eine entsprechende Streikankündigung heraus. Der Streik wurde durch die Schlichtungsverhandlungen verhindert. „Arbeiter […] von Tijuana bis Ciudad Juarez schauen auf die mutigen Aktionen der Arbeiter aus Matamoros. Die Arbeiter denken darüber nach, ihrem Beispiel zu folgen, und natürlich befürchten die Unternehmer genau das.“ sagt Julia Quiñonez vom Komitee der Arbeiterinnen in der Grenzregion.
Rosa Luxemburg argumentiert in „Massenstreik, Partei und Gewerkschaft“ (1906), dass ökonomische Streiks eine Eigendynamik aufweisen, die aus sich selbst heraus zu einer Politisierung führen. Die Streiks an der nordmexikanischen Grenze bestätigen das. Sie haben eine Dynamik entwickelt, die weit über die geforderte Lohnerhöhung hinaus weist. Gerade an der mexikanischen Nordgrenze ist ein solches Streikgeschehen notwendigerweise mit den Themen Migration und Geschlechterverhältnisse verknüpft.
Die von den nordmexikanischen Arbeiter*innen am Generalstreiktag ausgegebene Parole „Ein Tag ohne Arbeiter“ erinnert nicht von ungefähr an die Parolen des globalen Frauen*streiks am 8. März diesen Jahres. Am „Tag ohne Arbeiter“ zogen die Streikenden über die Grenze nach Brownsville in den USA (der Zwillingsstadt Matamoros‘), um Solidarität von den US-amerikanischen Arbeiter*innen einzufordern, aber auch, um gegen jüngste rassistische und antimexikanische Äußerungen von Trump bei einer Rede in Brownsville zu protestieren.
Die argentinische Sozialwissenschaftlerin Verónica Gago und die mexikanische Philosophin Raquel Gutiérrez Aguilar beziehen die globale Streikbewegung vom 8. März auf die Bewegung gegen die Frauenmorde (Feminicidios) in Ciudad Juarez und damit auch auf die Kämpfe in der Maquila-Industrie. Der Streik in Matamoros weist darauf hin, dass sich die Debatten und Organisierungsbemühungen der letzten zehn Jahre langsam in kollektiven sozialen Widerstand übersetzen. Aus der neuen Kraft des Feminismus und den neuen Entwicklungen der Arbeiterbewegung entsteht in der Liaison eine neue Form von Streik: der soziale Streik, der über die Welt der Lohnarbeit hinaus geht, gleichzeitig aber auch mehr ist als ein politischer Streik.

EINE KAMPFANSAGE

Fotos: www.lavaca.org/MartinaPerosa

Es ist glühend heißer Hochsommer in Buenos Aires, als die erste Versammlung für den internationalen Streik der Frauen, Lesben, Trans und Travestis 2019 einberufen wird. Hunderte strömen an diesem Freitagnachmittag zum Auftakt der Mobilisierung, die meisten sind bereits in der Metro an ihren Pañuelos – den grünen Halstüchern als Symbol für das Recht auf Abtreibung – erkennbar. Zwischen Baustellen, alten U-Bahn-Waggons und heruntergekommenen Hochhäusern mobilisieren sich die Teilnehmer*innen der Versammlung vor dem selbstverwalteten Freiraum der Vereinigung Mutual Sentimiento im östlichen Stadtteil Chacarita. Die meisten nehmen auf dem sonnenverbrannten Gras Platz, es werden Decken ausgebreitet und Matebecher herumgereicht, Wassereis und kalte Getränke gibt es für wenige Pesos. Die Asambleas – öffentliche Versammlungen – sind das Herzstück der feministischen Bewegung. Die Asamblea ist der Ort, an dem Frauen* zusammenkommen und ihre Erfahrungen teilen, wo diskutiert und gestritten wird. Vier dieser offiziellen Asambleas wird es bis zum 8. März geben. An diesem Tag soll der dritte internationale Streik stattfinden, noch größer, noch massiver, noch diverser als alle vorangegangenen. „Es ist eine bemerkenswerte kollektive Kraft, die sich hier ausdrückt“, erklärt Verónica Gago, Organisatorin der Versammlung und eine der theorieproduzierenden Köpfe des feministischen Kollektivs Ni Una Menos, das eine wichtige Rolle in der Organisation der feministischen Proteste und des Streiks übernimmt. „Hier stehen die verschiedenen Kämpfe und auch die Konflikte innerhalb der feministischen Bewegung im Fokus. Diese Auseinandersetzung hat den Streik größer, breiter, stärker und komplexer gemacht.“ Die Diversität der Bewegung bringe natürlich Herausforderungen mit sich, aber mache gerade auch ihren Reichtum aus, findet Gago.

Und so ist die erste Asamblea ein Stelldichein verschiedenster sozialer Organisationen und Bewegungen, die ein breites Spektrum der aktuellen gesellschaftlichen Konflikte abbilden: Es reden unabhängige Gewerkschafterinnen, streikende und entlassene Fabrikarbeiterinnen, Mütter vergewaltigter und ermordeter Kinder, Sexarbeiterinnen, Sprecherinnen der Kampagne für das Recht auf Abtreibung, Aktivistinnen gegen staatliche Repression und Polizeigewalt, Bewegungen indigener Frauen, Transfrauen, Frauen aus den Armenvierteln, Organisationen migrantischer Frauen, inhaftierter Frauen und Studierendenvereinigungen. Die jeweils zweiminütigen Redebeiträge pro Person und Organisation werden zu intensiven Plädoyers, zu flammenden Appellen. Die Stimmung ist intensiv, emotional aufgeladen. Ein immer wiederkehrendes Thema ist die uralte Diskussion um Prostitution und Sexarbeit. Die gegensätzlichen Positionen finden Anklang und Ablehnung, es wird gepfiffen und applaudiert, reingerufen, zugestimmt und widersprochen. „So ist das immer in den Asambleas. Manche Positionen sind einfach unvereinbar. Aber am Ende werden wir alle gemeinsam laufen, trotz der unterschiedlichen Ansichten.“, erklärt Gabi Verra, die auch heute zur Versammlung gekommen ist. Viel wichtiger als die internen Differenzen sei, dass am 8. März alle zusammen die Straßen und Plätze einnehmen – Räume, die sonst oft von cis-Männern besetzt sind – und ihre politischen Forderungen nach Veränderung zum Ausdruck bringen. Über zwei weitere Konflikte, die in der Bewegung brodeln, herrscht zumindest in der ersten Asamblea Einigung. Da ist die Debatte um „Plurinationalität“ der Bewegung, also die Anerkennung der 36 verschiedenen indigenen „Nationen“, die auf argentinischem Territorium beheimatet sind und ihrer Kämpfe und Forderungen. Und die Frage, ob Trans, Inter und Travestis Teil der feministischen Bewegung sein können. „Hier wird niemand ausgeschlossen!“ rufen die Organisatorinnen, um die vorab über Social Media verbreiteten Versuche von transexklusiven Radikalfeministinnen, Frausein auf eine biologische Definitionen zu reduzieren, klar abzuwehren. Die Asamblea jubelt. Ein Transmann bittet die Asamblea um die Erlaubnis, teilzunehmen, die Asamblea bejaht entschlossen, cis-Männer hingegen werden ebenso lautstark weggejagt.

Die diesjährige große Debatte in Argentinien ist eine biologistische

Während in der spanischen Frauenstreikbewegung die Konfliktlinien in diesem Jahr entlang Prostitution, Leihmutterschaft und die Nicaraguadebatte laufen, in Deutschland über den Nahostkonflikt gestritten wird, ist die große Debatte in Argentinien eine biologistische. Bei der nächsten offenen Versammlung eskaliert der Konflikt. Eine Gruppe von Radikalfeministinnen ergreift das Mikrofon. Doch noch bevor sie sprechen können, entfacht sich eine lautstarke Diskussion darüber, ob ihnen Raum und Wort gegeben werden dürfe. Die Mehrheit findet, dass sie gehen müssen. Es kommt zu Gerangel und Handgreiflichkeiten und die Organisatorinnen entscheiden, die zweite Asamblea vorzeitig zu beenden, obwohl noch 80 Redebeiträge ausstehen. Bei vielen Anwesenden herrscht Unverständnis darüber, warum eine biologistische Debatte im Jahr 2019, nach Jahrzehnten aktivistischer und theoretischer Dekonstruktion von Geschlecht als rein biologische Kategorie, plötzlich wieder aufkommt. Und vor allem bei jungen Menschen – eine Entwicklung, die in mehreren Ländern zu beobachten ist. „Eigentlich war dieses Thema doch schon durch.“ Gabi Verra und weitere Teilnehmerinnen der Asamblea, die noch eine Weile in kleinen Gruppen beisammenstehen und über das gerade Erlebte diskutieren, sind enttäuscht und traurig über den Ausgang des Abends. „Den 8. März plötzlich zu einem Tag nur für cis-Frauen machen zu wollen, das geht gar nicht. Das fühlt sich an, wie viele Schritte zurückgeworfen zu werden“, findet Verra. Nach dem Eklat nimmt die Organisation, ausgehend vom Kollektiv Ni Una Menos, öffentlich Stellung. Biologistische Positionen werden als das entlarvt, was sie sind: diskriminierend und rassistisch. Es folgt eine Entschuldigung dafür, die Gruppe überhaupt in der Redeliste zugelassen zu haben und ein Appell, sich nicht von patriarchalen Ideen spalten und disziplinieren zu lassen, sondern weiterhin zusammenzuarbeiten. Bei der dritten Asamblea herrscht wieder Einstimmigkeit: Wir brauchen einen Feminismus, der so inklusiv wie möglich ist und die Lebensrealität möglichst Vieler abbildet, ist der Tenor.

Politische Praxis Mit Wut im Bauch das diskutieren, was brennt (Fotos: www.lavaca.org/MartinaPerosa)

Das bedeutet gleichzeitig, sich nicht auf eine „Gender-Agenda“ beschränken zu lassen, sondern feministische Politik auf die konkrete Situation von erneuter Verschuldung beim Internationalen Währungsfonds (IWF), explodierender Wirtschaftskrise und Inflation zu beziehen – Themen, die den Alltag in Buenos Aires begleiten und die Menschen beim morgendlichen Einkauf in der Bäckerei genauso beschäftigen wie bei der Streikversammlung. Noch ist es eine andere Situation als im Krisenjahr 2001, an das sich manche schon erinnert fühlen, aber die Leute gehen wieder auf die Straße, lärmend, mit Kochtöpfen in der Hand und Wut im Bauch. Nicht nur Arbeiter*innen, auch Menschen aus der Mittelschicht nehmen an diesen Demonstrationen teil. Und feministische Asambleas finden nicht nur zur Vorbereitung des 8. März statt, sondern im ganzen Land in den Arbeitsstätten, den Fabriken, in den Vierteln, in den Unis und Schulen. Es ist eine unmittelbare politische Praxis, in der es um all das geht, was gerade brennt und um eine Zukunft, die anders werden soll.

Und so fließt auch bei den feministischen Streikversammlungen in Buenos Aires die Tradition sozialer Kämpfe verschiedener Generationen zusammen. Daraus entsteht eine Kampfansage an die aktuelle Politik. Präsident Macri kriegt darin genauso sein Fett weg wie der IWF, die Gewerkschaftsbürokratie und die katholische Kirche. „Wir brauchen eine Strategie, damit es am Ende des Jahres jemanden gibt, der die Interessen des Feminismus repräsentiert, die letztendlich die Interessen der ganzen Bevölkerung sind“, lautet der Aufruf von Paula Arraigada von der Bewegung Trans Nadia Echazú an die Teilnehmer*innen der Asamblea. Präsident Macri muss sich im Herbst dieses Jahres seiner Wiederwahl stellen, 2020 stehen die nächsten Schuldenverhandlungen mit dem IWF an. Beide politischen Ereignisse schaffen Unsicherheit. Wie wird es weitergehen? Die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse haben sich seit Macris Amtsantritt im Jahr 2015 verändert, dem gleichen Jahr, in dem Ni Una Menos gegründet wurde. Ihre Streiks sind immer auch Streiks gegen Macri gewesen, gegen den neoliberalen Kurs seiner Regierung, die Sparprogramme, Tarifanpassungen, Massenentlassungen, Repression und Kriminalisierung sozialer Proteste. Mittlerweile gilt die feministische Bewegung als stärkste oppositionelle Kraft. Der feministische Streik am 8. März ist auch der Auftakt des politischen Jahres 2019 in Argentinien.

 

 

TROTZ ALLEM: EIN FEST

Verónica Gago ist Aktivistin, Journalistin und Mitglied im Kollektivverlag Tinta Limón. Gago lehrt als promovierte Sozialwissenschaftlerin an den öffent­lichen Universitäten UBA und UNSAM in Buenos Aires (Foto: Florencia Tricheri)

Frau Gago, Sie sind seit der Entstehung von Ni Una Menos im Jahr 2015 in der Bewegung aktiv. Wie hat sich diese entwickelt und was ist das Neue an diesem Feminismus, der es schafft, hunderttausende Menschen auf die Straße zu bringen?
Die Bewegung ist größer und massiver geworden, aber auch mehr im Mainstream angekommen. Das bedeutet, die Fähigkeit der Femi­nismen, sich mit einer ‚sozialen Konfliktivität’ zu verbinden, ist gewachsen. Soziale Konfliktivität meint die sozialen Probleme, mit denen die Gesellschaft heute konfrontiert ist. Die Parole Ni Una Menos (Keine einzige weniger) hat eine große Reichweite und schafft es, das Problem der Feminizide in die Öffentlichkeit zu bringen. In diesem Rahmen fanden die massenhaften Proteste von 2015 und 2016 statt. Im Oktober 2016 haben wir zum ersten Mal zu einem Frauenstreik aufgerufen. Das war eine Wende, weil wir aus dem Drehbuch ausgebrochen sind. Da wurden wir gefragt: Aber was hat ein Streik mit einem Feminizid zu tun? Mit dem Instrument des Streiks konnten wir sagen: Es reicht mit der Gewalt.
Aber um Gewalt gegen Frauen zu verstehen, muss ein ganzes Muster an Gewalt verstanden werden, das mit der ökonomischen, politischen und sozialen und der repressiven Gewalt des Staates verbunden ist. Wenn wir nicht verstehen, wie die Formen der Ausbeutung, die Kürzungen der Sozialleistungen oder die aktuelle Sozialreform, die die Regierung von Mauricio Macri systematisch vorantreibt, den Alltag beeinflussen, können wir nicht verstehen, warum Frauenkörper zu einem privilegierten Territorium für verschiedene Formen von Gewalt werden.

Wie hat die Bewegung den Alltag von Frauen in Argentinien verändert? Gibt es ein vor und ein nach bzw. während Ni Una Menos?
Heute können wir dem Grauen der Gewalt die Fähigkeit zur Mobilisierung entgegensetzen. Das erzeugt ein Bild, ein Gefühl und eine Erfahrung von kollektiver Kraft auf zwei Ebenen. Es geht um Trauer und Wut, aber auch um Schmerz und um einen Kampf. Trotz allem ist es ein Fest: Dieses ermächtigende Gefühl, gemeinsam auf der Straße zu sein. Dort verurteilen wir die Feminizide, die die größte Stufe der Gewalt darstellen, aber auch die anderen alltäglichen Formen der Gewalt, die mit Familienbeziehungen und zwischenmenschlichen Beziehungen, aber auch mit staatlicher Gewalt zu tun haben.
Dieses Gefühl hat die alltägliche Erfahrung verändert. Dieser massive öffentliche Moment gemeinsamer Stärke kann damit verbunden werden, wie diese Stärke übersetzt wird. Das heißt, wie sie sich in unseren alltäglichen Beziehungen verbindet, sich konkretisiert und materialisiert, in den Formen, die wir haben, um diese Gewalterfahrungen zu erzählen. Und sie, während wir sie erzählen, auch auf bestimmte Weise zu konzeptualisieren. Das bedeutet zum Beispiel, dass in Argentinien nicht mehr von Verbrechen aus Leidenschaft gesprochen wird. Der Feminizid wird als politisches Verbrechen verstanden.

Die argentinische Frauenbewegung beschäftigt sich heute nicht nur mit explizit feministischen Themen, sondern bezieht Stellung zur aktuellen Regierungspolitik, positioniert sich zum Sozialabbau, staatlicher Repression oder Landkonflikten und ist dadurch heute zur größten oppositionellen Bewegung im Land geworden. Wie habt ihr es geschafft, diese Vielfalt an Themen in die Bewegung aufzunehmen und eine gemeinsame Position dazu zu finden?
Die feministische Bewegung hat es geschafft, eine Vielzahl von Stimmen, Beschwerden und Forderungen in sich zu vereinen und verschiedene Themen auf besondere Art zu artikulieren. Zum Beispiel die Landkonflikte der indigenen Mapuche, die kriminalisiert und verfolgt werden, mit denen feministische Organisationen Bündnisse eingegangen sind. Wir wollen wissen, was diese Aggression und Gewalt gegen Körper und Territorium ausmacht.

Es geht um die Fähigkeit, die aktuelle Sozialreform aus einer feministischen Diagnose heraus zu verstehen, warum sie ganz besonders Frauen betrifft – als vormalige Empfängerinnen von Kindergeld oder von Rentenansprüchen aus unbezahlter oder informeller Arbeit als Hausfrauen oder Hausangestellte. Oder es geht darum, die Gewerkschaften zu hinterfragen und uns dabei mit den Genossinnen zu verbünden, die die vertikalen Strukturen in den Gewerkschaften bekämpfen und sie für interne Demokratisierungsprozesse öffnen wollen. Wir befassen uns mit dem patriarchalen Justizsystem, mit dem Zugang zum Gesundheitssystem und mit den Forderungen der Migrantinnen, die auf die rassistische Politik dieser Regierung hinweisen. Wir haben ein ganzes Geflecht aus Forderungen geknüpft, mehr als nur das, es ist ein Geflecht aus Kämpfen. Was diesen Grad der Politisierung der feministischen Bewegung ermöglicht hat, ist, dass wir aus den Grenzen ausgebrochen sind, aus jener Begrenzung, die uns oft auf eine ‚Gender-Agenda’ limitieren will. Als könnten wir nur über geschlechterspezifische Themen sprechen, die ihre Sprache, ihre Kodes und vor allem ihre Grenzen haben.

Wir haben damit gebrochen und einen sehr langen und arbeitsreichen Prozess öffentlicher Versammlungen angestoßen, in dem der Streik als politischer Prozess entwickelt wurde. Der Streik vom 8. März hat wie ein organisatorischer Horizont für die Vielfalt an Forderungen und Beschwerden und vor allem der verschiedenen Kämpfe funktioniert. Diese verwebte Artikulation untereinander macht aus dieser Bewegung eine absolut politische, radikale, massive und transversale Bewegung.

Angesichts der Größe der Bewegung scheint es fast unmöglich für konservative oder reaktionäre Teile der Gesellschaft, feministische Forderungen zu ignorieren. Wie sind die Reaktio­nen aus diesen Kreisen und wie positio­nieren sich auch gerade konservative Frauen zu den Forderungen der Bewegung?
Es gibt zwei Reaktionen, eine traditionellere aus den konservativen Teilen der Gesellschaft und einen Versuch der neoliberalen Übernahme unserer Forderungen durch die Regierung. Eine starke Diskussion gibt es um die Forderung nach Entkriminalisierung und Legalisierung der Abtreibung, gegen die konservative Teile der Gesellschaft unter starker Beachtung bestimmter Medien demonstrieren. Das ist eine klare Reaktion auf die Ausmaße, die der Ruf nach Recht auf Schwangerschaftsabbruch mittlerweile in unserem Land angenommen hat. Auch weil diese Forderung das Potenzial hat, verschiedene Debatten über Kirche, Selbstbestimmung der Körper und rassistische und klassistische Dimen­sionen der Abtreibung zu verbinden. Denn auch wenn Abtreibung illegal ist, können Frauen aus Mittel- und Oberschicht in privaten Kliniken sicher ihre Schwangerschaft abbrechen.

Die Reaktion der Regierung ist neoliberal. Es wird versucht, Präsident Macri als jemanden zu inszenieren, der offen für eine feministische Agenda sei. Er hat gesagt: ‚Ich bin ein später Feminist’. Die regierungstreuen Medien haben diesen Versuch der Regierung, die feministische Agenda zu kapern, gefeiert. Präsident Macri hat in einigen Parlamentssitzungen den Mutterschutz und die Lohnungleichheit angesprochen und Gesetzesprojekte eingebracht. Wir finden, das ist eine opportunistische Nutzung unserer Forderungen, die in einem Kontext von Massenentlassungen und totaler Prekarisierung von angestellten und informellen Arbeiterinnen und Gewerkschafterinnen, einer massiven Kürzung von staatlichen Sozialleistungen und der aktuellen Sozialreform zu sehen ist.

Die großen Mobilisierungen zum Frauen*streik am 8. März und anderen Demonstrationen sprühen vor Kampfgeist und Freude und beschwören eine Revolution. Wie geht es weiter?
Durch die Veränderung der sozialen Beziehungen und der Machtbeziehungen, die durch diesen Prozess ständig ausgeübt werden, ist er unumkehrbar geworden. Es ist eine Revolution auf den Straßen, in den Betten, auf den öffentlichen Plätzen und in den Häusern. Die feministische Dynamik hat auch die Schülerinnen eingenommen, heute stellen sie sich einer Bildungsreform entgegen oder machen klar, wie wichtig integrale Sexualkunde ist – ein anderes Projekt, das die Regierung abschaffen will. Am Streik haben auch Kleinbäuerinnen teilgenommen, denn eine ganze Dimension des Feminismus beschäftigt sich mit sozialen und territorialen Konflikten und großen neoextraktivistischen Projekten in der Region.

Wenn dieser umfassende und vielfältige Feminismus sich in Verbindung mit einer wach­senden sozialen Konfliktivität weiterentwickelt, hat er die Fähigkeit, weiterhin eine gemeinsame Ebene hervorzubringen, in der Kämpfe zusammenwachsen, in der es ein konkretes materielles Muster verschiedener verknüpfter Institu­tionen und Initiativen gibt, um Erfahrungen zu artikulieren. Der Feminismus als gemeinsamer Code, der heute eine politische Orga­nisations­­kraft ­in den Stadtvierteln, Gewerk­schaften und Uni­versitäten hervorbringt. Wir sehen auch, dass diese so mächtige und kämpfer­ische Stärke eine schwere Gegenoffensive erlebt.

Seit längerem charakterisieren wir das Problem der Feminizide als den Moment, in dem der Körper der Frau als Feld der Auseinandersetzung und als Kriegsbeute offensichtlich wird. Zum Beispiel die kürzliche Ermordung der brasilianischen Politikerin Marielle Franco, aber auch die Ermordung der Menschenrechtsaktivistin Gavis Moreno in Ecuador oder die Inhaftierung verschiedener indigener Genossinnen, die seit Jahren wegen Rückforderungen ihrer Territorien im Konflikt stehen. Wir beobachten durch die Ermordungen von wichtigen Führungsfrauen ein Aufrüsten der politischen, polizeilichen und kirchlichen Kräfte in diesem Krieg. Es war kein Zufall, dass Marielle Franco eine Frau war, die den Nukleus rassistischer Gewalt, die Militärpolizei in den Favelas, diskutiert hat. Hier in Argentinien passiert das Gleiche mit den Müttern, die die Übergriffe der Polizei auf Kinder und Jugendliche in den Armenvierteln öffentlich machen. Frauen, die die kollektive Kraft nutzen und daraus eine mächtige Stimme machen, werden zum Ziel der Kontraoffensive einer misogynen Reaktion auf diese politische Kraft.

Zwar sind die Verhältnisse in Deutschland anders, aber auch hier müssen wir gegen sexualisierte Gewalt kämpfen. Was können wir von eurer Bewegung lernen?
Nach und nach übersetzen sich die Erfahrungen der Organisierung, der Radikalisierung und der Art und Weise, die soziale Konfliktivität zu verstehen, und finden zueinander. Und gleichzeitig taucht in jedem Ort und jedem Konflikt die Frage auf, was es bedeutet, sich diesen Konflikt in der feministischen Bewegung zu eigen zu machen. Die Hauptaufgabe ist es, die sozialen Konflikte aufzuzeichnen, über Strategien für Bündnisse nachzudenken und ausgehend von diesen konkreten und ungewöhnlichen Allianzen einzugreifen. Ungewöhnlich in dem Sinne, dass ganz verschiedene Akteurinnen und Kräfte miteinander kommunizieren können, sich zusammenfinden und vermischen. Und dann für eine Aktion zu mobilisieren, aus gerade dieser Vielfalt heraus, aus der sich heute die Kraft des Feminismus zusammensetzt.

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