// EDITORIAL ZUM DOSSIER

Illustration: Xueh Magrini Troll, @xuehka

Vivas nos queremos ist zum Credo der feministischen Bewegung in Lateinamerika geworden. „Wir wollen uns lebend“ ist die Antwort auf brutale Morde an Frauen und Queers, weil sie Frauen und Queers sind. Seit Anfang der 1990er Jahre Aktivist*innen in verschiedenen Regionen in Lateinamerika begannen, Fälle von Frauenmorden zu dokumentieren, hat die Gewalt kaum abgenommen. In Argentinien zum Beispiel wird alle 27 Stunden eine Frau umgebracht, in Mexiko geht man sogar von zehn getöteten Frauen am Tag aus. Die genauen Zahlen kennt niemand und doch wird das Ausmaß femizidaler Gewalt deutlich, deren Ursachen jedoch zu komplex sind, um sie in Statistiken zu fassen. Es stellt den alltäglichen Wahnsinn dar, gegen den Frauen und Queers seit langem unermüdlich kämpfen.

Die feministischen Bewegungen in Lateinamerika haben nicht nur eine Aufmerksamkeit für geschlechtsspezifische Morde geschaffen, sondern liefern beständig Analysen der Bedingungen, die eine solche Gewalt ermöglichen. Mit der Dokumentation begann auch die Etablierung des Begriffs des Femi(ni)zids, der es möglich machte, Frauenmorde als politisch zu benennen und der heute aus Diskussionen auch weit über feministische Kontexte hinaus nicht mehr wegzudenken ist. Deutschland hinkt dabei etwas hinterher, obwohl im Jahr 2017 auch in Deutschland 147 Frauen von ihrem (Ex-)Partner getötet wurden. Die Zahlen haben sich seither nicht wesentlich verändert, was bedeutet, dass hier durchschnittlich etwa alle drei Tage eine Frau Opfer eines Feminizids wird. Während die deutsche Regierung zahlreiche Programme zur Bekämpfung von sexualisierter Gewalt und Feminiziden in anderen Ländern finanziert, insbesondere im Globalen Süden, kommt sie dem eigenen Problem kaum nach. So vermeidet sie, Feminizide als strukturelles Problem anzuerkennen. Dies zeigt sich unter anderem in der Unterfinanzierung von Schutzräumen wie Frauenhäusern oder im Mangel an offiziellen Statistiken, die Feminizide als solche benennen.

In Lateinamerika wird die Verantwortung des Staates für Feminizide von den feministischen Bewegungen immer adressiert. Estado femicida, der „frauenmordende Staat“, wird dafür angeklagt, dass es kaum Verurteilungen gibt, dass staatliche Unterstützung für Angehörige fehlt, dass Mitglieder von Behörden nicht ausreichend geschult werden, um mit Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt umzugehen. An Gesetzgebungen dafür mangelt es selten – die Interamerikanische Konvention über die Prävention, Bestrafung und Beseitigung von Gewalt gegen Frauen wurde 1994 in Belém do Pará in Brasilien von allen lateinamerikanischen und karibischen Staaten unterzeichnet. Damals verpflichteten sie sich angesichts der alarmierenden Ausmaße der Problematik, strafrechtliche Maßnahmen zur Bekämpfung zu ergreifen. Heute ist die lateinamerikanische Rechtsprechung zu Feminizid global gesehen einzigartig. Fast alle Länder haben im Laufe des letzten Jahrzehnts Gesetze zu diesem Tatbestand in ihre Strafgesetzbücher aufgenommen.

Gesetzgebung und Realität klaffen jedoch oft sehr weit auseinander. In den lateinamerikanischen Beispielen wird deutlich, dass verschiedene juristische Mittel im Kampf gegen Gewalt gegen Frauen oft nur durch die Kämpfe feministischer Bewegungen und auf öffentlichen Druck Eingang in die Gesetzgebung gefunden haben. Auch ihre Umsetzung hängt stark von der gesellschaftlichen Debatte und der Stärke der jeweiligen Bewegung ab. Bestehende, zum Teil progressive Gesetze können in tief patriarchalen Justizsystemen unmöglich alleiniger Garant für Gerechtigkeit sein. Frauen und Queers, Opfer von sexualisierter Gewalt, werden weiter kriminalisiert, ihre Aussagen werden angezweifelt, sie werden unterteilt in „gute“ und „schlechte“ Opfer. Klassismus und Rassismus sind dabei entscheidende Faktoren, ob die erfahrene Gewalt anerkannt wird oder nicht. Und, ob sie geahndet wird. Straflosigkeit trotz bestehender Gesetzgebung ist ein allgegenwärtiges Problem. Es ist also unabdinglich, dass die Justiz beginnt, Fälle sexualisierter Gewalt und Feminizide feministisch zu untersuchen, diese Straftaten in ihrem Kontext zu analysieren und den Worten der Opfer und Überlebenden Beachtung zu schenken. Das heißt auch, Angehörigen das Recht auf unterstützende Ressourcen zu garantieren – seien sie finanziell, psychologisch oder juristisch. Denn Staat und Gesellschaft schulden ihnen durch ihr komplettes Versagen, die tödliche Gewalt zu stoppen, das Leben ihrer Mütter, Töchter, Schwestern und Freundinnen.

Und dennoch kommen wir als feministische Bewegung nicht umhin, auch auf institutioneller Ebene zu kämpfen. Die Gesetzeslagen spiegeln die belebte Debatte um sexualisierte Gewalt in lateinamerikanischen Ländern wider, die dazu geführt hat, auf gesellschaftlicher und politischer Ebene ein Bewusstsein zu schaffen. Mit dem vorliegenden Dossier, das zum 25. November, dem Internationalen Tag für die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen erscheint, wollen wir dazu beitragen, die vielfältigen Erfahrungen aus Lateinamerika auch für die beginnende Debatte in Deutschland verfügbar zu machen. Dafür haben wir uns die Gesetzeslagen zu geschlechtsspezifischer Gewalt in 18 lateinamerikanischen Ländern angeschaut, nach ihrer Umsetzung gefragt, emblematische Fälle dokumentiert und nachgesehen, was die feministischen Bewegungen vor Ort der Gewalt entgegensetzen. Das kann nur ein Anfang sein – ein Anfang, um weiter zu recherchieren und uns weiter zu vernetzen. Dieser Anfang soll uns dabei helfen, zu vergleichen, zu analysieren, die Fallstricke zu erkennen, die Best Practices zu übernehmen und Leerstellen sichtbar zu machen, an denen wir noch tiefer graben müssen. Eine dieser Leerstellen ist zum Beispiel die Thematisierung von geschlechtsspezifischer Gewalt gegen nicht-binäre und inter Personen und trans Männer, die wir leider auch in diesem Dossier noch offen lassen müssen.

Neben den kurz gefassten Überblicksartikeln, die Einstiege in die jeweiligen Realitäten der einzelnen Länder geben sollen, haben wir Autor*innen aus Lateinamerika eingeladen, ihre Perspektiven auf und gegen patriarchale Gewalt aufzuschreiben. Dabei bleibt es nicht aus, dass in einigen Beiträgen auch explizit auf brutale und direkte Gewalt eingegangen wird. Die Verfasser*innen verdeutlichen in teils persönlichen Essays oder erzählerischen Artikeln, in Interviews und Illustrationen, was in den aktuellen Diskussionen verhandelt wird und wie die Kämpfe gegen sexualisierte Gewalt und für eine feministische Zukunft miteinander verschränkt sind. Es geht um die Vielschichtigkeit von Gewalt, ihre Ursachen und Gegenstrategien. Es geht darum, wie die Schwarze feministische Bewegung Brasiliens für das Leben kämpft, wie Unternehmen in Chile Feminizide als Mittel der Einschüchterung von Aktivistinnen einsetzen; es geht um Probleme indigener Rechtssprechung im Fall von geschlechtsspezifischer Gewalt in Kolumbien oder darum, wie eine progressive Rechtssprechung bei einem wirkungslosen Staat in Venezuela trotzdem versagt. Reportagen und Interviews aus Mexiko, Brasilien und Honduras setzen sich mit Transfeminiziden und den gemeinsamen Schutzmechanismen der Community auseinander, die im durch die Covid-19-Pandemie nochmal verschärften Alltag immer wichtiger werden. Wir lesen Gedanken aus Ecuador über die verschiedenen Rollen, denen Frauen zwischen Rassismus und Patriarchat, Beruf, Familie und Aktivismus gerecht werden müssen. Ein Essay aus Ciudad Juárez, der Stadt, die durch Feminizide traurige Berühmtheit erlangt hat, geht auf die verschiedenen Formen sexualisierter Gewalt ein. Die Thematisierung unterschiedlicher Aspekte von Gewalt ist auch zentral für die feministische Bewegung Argentiniens, die die Politisierung von Gewalterfahrung als Strategie für den Widerstand nutzt.

So wütend unsere Autor*innen und ihre Texte auch sind, so wütend wie wir alle sind – der Kampf für eine feministische Zukunft gerät nie ganz aus dem Blick. Denn es geht nicht nur darum zu überleben, wie es Vivas nos queremos nahelegt, sondern darum, wie wir zusammenleben wollen. Der gemeinsame Kampf, die kollektiven Strukturen, die Zärtlichkeit und Energie, die in den Protesten lebt und überlebt, gibt uns Kraft. Diese wollen wir auch in den farben- und lebensfrohen, widerständigen Illustrationen lateinamerikanischer Künstler*innen aufgreifen, die uns durch das Dossier begleiten.


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