“WIR HABEN DAS UNDENKBARE ERREICHT”

In den vergangenen Monaten haben Sie als Sprecher der Initiative Voces de Paz die Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) politisch repräsentiert. Wie ist diese Initiative entstanden?
Während der Friedensverhandlungen in Havanna haben die Vertreter der FARC und der kolumbianischen Regierung eine politische Übergangslösung vereinbart: Während die Guerilla noch bewaffnet war und formal als terroristische Vereinigung galt, durfte sie schon aus juristischen Gründen nicht politisch aktiv werden. Voces de Paz ist in diesem Zusammenhang als eine Verbindung zwischen den FARC und der Zivilgesellschaft entstanden. Wir sind sechs Repräsentanten, drei im Kongress und drei im Senat. Dabei ist es unsere Aufgabe, die Umsetzung der Bestimmungen zu beobachten und zu überwachen; wir dürfen beraten, sind aber nicht stimmberechtigt. Außerdem unterstützen wir die FARC bei ihrem Übergang ins politische Leben. Mit der Entwaffnung und dem Ende der Übergangsphase erhielten die FARC volle politische Rechte, sodass der Gründung einer eigenen Partei nichts mehr im Wege stand.

Nach dem Referendum, bei dem eine dünne Mehrheit der Kolumbianer*innen gegen das Abkommen stimmte, unterzeichneten der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos und der FARC-Anführer Rodrigo Londoño im November vergangenen Jahres eine überarbeitete Version. Wie haben Sie den Prozess seit Inkrafttreten der Bestimmungen erlebt?
Ich muss sagen, dass die vergangenen Monate sehr schwierig waren. Der ganze Prozess war leider von sehr vielen Verzögerungen und viel Unsicherheit geprägt. Dabei wird die Umsetzung die ganze Zeit von der rechten Opposition und dem Ex-Präsidenten Álvaro Uribe torpediert.

Welche konkreten Schwierigkeiten gab es?
Das Abkommen sah vor, dass sich die FARC-Kämpfer ab Anfang Dezember über sechs Monate hinweg in Übergangszonen auf ihr ziviles Leben vorbereiten. Die Guerilla erfüllte ihren Teil der Abmachungen und sammelte ihre Kämpfer in den geplanten Gebieten. Doch keine der Siedlungen war fertig, als die Kämpfer eintrafen. Selbst heute, fast acht Monate später, ist nicht einmal die Hälfte der Siedlungen fertiggestellt. Während der Bauarbeiten gab es verschiedene Probleme, unter anderem auch mit Korruption. Die ehemaligen Kämpfer lebten dort also unter schwierigen Bedingungen, teilweise waren sogar die gelieferten Nahrungsmittel bereits verwest.
Ein weiteres schwerwiegendes Problem ist die Umsetzung des Amnestiegesetzes, das bereits Ende vergangenen Jahres verabschiedet wurde: Viele ehemalige Rebellen befinden sich bis heute in Haft, sie wurden bislang weder freigelassen noch amnestiert.
Unsere größte Sorge sind jedoch die paramilitärischen Gruppen. In den vergangenen zwei Jahren, in denen nominell „Frieden“ herrschte, wurden über 160 Menschenrechtsaktivisten ermordet. Seit Anfang des Jahres wurden mindestens acht ehemalige FARC-Kämpfer ermordet, die ihre Waffen bereits abgegeben hatten. Die Guerilla hat keine Waffen mehr und kann nicht auf ihre alten Verteidigungsmechanismen zurückgreifen. Diese Vorgänge erzeugen eine große Unsicherheit. Der Staat erfüllt seine Aufgabe, das Leben der Kolumbianer und eben auch der entwaffneten Guerilla-Kämpfer zu schützen, nicht. Die paramilitärischen Gruppen werden nicht effektiv bekämpft.

Was bedeutet das für die weitere Umsetzung des Abkommens?
Durch diese Probleme wurde der gesamte Friedensprozess verzögert – aber nicht aufgehalten. Im Kongress wurden bereits etwa 60 Prozent der Bestimmungen verabschiedet, es fehlen noch etwa zehn Reformen. Dazu gehört unter anderem auch das Gesetz für die Über­gangsjustiz sowie das Gesetz für die Landverteilung, das zentral im gesamten Friedens­prozess war. Die massive Konzentration des Landbesitzes und die damit verbundene poli­tische Ausgrenzung großer Bevölkerungsteile waren und sind die Hauptursachen für den bewaffneten Konflikt in Kolumbien. Wenn wir diese Reformen nicht angehen, wird die Gewalt auch nicht enden. Das Problem ist, dass die Gesetze im Grunde bis Ende dieses Jahres verabschiedet sein müssen – nächstes Jahr sind Wahlen und es ist offen, wie eine mögliche neue Regierung mit den Rechtsvorschriften umgehen wird. Die rechte Opposition lässt keine Zweifel zu, Álvaro Uribe hat schon vielfach verkündet, dass er den Friedensvertrag „in Fetzen reißen“ möchte.

Wie bewerten Sie aktuell die Stimmung in der Zivilbevölkerung bezüglich des Friedensprozesses?
Das Abkommen hat die Bevölkerung vergangenes Jahr sehr stark polarisiert. Man kann sagen, dass das halbe Land dafür, die andere Hälfte dagegen war. Diese Spannungen haben sich vor allem im Rahmen des Referendums zum Frie­densabkommen gezeigt. Und diese Situation hat es der rechten Opposition ermöglicht, Zweifel zu sähen sowie mit polemischen Äußerungen und Falschnachrichten auf Stimmenfang zu gehen. Dadurch werden die Wahlen nächstes Jahr im Grunde zu einer Art zweitem Friedensreferendum.
Wir haben allerdings beobachtet, dass sich die Lage insgesamt in den vergangenen Monaten eher entspannt hat. Die Menschen nehmen den Friedensprozess nicht mehr als zentrale Agenda in der Politik wahr.

Was für Auswirkungen hat die allgemeine Stimmung auf den Prozess?
Die Polarisierung ist schwächer geworden, das hat Vor- und Nachteile. Die symbolische Gewalt hat nachgelassen, der Hass und die Aufrufe zu Gewalt sind insgesamt weniger geworden. Der Nachteil ist jedoch, dass die politische Rolle des Abkommens insgesamt auch abgeschwächt wurde, die Menschen fordern die Umsetzung der Bestimmungen nicht mehr so vehement ein. Die Bevölkerung ist sich kaum der Tatsache bewusst, dass 90 Prozent der Bestimmungen aus dem Abkommen eigentlich nichts mit den FARC zu tun haben, vielmehr betreffen sie die Landrückgabe, Maßnahmen zur Bekämpfung der Korruption, Strategien zur Aufklärung der Verbrechen und zur Demokratisierung der politischen Prozesse. Nur etwa ein Zehntel der Bestimmungen beschäftigen sich wirklich mit den FARC, mit ihrer Wiedereingliederung, ihrer juristischen Situation.

Was sind aus Ihrer Sicht die wesentlichen Herausforderungen, mit denen der Friedensprozess aktuell konfrontiert wird?
Wir stehen gerade vor drei Herausforderungen: Erstens müssen das Abkommen und die ehemaligen Rebellen juristisch abgesichert werden, dazu gehört eine rasche Ratifizierung der fehlenden Reformen. Aktuell fehlen noch etwa zehn Reformen, darunter auch so zentrale wie das Gesetz zur Landrückgabe und das Gesetz für die Übergangsjustiz. Das Landgesetz ist wesentlich, da es die Ursachen des Konfliktes betrifft: die Landverteilung und die politische Exklusion weiter Bevölkerungsteile. Letzteres regelt den legalen Status der ehemaligen Kämpfer und ist dadurch eigentlich unverzichtbar.
Zweitens muss die körperliche Sicherheit der ehemaligen Rebellen garantiert werden. Jeden Tag werden Menschen bedroht und er­mor­det. Dadurch entsteht eine große Unsicherheit, die durch die fehlende ökonomische Absicherung, den dritten Punkt, noch verschärft wird. Die Mitglieder der FARC müssen schnellstmöglich in die Zivilgesellschaft integriert werden – gerade erhalten sie nicht einmal den vereinbarten monatlichen Geldbetrag, der noch unter dem Mindestlohn liegt. Diese Unsicherheiten verschärfen das Risiko, dass Teile der FARC sich nach alternativen Wegen umschauen und sich etwa anderen illegalen bewaffneten Gruppierungen anschließen.

Was ziehen Sie nach diesen Berichten für ein Fazit?
Der Friedensprozess war unglaublich kompliziert und wird auch weiterhin kompliziert bleiben. Allerdings habe ich den Eindruck, dass uns Kolumbianern noch gar nicht so richtig bewusst ist, welche Situation wir erleben: Wir haben gerade die Möglichkeit, ein Kapitel unserer Geschichte zu beenden, das schon vor vielen Jahren hätte beendet werden müssen. Wir haben etwas erreicht, was vor wenigen Jahren noch nicht einmal denkbar war. Die ehemaligen FARC-Rebellen haben heute die Möglichkeit, in Schulen und Universitäten zu gehen und ihre Ideen mit dem Wort zu verteidigen und dem Land ihre Version der Geschichte zu erklären. Und ich hoffe, dass diese Erfahrungen unser Land zum Positiven verändern werden, auch wenn es einige Zeit in Anspruch nimmt.


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